Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ich habe mich spä­ter oft ge­fragt, ob ich an die­sem Abend wohl völ­lig be­trun­ken ge­we­sen bin. Na­tür­lich bin ich das nicht ge­we­sen, da­von hät­ten so­wohl Mag­da als auch ich et­was ge­merkt, und doch habe ich an die­sem Abend den ers­ten Rausch mei­nes Le­bens ge­habt. Ich schwank­te nicht, ich lall­te nicht. Das hat­ten die­se an­dert­halb Glas muf­fi­gen Rot­weins selbst bei ei­nem so nüch­ter­nen Men­schen wie mir nicht be­wir­ken kön­nen, aber doch hat­te mir der Al­ko­hol die gan­ze Welt ver­wan­delt. Er spie­gel­te mir vor, dass es kei­ne Ent­frem­dung und kei­nen Streit zwi­schen Mag­da und mir ge­ge­ben hät­te, er ver­wan­del­te mei­ne ge­schäft­li­chen Sor­gen in Er­fol­ge, in sol­che Er­fol­ge, dass ich so­gar hun­dert Mark zu ver­schen­ken hat­te, kei­ne be­trächt­li­che Sum­me ge­wiss, aber in mei­ner Lage war schließ­lich kei­ne Sum­me ganz un­be­trächt­lich.

Als ich am nächs­ten Mor­gen er­wacht war und alle Ge­scheh­nis­se von dem ver­ges­se­nen Fuß­ab­tre­ter bis zum ver­schenk­ten Hun­dert­mark­schein an mei­nem geis­ti­gen Auge vor­über­zie­hen ließ, da wur­de mir erst klar, wie schmäh­lich ich an Mag­da ge­han­delt hat­te. Ich hat­te sie nicht nur über mei­ne ge­schäft­li­che Lage ge­täuscht, nein, ich hat­te die­se Täu­schung auch noch durch ein Geld­ge­schenk un­ter­mau­ert, um sie noch glaub­haf­ter zu ma­chen, et­was, das ju­ris­tisch wohl »Be­trug« ge­nannt wer­den wür­de. Aber das Ju­ris­ti­sche war ganz gleich­gül­tig, das Men­sch­li­che al­lein war wich­tig, und das Men­sch­li­che an die­ser Sa­che war ein­fach furcht­bar. Ich hat­te zum ers­ten Mal in un­se­rer Ehe Mag­da wis­sent­lich be­tro­gen – und warum? Wa­rum in al­ler Welt?! Für gar nichts – ich hät­te ja von all die­sen Din­gen wun­der­bar schwei­gen kön­nen, wie ich bis­her von ih­nen ge­schwie­gen hat­te. Nie­mand zwang mich zum Spre­chen. Nie­mand? Doch ja, der Al­ko­hol hat­te mich dazu ge­bracht.

Als ich das erst ein­mal er­kannt hat­te, als ich in vol­lem Um­fan­ge er­fasst hat­te, welch Lüg­ner der Al­ko­hol ist und wie er dazu aus ehr­li­chen Men­schen Lüg­ner macht, schwor ich mir zu, nie wie­der einen Trop­fen Al­ko­hol zu trin­ken und auch auf das ab und zu bis­her ge­nos­se­ne Glas Bier zu ver­zich­ten.

Aber was sind Vor­sät­ze, was sind Ent­wür­fe? Ich hat­te mir ja auch an die­sem Mor­gen der Er­nüch­te­rung zu­ge­schwo­ren, we­nigs­tens die ges­tern Abend zwi­schen Mag­da und mir auf­ge­kom­me­ne wär­me­re Stim­mung zu nüt­zen und es nicht wie­der zu ei­ner Ent­frem­dung oder gar zu ei­nem Streit kom­men zu las­sen. Und doch ver­gin­gen nicht vie­le Tage, und wir strit­ten uns schon wie­der. Es war ei­gent­lich völ­lig un­be­greif­lich: Vier­zehn Jah­re un­se­rer Ehe wa­ren prak­tisch ohne je­den Streit ver­gan­gen, und jetzt im Fünf­zehn­ten war es, dass wir nicht mehr ohne Strei­ten le­ben konn­ten. Manch­mal schi­en es mir ge­ra­de­zu lä­cher­lich, über was für Din­ge al­les wir mit­ein­an­der in Streit ge­rie­ten. Es schi­en, als müss­ten wir uns zu be­stimm­ten Zei­ten strei­ten, ganz gleich warum. Auch das Strei­ten scheint wie ein Gift zu sein, an das man sich rasch ge­wöhnt und ohne das man bald nicht mehr le­ben kann. Zu­erst be­wahr­ten wir na­tür­lich ängst­lich die Form, wir such­ten mög­lichst sach­lich beim Streit­ge­gen­stand zu blei­ben und al­les per­sön­lich Krän­ken­de zu ver­mei­den.

