Hans Fallada – Gesammelte Werke

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56. Baldur Persicke macht Besuch

Bal­dur Per­si­cke, der stol­ze Schü­ler der Na­po­la, der er­folg­reichs­te Spross vom Hau­se Per­si­cke, hat sei­ne Ge­schäf­te in Ber­lin ab­ge­schlos­sen. Er kann end­lich wie­der zu­rück­fah­ren und sich dar­in aus­bil­den, ein Herr der Welt zu sein. Er hat sei­ne Mut­ter wie­der aus ih­rem Schlupf­win­kel bei den Ver­wand­ten zu­rück­ge­holt und ihr streng be­foh­len, die Woh­nung nicht wie­der zu ver­las­sen, sonst pas­sie­re ihr al­ler­lei, und er hat auch ein­mal sei­ne Schwes­ter im KZ Ra­vens­brück be­sucht.

Er hat ihr nicht sei­ne Aner­ken­nung für das treff­li­che An­trei­ben al­ter Frau­en ver­sagt, und abends ha­ben Bru­der und Schwes­ter mit ei­ni­gen an­de­ren Auf­se­he­rin­nen von Ra­vens­brück und ei­ni­gen Freun­den aus Fürs­ten­berg eine rich­ti­ge saf­ti­ge klei­ne Or­gie ge­fei­ert, ganz im in­tims­ten Kreis, mit viel Al­ko­hol, Zi­ga­ret­ten und »Lie­be« …

Aber die Haupt­an­stren­gun­gen Bal­dur Per­sickes ha­ben doch mehr der Er­le­di­gung erns­ter ge­schäft­li­cher An­ge­le­gen­hei­ten ge­gol­ten. Der Va­ter, der alte Per­si­cke, hat­te ja ei­ni­ge klei­ne Dumm­hei­ten in sei­nem Suff be­gan­gen, Geld soll­te in der Kas­se feh­len, er soll­te so­gar vor ein Par­t­ei­ge­richt ge­stellt wer­den. Aber Bal­dur hat­te alle sei­ne Be­zie­hun­gen spie­len las­sen, er hat­te mit ärzt­li­chen At­tes­ten ge­ar­bei­tet, die den Va­ter als einen al­ters­schwa­chen Mann schil­der­ten, er hat­te ge­bet­telt und ge­droht, er war za­ckig und de­mü­tig auf­ge­tre­ten, er hat­te auch den Ein­bruch, bei dem das Geld wie­der ge­stoh­len war, weid­lich aus­ge­beu­tet – und schließ­lich hat­te es der ge­treues­te Sohn des Hau­ses wirk­lich er­reicht, dass die gan­ze fau­le Kis­te ohne Sang und Klang bei­ge­legt wur­de. Nicht ein­mal aus der Woh­nung hat­te er et­was ver­kau­fen müs­sen – der Fehl­be­trag war als ge­stoh­len aus­ge­bucht. Aber nicht etwa vom al­ten Per­si­cke ge­stoh­len – o nein, o nein! Son­dern von Bark­hau­sen und Ge­nos­sen ge­stoh­len, so wur­de ein Schuh dar­aus, so blieb der Ehren­schild der Per­sickes rein.

Und wäh­rend die Her­ge­sells mit Schlä­gen und dem Tode be­droht wur­den für ein Ver­bre­chen, das sie nicht be­gan­gen hat­ten, wur­de das Par­tei­mit­glied Per­si­cke für ein be­gan­ge­nes Ver­bre­chen ent­sühnt.

Also die­ses al­les hat­te Bal­dur Per­si­cke bes­tens er­le­digt, wie es ja auch gar nicht an­ders von ihm zu er­war­ten war. Er hät­te ab­rei­sen kön­nen auf sei­ne Na­po­la, aber vor­her will er doch noch eine An­stands­pflicht er­fül­len, er will sei­nen Va­ter in der Trin­ker­heil­stät­te be­su­chen. Au­ßer­dem möch­te er ja ger­ne ei­ner Wie­der­ho­lung sol­cher Er­eig­nis­se vor­beu­gen und die ängst­li­che Mut­ter in der Woh­nung si­cher­stel­len.

