Als Otto Quangel von einem Aufseher in seine neue Zelle im Untersuchungsgefängnis geführt wurde, stand ein großer Mann vom Tisch auf, an dem er lesend gesessen, und stellte sich unter das Zellenfenster, in der vorschriftsmäßigen Haltung, mit den Händen an der Hosennaht. Aber die Art, wie er diese »Ehrenbezeigung« ausführte, verriet, dass er sie nicht für sehr notwendig hielt.
Der Aufseher winkte auch gleich ab. »Is ja jut, Herr Doktor«, sagte er. »Da haben Sie einen neuen Zellengefährten!«
»Schön!«, sagte der Mann, der aber für Otto Quangel mit seinem dunklen Anzug, seinem Sporthemd und Schlips mehr wie ein »Herr« als wie ein Zellenkamerad aussah. »Schön! Mein Name ist Reichhardt, Musiker. Kommunistischer Umtriebe beschuldigt. Und Sie?«
Quangel fühlte eine kühle, feste Hand in der seinen. »Quangel«, sagte er zögernd. »Ich bin Tischler. Ich soll Hoch- und Landesverrat begangen haben.«
»Ach, Sie!«, rief der Dr. Reichhardt, der Musiker, dem Aufseher nach, der eben die Tür schließen wollte. »Von heut an wieder zwei Portionen, ja?«
»Is ja jut, Herr Doktor!«, sagte der Aufseher. »Weeß ich ja von alleene!«
Und die Tür schloss sich.
Die beiden sahen sich einen Augenblick prüfend an. Quangel war misstrauisch, fast sehnte er sich nach seinem Karlchen Hund im Gestapokeller zurück. Mit diesem feinen Herrn, einem richtigen Doktor, sollte er nun zusammenleben – es war ihm unbehaglich.
Der »Herr« lächelte mit den Augen. Dann sagte er: »Tun Sie nur so, als wenn Sie alleine wären, wenn Ihnen das lieber ist. Ich werde Sie nicht stören. Ich lese viel, ich spiele mit mir selbst Schach. Ich treibe Gymnastik, um den Körper frisch zu erhalten. Manchmal singe ich ein wenig vor mich hin, aber nur ganz leise; es ist natürlich verboten. Würde Sie das stören?«
»Nein, das stört mich nicht«, antwortete Quangel. Und fast wider seinen Willen setzte er hinzu: »Ich komme aus dem Bunker von der Gestapo und habe da an die drei Wochen mit einem Verrückten zusammengesperrt gelebt, der ewig nackt war und Hund spielte. Mich stört so leicht nichts mehr.«
»Gut!«, sagte der Dr. Reichhardt. »Noch schöner wär’s freilich gewesen, wenn Sie Musik ein wenig gefreut hätte. Es ist die einzige Art, sich hier in diesen Mauern Harmonie zu verschaffen.«
»Davon versteh ich nichts«, antwortete Otto Quangel abweisend. Und er setzte hinzu: »Es ist ein mächtig feines Haus gegen das, wo ich gewesen bin, was?«
Der Herr hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und sein Buch in die Hand genommen. Er antwortete freundlich: »Ich war da unten auch eine Weile, wo Sie gewesen sind. Ja, etwas besser ist es schon hier. Wenigstens wird man nicht geschlagen. Die Aufseher sind meist stumpf, aber nicht völlig verroht. Doch Gefängnis bleibt Gefängnis, das wissen Sie ja. Ein paar Erleichterungen. Ich darf zum Beispiel lesen, rauchen, mir mein eigenes Essen kommen lassen, eigene Kleidung und Bettwäsche halten. Aber ich bin ein Sonderfall, und auch eine erleichterte Haft bleibt Haft. Man muss erst so weit kommen, dass man die Gitter nicht mehr fühlt.«
»Und sind Sie soweit?«
»Vielleicht. Meistens. Nicht immer. Durchaus nicht immer. Wenn ich zum Beispiel an meine Familie denke, dann nicht.«
»Ich hab nur ’ne Frau«, sagte Quangel. »Hat dieses Gefängnis auch eine Frauenseite?«
»Ja, die gibt es hier, wir sehen aber nie etwas von den Frauen.«
»Natürlich nicht.« Otto Quangel seufzte schwer. »Meine Frau haben sie auch eingesteckt. Hoffentlich haben sie die heute auch hierher gebracht.« Und er setzte hinzu: »Sie ist zu weich für das, was sie im Bunker aushalten musste.«
»Hoffentlich ist sie auch hier«, sagte der Herr freundlich. »Wir werden es durch den Pastor erfahren. Vielleicht kommt er noch heute Nachmittag. Übrigens dürfen Sie sich auch einen Verteidiger nehmen, jetzt, da Sie hier sind.«
Er nickte Quangel freundlich zu, sagte noch: »In einer Stunde gibt es Mittag«, setzte die Lesebrille auf und fing an zu lesen.
