Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ei­nem Ton wie dem eben ist der Bark­hau­sen ein­fach nicht ge­wach­sen. Wenn er so an­ge­schnauzt wird, kriecht er ganz in sich zu­sam­men, hat bloß Angst. Er flüs­tert de­mü­tig: »Ent­schul­di­gen Sie bloß, Herr Per­si­cke! Woll­te mir nur mal ’nen klei­nen Spaß mit der ol­len Jüd­schen ma­chen!«

Der Bal­dur legt vor an­ge­streng­tem Nach­den­ken die Stir­ne in Fal­ten. Nach ei­ner Wei­le sagt er: »Klau­en wollts­te, du Aas, das ist dein Spaß mit der ol­len Jüd­schen. Na, geh vor­an!«

So grob die Wor­te auch wa­ren, so klan­gen sie doch zwei­fels­frei wohl­wol­len­der; für so was hat­te Bark­hau­sen ein fei­nes Ohr. So sagt er denn mit ei­nem für den Witz um Ent­schul­di­gung bit­ten­den Lä­cheln: »Ick klau doch nicht, Herr Per­si­cke, ick or­ga­ni­sier bloß manch­mal ein biss­chen!«

Bal­dur Per­si­cke er­wi­dert das Lä­cheln nicht. Mit sol­chen Leu­ten macht er sich nicht ge­mein, wenn sie auch manch­mal nütz­lich sein kön­nen. Er klet­tert nur vor­sich­tig hin­ter Bark­hau­sen die Trep­pe hin­un­ter.

Bei­de Män­ner sind so mit ih­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt, dass sie dar­auf nicht acht­ha­ben, dass die Fl­ur­tür bei den Quan­gels jetzt nur an­ge­lehnt ist. Und sie wird so­fort wie­der ge­öff­net, als die bei­den Män­ner vor­über sind. Anna Quan­gel huscht ans Trep­pen­ge­län­der und lauscht hin­un­ter.

Vor der Fl­ur­tür der Per­sickes hebt Bark­hau­sen stramm die Hand zum deut­schen Gruß: »Heil Hit­ler, Herr Per­si­cke! Und ich dan­ke Ih­nen auch schön!«

Wo­für er ei­gent­lich dankt, weiß er selbst nicht so ge­nau. Vi­el­leicht, weil er nicht mit dem Fuß in den Hin­tern ge­tre­ten und die Trep­pe hin­un­ter­ge­wor­fen ist. Er hät­te sich das ja auch ge­fal­len las­sen müs­sen, solch klei­ner Pin­scher wie er ist.

Bal­dur Per­si­cke er­wi­dert den Gruß nicht. Er starrt den an­de­ren mit sei­nen gla­si­gen Au­gen an und er­reicht, dass der nach kur­z­em zu blin­zeln an­fängt und den Blick zur Erde senkt. Bal­dur fragt: »Du woll­test dir also einen Spaß mit der al­ten Ro­sen­thal ma­chen?«

»Ja«, ant­wor­tet Bark­hau­sen lei­se mit ge­senk­tem Blick.

»Was denn für ’nen Spaß?«, wird er wei­ter ge­fragt. »Bloß so Fir­ma Klau und Lan­ge?«

Bark­hau­sen ris­kiert einen ra­schen Blick in das Ge­sicht sei­nes Ge­gen­übers. »Och!«, sagt er. »Ich hät­te ihr auch schon die Fres­se la­ckiert!«

»So!«, ant­wor­tet der Bal­dur nur. »So!«

Eine Wei­le ste­hen sie schwei­gend. Der Bark­hau­sen über­legt, ob er jetzt ge­hen darf, aber ei­gent­lich hat er noch nicht den Be­fehl zum Ab­tre­ten be­kom­men. So war­tet er stumm, mit wie­der ge­senk­tem Blick, wei­ter.

»Geh da mal rein!«, sagt Per­si­cke plötz­lich mit sehr müh­sa­mer Zun­ge. Er zeigt mit aus­ge­streck­tem Fin­ger auf die of­fe­ne Fl­ur­tür der Per­sickes. »Vi­el­leicht habe ich dir noch was zu sa­gen. Mal se­hen!«

Bark­hau­sen mar­schiert, wie vom wei­sen­den Zei­ge­fin­ger be­foh­len, schwei­gend in die Woh­nung der Per­sickes. Bal­dur Per­si­cke folgt ein we­nig schwan­kend, aber in sol­da­ti­scher Hal­tung. Die Tür schlägt hin­ter bei­den zu.