Auch leg­te uns die An­we­sen­heit un­se­res klei­nen Haus­mäd­chens Else Hem­mun­gen auf. Wir wuss­ten, sie war neu­gie­rig und trug al­les wei­ter, was sie er­fuhr. Da­mals wäre es mir noch un­aus­sprech­bar schreck­lich ge­we­sen, wenn ir­gend­je­mand in der Stadt von mei­nen Sor­gen und un­se­ren Strei­te­rei­en er­fah­ren hät­te. Nicht sehr viel spä­ter frei­lich war es mir voll­kom­men gleich­gül­tig ge­wor­den, was die Men­schen von mir dach­ten und spra­chen, und, was das Schlim­me­re war, ich hat­te auch alle Scham vor mir selbst ver­lo­ren.

Ich habe ge­sagt, dass Mag­da und ich uns an fast täg­li­chen Streit ge­wöhn­ten. Frei­lich wa­ren das ei­gent­lich nur Quen­ge­lei­en, klei­ne Sti­che­lei­en um ein Gar­nichts, et­was, das die zwi­schen uns im­mer wie­der auf­tau­chen­den Span­nun­gen ein we­nig er­leich­ter­te. Auch das war ei­gent­lich ein Wun­der, aber kein schö­nes: Vie­le Jah­re hat­ten Mag­da und ich eine aus­ge­spro­chen gute Ehe ge­führt. Wir hat­ten uns aus Lie­be ge­hei­ra­tet, da­mals wa­ren wir alle bei­de sehr klei­ne An­ge­stell­te ge­we­sen, je­der mit ei­nem Hand­köf­fer­chen, so wa­ren wir zu­sam­men­ge­lau­fen. Ach, die herr­li­che ent­beh­rungs­rei­che Zeit un­se­rer ers­ten Ehe­jah­re – wenn ich heu­te dar­an zu­rück­den­ke! Mag­da war eine wah­re Haus­halts­künst­le­rin, man­che Wo­che ka­men wir mit zehn Mark aus, und es kam uns vor, als leb­ten wir da­bei wie die Fürs­ten.

Dann kam die wa­ge­mu­ti­ge, von im­mer­wäh­ren­der An­span­nung er­füll­te Zeit, da ich mich selbst­stän­dig mach­te, da ich mit Mag­das Hil­fe mein ei­ge­nes Ge­schäft auf­bau­te. Es glück­te – o du lie­ber Him­mel, wie uns da­mals al­les glück­te! Wir brauch­ten nur et­was an­zu­fas­sen, un­se­ren Fleiß und un­se­ren Ei­fer ei­ner Sa­che zu­zu­wen­den, und schon ge­lang sie, blüh­te auf wie eine gut ge­pfleg­te Blu­me, trug uns Früch­te … Kin­der blie­ben uns ver­sagt, so­sehr wir uns nach ih­nen auch sehn­ten. Mag­da hat­te ein­mal einen Um­schlag,1 von da an war es mit al­len Aus­sich­ten auf Kin­der vor­bei. Aber wir lieb­ten uns dar­um nicht we­ni­ger. Vie­le Jah­re un­se­rer Ehe wa­ren wir im­mer wie­der frisch ver­liebt in­ein­an­der. Ich habe nie eine an­de­re Frau als Mag­da be­gehrt. Sie mach­te mich voll­kom­men glück­lich, und mit mir ist es ihr wohl auch nicht an­ders ge­gan­gen.