Quangel sah einen Augenblick zu ihm hin, aber der Herr wollte nicht weitersprechen, sondern las wirklich.
Komisch, diese feinen Leute!, dachte er. Ich hätt noch ’ne Masse zu fragen gehabt. Aber wenn er nicht will, auch gut. Ich will nicht sein Hund werden, der ihm keine Ruhe lässt.
Und ein wenig gekränkt machte er sich an das Beziehen seines Bettes.
Die Zelle war sehr sauber und hell. Sie war auch nicht gar zu klein, man konnte drei und einen halben Schritt hin- und wieder drei und einen halben Schritt zurückgehen. Das Fenster stand halb offen, die Luft war gut. Es roch hier angenehm; wie Quangel später feststellen konnte, kam dieser gute Geruch von der Seife und der Wäsche des Herrn Reichhardt her. Nach der stickig-stinkenden Atmosphäre des Gestapobunkers fühlte sich Quangel an einen hellen, fröhlichen Ort versetzt.
Nachdem er sein Bett bezogen hatte, setzte er sich darauf und sah zu seinem Zellengenossen hin. Der Herr las. In ziemlich rascher Folge wendete er Blatt um Blatt um. Quangel, der sich nicht erinnern konnte, seit seiner Schulzeit ein Buch gelesen zu haben, dachte verwundert: Was der nur zu lesen hat? Ob der nichts nachzudenken hat, hier, an diesem Ort? Ich könnte nicht so ruhig sitzen und lesen! Ich muss immerzu an Anna denken, und wie alles gekommen ist und wie es weitergeht und ob ich mich auch weiter anständig halte. Er sagt, ich kann mir ’nen Rechtsanwalt nehmen. Aber ein Rechtsanwalt kostet einen Haufen Geld, und was soll er mir nützen, wo ich schon so zum Tode verurteilt bin? Ich habe doch alles zugegeben! So ein feiner Herr – bei dem ist alles anders. Ich hab’s ja gleich gesehen, wie ich reinkam, der Aufseher hat ihn richtig mit Herr und Doktor angeredet. Der wird nicht viel ausgefressen haben – der hat gut lesen. Immerzu lesen …
Der Doktor Reichhardt unterbrach nur zweimal sein vormittägliches Lesen. Das eine Mal sagte er, ohne aufzusehen: »Zigaretten und Streichhölzer liegen im Schränkchen – wenn Sie rauchen mögen?«
Aber als Quangel antwortete: »Ich rauche doch nicht! Dafür ist mir mein Geld zu schade!«, las er schon wieder.
Das andere Mal war Quangel auf den Schemel gestiegen und bemühte sich, auf den Hof hinauszuschauen, von dem das gleichmäßige Scharren vieler Füße ertönte.