Oben löst sich Frau Anna Quan­gel vom Trep­pen­ge­län­der und schleicht in die ei­ge­ne Woh­nung zu­rück, de­ren Tür sie sach­te ins Schloss glei­ten lässt. Wa­rum sie die bei­den ei­gent­lich bei ih­rem Ge­spräch, erst oben vor der Woh­nung der Frau Ro­sen­thal, dann un­ten vor Per­sickes Tür, be­lauscht hat, sie weiß es nicht. Sie folgt sonst ganz der Ge­wohn­heit ih­res Man­nes: die Mit­be­woh­ner kön­nen tun und las­sen, was sie wol­len. Frau An­nas Ge­sicht ist noch im­mer krank­haft weiß, und in ih­ren Au­gen­li­dern ist ein ir­ri­tier­tes Zu­cken. Ein paar­mal schon hät­te sie sich ger­ne hin­ge­setzt und ge­weint, aber sie kann es nicht. Ihr ge­hen Re­dens­ar­ten durch den Kopf wie: »Es drückt mir das Herz ab«, oder: »Es hat mich vor den Kopf ge­schla­gen«, oder: »Es steht mir vor dem Ma­gen«. Von all dem emp­fin­det sie et­was, aber auch noch dies: »Die sol­len mir nicht un­ge­straft mei­nen Jun­gen um­ge­bracht ha­ben. Ich kann auch an­ders sein …«

Wie­der weiß sie nicht, was sie mit dem An­ders­s­ein meint, aber dies Lau­schen eben war viel­leicht schon ein An­fang da­von. Otto wird nicht mehr al­les al­lein be­stim­men kön­nen, denkt sie auch noch. Ich will auch mal tun kön­nen, was ich will, auch wenn es ihm nicht passt.

Sie macht sich eif­rig an die Fer­tig­stel­lung des Es­sens. Die meis­ten Le­bens­mit­tel, die sie bei­de auf Kar­ten zu­ge­teilt er­hal­ten, be­kommt er. Er ist nicht mehr jung und muss stän­dig über sei­ne Kraft ar­bei­ten; sie kann viel sit­zen und Näh­ar­beit tun, also ver­steht sich sol­che Tei­lung von selbst.

Wäh­rend sie noch mit ih­ren Kochtöp­fen han­tiert, ver­lässt Bark­hau­sen wie­der die Woh­nung der Per­sickes. So­bald er die Trep­pe hin­un­ter­steigt, ver­liert sei­ne Hal­tung all das Krie­che­ri­sche, das sie vor de­nen hat­te. Er geht auf­recht über den Hof, sein Ma­gen ist an­ge­nehm von zwei Schnäp­sen er­wärmt, und in der Ta­sche hat er zwei Zehn­mark­schei­ne, ei­ner von ih­nen wird Ot­tis üble Lau­ne be­sänf­ti­gen.

Aber als er die Stu­be im Sou­ter­rain be­tritt, ist Otti kei­ner üb­len Lau­ne. Auf dem Tisch liegt eine wei­ße De­cke, und Otti sitzt mit ei­nem Bark­hau­sen nicht be­kann­ten Man­ne auf dem Sofa. Der Frem­de, der gar nicht schlecht an­ge­zo­gen ist, zieht has­tig sei­nen Arm, der um Ot­tis Schul­ter lag, zu­rück. Aber das hät­te er gar nicht zu tun brau­chen, in so was war Bark­hau­sen nie hei­kel.

Er denkt: Kiek mal, das alte Aas, sol­che fängt sie sich auch ein! Der ist min­des­tens Ban­kan­ge­stell­ter oder Leh­rer …

In der Kü­che heu­len und jau­len die Kin­der. Bark­hau­sen bringt je­dem eine di­cke Schei­be von dem Brot, das auf dem Tisch steht. Dann fängt er sel­ber zu früh­stücken an, es ist so­wohl Brot wie Wurst wie Schnaps da. Für was so ein Frei­er al­les gut ist! Er streift den Mann auf dem Sofa mit ei­nem zu­frie­de­nen Blick. Der Mann scheint sich nicht so wohl wie Bark­hau­sen zu füh­len.

