Hans Fallada – Gesammelte Werke

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63. Die Hauptverhandlung: Ankläger Pinscher

Wäh­rend der Prä­si­dent des Volks­ge­richts­ho­fes, Feis­ler, für je­den un­vor­ein­ge­nom­me­nen Beo­b­ach­ter mit ei­nem bös­ar­ti­gen Blut­hund zu ver­glei­chen war, spiel­te der An­klä­ger nur die Rol­le ei­nes klei­nen kläf­fen­den Pin­schers, der dar­auf lau­ert, den vom Blut­hund An­ge­fal­le­nen in die Wade zu bei­ßen, wäh­rend sein großer Bru­der ihn bei der Keh­le hat­te. Ein paar­mal hat­te der An­klä­ger wäh­rend der Ver­hand­lung ge­gen die Quan­gels ver­sucht los­zu­kläf­fen, aber im­mer hat­te ihn so­fort wie­der das Ge­bell des Blut­hun­des über­tönt. Was gab es da auch noch groß für ihn zu kläf­fen? Der Prä­si­dent ver­rich­te­te ja von der ers­ten Mi­nu­te an die Diens­te des An­klä­gers, von der ers­ten Mi­nu­te an hat­te Feis­ler die Grund­pflicht je­des Rich­ters ver­letzt, der die Wahr­heit er­mit­teln soll: er war höchst par­tei­isch ge­we­sen.

Aber nach der Mit­tags­pau­se, in der vom Prä­si­den­ten ein sehr reich­hal­ti­ges Mahl kar­ten­frei ein­ge­nom­men war, zu dem es auch Wein und Schnaps ge­ge­ben hat­te, war Feis­ler ein we­nig müde. Was soll­te auch noch alle An­stren­gung? Die wa­ren ja bei­de schon tot. Zu­dem war jetzt das Weib dran, die­se klei­ne Ar­bei­ter­frau – und die Wei­ber wa­ren dem Prä­si­den­ten ziem­lich gleich­gül­tig, von sei­nem Richter­stand­punkt aus. Die Wei­ber wa­ren alle doof und nur zu ei­ner Sa­che nüt­ze. Sonst ta­ten sie, was ihre Män­ner woll­ten.

Feis­ler litt es also gnä­dig, dass nun der Pin­scher sich in den Vor­der­grund dräng­te und zu kläf­fen an­hob. Mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen lehn­te er in sei­nem Richter­stuhl, den Kopf in die Gei­er­kral­le ge­stützt, schein­bar auf­merk­sam zu­hö­rend, in Wirk­lich­keit aber ganz sei­ner Ver­dau­ung hin­ge­ge­ben.

Der Pin­scher kläff­te: »Sie ha­ben doch frü­her ein Amt in der Frau­en­schaft be­klei­det, An­ge­klag­te?«

»Ja«, ant­wor­te­te Frau Quan­gel.

»Und warum ha­ben Sie das denn auf­ge­ge­ben? Hat Ihr Mann das von Ih­nen ver­langt?«

»Nein«, ant­wor­te­te Frau Quan­gel.

»So, das hat er nicht von Ih­nen ver­langt? Erst legt der Mann sein Amt in der Ar­beits­front nie­der und dann die Frau vier­zehn Tage spä­ter ihr Amt in der Frau­en­schaft. An­ge­klag­ter Quan­gel, ha­ben Sie das nicht von Ih­rer Frau ver­langt?«

»Sie wird wohl von selbst auf die Idee ge­kom­men sein, als sie hör­te, dass ich mei­nen Pos­ten auf­ge­ge­ben hat­te.«

Quan­gel steht da und muss sei­ne Ho­sen fest­hal­ten.

Dann setzt er sich, denn der An­klä­ger wen­det sich schon wie­der an Anna Quan­gel. »Also, wie ist das, warum ha­ben Sie Ihr Amt nie­der­ge­legt«

»Ich habe es ja gar nicht nie­der­ge­legt. Ich bin aus­ge­schlos­sen wor­den.«

Der Pin­scher kläff­te los: »An­ge­klag­te, ach­ten Sie auf Ihre Wor­te! Auch Sie kön­nen, ge­nau wie Ihr Mann, in Stra­fe ge­nom­men wer­den, wenn Sie es zu bunt trei­ben! Eben erst ha­ben Sie mir zu­ge­ge­ben, dass Sie Ihr Amt nie­der­ge­legt ha­ben.«

»Das habe ich nicht. Ich habe ge­sagt: nein, mein Mann hat mich nicht an­ge­s­titftet.«

»Sie lü­gen! Sie lü­gen! Sie ha­ben die Un­ver­schämt­heit, dem Ho­hen Ge­richts­hof und mir ins Ge­sicht zu lü­gen!«

Wü­ten­des Ge­kläff. Die An­ge­klag­te bleibt bei ih­rer Aus­sa­ge.