»Jetzt lieber nicht, Herr Quangel!«, sagte der Dr. Reichhardt. »Jetzt ist Freistunde. Manche Beamte merken sich genau die Fenster, wo einer rausschaut. Dann fliegt der in die Dunkelzelle bei Wasser und Brot. Abends können Sie meist aus dem Fenster sehen.«
Dann kam das Mittagessen. Quangel, der den liederlich zusammengekochten Fraß des Gestapobunkers gewohnt war, sah mit Staunen, dass es hier zwei große Näpfe mit Suppe gab und zwei Teller mit Fleisch, Kartoffeln und grünen Bohnen. Aber mit noch größerem Erstaunen sah er, wie sein Zellengenosse sich in das Waschbecken ein wenig Wasser tat, sich sorgfältig die Hände wusch und sie dann abtrocknete. Dr. Reichhardt füllte neues Wasser ins Becken und sagte sehr höflich: »Bitte sehr, Herr Quangel!«, und Quangel wusch sich gehorsam auch die Hände, obwohl er doch nichts Schmutziges angefasst hatte.
Dann aßen sie fast schweigend das für Quangel ungewohnt gute Mittagessen.
Es dauerte drei Tage, bis der Werkmeister begriff, dass dieses Essen nicht die übliche vom Volksgericht den Untersuchungshäftlingen gespendete Kost war, sondern Herrn Dr. Reichhardts privates Essen, an dem er seinen Zellengenossen ohne alles Aufheben teilnehmen ließ. Wie er auch bereit war, Quangel von allem abzugeben, von seinen Rauchwaren, der Seife, seinen Büchern; der andere musste nur wollen.
Und es dauerte noch einige Tage länger, bis Otto Quangel sein plötzlich angesichts all solcher Freundlichkeiten gegen Dr. Reichhardt aufgekommenes Misstrauen überwand. Wer solche ungeheuerlichen Vergünstigungen genoss, musste ein Spitzel des Volksgerichts sein, dieser Gedanke hatte sich in Otto Quangel festgesetzt. Wer solche Gefälligkeiten erwies, der musste vom anderen was wollen. Nimm dich in acht, Quangel!
Aber was konnte der Mann von ihm wollen? In Quangels Fall lag alles klar, auch vor dem Untersuchungsrichter des Volksgerichts hatte er nüchtern und ohne viel Worte die Aussagen wiederholt, die er schon vor den Kommissaren Escherich und Laub gemacht hatte. Er hatte alles erzählt, wie es wirklich gewesen war, und wenn die Akten noch immer nicht zur Anklageerhebung und Festsetzung des Verhandlungstermins weitergegeben waren, so lag das nur daran, dass Frau Anna mit einer Hartnäckigkeit sondergleichen darauf bestand, sie habe eigentlich alles getan und ihr Mann sei nur ein Werkzeug in ihrer Hand gewesen. Aber das alles gab keinerlei Grund ab, kostbare Zigaretten und sättigendes, sauberes Essen an Quangel zu verschenken. Der Fall lag klar, es gab an ihm nichts zu bespitzeln.
Richtig überwand Quangel sein Misstrauen gegen Dr. Reichhardt erst in einer Nacht, da sein Zellenkamerad, der überlegene, feine Herr, ihm flüsternd gestand, dass auch er noch oft eine grauenhafte Angst vor dem Tode habe, sei es nun Fallbeil oder Strick; der Gedanke daran beschäftige ihn oft stundenlang. Dr. Reichhardt gestand nun auch ein, dass er oft nur mechanisch die Seiten seines Buches umwendete: vor den Augen stand ihm nicht die schwarze Druckschrift, sondern ein grau zementierter Gefängnishof, ein Galgen mit einem sachte im Winde baumelnden Strick, der aus einem gesunden, kräftigen Manne in drei bis fünf Minuten ein widerliches, verrecktes Stück Kadaver machte.
Aber noch grauenhafter als dieses Ende, dem Dr. Reichhardt (seiner festen Annahme nach) mit jedem Tag seines Lebens unaufhaltsam nähergebracht wurde, noch grauenhafter war ihm der Gedanke an seine Familie. Quangel erfuhr, dass Reichhardt von seiner Frau drei Kinder hatte, zwei Jungen, ein Mädel, das älteste elf, das jüngste erst vier Jahre alt. Und Reichhardt hatte oft Angst, grauenhafte, panische Angst, dass die Verfolger sich nicht mit der Ermordung des Vaters begnügen, sondern dass sie ihre Rache auch auf die unschuldige Frau und die Kinder ausdehnen, sie in ein KZ verschleppen und langsam zu Tode martern würden.