Da­rum geht Bark­hau­sen auch schnell, so­bald er ein biss­chen ge­ges­sen hat. Er will den Frei­er um Got­tes wil­len nicht ver­grau­len! Das Gute ist, dass er nun die gan­zen zwan­zig Mark für sich be­hal­ten kann. Bark­hau­sen rich­tet sei­ne Schrit­te nach der Rol­ler­stra­ße; er hat von ei­ner Knei­pe dort ge­hört, wo die Leu­te be­son­ders leicht­sin­nig re­den sol­len. Vi­el­leicht lässt sich da was ma­chen. Man kann jetzt in Ber­lin über­all Fi­sche fan­gen. Und wenn nicht bei Tage, dann bei Nacht.

Wenn Bark­hau­sen an die Nacht denkt, zuckt es im­mer wie La­chen hin­ter sei­nem lose her­ab­hän­gen­den Schnurr­bart. Die­ser Bal­dur Per­si­cke, alle die­se Per­sickes, was für ’ne Ban­de! Aber ihn sol­len sie nicht für dumm ver­kau­fen, ihn nicht! Sie sol­len bloß nicht glau­ben, bei ihm ist es mit zwan­zig Mark und zwei Schnäp­sen ge­tan. Vi­el­leicht kommt noch mal die Zeit, wo er alle die­se Per­sickes in die Ta­sche steckt. Er muss nur jetzt de­mü­tig und schlau sein.

Da­bei fällt Bark­hau­sen ein, dass er noch vor der Nacht einen ge­wis­sen Enno fin­den muss, Enno ist viel­leicht der rich­ti­ge Mann für so was. Aber kei­ne Angst, den Enno fin­det er schon. Der macht täg­lich sei­ne Run­de durch nur drei oder vier Lo­ka­le, wo die klei­nen Renn­wet­ter ver­keh­ren. Wie die­ser Enno wirk­lich heißt, das weiß Bark­hau­sen nicht. Er kennt ihn nur aus den paar Lo­ka­len, wo ihn alle Enno ru­fen. Er wird ihn schon fin­den, und er wird viel­leicht so­gar der rich­ti­ge Mann sein.

1 Win­ter­hilfs­werk des Deut­schen Vol­kes; or­ga­ni­sier­te Sam­me­lak­tio­nen zur Un­ter­stüt­zung Be­dürf­ti­ger <<<

2 Die Hit­ler­ju­gend oder Hit­ler-Ju­gend war die Ju­gend- und Nach­wuchs­or­ga­ni­sa­ti­on der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Ar­bei­ter­par­tei. <<<

4. Trudel Baumann verrät ein Geheimnis

So leicht Otto Quan­gel auch in die Fa­brik ge­kom­men war, so schwer war es zu er­rei­chen, dass die Tru­del Bau­mann zu ihm her­aus­ge­ru­fen wur­de. Sie ar­bei­te­ten hier näm­lich – üb­ri­gens ge­nau wie in Quan­gels Fa­brik – nicht nur im Ak­kord, son­dern jede Ar­beits­stu­be muss­te auch ein be­stimm­tes Pen­sum schaf­fen, da kam es oft auf jede Mi­nu­te an.

Aber schließ­lich er­reicht Quan­gel doch sein Ziel, schließ­lich ist der an­de­re ge­nau­so ein Werk­meis­ter wie er selbst. Man kann ei­nem Kol­le­gen so was schlecht ab­schla­gen, be­son­ders wenn gra­de der Sohn ge­fal­len ist. Das hat Quan­gel nun doch sa­gen müs­sen, bloß um die Tru­del zu se­hen zu krie­gen. Daraus folgt, dass er’s ihr auch sel­ber sa­gen muss, ge­gen die Bit­te der Frau, sonst wür­de es ihr der Werk­meis­ter er­zäh­len. Hof­fent­lich gib­t’s kein Ge­schrei und vor al­lem kei­ne Um­fal­le­rei. Ei­gent­lich ein Wun­der, wie die Anna sich ge­hal­ten hat – nun, die Tru­del steht auch auf fes­ten Bei­nen.