»Man ver­glei­che das Ste­no­gramm!«

Das Ste­no­gramm wird ver­le­sen, und es wird fest­ge­stellt, dass die An­ge­klag­te mit ih­rer Be­haup­tung recht hat. Be­we­gung im Saal. Otto Quan­gel sieht bei­fäl­lig sei­ne Anna an, die sich nicht ein­ver­schüch­tern lässt. Er ist stolz auf sie.

An­klä­ger Pin­scher lässt einen Au­gen­blick den Schwanz hän­gen und schielt zum Prä­si­den­ten. Der gähnt dis­kret hin­ter der Gei­er­klaue. Der An­klä­ger ent­schließt sich, er ver­lässt die alte Spur und nimmt eine neue auf.

»An­ge­klag­te, Sie wa­ren doch schon ziem­lich ält­lich, als Ihr jet­zi­ger Mann Sie hei­ra­te­te?«

»Ich war an die drei­ßig.«

»Und vor­her?«

»Ich ver­ste­he das nicht.«

»Tun Sie bloß nicht so un­schul­dig, ich will wis­sen, was Sie vor Ih­rer Ehe für Be­zie­hun­gen zu den Män­nern hat­ten. Nun, wird’s bald?«

Bei der ab­grund­tie­fen Ge­mein­heit die­ser Fra­ge wur­de Anna Quan­gel erst rot, dann blass. Hil­fe­fle­hend sah sie zu ih­rem ält­li­chen ver­sorg­ten Ver­tei­di­ger hin, der auf­sprang und sag­te: »Ich bit­te, die Fra­ge als nicht zur Sa­che ge­hö­rig zu­rück­zu­wei­sen!«

Und der An­klä­ger: »Mei­ne Fra­ge ge­hört zur Sa­che. Hier ist die Ver­mu­tung laut ge­wor­den, die An­ge­klag­te sei nur eine Mit­läu­fe­rin ih­res Man­nes ge­we­sen. Ich wer­de be­wei­sen, dass sie eine mo­ra­lisch ganz tief­ste­hen­de Per­son war, aus dem Pö­bel stam­mend, dass man sich bei ihr je­des Ver­bre­chens zu ver­se­hen hat.«

Der Prä­si­dent er­klär­te ge­lang­weilt: »Die Fra­ge ge­hört zur Sa­che. Sie ist zu­ge­las­sen.«

Der Pin­scher kläff­te neu: »Also mit wie viel Män­nern hat­ten Sie bis zu Ih­rer Ehe Be­zie­hun­gen?«

Alle Au­gen sind auf Frau Anna Quan­gel ge­rich­tet. Ei­ni­ge Stu­den­ten im Hö­rer­raum le­cken sich die Lip­pen, je­mand stöhnt woh­lig.

Quan­gel sieht mit ei­ni­ger Be­sorg­nis auf Anna, er weiß doch, wie emp­find­lich sie in die­sem Punk­te ist.

Aber Anna Quan­gel hat sich ent­schlos­sen. Wie ihr Otto vor­hin alle Be­den­ken we­gen sei­ner Spar­gel­der hin­ter sich ge­wor­fen hat, so war sie jetzt wil­lens, scham­los vor die­sen scham­lo­sen Män­nern zu sein.

Der An­klä­ger hat­te ge­fragt: »Also mit wie viel Män­nern hat­ten Sie bis zu Ih­rer Ehe Be­zie­hun­gen?«

Und Anna Quan­gel ant­wor­tet: »Mit sie­ben­un­dacht­zig.«

Je­mand prus­tet im Zu­hö­rer­raum los.

Der Prä­si­dent wacht aus sei­nem Halb­schlaf auf und sieht bei­nah in­ter­es­siert auf die klei­ne Ar­bei­ter­frau mit der ge­drun­ge­nen Ge­stalt, den ro­ten Bäck­chen, der vol­len Brust.