Angesichts dieser Sorgen wurde nicht nur Quangels Misstrauen weggefegt, sondern er kam sich auch wie ein vergleichsweise begünstigter Mann vor. Er hatte nur um Anna zu sorgen, und wenn ihre Aussagen auch widersinnig und töricht waren, so sah er doch aus ihnen, dass Anna Mut und Kraft zurückgewonnen hatte. Eines Tages würden sie beide gemeinsam sterben müssen, aber das Sterben wurde leichter gemacht dadurch, dass es gemeinschaftlich geschah, dass sie niemanden auf der Erde zurückließen, um den sie sich in ihrer Todesstunde noch ängstigen mussten. Die Qualen, die Dr. Reichhardt um seine Frau und seine drei Kinder leiden musste, waren unvergleichlich größer. Sie würden ihn bis in die letzte Sekunde seines Sterbens begleiten, das begriff der alte Werkmeister wohl.
Was Dr. Reichhardt eigentlich verbrochen haben sollte, dass ihm der Tod so gewiss schien, erfuhr Quangel nie ganz genau. Es schien ihm, als habe sein Zellengefährte sich nicht so sehr aktiv gegen die Hitlerdiktatur vergangen, sich nicht verschworen, keine Plakate geklebt, keine Attentate vorbereitet, als vielmehr nur so gelebt, wie es seiner Überzeugung entsprach. Er hatte sich allen nationalsozialistischen Lockungen entzogen, er hatte nie mit Wort oder Tat oder Geld zu ihren Sammlungen etwas beigesteuert, aber er hatte oft seine warnende Stimme erhoben. Er hatte klar gesagt, für wie unheilvoll er den Weg hielt, den das deutsche Volk unter dieser Führung ging, kurz, er hatte all das, was Quangel in wenigen Sätzen unbeholfen auf Postkarten geschrieben hatte, zu jedem geäußert, im Inlande wie im Auslande. Denn bis in die letzten Kriegsjahre hinein hatten den Dr. Reichhardt seine Konzerte noch ins Ausland geführt.
Es brauchte sehr viel Zeit, bis der Tischler Quangel sich ein einigermaßen klares Bild von der Art der Arbeit machte, die Dr. Reichhardt draußen in der Welt geleistet hatte – und ganz klar wurde dieses Bild nie, und ganz als Arbeit sah er in seinem tiefsten Innern die Tätigkeit Reichhardts nie an.
Als er zuerst gehört hatte, dass Reichhardt Musiker war, hatte er an die Musikanten gedacht, die in den kleinen Kaffeehäusern zum Tanz aufspielen, und er hatte mitleidig und verächtlich über solche Arbeit für einen starken Mann mit gesunden Gliedern gelächelt. Das war genau wie das Lesen etwas Überflüssiges, auf das nur feine Leute gerieten, die keine vernünftige Arbeit hatten.
Reichhardt musste es dem alten Mann weitläufig und immer wieder erklären, was ein Orchester war und was ein Dirigent tat. Quangel wollte das immer wieder hören.
»Und dann stehen Sie also mit einem Stöckchen vor Ihren Leuten und machen nicht mal selbst Musik …?«
Ja, so sei es wohl.
»Und nur dafür, dass Sie anzeigen, wann jeder losspielen muss und wie laut – nur dafür bekommen Sie so viel Geld?«
Ja, Herr Dr. Reichhardt fürchtete, so sei es wohl, nur dafür bekam er so viel Geld.
»Aber Sie können doch selbst Musik machen, auf der Geige oder auf dem Klavier?«
»Ja, das kann ich. Aber ich tue es nicht, wenigstens nie vor dem Publikum. Sehen Sie mal, Quangel, das ist doch ähnlich wie bei Ihnen: auch Sie können hobeln und sägen und Nägel einklopfen. Aber Sie haben es nicht getan, Sie haben nur die anderen beaufsichtigt.«
»Ja, damit sie möglichst viel schaffen. Haben denn Ihre Leute dadurch, dass Sie dastanden, nun schneller und mehr gespielt?«
»Nein, das haben sie freilich nicht getan.«
Schweigen.