Da kommt sie end­lich, und Quan­gel, der nie ein an­de­res Ver­hält­nis als das zu sei­ner Frau ge­habt hat, muss sich ge­ste­hen, dass sie rei­zend aus­sieht mit ih­rem Wu­schel­kopf dunk­ler, plust­ri­ger Haa­re, dem run­den Ge­sicht, dem kei­ne Fa­brik­ar­beit die fri­schen Far­ben hat neh­men kön­nen, mit den la­chen­den Au­gen und der ho­hen Brust. Selbst jetzt, wo sie we­gen der Ar­beit lan­ge blaue Ho­sen trägt und einen al­ten, viel­fach ge­stopf­ten Jum­per, der voll von Garn­res­ten hängt, selbst jetzt sieht sie rei­zend aus. Das Schöns­te an ihr ist aber viel­leicht ihre Art, sich zu be­we­gen, al­les sprüht von Le­ben, je­den Schritt scheint sie ger­ne zu tun: sie quillt über vor Le­bens­freu­de.

 

Ein Wun­der ei­gent­lich, denkt Otto Quan­gel flüch­tig, dass solch eine Tran­tu­te wie der Otto, so ein von der Mut­ter ver­pim­pel­tes Söhn­chen, sich solch ein Pracht­mä­del ein­han­deln konn­te. Aber, ver­bes­sert er sich gleich, was weiß ich denn vom Otto? Ich habe ihn ja ei­gent­lich nie rich­tig ge­se­hen. Er muss ganz an­ders ge­we­sen sein, wie ich ge­dacht habe. Und mit den Ra­di­os hat er wirk­lich was los­ge­habt, die Meis­ter ha­ben sich doch alle um ihn ge­ris­sen.

»Tag, Tru­del«, sagt er und gibt ihr sei­ne Hand, in die rasch und kräf­tig ihre war­me, mol­li­ge schlüpft.

»Tag, Va­ter«, ant­wor­tet sie. »Nun, was ist los bei euch zu Haus? Hat Mutt­chen mal wie­der Sehn­sucht nach mir, oder hat Otto ge­schrie­ben? Ich will se­hen, dass ich mög­lichst bald mal bei euch rein­schaue.«

»Es muss schon heu­te Abend sein, Tru­del«, sag­te Otto Quan­gel. »Die Sa­che ist näm­lich die …«

Aber er spricht sei­nen Satz nicht zu Ende. Tru­del ist in ih­rer ra­schen Art schon in die Ta­sche der blau­en Hose ge­fah­ren und hat einen Ta­schen­ka­len­der her­vor­ge­holt, in dem sie jetzt blät­tert. Sie hört nur mit hal­b­em Ohr zu, nicht der rich­ti­ge Au­gen­blick, um ihr so was zu sa­gen. So war­tet denn Quan­gel ge­dul­dig, bis sie ge­fun­den hat, was sie sucht.

Die­se Zu­sam­men­kunft der bei­den fin­det in ei­nem lan­gen, zu­gi­gen Gan­ge statt, des­sen ge­tünch­te Wän­de ganz voll­ge­pflas­tert mit Pla­ka­ten sind. Un­will­kür­lich fällt Quan­gels Blick auf ein Pla­kat, das schräg hin­ter Tru­del hängt. Er liest ein paar Wor­te, die fett­ge­druck­te Über­schrift: »Im Na­men des deut­schen Vol­kes«, dann drei Na­men und: »wur­den we­gen Lan­des- und Hoch­ver­ra­tes zum Tode durch den Strang ver­ur­teilt. Die Hin­rich­tung wur­de heu­te Mor­gen in der Straf­an­stalt Plöt­zen­see voll­zo­gen.«

Ganz un­will­kür­lich hat er mit bei­den Hän­den die Tru­del ge­fasst und sie so weit zur Sei­te ge­zo­gen, dass sie nicht mehr vor dem Pla­kat steht. »Wie­so?«, hat sie erst über­rascht ge­fragt, dann sind ihre Au­gen dem Blick der sei­nen ge­folgt, und sie liest auch das Pla­kat. Sie gibt einen Laut von sich, der al­les be­deu­ten kann: Pro­test ge­gen das Ge­le­se­ne, Ab­leh­nung von Quan­gels Tun, Gleich­gül­tig­keit, aber je­den­falls kehrt sie nicht an den al­ten Platz zu­rück. Sie sagt und steckt den Ka­len­der wie­der in die Ta­sche: »Heu­te Abend geht’s un­mög­lich, Va­ter, aber mor­gen wer­de ich ge­gen acht bei euch sein.«