Quan­gels dunkle Au­gen ha­ben auf­ge­leuch­tet, nun hat er die Li­der wie­der tief über sie ge­senkt. Er sieht nie­man­den an.

Der An­klä­ger aber stot­tert völ­lig ver­wirrt: »Mit sie­ben­un­dacht­zig? Wie­so gra­de mit sie­ben­un­dacht­zig?«

»Das weiß ich nicht«, sagt Anna Quan­gel un­ge­rührt. »Mehr wa­ren’s eben nicht.«

»So?«, sagt der An­klä­ger miss­mu­tig. »So!«

Er ist sehr miss­mu­tig, denn er hat die An­ge­klag­te plötz­lich zu ei­ner in­ter­essan­ten Fi­gur ge­macht, was kei­nes­wegs in sei­ner Ab­sicht lag. Auch ist er, wie die meis­ten An­we­sen­den, fest da­von über­zeugt, dass sie lügt, dass es viel­leicht nur zwei oder drei Lieb­ha­ber wa­ren, wo­mög­lich so­gar kei­ner. Man könn­te sie we­gen Ver­höh­nung des Ge­richts in Stra­fe neh­men las­sen. Aber wie ihr die­se Ab­sicht be­wei­sen?

End­lich ent­schließt er sich. Er sagt gräm­lich: »Ich bin fest da­von über­zeugt, dass Sie maß­los über­trei­ben, An­ge­klag­te. Eine Frau, die sie­ben­un­dacht­zig Lieb­ha­ber ge­habt hat, wird sich wohl kaum der Zahl er­in­nern. Sie wird ant­wor­ten: vie­le. Aber Ihre Ant­wort be­weist gra­de Ihre Ver­kom­men­heit. Sie rüh­men sich noch Ih­rer Scham­lo­sig­keit! Sie sind stolz dar­auf, eine Hure ge­we­sen zu sein. Und aus der Hure sind Sie dann das ge­wor­den, was aus al­len Hu­ren ge­mei­nig­lich wird, Sie sind eine Kup­pel­mut­ter ge­wor­den. Den ei­ge­nen Sohn ha­ben Sie ver­kup­pelt.«

Jetzt hat er Anna Quan­gel doch ge­bis­sen, der Pin­scher.

»Nein!«, schreit Anna Quan­gel und er­hebt bit­tend die Hän­de. »Sa­gen Sie doch das nicht! So et­was habe ich nie ge­tan!«

»Das ha­ben Sie nicht ge­tan?«, kläfft der Pin­scher. »Und wie wol­len Sie das nen­nen, dass Sie der so­ge­nann­ten Braut Ihres Soh­nes mehr­fach nachts Un­ter­kunft ge­währt ha­ben? Da ha­ben Sie wohl Ihren Sohn un­ter­des aus­quar­tiert? He? Wo hat denn die­se Tru­del ge­schla­fen? Sie wis­sen doch, sie ist tot, ja, das wis­sen Sie doch? Sonst säße die­ses Frau­en­zim­mer, die­se Mit­hel­fe­rin Ihres Man­nes bei sei­nen Ver­bre­chen, auch hier auf der An­kla­ge­bank!«

Aber die Er­wäh­nung der Tru­del hat Frau Quan­gel neu­en Mut ein­ge­flö­ßt. Sie sagt, nicht zum An­klä­ger, son­dern zum Ge­richts­hof hin­über: »Ja, gott­lob, dass die Tru­del tot ist, dass sie die­se letz­te Schan­de nicht mit­er­lebt hat …«

»Mä­ßi­gen Sie sich ge­fäl­ligst! Ich war­ne Sie, An­ge­klag­te!«

»Sie war ein gu­tes, an­stän­di­ges Mäd­chen …«

»Und trieb ihr fünf Mo­na­te al­tes Kind ab, weil sie kei­ne Sol­da­ten zur Welt brin­gen woll­te!«

»Sie hat das Kind nicht ab­ge­trie­ben, sie war un­glück­lich über sei­nen Tod!«

»Sie hat es sel­ber ein­ge­stan­den!«

»Das glau­be ich nicht.«

Der An­klä­ger schreit los: »Was Sie hier glau­ben oder nicht, das ist uns gleich! Aber ich rate Ih­nen drin­gend, Ihren Ton zu än­dern, An­ge­klag­te, sonst er­le­ben Sie noch et­was sehr Un­an­ge­neh­mes! Die Aus­sa­ge der Her­ge­sell ist von dem Kom­missar Laub pro­to­kol­liert. Und ein Kri­mi­nal­kom­missar lügt nicht!«

Dro­hend sah sich der Pin­scher im gan­zen Saal um.