Dann sagte Quangel plötzlich: »Und bloß Musik … Sehen Sie, wenn wir in unsern guten Zeiten gearbeitet haben, nicht bloß Särge, sondern Möbel, Anrichten und Bücherschränke und Tische, da haben wir was gearbeitet, was sich sehen lassen konnte! Beste Tischlerarbeit, verzapft und geleimt, was noch in hundert Jahren hält. Aber bloß Musik – wenn Sie aufhören, ist nichts von Ihrer Arbeit geblieben.«
»Doch, Quangel, die Freude in den Menschen, die gute Musik hören, die bleibt.«
Nein, in diesem Punkte kamen sie nie zu einem vollen Einverständnis; eine leise Verachtung für die Tätigkeit des Dirigenten Reichhardt blieb in Quangel zurück.
Aber er sah, dass der andere ein Mann war, ein aufrechter, wahrhaftiger Mann, der unter Bedrohungen und Schrecknissen sein Leben unbeirrt weitergelebt hatte, stets freundlich, stets hilfsbereit. Staunend begriff Otto Quangel, dass die Freundlichkeiten, die ihm Reichhardt erwies, nicht speziell ihm galten, sondern dass er sie jedem Zellengenossen erwiesen hätte, zum Beispiel auch dem »Hund«. Einige Tage hatten sie einen kleinen Dieb in der Zelle, ein verdorbenes, verlogenes Geschöpf, und dieser Bengel nützte die Freundlichkeiten des Doktors hohnlachend aus; er rauchte ihm all seine Zigaretten fort, er verhandelte seine Seife an den Kalfaktor, er stahl das Brot. Quangel hätte diese Kreatur am liebsten verprügelt, oh, der alte Werkmeister hätte den Bengel schon zurechtgestutzt. Aber der Doktor wollte das nicht haben, er nahm den Dieb, der seine Güte als Schwäche verspottete, in Schutz.
Als der Kerl schließlich aus ihrer Zelle geholt worden war, als sich herausgestellt hatte, dass er in unbegreiflicher Bosheit ein Bild, das einzige Bild, das Dr. Reichhardt von Frau und Kindern besaß, zerrissen hatte, als der Doktor trauernd vor den Fetzen dieses Bildes saß, die sich doch nicht wieder zusammenfügen lassen wollten, und als Quangel da zornig sagte: »Wissen Sie, Herr Doktor, ich glaube manchmal, Sie sind wirklich schlapp. Wenn Sie mir gleich erlaubt hätten, den Schuft ordentlich zusammenzustauchen, da hätte so was nicht passieren können« – da antwortete der Dirigent mit einem traurigen Lächeln: »Wollen wir denn werden wie die anderen, Quangel? Die glauben doch, dass sie uns mit Schlägen zu ihren Ansichten bekehren können! Aber wir glauben nicht an die Herrschaft der Gewalt. Wir glauben an Güte, Liebe, Gerechtigkeit.«
»Güte und Liebe für solch einen boshaften Affen!«
»Wissen Sie denn, wie er so boshaft wurde? Wissen Sie, ob er sich jetzt nicht gegen Güte und Liebe nur wehrt, weil er Angst davor hat, wenn er nicht mehr schlecht ist, anders leben zu müssen? Hätten wir den Jungen nur noch vier Wochen in unserer Zelle gehabt, Sie hätten die Wirkung schon gespürt.«
»Man muss auch hart sein können, Doktor!«
»Nein, das muss man nicht. Solch ein Satz gibt die Entschuldigung für jede Lieblosigkeit ab, Quangel!«
Quangel bewegte unmutig den Kopf mit dem scharfen, harten Vogelgesicht hin und her. Aber er widersprach nicht weiter.