Als dann das Ge­schäft lief, als es je­nen Um­fang er­reicht hat­te, der ihm durch die Grö­ße un­se­rer Stadt und un­se­res Land­krei­ses ge­ge­ben war, einen Um­fang, über den hin­aus eine Er­wei­te­rung nur durch völ­li­ge Än­de­rung all un­se­rer Le­ben­sum­stän­de und durch Weg­zug von un­se­rer Va­ter­stadt mög­lich war, als also das bren­nen­de In­ter­es­se et­was zu er­lah­men be­gann, kam als Er­satz der Er­werb des ei­ge­nen Grund­stücks vor der Stadt, der Bau un­se­rer Vil­la, die An­la­ge un­se­res Gar­tens, die Ein­rich­tung, die uns nun für den Rest un­se­res Le­bens be­glei­ten soll­te – al­les Din­ge, die uns wie­der eng an­ein­an­der­ban­den und uns die Ab­küh­lung, die in un­se­rer Ehe­be­zie­hung ein­ge­tre­ten war, nicht merk­lich wer­den lie­ßen. Wenn wir uns nicht mehr so wie frü­her lieb­ten, wenn wir nicht mehr so oft und heiß nach­ein­an­der be­gehr­ten, so emp­fan­den wir das nicht als einen Ver­lust, son­dern als et­was Selbst­ver­ständ­li­ches: Wir wa­ren eben all­ge­mach alte Ehe­leu­te ge­wor­den, was uns ge­sch­ah, ge­sch­ah al­len, war et­was Na­tür­li­ches. Und, wie ge­sagt, die Ka­me­rad­schaft beim Pla­nen, Bau­en, Ein­rich­ten er­setz­te uns das Ver­lo­re­ne voll­kom­men, aus Lie­bes­leu­ten wa­ren wir Ka­me­ra­den ge­wor­den, wir ent­behr­ten nichts.

Zu je­ner Zeit hat­te sich Mag­da schon ganz von der tä­ti­gen Mit­hil­fe in mei­nem Ge­schäft frei­ge­macht, ein Schritt, den wir bei­de da­mals als selbst­ver­ständ­lich an­sa­hen. Sie hat­te jetzt eine grö­ße­re ei­ge­ne Haus­hal­tung; der Gar­ten und ein biss­chen Fe­der­vieh er­for­der­ten auch Pfle­ge, und der Um­fang des Ge­schäf­tes ge­stat­te­te ohne Wei­te­res die Ein­stel­lung ei­ner neu­en Hilfs­kraft.

Spä­ter soll­te sich zei­gen, wie ver­häng­nis­voll sich das Aus­schei­den Mag­das aus mei­nem Be­trieb aus­wir­ken soll­te. Nicht nur, dass wir da­durch wie­der­um ein gut Teil un­se­rer ge­mein­sa­men In­ter­es­sen ver­lo­ren, auch stell­te sich her­aus, dass ihre Mit­hil­fe ei­gent­lich un­er­setz­lich war. Sie war bei Wei­tem ak­ti­ver als ich, un­ter­neh­mungs­lus­ti­ger, auch war sie viel ge­schick­ter als ich im Um­gang mit den Men­schen und ver­moch­te sie auf eine leich­te, scherz­haf­te Wei­se ge­ra­de da­hin zu be­kom­men, wo sie die Leu­te ha­ben woll­te.

Ich war das vor­sich­ti­ge Ele­ment in un­se­rer Ge­mein­schaft, die Brem­se ge­wis­ser­ma­ßen, die eine zu ge­wag­te Fahrt hemm­te und si­cher­te. Im Ge­schäfts­ver­kehr selbst hat­te ich die Nei­gung, mich mög­lichst zu­rück­zu­hal­ten, mich nie­man­dem auf­zu­drän­gen und nie um et­was zu bit­ten. Es war dem­nach un­ver­meid­lich, dass nach Mag­das Aus­schei­den die Ge­schäf­te erst ein­mal im al­ten Gleis wei­ter­gin­gen, dass we­nig Neu­es da­zu­kam und dass dann all­mäh­lich, ganz lang­sam, Jahr um Jahr, ihr Um­fang zu­rück­ging.

Über alle die­se Din­ge bin ich mir frei­lich erst viel spä­ter klar ge­wor­den, zu spät, als es schon nichts mehr zu ret­ten gab. Da­mals, als Mag­da aus­schied, war ich eher et­was er­leich­tert: Ein Mann, der sei­ne Fir­ma al­lein ver­tritt, ge­nießt bei den Men­schen ein grö­ße­res An­se­hen als der, dem die Frau in al­les hin­ein­re­den kann.