Da er Bal­dur Per­si­cke ist, be­kommt er auch so­fort Be­suchs­er­laub­nis, und er darf den Va­ter so­gar al­lein spre­chen, ohne Arzt- und Pfle­gerauf­sicht.

Bal­dur fin­det, dass der Alte mäch­tig her­un­ter­ge­kom­men aus­sieht, er ist zu­sam­men­ge­fal­len wie ein Gum­mi­tier, in das man mit ei­ner Na­del ge­piekt hat.

Ja, die gu­ten Tage des ver­krach­ten Bu­di­kers sind vor­über, er ist nur noch ein Ge­s­penst, aber ein Ge­s­penst, das nicht frei von Ge­lüs­ten ist. Der Va­ter bet­telt den Sohn um et­was Rauch­ba­res an, und nach­dem der Sohn sich ein paar­mal ge­wei­gert hat (»Das hast du al­ter Ver­bre­cher gar nicht ver­dient«), schenkt er dem Al­ten schließ­lich doch eine Zi­ga­ret­te. Als aber der alte Per­si­cke dar­um bet­telt, der Sohn möge dem Va­ter doch nur ein ein­zi­ges Mal eine Fla­sche Schnaps ein­schmug­geln, da lacht Bal­dur bloß. Er schlägt dem Va­ter auf die dürr ge­wor­de­nen, zitt­ri­gen Knie und sagt: »Das mach dir man ab, Va­ter! Schnaps kriegst du nie mehr in dei­nem Le­ben zu sau­fen, da­mit hast du mir viel zu viel Dumm­hei­ten ge­macht!«

Und wäh­rend der Va­ter böse starrt, be­rich­tet der Sohn selbst­ge­fäl­lig von all der Mühe, die ihm die Bei­le­gung die­ser Dumm­hei­ten ge­macht hat.

Der alte Per­si­cke ist nie ein großer Di­plo­mat ge­we­sen, er hat im­mer sei­ne Mei­nung ge­ra­de­her­aus ge­pol­tert und nie dar­an ge­dacht, was der an­de­re fühlt. So sagt er denn auch jetzt: »Du bist im­mer ein Prahl­hans ge­we­sen, Bal­dur! Das habe ich doch ge­wusst, dass mir von der Par­tei aus nie was pas­sie­ren wür­de, wo ich doch schon fünf­zehn Jah­re in dem Hit­ler sei­nen La­den bin! Nein, wenn’s dich Mühe ge­kos­tet hat, ist nur dei­ne ei­ge­ne Blöd­heit dar­an schuld. Ich hät­t’s mit ein paar Sät­zen er­le­digt, wenn ich erst drau­ßen bin!«

Der Va­ter ist dumm. Hät­te er dem Soh­ne ein biss­chen ge­schmei­chelt, ihm ge­dankt und ihn ge­lobt, so wäre Bal­dur Per­si­cke wohl gnä­di­ger ge­stimmt ge­we­sen. Aber jetzt ist er tief in sei­ner Ei­tel­keit ver­letzt, und er sagt nur kurz: »Ja, wenn du erst drau­ßen bist, Va­ter! Aber du kommst nicht wie­der raus aus die­ser Klaps­müh­le, nie in dei­nem Le­ben!«

Der Va­ter be­kommt bei die­sen er­bar­mungs­lo­sen Wor­ten erst einen sol­chen Schreck, dass er am gan­zen Lei­be zit­tert. Aber er fasst sich wie­der und sagt: »Den möcht ich se­hen, der mich hier hal­ten könn­te! Vor­läu­fig bin ich noch ein frei­er Mensch, und Ober­arzt Dr. Mar­tens hat mir sel­ber ge­sagt, wenn ich noch sechs Wo­chen hier wei­ter die Kur ma­che, kann ich raus. Dann bin ich ge­heilt.«