Sie gewöhnten sich aneinander, sie wurden Freunde, soweit ein harter, trockener Mensch wie Otto Quangel der Freund eines aufgeschlossenen, gütigen Menschen werden konnte. Ihr Tag war – durch Reichhardt – fest eingeteilt. Der Doktor stand sehr früh auf, er wusch sich kalt am ganzen Leibe, machte eine halbe Stunde Gymnastikübungen und reinigte dann selbst die Zelle. Später, nach dem Frühstück, las Reichhardt zwei Stunden und ging dann eine Stunde lang in der Zelle auf und ab, wobei er nie vergaß, die Schuhe auszuziehen, um seine Nachbarn in der Zelle darüber und darunter nicht durch sein ständiges Aufundabgehen nervös zu machen.
Bei diesem Morgenspaziergang, der von zehn bis elf Uhr dauerte, sang Dr. Reichhardt vor sich hin. Meist summte er nur ganz leise, denn vielen Aufsehern war kaum etwas Gutes zuzutrauen, und Quangel hatte sich daran gewöhnt, diesem Summen zu lauschen. So wenig er auch von der Musik halten mochte, er merkte doch, dass dieses Summen ihn beeinflusste. Manchmal machte es ihn mutig und stark genug, jedes Schicksal zu ertragen, dann sagte Reichhardt wohl: »Beethoven«. Und manchmal machte es ihn auf eine unbegreifliche Art leicht und fröhlich, wie er es nie in seinem Leben gewesen war, dann sagte Reichhardt: »Mozart«, und Quangel wusste nichts mehr von seinen Sorgen. Und wiederum kam es dunkel und schwer von des Doktors Munde, dann war es manchmal wie ein Schmerz in Quangels Brust und wieder, als säße er als Junge mit seiner Mutter in der Kirche: das ganze Leben lag noch vor ihm, und das war etwas Großes. Reichhardt aber sagte: »Johann Sebastian Bach«.
Ja, Quangel, der immer weiter wenig von der Musik hielt, konnte sich doch nicht ganz ihrem Einfluss entziehen, so primitiv das Singen und Summen des Doktors auch war. Er gewöhnte sich daran, auf einem Schemel sitzend, ihm zu lauschen, wie er dort auf und ab ging, meist geschlossenen Auges, denn die Füße kannten den schmalen, kurzen Zellenweg. Quangel sah dem Mann ins Gesicht, diesem feinen Herrn, mit dem er draußen in der Welt nicht ein Wort zu reden gewusst hätte, und manchmal kamen ihm Zweifel, ob er denn sein eigenes Leben wohl auf die richtige Art geführt hätte, getrennt von allen anderen, ein Leben selbstgewollter Vereinzelung.
Der Dr. Reichhardt sagte auch manchmal: »Wir leben nicht für uns, sondern für die anderen. Was wir aus uns machen, machen wir nicht für uns aus uns, sondern nur für die anderen …«
Ja, es war kein Zweifel: über die fünfzig hinaus, gewiss eines nahen Todes, wandelte sich Quangel noch. Er sah es nicht gerne, er wehrte sich dagegen, und doch merkte er immer stärker, dass er sich wandelte, nicht nur durch die Musik, sondern vor allem durch das Beispiel des summenden Mannes. Er, der seiner Anna so oft den Mund verboten hatte, der Stille um sich für den erstrebenswertesten Zustand hielt, er ertappte sich dabei, dass er sich danach sehnte, der Dr. Reichhardt möge doch endlich einmal das Buch aus der Hand legen und wieder ein Wort zu ihm sprechen.
Meist geschah es dann nach seinem Sehnen. Plötzlich sah der Doktor vom Lesen hoch und fragte lächelnd: »Nun, Quangel?«
»Nichts, Herr Doktor.«
»Sie sollten nicht so viel sitzen und grübeln. Wollen Sie es nicht doch einmal mit dem Lesen versuchen?«
»Nein, dafür ist es zu spät für mich.«
»Vielleicht haben Sie recht. Was haben Sie sonst getrieben nach Ihrer Arbeit? Sie können nicht die ganze Zeit, wenn Sie nicht in der Werkstatt waren, tatenlos zu Haus gesessen haben, ein Mann wie Sie!«
»Da habe ich meine Karten geschrieben.«
»Und früher, als noch kein Krieg war?«
Quangel musste erst richtig überlegen, was er früher getan hatte. »Ja, ganz früher habe ich gerne geschnitzt.«
Und der Doktor sagte nachdenklich: »Tja, das werden sie uns freilich nicht erlauben: Messer. Wir dürfen den Henker doch nicht um seine Gebühren bringen, Quangel!«
Und Quangel, zögernd: »Wie ist das, Doktor, Sie spielen Schach immer mit sich allein? Man kann das doch auch zu mehreren spielen?«
»Ja, zu zweien. Hätten Sie Lust, es zu lernen?«
»Ich glaube, ich bin zu dumm dafür.«
»Unsinn! Wir wollen es gleich einmal versuchen.«
Und der Dr. Reichhardt klappte sein Buch zu.