1 Fehl­ge­burt <<<

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Erst, als un­se­re Strei­te­rei­en be­gan­nen, merk­te ich, wie fremd Mag­da und ich uns in den Jah­ren ge­wor­den wa­ren, da sie ihre Haus­wirt­schaft be­sorg­te und ich den Ge­schäf­ten vor­stand. Die ers­ten Male emp­fand ich wohl noch et­was wie Scham über un­ser Sich­ge­hen­las­sen, und wenn ich merk­te, dass ich Mag­da ver­letzt hat­te, dass sie gar mit ver­wein­ten Au­gen um­her­ging, schmerz­te mich das fast so sehr wie sie selbst, und ich ge­lob­te mir Bes­se­rung. Aber der Mensch ge­wöhnt sich an al­les, und ich fürch­te bei­na­he, er ge­wöhnt sich am ra­sche­s­ten, in ei­nem Zu­stand von Er­nied­ri­gung zu le­ben.

Es kam der Tag, da ich beim An­blick von Mag­das ver­wein­ten Au­gen mir nicht mehr Bes­se­rung ge­lob­te, son­dern mit ei­ner von er­schro­cke­nem Stau­nen un­ter­misch­ten Be­frie­di­gung mir sag­te: ›Dies­mal habe ich es dir aber or­dent­lich ge­ge­ben! Im­mer ge­winnst du mit dei­ner ra­schen Zun­ge doch nicht die Ober­hand über mich!‹ Ich fand es schreck­lich, dass ich so emp­fand, und doch fand ich es rich­tig, es be­frie­dig­te mich, so zu emp­fin­den, so pa­ra­dox dies auch klin­gen mag. Von da an war es nur ein klei­ner Schritt bis da­hin, wo ich sie be­wusst zu ver­let­zen such­te.

 

In je­nem äu­ßerst kri­ti­schen Zeit­punkt un­se­rer Be­zie­hun­gen wa­ren die Le­bens­mit­tel­lie­fe­run­gen für die Ge­fäng­nis­ver­wal­tung wie alle drei Jah­re neu aus­ge­schrie­ben. Wir ha­ben in un­se­rem Ort – ge­ra­de nicht zum Ent­zücken sei­ner Ein­woh­ner – das Zen­tral­ge­fäng­nis der Pro­vinz lie­gen, das stän­dig etwa fünf­zehn­hun­dert Häft­lin­ge in sei­nen Mau­ern birgt. Seit neun Jah­ren hat­ten wir die­se Lie­fe­run­gen schon, Mag­da hat­te sich sei­ner­zeit sehr dar­um be­müht, sie zu er­hal­ten. Bei den bei­den spä­te­ren Ver­ge­bun­gen hat­te sie im­mer nur einen kur­z­en Höf­lich­keits­be­such bei dem ent­schei­den­den Obe­rin­spek­tor der Ver­wal­tung ge­macht, und der Zu­schlag war uns ohne Wei­te­res zu­ge­fal­len.

Ich sah die­se Lie­fe­rung für einen so selbst­ver­ständ­li­chen Teil mei­nes Ge­schäf­tes an, dass ich auch dies­mal kein wei­te­res Auf­he­ben von der Sa­che mach­te: Ich ließ das alte An­ge­bot, des­sen Preis­ge­stal­tung sich nun schon seit neun Jah­ren be­währt hat­te, ab­schrei­ben und ein­rei­chen. Ich über­leg­te auch einen Be­such bei dem ent­schei­den­den Obe­rin­spek­tor, aber al­les lief ja in sei­nen ein­ge­lau­fe­nen Bah­nen; ich woll­te nicht auf­dring­lich er­schei­nen, ich wuss­te, der Mann war mit Ar­beit über­las­tet – kurz, ich hat­te min­des­tens zehn gute Grün­de, den Be­such zu un­ter­las­sen.

Da­nach traf es mich wie ein Blitz aus hei­te­rem Him­mel, als mich ein Schrei­ben der Ge­fäng­nis­ver­wal­tung mit we­ni­gen dür­ren Wor­ten da­hin un­ter­rich­te­te, dass mein An­ge­bot ab­ge­lehnt und dass die Lie­fe­run­gen ei­ner an­de­ren Fir­ma zu­ge­schla­gen wor­den sei­en. Mein ers­ter Ge­dan­ke war der: dass nur Mag­da nichts da­von er­fährt! Dann nahm ich mei­nen Hut und eil­te zu dem Obe­rin­spek­tor, jetzt den Be­such zu ma­chen, der drei Wo­chen frü­her sinn­voll ge­we­sen wäre.