»Und nun er­su­che ich Sie noch­mals, An­ge­klag­te, mir zu sa­gen: Hat Ihr Sohn in in­ti­men Be­zie­hun­gen zu die­sem Mäd­chen ge­stan­den oder nicht?«

»Da­nach sieht eine Mut­ter nicht hin. Ich bin kei­ne Schnüff­le­rin.«

»Aber Sie hat­ten eine Auf­sichts­pflicht! Wenn Sie den un­sitt­li­chen Ver­kehr Ihres Soh­nes in der ei­ge­nen Woh­nung zu­las­sen, ha­ben Sie sich der schwe­ren Kup­pe­lei schul­dig ge­macht, so be­stimmt es das Straf­ge­setz­buch.«

»Da­von weiß ich nichts. Aber ich weiß, dass Krieg war und dass mein Jun­ge viel­leicht ster­ben muss­te. In un­sern Krei­sen ist das so, wenn zwei ver­lobt sind oder so gut wie ver­lobt, und noch dazu Krieg ist, so se­hen wir nicht so ge­nau hin.«

 

»Aha, jetzt ge­ste­hen Sie also, An­ge­klag­te! Sie ha­ben von den un­sitt­li­chen Be­zie­hun­gen ge­wusst, und Sie ha­ben sie ge­dul­det! Das nen­nen Sie dann: nicht so ge­nau hin­se­hen. Aber das Straf­ge­setz­buch nennt es schwe­re Kup­pe­lei, und eine Mut­ter ist schänd­lich und völ­lig ver­wor­fen, die so et­was dul­det!«

»So, ist sie das? Na, dann möch­te ich wohl wis­sen«, sagt Anna Quan­gel ganz ohne Angst und mit fes­ter Stim­me, »dann möch­te ich wohl wis­sen, wie das Straf­ge­setz­buch das nennt, was der Bubi-drück-mich-Ve­rein1 tut?«

Leb­haf­tes La­chen …

»Und was die SA aus­frisst mit ih­ren Mäd­chen …«

Das La­chen bricht ab.

»Und die SS – sie er­zäh­len ja, die SS schän­det die Ju­den­mäd­chen erst und schießt sie hin­ter­her tot …«

Ei­nen Au­gen­blick To­ten­stil­le …

Aber dann bricht der Tu­mult los. Sie schrei­en. Wel­che von den Zu­hö­rern klet­tern über die Schran­ken und wol­len auf die An­ge­klag­te ein­drin­gen.

Otto Quan­gel ist auf­ge­sprun­gen, be­reit, sei­ner Frau zu Hil­fe zu ei­len …

Der Schutz­po­li­zist, die feh­len­den Ho­sen­trä­ger be­hin­dern ihn.

Der Prä­si­dent steht da und ge­bie­tet hef­tig, aber ver­geb­lich Ruhe.

Die Bei­sit­zer re­den laut mit­ein­an­der. Der Blö­de mit dem stets of­fe­nen Mund schüt­telt die Fäus­te …

Der An­klä­ger Pin­scher kläfft und kläfft, und nie­mand ver­steht ein Wort …

Die hei­ligs­ten Ge­füh­le der Na­ti­on sind ver­letzt, die SS ist be­lei­digt, die Lieb­lings­trup­pe des Füh­rers, die Eli­te ger­ma­ni­scher Ras­se!

Schließ­lich wird Anna Quan­gel aus dem Saal ge­schleppt, der Lärm be­ru­higt sich wie­der, der Ge­richts­hof zieht sich zur Be­ra­tung zu­rück …

In fünf Mi­nu­ten er­scheint er wie­der:

»Die An­ge­klag­te Anna Quan­gel ist von der Teil­nah­me an der Ver­hand­lung ge­gen sie aus­ge­schlos­sen. Sie bleibt von jetzt an in Fes­seln. Dun­kelar­rest bis auf Wei­te­res. Was­ser und Brot nur je­den zwei­ten Tag.«

Die Ver­hand­lung geht wei­ter.