So lernte Quangel noch das Schachspiel. Er lernte es zu seiner Überraschung sehr schnell und ohne alle Schwierigkeiten. Und er erfuhr wieder einmal, dass etwas, was er früher gedacht hatte, grundfalsch war. Er hatte es ein bisschen albern und kindisch gefunden, wenn er in einem Kaffeehause gesehen hatte, wie zwei Männer Holzstückchen zwischen sich hin und her schoben, er hatte es Zeit totschlagen genannt, etwas für Kinder.
Nun erfuhr er, dass dies Hin- und Herschieben von Hölzchen auch etwas wie Glück geben konnte, eine Klarheit im Kopf, die tiefe, ehrliche Freude über einen schönen Zug, die Entdeckung, dass es sehr wenig darauf ankam, ob man gewann oder verlor, dass vielmehr die Freude an einer schön gespielten verlorenen Partie weit größer war als die über ein Spiel, das er durch einen Fehler des Doktors gewonnen hatte.
Wenn jetzt der Dr. Reichhardt las, saß Quangel ihm gegenüber, das Schachbrett mit den schwarzen und weißen Figuren vor sich, daneben den Reclam-Band: Dufresne, Lehrbuch des Schachspiels, und er übte sich in Eröffnungen und Endspielen. Später ging er zum Nachspielen ganzer Meisterpartien über, sein klarer, nüchterner Kopf behielt mühelos zwanzig, dreißig Züge, und schnell kam der Tag, da er der überlegene Spieler war.
»Schach und matt, Herr Doktor!«
»Da haben Sie mich also wieder drangekriegt, Quangel!«, sagte der Doktor und neigte seinen König grüßend vor dem Gegner. »Sie haben das Zeug zu einem sehr guten Spieler in sich.«
»Ich denke jetzt manchmal, Herr Doktor, zu was allem ich wohl das Zeug in mir habe, von dem ich früher nichts wusste. Erst seit ich Sie kenne, erst seitdem ich zum Sterben in diesen Zementkasten gekommen bin, erfahre ich, wie viel ich in meinem Leben doch verpasst habe.«
»Das wird jedem so gehen. Jeder, der sterben muss, und vor allem jeder, der wie wir vor seiner Zeit sterben muss, wird sich über jede vertrödelte Stunde seines Lebens grämen.«
»Aber bei mir ist es doch noch ganz anders, Herr Doktor. Ich hab immer gedacht, es ist genug, wenn ich mein Handwerk ordentlich tue und nichts verlumpe. Und nun erfahre ich, ich hätte noch ’ne ganze Menge andere Dinge tun können: Schach spielen, nett zu den Menschen sein, Musik hören, ins Theater gehen. Wirklich, Herr Doktor, wenn ich vor meinem Sterben noch einen Wunsch äußern dürfte, ich möchte Sie mal mit Ihrem Stöckchen in so einem großen Symphoniekonzert sehen, wie Sie’s nennen. Ich bin neugierig, wie das aussieht und wie es auf mich wirken würde.«
»Keiner kann nach allen Richtungen leben, Quangel. Das Leben ist so reich. Sie würden sich zersplittert haben. Sie haben Ihre Arbeit getan und sich immer als ganzer Mann gefühlt. Als Sie noch draußen waren, hat Ihnen nichts gefehlt, Quangel. Sie haben Ihre Postkarten geschrieben …«
»Aber sie haben doch nichts genützt, Herr Doktor! Ich habe gedacht, es haut mich hin, wie der Kommissar Escherich mir beweist, dass von 285 Karten, die ich geschrieben, 267 in seine Hände geraten sind! Nur 18 nicht erwischt! Und diese 18 haben auch nichts gewirkt!«