»Du wirst nie ge­heilt, Va­ter«, sagt Bal­dur spöt­tisch. »Du fängst doch im­mer wie­der mit dei­nen Sau­fe­rei­en an. Das habe ich nun oft ge­nug er­lebt. Ich wer­de das nach­her dem Ober­arzt auch sa­gen und da­für sor­gen, dass du ent­mün­digt wirst!«

»Das tut er nicht! Dr. Mar­tens mag mich mäch­tig ger­ne; er hat ge­sagt, so schö­ne Schwei­ne­rei­en wie ich weiß kei­ner! Der tut mir das nicht an. Und au­ßer­dem hat er mir fest ver­spro­chen, dass ich in sechs Wo­chen ent­las­sen wer­de!«

»Wenn ich ihm aber er­zäh­le, dass du mich eben erst hast über­re­den wol­len, dir eine Fla­sche ein­zu­schmug­geln, wird er an­ders über dei­ne Hei­lung den­ken!«

»Das tust du nicht, Bal­dur! Du bist doch mein Sohn, und ich bin dein Va­ter …«

»Was ist denn da wei­ter bei? Von ir­gend­wem muss ich doch der Sohn sein, und ich fin­de, ich habe ge­ra­de einen von den schä­bigs­ten Vä­tern ab­be­kom­men.«

Er sah sei­nen Va­ter ab­schät­zig an. Und dann setz­te er hin­zu: »Nee, nee, Va­ter, das mach dir man ab, an den Ge­dan­ken ge­wöhn du dich nur: du bleibst hier. Du bla­mierst drau­ßen ja doch nur die gan­ze In­nung!«

Der Alte ist ver­zwei­felt. Er sagt: »Die Mut­ter wird das nie zu­ge­ben, das mit der Ent­mün­di­gung, und dass ich ewig hier­blei­be!«

»Na, so ewig wird’s gar nicht wer­den, wie du jetzt aus­siehst!« Bal­dur lacht und schlägt die Bei­ne mit den schön ge­beu­tel­ten Reit­ho­sen über­ein­an­der. Zufrie­den be­trach­tet er den – von der Mut­ter er­zeug­ten – Glanz sei­ner Stie­fel. »Und Mut­ter hat sol­che Angst vor dir, die wei­gert sich ja so­gar, dich zu be­su­chen. Denkst du, Mut­ter hat ver­ges­sen, wie du sie beim Hal­se ge­habt und ge­würgt hast? Das ver­gisst dir Mut­ter nie!«

»Dann schrei­be ich an den Füh­rer!«, rief der alte Per­si­cke auf­ge­bracht. »Der Füh­rer lässt einen al­ten Kämp­fer nicht im Stich!«

»Was bist du denn dem Füh­rer noch nut­ze? Der Füh­rer schert sich einen Dreck um dich, der wirft nicht einen Blick auf dein Ge­klaue! Au­ßer­dem kannst du mit dei­nen al­ten, zitt­ri­gen Säufer­hän­den gar nicht mehr schrei­ben, und au­ßer­dem las­sen die hier gar kei­nen Brief von dir raus, da­für wer­de ich sor­gen! Scha­de um das Pa­pier!«

»Bal­dur, habe doch Er­bar­men mit mir! Du bist doch mal ein klei­ner Jun­ge ge­we­sen! Ich bin doch sonn­tags mit dir spa­zie­ren ge­gan­gen. Weißt du noch, wie wir mal auf dem Kreuz­berg wa­ren, und das Was­ser lief so schön rosa und blau? Ich hab dir im­mer Würst­chen und Bon­bons ge­kauft, und als du da­mals mit elf Jah­ren die Ge­schich­te mit dem klei­nen Kind an­ge­stellt hat­test, da habe ich da­für ge­sorgt, dass du nicht von der Schu­le flogst und in Zwangs­er­zie­hung kamst! Was wärst du ohne dei­nen ol­len Va­ter, Bal­dur? Und nun darfs­te mich auch nicht in die­ser Klaps­müh­le ste­cken las­sen!«