1 BDM, Bund Deut­scher Mä­del <<<

64. Die Hauptverhandlung: Der Zeuge Ulrich Heffke

Der Zeu­ge Ul­rich Heff­ke, die­ser Qua­li­täts­ar­bei­ter, der buck­li­ge Bru­der Anna Quan­gels, hat schwe­re Mo­na­te hin­ter sich. Der tüch­ti­ge Kom­missar Laub hat­te ihn mit sei­ner Frau gleich nach der Fest­nah­me der Quan­gels ver­haf­tet, ohne je­den stich­hal­ti­gen Ver­dacht, ein­fach nur, weil er ein Ver­wand­ter der Quan­gels war.

Von da an hat­te Ul­rich Heff­ke in Angst ge­lebt. Die­ser sanf­te Mensch mit ei­nem schlich­ten, ein­fa­chen Geist, der sein Leb­tag al­lem Streit aus dem Wege ge­gan­gen war, war von dem Sa­dis­ten Laub ver­haf­tet wor­den, ge­quält, an­ge­schri­en, ge­schla­gen. Man hat­te ihn hun­gern las­sen, ge­de­mü­tigt, kurz, er war mit al­len teuf­li­schen Küns­ten ge­mar­tert wor­den.

Dar­über war der Geist des Bu­ckels völ­lig ver­wirrt ge­wor­den. Er hat­te nur ängst­lich ge­lauscht, was sei­ne Quä­ler hö­ren woll­ten, und er hat­te dann be­sin­nungs­los auch die ihn be­las­tends­ten Ge­ständ­nis­se ab­ge­legt, de­ren Wi­der­sinn ihm doch so­fort be­wie­sen wur­de.

Und von Neu­em hat­te man ihn ge­mar­tert, in der Hoff­nung, von dem klei­nen Bu­ckel doch noch ein neu­es, bis­her un­ge­kannt ge­blie­be­nes Ver­bre­chen zu er­fah­ren. Denn Kom­missar Laub han­del­te nach dem Satz die­ser Zei­ten: Je­der hat was aus­ge­fres­sen. Man muss nur lan­ge ge­nug su­chen, so fin­det man auch was.

Laub woll­te und woll­te es nicht glau­ben, dass er auf einen Deut­schen ge­sto­ßen war, der kein Par­tei­mit­glied war und der trotz­dem nie einen aus­län­di­schen Sen­der ab­ge­hört, eine de­fä­tis­ti­sche1 Flüs­ter­pro­pa­gan­da ge­trie­ben hat­te, der nie eine Le­bens­mit­tel­ver­ord­nung über­tre­ten hat­te. Laub sag­te es dem Heff­ke auf den Kopf zu, dass er die Kar­ten am Nol­len­dorf­platz für sei­nen Schwa­ger ein­ge­steckt hat­te.

Heff­ke gab es zu – und nach drei Ta­gen konn­te es ihm Laub be­wei­sen, dass er, Ul­rich Heff­ke, die Kar­ten un­mög­lich ein­ge­steckt ha­ben konn­te.

Kom­missar Laub be­schul­dig­te den Heff­ke nun des Ver­ra­tes von Be­triebs­ge­heim­nis­sen in der op­ti­schen Fa­brik, in der er ar­bei­te­te. Heff­ke ge­stand, und nach ei­ner Wo­che müh­sa­mer Er­mitt­lun­gen konn­te Laub fest­stel­len, dass es in die­ser Fa­brik gar kei­ne Ge­heim­nis­se zu ver­ra­ten gab; nie­mand wuss­te dort, für wel­che Waf­fe ei­gent­lich die Ein­zel­tei­le, die man dort her­stell­te, be­stimmt wa­ren.

Je­des falsche Ge­ständ­nis muss­te Heff­ke teu­er be­zah­len, aber das mach­te ihn nur ver­schreck­ter, nicht klü­ger. Er ge­stand blind­lings, nur um Ruhe zu ha­ben, ei­nem wei­te­ren Ver­hör zu ent­rin­nen, er un­ter­schrieb je­des Pro­to­koll. Er hät­te sein ei­ge­nes To­des­ur­teil un­ter­schrie­ben. Er war nichts wie Gal­lert, ein Häuf­chen Angst, das schon beim ers­ten Wort zu zit­tern an­fing.