»Wer weiß? Und Sie haben doch wenigstens dem Schlechten widerstanden. Sie sind nicht mit schlecht geworden. Sie und ich und die vielen hier in diesem Hause und viele, viele in anderen festen Häusern und die Zehntausende in den KZs – sie widerstehen alle noch, heute, morgen …«
»Ja, und dann wird uns das Leben genommen, und was hat dann unser Widerstand genützt?«
»Uns – viel, weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können. Und mehr noch dem Volke, das errettet werden wird um der Gerechten willen, wie es in der Bibel heißt. Sehen Sie, Quangel, es wäre natürlich hundert Mal besser gewesen, wir hätten einen Mann gehabt, der uns gesagt hätte: So und so müsst ihr handeln, das und das ist unser Plan. Aber wenn ein solcher Mann in Deutschland gewesen wäre, dann wäre es nie zu 1933 gekommen. So haben wir alle einzeln handeln müssen, und einzeln sind wir gefangen, und jeder wird für sich allein sterben müssen. Aber darum sind wir doch nicht allein, Quangel, darum sterben wir doch nicht umsonst. Umsonst geschieht nichts in dieser Welt, und da wir gegen die rohe Gewalt für das Recht kämpfen, werden wir am Schluss doch die Sieger sein.«
»Und was werden wir davon haben, da unten in unsern Gräbern?«
»Aber, Quangel! Möchten Sie denn lieber für eine ungerechte Sache leben als für eine gerechte sterben? Es gibt doch gar keine Wahl, weder für Sie noch für mich. Weil wir sind, die wir sind, mussten wir diesen Weg gehen.«
Lange schwiegen sie.
Dann fing Quangel wieder an: »Dieses Schachspiel …«
»Ja, Quangel, was ist damit?«
»Ich denke manchmal, ich tue unrecht damit. Viele Stunden habe ich nur das Schach im Kopf, und ich habe doch noch eine Frau …«
»Sie denken genug an Ihre Frau. Sie wollen stark und mutig bleiben; alles, was Sie stark und mutig erhält, ist gut, und was Sie schwach und zweiflerisch macht wie Grübeln, ist schlecht. Was nützt Ihrer Frau das Grübeln? Ihr nützt, wenn der Pastor Lorenz ihr wieder einmal sagen kann, dass Sie stark und mutig sind.«
»Aber er kann, seit sie diese Zellengenossin hat, nicht mehr offen mit ihr sprechen. Der Pastor hält das Weib auch für eine Spionin.«
»Der Pastor wird es Ihrer Frau schon begreiflich machen, dass es Ihnen gut geht und dass Sie sich stark fühlen. Dafür genügt schließlich ein Kopfnicken, ein Blick. Der Pastor Lorenz kennt sich aus.«
»Ich möchte ihm gern einmal einen Brief an Anna mitgeben«, sagte Quangel nachdenklich.
»Tun Sie das lieber nicht. Er würde es nicht abschlagen, aber Sie würden sein Leben in Gefahr bringen. Sie wissen ja, ihm wird ständig misstraut. Es wäre schlimm, wenn auch unser guter Freund in eine solche Zelle käme. Er wagt ja schon so eigentlich jeden Tag sein Leben.«
»Ich werde also keinen Brief schreiben«, sagte Otto Quangel.
Und er tat es auch nicht, obwohl ihm der Pastor am nächsten Tag eine schlimme Nachricht brachte, eine sehr schlimme Nachricht, ganz besonders auch für Anna Quangel. Der Werkmeister bat ihn nur, diese sehr schlimme Nachricht jetzt noch nicht seiner Frau zu bringen.
»Jetzt noch nicht, bitte nicht, Herr Pastor!«
Und der Pastor versprach das auch.
»Nein, noch nicht; Sie werden es mir sagen, wenn es so weit ist, Herr Quangel.«