Bal­dur hat­te sich die­sen lan­gen Er­guss, ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen, an­ge­hört. Nun sag­te er: »Also jetzt willst du auf die Ge­fühl­stu­be drücken, Va­ter? Fin­de ich ganz tüch­tig von dir. Bloß so was wirkt bei mir nicht, das müss­test du doch wis­sen, dass ich mir aus Ge­füh­len nichts ma­che! Ge­füh­le – eine rich­ti­ge Schin­ken­stul­le ist mir lie­ber als alle Ge­füh­le! Aber ich will nicht so sein, ich will dir noch ’ne Zi­ga­ret­te schen­ken – al­lez hopp!«

Aber der Alte war zu auf­ge­regt, um jetzt an Rau­chen zu den­ken. Die Zi­ga­ret­te fiel – zum neu­en Är­ger Bal­durs – un­be­ach­tet auf den Bo­den.

»Bal­dur!«, fleh­te der Alte wie­der. »Du weißt nicht, was dies für ein Haus ist! Hier las­sen sie einen ver­hun­gern, und im­mer schla­gen einen die Pfle­ger. Und die an­de­ren Kran­ken schla­gen mich auch. Ich hab so zitt­ri­ge Hän­de, ich kann mich nicht weh­ren, und dann neh­men sie mir das biss­chen Es­sen auch noch weg …«

Wäh­rend der Alte so fleh­te, hat­te Bal­dur sich zum Fort­ge­hen fer­tig­ge­macht, aber sein Va­ter klam­mer­te sich an ihn, er hielt den Sohn fest und fuhr im­mer ei­li­ger fort: »Und es kom­men noch viel schreck­li­che­re Din­ge vor. Manch­mal gibt der Ober­pfle­ger den Kran­ken, die ein biss­chen laut wa­ren, eine Sprit­ze mit so ’nem grü­nen Zeug, ich weiß nicht, wie es heißt. Und da­von müs­sen die Leu­te im­mer­zu kot­zen, sie kot­zen sich die See­le aus dem Lei­be, und plötz­lich sind sie weg. Mau­se­tot, Bal­dur, du wirst doch nicht wol­len, dass dein Va­ter so stirbt, in­dem er sich die See­le aus dem Lei­be kotzt, dein ei­ge­ner Va­ter! Bal­dur, sei gut, hilf mir! Nimm mich hier raus, ich habe sol­che Angst!«

 

Aber Bal­dur Per­si­cke hat­te sich jetzt lan­ge ge­nug die­ses Ge­flen­ne an­ge­hört. Er mach­te sich von dem al­ten Per­si­cke ge­walt­sam los, drück­te ihn in einen Ses­sel und sag­te: »Na, dann mach’s gut, Va­ter! Ich wer­de die Mut­ter von dir grü­ßen. Und den­ke dar­an, dass da am Tisch noch eine Zi­ga­ret­te liegt. Wäre ja scha­de dar­um!«

Da­mit ging die­ser ech­te Sohn ei­nes ech­ten Va­ters, bei­de ech­te Pro­duk­te hit­le­ri­scher Er­zie­hung.

Bal­dur aber ver­ließ noch nicht die Trin­ker­heil­an­stalt, son­dern er ließ sich bei Herrn Ober­arzt Dr. Mar­tens mel­den. Er hat­te auch Glück, der Ober­arzt war so­wohl da wie auch zu spre­chen. Er be­grüß­te sei­nen Be­su­cher höf­lich, und einen Au­gen­blick sa­hen sich die bei­den vor­sich­tig mus­ternd an.

Dann sag­te der Ober­arzt: »Wie ich sehe, sind Sie auf der Na­po­la, Herr Per­si­cke, oder irre ich mich?«

»Nein, Herr Ober­arzt, ich bin auf der Na­po­la«, ant­wor­te­te Bal­dur stolz.