Ich wur­de höf­lich, aber kühl auf­ge­nom­men. Der Obe­rin­spek­tor be­dau­er­te, dass die alte Ge­schäfts­ver­bin­dung nun un­ter­bro­chen sei. Er habe aber gar nicht an­ders han­deln kön­nen, da ein Teil der von mir ge­nann­ten Prei­se längst über­holt ge­we­sen sei, mal nach der hö­he­ren, mal nach der nied­ri­ge­ren Sei­te hin. Im Gan­zen glei­che es sich wohl etwa aus, aber mein An­ge­bot habe nun eben auf die maß­ge­ben­den Her­ren – ich möge sei­ne Of­fen­heit ver­zei­hen – ein­fach einen schlech­ten Ein­druck ge­macht, als sei es mei­ner Fir­ma ganz gleich­gül­tig, ob sie den Zu­schlag er­hal­te oder nicht. Ich er­fuhr wei­ter, dass eine ganz jun­ge, mit al­len Mit­teln auf­stre­ben­de Fir­ma, die mir schon ei­ni­ge Male Är­ger be­rei­tet hat­te, auch die­ses Mal wie­der als Sie­ger aus dem Ren­nen her­vor­ge­gan­gen war. Zum Schluss drück­te der Obe­rin­spek­tor noch in al­ler Höf­lich­keit die Hoff­nung aus, in drei Jah­ren wie­der mit mei­ner Fir­ma in die alte Ver­bin­dung tre­ten zu kön­nen, und ich war ent­las­sen.

Ich wuss­te, ich hat­te mir in dem Ge­fäng­nis­bü­ro nichts von mei­ner Be­stür­zung, ja mei­ner Verzweif­lung über die­sen Fehl­schlag an­mer­ken las­sen; ich hat­te mei­ne Er­kun­di­gung halb mit Höf­lich­keit, halb mit Neu­gier nach dem Na­men des glück­li­chen Ge­win­ners fri­siert. Als ich aber wie­der drau­ßen vor den schwe­ren Ei­sen­to­ren des Ge­fäng­nis­ses stand, als der letz­te Rie­gel ras­selnd hin­ter mir zu­ge­scho­ben war, sah ich in den hel­len Son­nen­schein die­ses wun­der­ba­ren Früh­lings­ta­ges wie je­mand, der so­eben aus ei­nem schwe­ren Traum er­wacht ist und noch nicht weiß, ob er nun wirk­lich wach ist oder ob er noch im­mer un­ter dem Alb­druck des Trau­mes seufzt. Ich seufz­te noch un­ter ihm, um­sonst hat­te das ei­ser­ne Git­ter­tor mich zur Frei­heit ent­las­sen, ich blieb ge­fan­gen in mei­nen Sor­gen und Mis­ser­fol­gen.

Es war mir jetzt un­mög­lich, in die Stadt und auf mein Kon­tor zu ge­hen, vor al­lem aber muss­te ich mich erst sam­meln, ehe ich vor Mag­da trat – ich ging fort von der Stadt und den Men­schen, ich ging in die Fel­der und Wie­sen hin­aus, im­mer wei­ter fort, als könn­te ich mir und mei­nen Sor­gen ent­lau­fen. Ich habe aber an die­sem Tage nichts von dem fri­schen Sma­ragd­grün der jun­gen Saa­ten ge­se­hen, nicht habe ich das ei­li­ge Gluck­sen der Bä­che und die Trom­mel­wir­bel der Ler­chen in der blau­gol­de­nen Luft ge­hört: Ich war gren­zen­los al­lein mit mir und mei­nem Miss­ge­schick. Mein Herz war so über­voll da­von, dass nichts an­de­res mehr hin­ein­konn­te.