»Es muss aber heu­te Abend ge­hen, Tru­del!«, wi­der­spricht Otto Quan­gel. »Es ist näm­lich Nach­richt ge­kom­men über Otto.« Sein Blick ist noch schär­fer ge­wor­den, er sieht, wie das La­chen aus ih­rem Blick schwin­det. »Der Otto ist näm­lich ge­fal­len, Tru­del.«

Es ist selt­sam, der­sel­be Laut, den Otto Quan­gel bei die­ser Nach­richt von sich ge­ge­ben hat, kommt jetzt aus Tru­dels Brust, ein tie­fes »Oh …!«. Ei­nen Au­gen­blick sieht sie den Mann mit schwim­men­den Au­gen an, ihre Lip­pen zit­tern; dann wen­det sie das Ge­sicht zur Wand, sie lehnt ihre Stirn ge­gen sie. Sie weint, aber sie weint laut­los. Quan­gel sieht wohl ihre Schul­tern be­ben, aber er hört kei­nen Laut.

Tap­fe­res Mä­del!, denkt er. Wie sie doch am Otto ge­han­gen hat! In sei­ner Art ist er auch tap­fer ge­we­sen, hat nie mit die­sen Scheiß­ker­len mit­ge­macht, hat sich nicht von der HJ1 ge­gen sei­ne El­tern auf­het­zen las­sen, war im­mer ge­gen das Sol­da­ten­spie­len und ge­gen den Krieg. Die­ser ver­damm­te Krieg!

Er hält inne, er­schro­cken über das, was er da eben ge­dacht hat. Verän­dert er sich nun auch schon? Das war ja eben bei­na­he so et­was wie An­nas ›Du und dein Hit­ler!‹.

Dann sieht er, dass Tru­del mit der Stir­ne nun gra­de ge­gen je­nes Pla­kat lehnt, von dem er sie eben erst fort­ge­zo­gen hat. Über ih­rem Kopf steht in Fett­schrift zu le­sen: »Im Na­men des deut­schen Vol­kes«, ihre Stirn ver­deckt die Na­men der drei Ge­häng­ten …

Und wie eine Vi­si­on steigt es vor ihm auf, dass ei­nes Ta­ges solch ein Pla­kat mit den Na­men von ihm und Anna und Tru­del an den Wän­den kle­ben könn­te. Er schüt­telt un­mu­tig den Kopf. Er ist ein ein­fa­cher Hand­ar­bei­ter, der nur sei­ne Ruhe ha­ben und nichts von Po­li­tik wis­sen will, Anna küm­mert sich nur um ih­ren Haus­halt, und solch ein bild­hüb­sches Mä­del wie die Tru­del dort wird bald einen neu­en Freund ge­fun­den ha­ben …

Aber die Vi­si­on ist hart­nä­ckig, sie bleibt. Un­se­re Na­men an der Wand, denkt er, nun völ­lig ver­wirrt. Und warum ei­gent­lich nicht? Am Gal­gen hän­gen ist auch nicht schlim­mer, als von ei­ner Gra­na­te zer­ris­sen zu wer­den oder am Bauch­schuss kre­pie­ren! Das al­les ist nicht wich­tig. Was al­lein wich­tig ist, das ist: Ich muss raus­krie­gen, was das mit dem Hit­ler ist. Erst schi­en doch al­les gut zu sein, und nun plötz­lich ist al­les schlimm. Plötz­lich sehe ich nur Un­ter­drückung und Hass und Zwang und Leid, so viel Leid … Ein paar Tau­send, hat die­ser fei­ge Spit­zel, der Bark­hau­sen, ge­sagt. Als wenn es auf die Zahl an­käme! Wenn nur ein ein­zi­ger Mensch un­ge­recht lei­det, und ich kann es än­dern, und ich tue es nicht, bloß weil ich fei­ge bin und mei­ne Ruhe zu sehr lie­be, dann …

Hier wagt er nicht wei­ter­zu­den­ken. Er hat Angst, rich­tig Angst da­vor, wo­hin ihn ein sol­cher zu Ende ge­dach­ter Ge­dan­ke füh­ren kann. Sein gan­zes Le­ben müss­te er dann viel­leicht än­dern!