»Ja, heu­te ge­schieht für un­se­re Ju­gend al­ler­hand«, mein­te der Ober­arzt, bei­fäl­lig ni­ckend. »Ich woll­te, ich hät­te in mei­ner Ju­gend auch sol­che För­de­rung er­fah­ren. Sie sind noch nicht zum Kriegs­dienst ein­ge­zo­gen, Herr Per­si­cke?«

»Mit dem üb­li­chen Kom­miss wer­de ich wohl ver­schont wer­den«, sag­te nach­läs­sig-ver­ächt­lich Bal­dur Per­si­cke. »Ich wer­de wohl ir­gend­ein großes länd­li­ches Ge­biet zur Ver­wal­tung be­kom­men, Ukrai­ne oder Krim. Ein paar Dut­zend Qua­drat­ki­lo­me­ter.«

»Ich ver­ste­he«, nick­te der Arzt. »Und Sie er­wer­ben jetzt die not­wen­di­gen Kennt­nis­se da­für?«

»Ich ent­wi­cke­le mei­ne Füh­re­rei­gen­schaf­ten«, er­klär­te Bal­dur schlicht. »Für alle Fach­ge­schich­ten wer­de ich un­ter­ge­ord­ne­te Kräf­te ha­ben. Aber ich wer­de die Leu­te un­ter Dampf hal­ten. Und die Iwans wer­de ich schlei­fen. Es gibt viel zu viel von de­nen!«

»Ich ver­ste­he«, nick­te wie­der Dr. Mar­tens. »Der Os­ten ist un­ser künf­ti­ges Sied­lungs­ge­biet.«

»Ja­wohl, Herr Ober­arzt, in zwan­zig Jah­ren wird bis an die Küs­ten des Schwar­zen Mee­res, bis an den Ural kein Sla­we mehr le­ben. Al­les wird ein rein deut­sches Land sein. Wir sind die neu­en Or­dens­rit­ter!«

Bal­durs Au­gen hin­ter der Bril­le blitz­ten.

»Und das wer­den wir al­les dem Füh­rer zu ver­dan­ken ha­ben«, sag­te der Ober­arzt. »Ihm und sei­nen Ge­treu­en!«

»Sie sind in der Par­tei, Herr Dok­tor Mar­tens?«

»Lei­der nicht. Die Wahr­heit zu ge­ste­hen, ein Groß­va­ter von mir hat eine Tor­heit be­gan­gen, der be­kann­te klei­ne Web­feh­ler, Sie wis­sen?« Und ei­lig fort­fah­rend: »Aber die Sa­che ist bei­ge­legt und ge­ord­net, mei­ne Chefs sind für mich ein­ge­tre­ten, ich gel­te als rei­ner Ari­er. Ich möch­te sa­gen: ich bin es. In Kür­ze hof­fe ich auch, das Ha­ken­kreuz tra­gen zu dür­fen.«

Bal­dur saß sehr ge­ra­de. Als rei­ner Ari­er fühl­te er sich sei­nem Ge­gen­über weit über­le­gen, der sol­che Hin­ter­trep­pen brauch­te. »Ich woll­te mit Ih­nen we­gen mei­nes Va­ters re­den, Herr Ober­arzt«, sag­te er, fast im Tone ei­nes Vor­ge­setz­ten.

»Oh, mit Ihrem Va­ter geht al­les glatt, Herr Per­si­cke! Ich den­ke, in sechs, acht Wo­chen wer­den wir ihn als ge­heilt ent­las­sen kön­nen …«

»Mein Va­ter ist nicht heil­bar!«, un­ter­brach ihn Bal­dur Per­si­cke schroff. »Mein Va­ter hat ge­trun­ken, seit ich den­ken kann. Und wenn Sie ihn hier vor­mit­tags als ge­heilt ent­las­sen, wird er nach­mit­tags bei uns be­trun­ken an­kom­men. Wir ken­nen die­se Hei­lun­gen. Mei­ne Mut­ter und mei­ne Ge­schwis­ter wün­schen, dass mein Va­ter den Rest sei­nes Le­bens hier ver­bringt. Ich schlie­ße mich die­sen Wün­schen an, Herr Ober­arzt!«