Ich war mir ganz klar dar­über, dass dies für mein Ge­schäft nicht mehr ein klei­ner Fehl­schlag war, der mit ei­nem ach­sel­zu­cken­den Be­dau­ern hin­ge­nom­men wer­den konn­te: Die Lie­fe­rung der Nah­rungs­mit­tel für fünf­zehn­hun­dert Men­schen war selbst bei be­schei­de­nem Nut­zen ein so we­sent­li­cher Teil mei­nes Um­sat­zes, dass es nicht ohne ein­schnei­den­de Ver­än­de­run­gen mei­nes gan­zen Be­trie­bes hin­ge­nom­men wer­den konn­te. An einen Er­satz für die­sen Aus­fall war bei dem Man­gel ähn­li­cher Ge­le­gen­hei­ten in un­se­rer be­schei­de­nen Pro­vinz­stadt nicht zu den­ken. Äu­ßers­te Tat­kraft hät­te die Zahl der Ein­zel­ge­schäf­te um ei­ni­ge Dut­zend stei­gern kön­nen, aber ganz ab­ge­se­hen da­von, dass dies noch lan­ge kei­nen Er­satz für den Aus­fall be­deu­te­te, fühl­te ich mich ge­ra­de jetzt zu die­ser äu­ßers­ten Tat­kraft ganz un­fä­hig. Aus ir­gend­wel­chen Grün­den war ich schon seit fast ei­nem Jahr un­frisch. Im­mer mehr neig­te ich dazu, den Din­gen ih­ren Lauf zu las­sen und mich nicht zu sehr zu er­re­gen. Ich war ru­he­be­dürf­tig – warum, weiß ich nicht. Vi­el­leicht wur­de ich früh alt.

Es war mir klar, dass ich min­des­tens zwei An­ge­stell­te wür­de ent­las­sen müs­sen, aber auch das be­rühr­te mich nicht ein­mal so sehr, ob­wohl ich wuss­te, wie sehr dar­über ge­schwätzt wer­den wür­de. Nicht das Ge­schäft be­küm­mer­te mich im Au­gen­blick, son­dern Mag­da. Im­mer wie­der war mein Haupt­ge­dan­ke, mei­ne Haupt­sor­ge: dass bloß Mag­da nichts da­von er­fährt! Wohl sag­te ich mir, dass ich auf die Dau­er die Ent­las­sung von zwei An­ge­stell­ten und den Ver­lust der Lie­fe­run­gen über­haupt nicht vor ihr ver­ber­gen konn­te. Aber ich log mir vor, dass al­les dar­auf an­kom­me, dass sie nicht ge­ra­de jetzt da­von er­füh­re, dass ich in ei­ni­gen Wo­chen viel­leicht doch den einen oder an­de­ren Er­satz ge­fun­den ha­ben könn­te.

Dann hat­te ich wie­der einen hel­len Au­gen­blick. Ich blieb ste­hen, stieß mit dem Fuß ener­gisch ge­gen einen Stein im Stau­be des We­ges und sag­te zu mir: ›Da Mag­da doch da­von er­fah­ren wird, ist es bes­ser, sie er­fährt es durch mich als durch an­de­rer Leu­te Mund, und es ist wie­der­um bes­ser, sie er­fährt es heu­te als ir­gend­wann. Mit je­dem Tag, den du dies auf­schiebst, wird das Ge­ständ­nis schwe­rer. Schließ­lich habe ich kein Ver­bre­chen be­gan­gen, son­dern nur eine Nach­läs­sig­keit.‹ Wie­der stieß ich mit dem Fuß ge­gen den Stein: ›Ich wer­de Mag­da ein­fach bit­ten, mir wie­der im Ge­schäft zu hel­fen. Das ver­söhnt sie mit mei­nem Mis­ser­folg und bringt mir und dem Be­trieb nur Nut­zen. Ich bin wirk­lich nicht sehr frisch und kann eine Hilfs­kraft gut ge­brau­chen …‹

Aber die­se hel­len Au­gen­bli­cke gin­gen schnell vor­über. Ich hat­te stets so viel auf die Ach­tung der Leu­te und vor al­lem auf die Mag­das ge­ge­ben. Ich hat­te stets pein­lich dar­auf ge­se­hen, dass ich als der Chef re­spek­tiert wur­de. Ich konn­te es auch jetzt, ge­ra­de jetzt, nicht übers Herz brin­gen, von die­ser Wür­de ein Jota ab­zu­las­sen und mich ge­ra­de vor Mag­da zu de­mü­ti­gen. Nein, ich war ent­schlos­sen, die Lage selbst zu meis­tern, kom­me, was wol­le. Ich moch­te mir auch nicht von ei­ner Frau hel­fen las­sen, mit der ich mich fast täg­lich zank­te. Es war klar vor­aus­zu­se­hen, dass sich die­se Zän­ke­rei­en bis ins Kon­tor fort­set­zen wür­den – sie wür­de dort auf ih­rem Wil­len be­har­ren, ich wür­de wi­der­spre­chen, sie wür­de mir mei­ne Mis­ser­fol­ge vor­wer­fen – o nein, un­mög­lich!