Kom­missar Laub war scham­los ge­nug, die­sen Un­glücks­men­schen zu­sam­men mit den Quan­gels in die Un­ter­su­chungs­haft über­füh­ren zu las­sen, ob­wohl nicht ei­nes der Pro­to­kol­le eine Be­tei­li­gung Heff­kes an den »Ver­bre­chen« der Quan­gels be­wies. Si­cher war si­cher, moch­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter se­hen, ob er nicht doch et­was Be­las­ten­des aus dem Heff­ke her­aus­be­kam. Ul­rich Heff­ke be­nutz­te die et­was viel­sei­ti­ge­ren Mög­lich­kei­ten der Un­ter­su­chungs­haft dazu, dass er sich erst ein­mal auf­häng­te. Man fand ihn im al­ler­letz­ten Au­gen­blick, schnitt ihn ab und schenk­te ihn ei­nem Le­ben wie­der, das ihm völ­lig un­er­träg­lich ge­wor­den war.

Von Stun­de an muss­te der klei­ne Bu­ckel un­ter noch viel schwe­re­ren Be­din­gun­gen le­ben: in sei­ner Zel­le brann­te die gan­ze Nacht Licht, ein Son­der­pos­ten sah in Ab­stän­den von we­ni­gen Mi­nu­ten durch die Tür, sei­ne Hän­de wa­ren ge­fes­selt, und er wur­de fast täg­lich zu ei­nem Ver­hör ge­holt. Wenn der Un­ter­su­chungs­rich­ter in den Ak­ten auch nichts Be­las­ten­des ge­gen Heff­ke ge­fun­den hat­te, so war er doch fest da­von über­zeugt, dass der Bu­ckel ein Ver­bre­chen ver­barg, denn warum hät­te er sonst einen Selbst­mord­ver­such ma­chen sol­len? Kein Un­schul­di­ger tat das! Die gra­de­zu blöd­sin­ni­ge Art Heff­kes, je­der Be­schul­di­gung erst ein­mal zu­zu­stim­men, be­wirk­te es, dass der Un­ter­su­chungs­rich­ter erst ein­mal zu den lang­wie­rigs­ten Ver­neh­mun­gen und Er­mitt­lun­gen schrei­ten muss­te, die dann er­ga­ben, dass Heff­ke nichts ge­tan hat­te.

So kam es, dass Ul­rich Heff­ke erst eine Wo­che vor der Haupt­ver­hand­lung aus der Un­ter­su­chungs­haft ent­las­sen wur­de. Er kehr­te zu sei­ner lan­gen, dunklen, mü­den Frau zu­rück, die schon längst frei­ge­kom­men war. Sie emp­fing ihn schwei­gend. Heff­ke war zu ver­stört, um zur Ar­beit ge­hen zu kön­nen; er knie­te oft stun­den­lang in ei­nem Zim­mer­win­kel und sang mit an­ge­neh­mer, lei­ser Fal­sett­stim­me Kir­chen­lie­der vor sich hin. Er sprach kaum noch, und nachts wein­te er viel. Sie hat­ten Geld ge­spart, so tat die Frau nichts, den Mann zur Ar­beit an­zu­spor­nen.

Drei Tage nach sei­ner Ent­las­sung be­kam Ul­rich Heff­ke schon wie­der eine La­dung als Zeu­ge zu der Haupt­ver­hand­lung. Sein schwa­cher Kopf konn­te es so recht nicht mehr fas­sen, dass er nur als Zeu­ge ge­la­den war. Sei­ne Auf­re­gung stei­ger­te sich von Stun­de zu Stun­de, er aß fast nichts mehr und sang im­mer län­ger. Die Angst, die eben erst über­stan­de­nen Quä­le­rei­en soll­ten schon wie­der los­ge­hen, quäl­te ihn un­end­lich.