»Ge­wiss, ge­wiss!«, be­eil­te sich der Arzt zu ver­si­chern. »Ich wer­de mit dem Herrn Pro­fes­sor dar­über spre­chen …«

»Das ist ganz un­nö­tig. Was wir hier ver­ein­ba­ren, ist end­gül­tig. Soll­te mein Va­ter wirk­lich wie­der bei uns zu Hau­se ein­tref­fen, so wird da­für ge­sorgt sein, dass noch am glei­chen Tage eine neue Ein­lie­fe­rung hier er­folgt, und zwar ei­nes völ­lig be­trun­ke­nen Man­nes! So wür­de Ihre voll­stän­di­ge Hei­lung aus­se­hen, Herr Ober­arzt, und ich ste­he Ih­nen da­für, dass die Fol­gen für Sie nicht an­ge­nehm sein wür­den!«

Die bei­den sa­hen ein­an­der durch ihre Bril­lenglä­ser an. Aber lei­der war der Ober­arzt ein Feig­ling: er senk­te vor dem scham­los fre­chen Blick Bal­durs das Auge. Er sag­te: »Ge­wiss ist bei Dip­so­ma­nen, bei Trin­kern, die Ge­fahr ei­nes Rück­falls stets groß. Und wenn Ihr Herr Va­ter, wie Sie mir eben be­rich­tet ha­ben, schon stets ge­trun­ken hat …«

»Er hat sei­ne Knei­pe ver­sof­fen. Er hat al­les, was mei­ne Mut­ter ver­dient hat, ver­sof­fen. Und er wür­de heu­te noch al­les, was wir vier Kin­der ver­die­nen, ver­sau­fen, wenn wir es zulie­ßen. Mein Va­ter bleibt hier!«

»Ihr Va­ter bleibt hier. Bis auf Wei­te­res. Wenn Sie spä­ter, even­tu­ell nach dem Krie­ge, bei ei­nem Be­such doch den Ein­druck ha­ben soll­ten, dass Ihr Herr Va­ter sich we­sent­lich ge­bes­sert hat …«

Wie­der schnitt Bal­dur Per­si­cke dem Arzt das Wort ab. »Mein Va­ter wird kei­ne Be­su­che mehr emp­fan­gen, we­der von mir noch von mei­nen Ge­schwis­tern, noch von mei­ner Mut­ter. Wir wis­sen, er ist hier gut auf­ge­ho­ben, das ge­nügt uns.« Bal­dur sah den Arzt durch­drin­gend an, hielt sei­nen Blick fest. Wäh­rend er bis­her mit lau­ter, fast be­feh­len­der Stim­me ge­spro­chen hat­te, fuhr er nun lei­ser fort: »Mein Va­ter hat mir von ge­wis­sen grü­nen Sprit­zen ge­spro­chen, Herr Ober­arzt …«

Der Ober­arzt fuhr ein we­nig zu­sam­men. »Eine rei­ne Er­zie­hungs­maß­nah­me. Ganz ge­le­gent­lich bei re­ni­ten­ten jün­ge­ren Pa­ti­en­ten an­ge­wandt. Schon das Al­ter Ihres Va­ter ver­bie­tet …«

Wie­der wur­de er un­ter­bro­chen. »Mein Va­ter hat be­reits eine die­ser grü­nen Sprit­zen be­kom­men …«

Der Arzt rief: »Das ist aus­ge­schlos­sen! Ver­zei­hung, Herr Per­si­cke, da muss ein Irr­tum vor­lie­gen!«

Bal­dur sag­te streng: »Mein Va­ter hat mir von die­ser einen Sprit­ze be­rich­tet. Er er­zähl­te mir, sie habe ihm gut­ge­tan. Wa­rum wird er nicht wei­ter so be­han­delt, Herr Ober­arzt?«