Wie­der stampf­te ich mit dem Fuß auf, aber dies­mal in den Staub des We­ges. Ich sah hoch. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wo­hin mich mei­ne Füße ge­tra­gen hat­ten, so sehr war ich in mei­ne Sor­gen ver­spon­nen ge­we­sen. Ich stand in ei­nem Dorf, nicht über­mä­ßig weit von mei­ner Va­ter­stadt ent­fernt, ei­nem Dorf, das we­gen ei­ni­ger rei­zen­der Bir­ken­wäld­chen und ei­nes Sees ein be­lieb­ter Früh­lings­aus­flugs­ort mei­ner Mit­bür­ger ist. Aber an die­sem Wo­chen­tag­vor­mit­tag gab es hier noch kei­ne Aus­flüg­ler, da­für ist man bei uns da­heim zu flei­ßig. Ich stand ge­ra­de vor dem Gast­hof, und ich spür­te, dass ich Durst hat­te.

Ich trat in die nied­ri­ge, wei­te, aber dunkle Schank­stu­be ein. Ich hat­te sie im­mer nur er­füllt von vie­len Städ­tern ge­se­hen, die früh­lings­haft hel­len Klei­der der Frau­en hat­ten den Raum hel­ler ge­macht und ihm trotz sei­ner Nied­rig­keit et­was Be­schwing­tes ge­ge­ben. Denn wenn die Städ­ter hier wa­ren, hat­ten die Fens­ter of­fen­ge­stan­den, auf den Ti­schen la­gen dann bun­te De­cken, und über­all gab es in ho­hen Va­sen hel­le Sträu­ße von Bir­ken. Jetzt war der Raum dun­kel, auf den Ti­schen lag gelb­lich-bräun­li­ches Wachs­tuch, es roch sti­ckig, denn die Fens­ter wa­ren fest ver­schlos­sen.

Hin­ter der The­ke stand ein jun­ges Mäd­chen, des­sen Haar schlecht zu­recht­ge­macht und des­sen Schür­ze schmut­zig war, es flüs­ter­te eif­rig mit ei­nem jun­gen Kerl, der nach sei­ner kalk­be­spritz­ten wei­ßen Klei­dung ein Mau­rer zu sein schi­en.

Mein ers­ter Im­puls war der, um­zu­keh­ren. Aber mein Durst und mehr noch das Ge­fühl, so­fort wie­der mei­nen Sor­gen aus­ge­lie­fert zu sein, lie­ßen mich statt­des­sen an die The­ke tre­ten. »Ge­ben Sie mir was zu trin­ken, ir­gend­was, das den Durst löscht«, sag­te ich.

Ohne auf­zu­se­hen, ließ das Mäd­chen Bier in ein Glas lau­fen, ich sah zu, wie der Schaum über den Rand troff. Das Mäd­chen schloss den Bier­hahn, war­te­te einen Au­gen­blick, bis der Schaum sich ge­setzt hat­te, und ließ noch einen Schuss Bier nach­lau­fen. Dann schob es mir, wie­der­um ohne ein Wort, das Glas über den stump­fen Zink zu. Es mach­te sich wie­der an sein Flüs­tern mit dem Mau­rer­bur­schen, bis­her hat­te es mich noch nicht mit ei­nem Blick an­ge­se­hen.

Ich hob das Glas zum Mun­de und trank es be­däch­tig, Schluck für Schluck, ohne ein­mal ab­zu­set­zen, leer. Es schmeck­te frisch, pri­ckelnd und leicht bit­ter, und in­dem es mei­nen Mund pas­sier­te, schi­en es in ihm et­was von ei­ner Hel­le und Leich­tig­keit zu hin­ter­las­sen, die vor­her nicht in ihm ge­we­sen war.