In der Nacht vor der Haupt­ver­hand­lung häng­te er sich zum zwei­ten Male auf, dies­mal ret­te­te ihm sein dunkles Weib das Le­ben. So­bald er wie­der at­men konn­te, prü­gel­te sie ihn gründ­lich durch. Sie miss­bil­lig­te sei­ne Le­bens­wei­se. Am nächs­ten Tage nahm sie ihn fest un­ter den Arm und lie­fer­te ihn an der Tür des Zeu­gen­zim­mers dem Ge­richts­die­ner mit den Wor­ten ab: »Der hat einen Vo­gel! Auf den müs­sen Sie gut auf­pas­sen!«

Da das Zeu­gen­zim­mer schon gut be­setzt war, als die­se Wor­te fie­len – es wa­ren in der Haupt­sa­che Ar­beits­ka­me­ra­den von Quan­gel ge­la­den, die Fa­brik­lei­tung, die bei­den Frau­en und der Post­se­kre­tär, die ihn beim Ab­le­gen der Kar­ten be­ob­ach­tet hat­ten, die zwei Da­men aus dem Vor­stand der Frau­en­schaft und so wei­ter –, da also schon eine gan­ze Rei­he von Zeu­gen an­we­send war, als Anna Heff­ke die­se Wor­te sag­te, so pass­te nicht nur der Ge­richts­die­ner, son­dern die gan­ze Zeu­gen­schaft eif­rig auf den klei­nen Mann auf. Man­che ver­such­ten, sich die lang­wei­li­ge War­te­zeit mit Ne­cke­rei­en des Bu­ckels zu ver­kür­zen, aber es wur­de nicht viel da­mit: dem Man­ne sah zu sehr die Angst aus den Au­gen. Die Leu­te wa­ren doch zu gut­mü­tig, ihm viel zu­zu­set­zen.

Die Ver­neh­mung durch den Prä­si­den­ten Feis­ler hat­te der Bu­ckel trotz sei­ner Angst gut über­stan­den, ein­fach, weil er so lei­se sprach und so sehr zit­ter­te, dass es dem höchs­ten Rich­ter in Bäl­de lang­wei­lig wur­de, sich die­sen Angst­ha­sen län­ger vor­zu­neh­men. Dann hat­te der Bu­ckel sich un­ter die an­de­ren Zeu­gen ge­duckt, in der Hoff­nung, al­les sei nun für ihn ab­ge­tan.

Aber dann hat­te er mit an­se­hen müs­sen, wie der An­klä­ger Pin­scher sich sei­ne Schwes­ter vor­nahm, wie er sie quäl­te, er hör­te die scham­lo­sen Fra­gen, die Anna ge­stellt wur­den. Sein Herz em­pör­te sich, er woll­te vor­tre­ten, er woll­te für die heiß­ge­lieb­te Schwes­ter re­den, er woll­te be­zeu­gen, dass sie im­mer ein an­stän­di­ges Le­ben ge­führt hat­te – und sei­ne Furcht ließ ihn wie­der sich nie­der­du­cken, sich ver­krie­chen, fei­ge sein.

So ver­folg­te er, zwi­schen Angst und Feig­heit und Mut­an­wand­lun­gen nicht mehr Herr sei­ner Sin­ne, den Fort­gang der Ver­hand­lung, bis er zu je­nem Mo­ment kam, da Anna Quan­gel den BDM, die SA und die SS be­schimpf­te. Er er­leb­te den Tu­mult, der folg­te, er mach­te selbst für sei­ne ei­ge­ne klei­ne, lä­cher­li­che Fi­gur ein biss­chen Tu­mult mit, in­dem er auf die Bank klet­ter­te, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Er sah, wie zwei Schu­pos Anna aus dem Saal schlepp­ten.

Er stand noch im­mer auf der Bank, als der Prä­si­dent end­lich Ruhe zu schaf­fen be­gann im Saal. Sei­ne Nach­barn hat­ten ihn ver­ges­sen, sie steck­ten noch die Köp­fe zu­sam­men.

Da fiel der Blick des An­klä­gers Pin­scher auf Ul­rich Heff­ke, er be­trach­te­te ver­wun­dert die er­bar­mungs­wür­di­ge Ge­stalt und rief: »He, Sie da …! Sie sind doch der Bru­der der An­ge­klag­ten! Wie hei­ßen Sie doch?«

»Heff­ke, Ul­rich Heff­ke«, half dem An­klä­ger sein As­ses­sor aus.