Der Arzt war völ­lig ver­wirrt. »Aber, Herr Per­si­cke! Eine rei­ne Er­zie­hungs­maß­nah­me! Der Be­han­del­te bricht stun­den­lang, oft ta­ge­lang da­nach!«

»Na, und was wei­ter? Las­sen Sie ihn doch kot­zen! Vi­el­leicht macht ihm Kot­zen Spaß! Mir hat er ver­si­chert, die grü­ne Sprit­ze hät­te ihm gut­ge­tan. Er sehnt sich ge­ra­de­zu nach der zwei­ten. Wa­rum ver­wei­gern Sie ihm das Mit­tel, da es ihn doch bes­sert?«

»Nein, nein!«, sag­te der Arzt ei­lig. Und er setz­te voll Scham über sich selbst hin­zu: »Es muss ein Miss­ver­ständ­nis vor­lie­gen! Ich habe noch nie ge­hört, dass Pa­ti­en­ten eine Sprit­ze mit …«

»Herr Ober­arzt, wer ver­steht einen Pa­ti­en­ten bes­ser als der ei­ge­ne Sohn? Und ich bin der Lieb­lings­sohn mei­nes Va­ters, müs­sen Sie wis­sen. Ich wäre Ih­nen wirk­lich sehr ver­bun­den, wenn Sie dem Ober­pfle­ger, oder wer da­für zu­stän­dig ist, jetzt noch in mei­ner Ge­gen­wart die Wei­sung er­tei­len wür­den, mei­nem Va­ter so­fort solch eine Sprit­ze zu ver­ab­fol­gen. Ich gin­ge so­zu­sa­gen be­ru­hig­ter nach Haus – habe ich dem al­ten Man­ne doch einen Wunsch er­füllt!«

Der Arzt sah sehr blass in das Ge­sicht sei­nes Ge­gen­übers.

»Sie mei­nen also wirk­lich? Ich soll jetzt auf der Stel­le?«, mur­mel­te er.

»Aber kann denn an mei­ner Mei­nung noch ein Zwei­fel be­ste­hen, Herr Ober­arzt? Ich fin­de Sie für einen lei­ten­den Arzt ent­schie­den ein we­nig weich. Sie hat­ten vor­hin wirk­lich ganz recht: Sie hät­ten eine Na­po­la be­su­chen und Ihre Füh­re­rei­gen­schaf­ten kräf­ti­ger ent­wi­ckeln müs­sen!« Und er füg­te bos­haft hin­zu: »Frei­lich gibt es bei Ihrem Ge­burts­feh­ler noch an­de­re Er­zie­hungs­mög­lich­kei­ten …«

Nach ei­ner lan­gen Pau­se sag­te der Arzt lei­se: »Ich wer­de jetzt also ge­hen und Ihrem Va­ter sei­ne Sprit­ze ma­chen …«

»Aber, bit­te, Herr Dok­tor Mar­tens, warum las­sen Sie das nicht den Ober­pfle­ger tun? Da es doch zu sei­nen Pf­lich­ten zu ge­hö­ren scheint?«

Der Arzt saß in ei­nem schwe­ren Kampf mit sich. Es war wie­der ganz still im Zim­mer.

Dann stand er lang­sam auf. »Ich wer­de also dem Ober­pfle­ger Be­scheid sa­gen …«

»Ich be­glei­te Sie ger­ne. Ich in­ter­es­sie­re mich mäch­tig für Ihren Be­trieb. Sie ver­ste­hen, Aus­son­de­rung des nicht Le­bens­wer­ten, Ste­ri­li­sie­run­gen und so wei­ter …«

Bal­dur Per­si­cke stand da­ne­ben, wie der Arzt dem Ober­pfle­ger sei­ne Wei­sun­gen er­teil­te. Dem Pa­ti­en­ten Per­si­cke sei die und die Sprit­ze zu ver­ab­fol­gen …

»Also eine Kotz­sprit­ze, mein Lie­ber!«, sag­te Bal­dur huld­reich. »Wie viel ge­ben Sie denn im All­ge­mei­nen? Soso, na, ein biss­chen mehr wird auch nichts scha­den, was? Kom­men Sie mal, ich habe hier ein paar Zi­ga­ret­ten. Na, neh­men Sie schon die gan­ze Schach­tel, Ober­pfle­ger!«

Der Ober­pfle­ger be­dank­te sich und ging, die Sprit­ze mit der grü­nen Flüs­sig­keit in der Hand.