›Ge­ben Sie mir noch ein­mal von dem‹, woll­te ich sa­gen, be­sann mich aber an­ders. Ich hat­te vor dem jun­gen Men­schen ein hel­les, kur­z­es, ge­drun­ge­nes Glas ste­hen se­hen, das man bei uns eine »Stan­ge« nennt und in dem ge­wöhn­lich Korn aus­ge­schenkt wird. »Ich möch­te auch solch eine Stan­ge«, sag­te ich plötz­lich. Wie ich, der ich mein Leb­tag kei­nen Schnaps ge­trun­ken, der ich im­mer eine tie­fe Ab­nei­gung ge­gen den Ge­ruch von Schnaps ge­habt habe, dazu kam, weiß ich nicht zu sa­gen. In je­nen Ta­gen än­der­ten sich alle Ge­wohn­hei­ten mei­nes Le­bens, ge­heim­nis­vol­len Ein­flüs­sen war ich aus­ge­lie­fert, und ge­nom­men war mir die Kraft, ih­nen zu wi­der­ste­hen.

Zum ers­ten Male sah mich jetzt das Mäd­chen an. Lang­sam hob es die et­was kör­ni­gen Li­der und blick­te mich mit hel­len, wis­sen­den Au­gen an. »Mit Schnaps?«, frag­te es.

»Mit Schnaps«, sag­te ich. Das Mäd­chen griff nach ei­ner Fla­sche, und ich über­leg­te mir, ob mich je in mei­nem Le­ben ein weib­li­ches We­sen schon ein­mal so scham­los wis­send an­ge­schaut hät­te. Die­ser Blick schi­en bis auf den Grund mei­nes Man­nes­tums drin­gen zu wol­len, als möch­te er er­fah­ren, was ich als Mann gel­te; ich emp­fand ihn wie et­was Kör­per­li­ches, et­was schmerz­lich süß Be­lei­di­gen­des, als sei ich nackt aus­ge­zo­gen wor­den von die­sen Au­gen.

Das Glas war ge­füllt, es wur­de zu mir über den Zink ge­scho­ben, die Li­der hat­ten sich wie­der ge­senkt, das Mäd­chen wand­te sich an den Bur­schen; mein Ur­teil war ge­spro­chen. Ich hob das Glas, zö­ger­te – und schüt­te­te den In­halt in ei­nem plötz­li­chen Ent­schluss in die Mund­höh­le. Es brann­te atem­rau­bend, dann ver­schluck­te ich mich, zwang die Flüs­sig­keit aber doch die Keh­le hin­un­ter. Ich fühl­te sie bren­nend und bei­zend hin­un­ter­rin­nen – und in mei­nem Ma­gen ent­stand ein plötz­li­ches Ge­fühl von Wär­me, ei­ner wohl­tu­en­den, hei­te­ren Wär­me.

 

Dann muss­te ich mich am gan­zen Lei­be schüt­teln. Der Mau­rer sag­te halb­laut: »Die sich so schüt­teln, das sind die Schlimms­ten«, und das Mäd­chen lach­te kurz. Ich leg­te eine Mark auf den Zink und ver­ließ ohne ein wei­te­res Wort die Gast­stät­te.

Der Früh­lings­tag emp­fing mich mit son­ni­ger Wär­me und leich­tem, sei­den­fei­nem Wind, aber als ein Ver­wan­del­ter kehr­te ich in ihn zu­rück. Aus der Wär­me in mei­nem Ma­gen war eine Hel­lig­keit in mei­nen Kopf em­por­ge­stie­gen, mein Herz poch­te frei und stark. Jetzt sah ich das Sma­ragd­grün der jun­gen Saa­ten, jetzt hör­te ich die Ler­chen­wir­bel im Blau. Mei­ne Sor­gen wa­ren von mir ab­ge­fal­len. ›Es wird sich al­les schon ein­mal re­geln‹, sag­te ich mir hei­ter und schlug den Weg heim­wärts ein. ›Wa­rum sich jetzt schon drum pla­gen?‹ Ehe ich in die Stadt kam, kehr­te ich noch in zwei wei­te­ren Gast­häu­sern ein und trank in je­dem noch solch ein Stäng­chen, um die rasch ver­flie­gen­de Wir­kung wie­der­zu­ho­len und zu ver­stär­ken. Mit ei­nem leich­ten, aber nicht un­an­ge­neh­men Be­nom­men­heits­ge­fühl lang­te ich zu Hau­se ge­ra­de zur rech­ten Zeit für das Mit­ta­ges­sen an.