»Zeu­ge Ul­rich Heff­ke, das war Ihre Schwes­ter! Ich for­de­re Sie auf, sich zu dem Vor­le­ben der Anna Quan­gel zu äu­ßern! Was wis­sen Sie von die­sem Vor­le­ben?«

Und Ul­rich Heff­ke tat den Mund auf – er stand noch im­mer auf sei­ner Bank, und sei­ne Au­gen blick­ten zum ers­ten Male ohne Scheu. Er tat den Mund auf, und mit ei­ner an­ge­neh­men Fal­sett­stim­me sang er:

»Va­let will ich dir ge­ben, du arge, falsche Welt!

Dein sünd­lich bö­ses Stre­ben durch­aus mir nicht ge­fällt.

Im Him­mel ist gut woh­nen: hin­auf steht mein Be­gier.

Da wird Gott herr­lich loh­nen dem, der ihm dient all­hier!«

Alle wa­ren der­art ver­blüfft, dass sie ihn ru­hig sin­gen lie­ßen. Ei­ni­ge emp­fan­den so­gar die­sen schlich­ten Ge­sang an­ge­nehm und wieg­ten, der Me­lo­die fol­gend, dumm die Köp­fe hin und her. Der eine Bei­sit­zer hat­te schon wie­der den Mund weit of­fen. Die Stu­den­ten hiel­ten mit den Hän­den die Schran­ke fest um­klam­mert, mit ei­nem ge­spann­ten Zug im Ge­sicht. Der ver­sorg­te graue An­walt pul­te sich bei schief­ge­leg­tem Kopf ge­dan­ken­voll in der Nase. Otto Quan­gel hat­te sein schar­fes Ge­sicht auf den Schwa­ger ge­rich­tet und fühl­te zum ers­ten Male sein kal­tes Herz für den ar­men klei­nen Kerl klop­fen. Was wür­den sie mit ihm tun?

»Ver­birg mein Seel aus Gna­den in dei­ner off­nen Seit,

Rück sie aus al­lem Scha­den in dei­ne Herr­lich­keit.

Der ist wohl hin ge­we­sen, der kommt ins Him­mels­schloss;

Der ist ewig ge­ne­sen, der bleibt in dei­nem Schoß.«

Wäh­rend des Ab­sin­gens der zwei­ten Stro­phe war es im Saa­le schon wie­der un­ru­hig ge­wor­den. Der Prä­si­dent hat­te ge­flüs­tert, der An­klä­ger hat­te einen Zet­tel zu dem wach­ha­ben­den Po­li­zei­of­fi­zier ge­schickt.

 

Aber der klei­ne Bu­ckel hat­te auf nichts von al­le­dem ge­ach­tet. Sein Blick war zur De­cke des Saa­l­es ge­rich­tet. Nun rief er laut, mit ei­ner ek­sta­tisch ver­zück­ten Stim­me: »Ich kom­me!«

Er hob die Arme, er stieß sich mit den Fü­ßen von der Bank ab, er woll­te flie­gen …

Dann fiel er un­be­hol­fen zwi­schen die vor ihm sit­zen­den Zeu­gen, die er­schro­cken zur Sei­te spran­gen, roll­te zwi­schen die Bän­ke …

»Schaf­fen Sie den Mann raus!«, rief der Prä­si­dent ge­bie­te­risch in den schon wie­der tu­mul­tua­risch er­reg­ten Saal. »Er soll ärzt­lich un­ter­sucht wer­den!«

Ul­rich Heff­ke wur­de aus dem Saal ge­bracht.

»Wie man sieht: eine Fa­mi­lie von Ver­bre­chern und Wahn­sin­ni­gen«, stell­te der Prä­si­dent fest. »Nun, es wird für die Aus­mer­zung ge­sorgt wer­den.«

Und er warf einen dro­hen­den Blick auf Otto Quan­gel, der, sei­ne Ho­sen mit den Hän­den hal­tend, noch im­mer auf die Tür sah, durch die der klei­ne Schwa­ger ver­schwun­den war.

Frei­lich wur­de für die Aus­mer­zung des klei­nen Bu­ckels Ul­rich Heff­ke ge­sorgt. Kör­per­lich wie geis­tig war er nicht le­bens­wert, und nach ei­nem kur­z­en An­stalts­auf­ent­halt sorg­te eine Sprit­ze da­für, dass er die­ser bö­sen Welt wirk­lich Va­let sa­gen konn­te.

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