»Na, da ha­ben Sie aber einen rich­ti­gen Bul­len zum Ober­pfle­ger! Ich kann mir schon den­ken, wenn der da­zwi­schen­schlägt, gib­t’s Klein­holz. Mus­keln, Mus­keln sind das hal­be Le­ben, Herr Dok­tor Mar­tens! Na, denn noch mei­nen schöns­ten Dank, Herr Ober­arzt! Hof­fent­lich geht die Be­hand­lung recht er­folg­reich wei­ter. Na denn, Heil Hit­ler!«

»Heil Hit­ler, Herr Per­si­cke!«

In sei­nem Dienst­zim­mer an­ge­kom­men, sank der Ober­arzt Dr. Mar­tens schwer in einen Ses­sel. Er fühl­te, dass er an al­len Glie­dern zit­ter­te und dass kal­ter Schweiß sei­ne Stir­ne be­deck­te. Aber er fand noch kei­ne Ruhe. Er stand wie­der auf und ging an den Me­di­ka­men­ten­schrank. Lang­sam zog er sich eine Sprit­ze auf. Aber es war kei­ne grü­ne Flüs­sig­keit dar­in, so­sehr er auch Grund fühl­te, über die gan­ze Welt und sein Le­ben ins­be­son­de­re zu kot­zen. Dr. Mar­tens zog Mor­phi­um vor.

Er kehr­te in sei­nen Ses­sel zu­rück, streck­te die Glie­der be­hag­lich aus, auf die Wir­kung des Nar­ko­ti­kums war­tend.

Wie fei­ge ich doch bin!, dach­te er. Fei­ge zum Ekeln! Die­ser elen­de, fre­che Ben­gel – wahr­schein­lich be­steht der ein­zi­ge Ein­fluss, den er hat, in sei­ner großen Schnau­ze. Und ich bin vor ihm ge­kro­chen. Ich hät­te es nicht nö­tig ge­habt. Aber im­mer die­se ver­fluch­te Groß­mut­ter, und dass ich den Mund nicht hal­ten kann! Und da­bei war sie eine so rei­zen­de alte Dame, und ich habe sie so ge­liebt …

Sei­ne Ge­dan­ken ver­lo­ren sich, er sah die alte Dame mit dem fei­nen Ge­sicht wie­der vor sich. In ih­rer Woh­nung roch es über­all nach dem Pot­pour­ri­topf mit Ro­sen­blät­tern und nach Anis­ku­chen. Sie hat­te eine so fei­ne Hand, eine alt­ge­wor­de­ne Kin­der­hand …

Und ih­ret­we­gen habe ich mich vor die­sem Schuft ge­de­mü­tigt! Aber ich glau­be, Herr Per­si­cke, ich wer­de doch lie­ber nicht in die Par­tei ein­tre­ten. Ich glau­be, da­für ist es zu spät. Es hat schon ein biss­chen sehr lan­ge ge­dau­ert mit euch!

Er blin­zel­te, er streck­te sich. Er at­me­te woh­lig, jetzt war ihm wie­der gut zu­mu­te.

Ich wer­de gleich nach­her nach dem Per­si­cke se­hen. Mehr Sprit­zen be­kommt er je­den­falls nicht. Hof­fent­lich über­steht er’s. Gleich nach­her sehe ich nach ihm, erst ein­mal will ich die schöns­te Wir­kung ge­nie­ßen. Aber gleich nach­her – Ehren­wort!