Statt­des­sen starrt er wie­der auf das Mäd­chen, über des­sen Kopf »Im Na­men des deut­schen Vol­kes« zu le­sen ist. Nicht gra­de ge­gen die­ses Pla­kat ge­lehnt, soll­te sie wei­nen. Er kann der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen, er dreht ihre Schul­ter von der Wand fort und sagt, so sanft er kann: »Komm, Tru­del, nicht ge­gen die­ses Pla­kat …«

Ei­nen Au­gen­blick starrt sie die ge­druck­ten Wor­te ver­ständ­nis­los an. Ihr Auge ist schon wie­der tro­cken, ihre Schul­tern be­ben nicht mehr. Dann kommt wie­der Le­ben in ih­ren Blick, nicht das alte, fro­he Leuch­ten, mit dem sie die­sen Gang be­tre­ten, son­dern et­was dun­kel Glü­hen­des. Sie legt ihre Hand fest und doch zärt­lich an die Stel­le, wo das Wort »ge­hängt« steht. »Ich werd nie ver­ges­sen, Va­ter«, sagt sie, »dass ich gra­de vor so ei­nem Pla­kat we­gen Otto ge­heult habe. Vi­el­leicht – ich möcht’s nicht –, aber viel­leicht wird auch mal mein Name auf so ei­nem Wisch ste­hen.«

Sie starrt ihn an. Er hat das Ge­fühl, sie weiß nicht ge­nau, was sie spricht. »Mä­del!«, ruft er er­schro­cken. »Be­sinn dich! Wie sollst du und solch ein Pla­kat … Du bist jung, das gan­ze Le­ben liegt vor dir. Du wirst wie­der la­chen, du wirst Kin­der ha­ben …«

Sie schüt­telt trot­zig den Kopf. »Ich krieg kei­ne Kin­der, so­lan­ge ich nicht be­stimmt weiß, sie wer­den mir nicht tot­ge­schos­sen. So­lan­ge ir­gend so ein Ge­ne­ral sa­gen kann: Mar­schier und kre­pier! Va­ter«, fährt sie fort und fasst jetzt sei­ne Hand fest in die ihre, »Va­ter, kannst du denn wirk­lich wie bis­her wei­ter­le­ben, jetzt, wo sie dir dei­nen Otto tot­ge­schos­sen ha­ben?«

Sie sieht ihn ein­dring­lich an, und wie­der wehrt er sich ge­gen das Frem­de, das in ihn ein­dringt. »Die Fran­zo­sen«, mur­melt er.

»Die Fran­zo­sen!«, ruft sie em­pört. »Re­dest du dich auf so was raus? Wer hat denn die Fran­zo­sen über­fal­len? Na wer, Va­ter? Sag doch!«

»Aber was kön­nen wir denn tun?«, wehrt sich Otto Quan­gel ver­zwei­felt ge­gen die­ses Drän­gen. »Wir sind nur ein paar, und all die Mil­lio­nen sind für ihn, und jetzt nach die­sem Sie­ge ge­gen Frank­reich erst recht. Gar nichts kön­nen wir tun!«

»Viel kön­nen wir tun!«, flüs­tert sie eif­rig. »Wir kön­nen die Ma­schi­nen in Un­ord­nung brin­gen, wir kön­nen schlecht und lang­sam ar­bei­ten, wir kön­nen de­ren Pla­ka­te ab­rei­ßen und an­de­re an­kle­ben, in de­nen wir den Leu­ten sa­gen, wie sie be­lo­gen und be­tro­gen wer­den.« Sie flüs­tert noch lei­ser: »Aber die Haupt­sa­che ist, dass wir an­ders sind als die, dass wir uns nie dazu krie­gen las­sen, so zu sein, so zu den­ken wie die. Wir wer­den eben kei­ne Na­zis, und wenn die die gan­ze Welt be­sie­gen!«

»Und was er­rei­chen wir da­mit, Tru­del?«, fragt Otto Quan­gel lei­se. »Ich sehe nicht, was wir da­mit er­rei­chen.«

»Va­ter«, ant­wor­tet sie. »Ich hab’s im An­fang auch nicht ver­stan­den, und ganz rich­tig ver­steh ich’s noch im­mer nicht. Aber, weißt du, wir ha­ben hier so im Ge­hei­men eine kom­mu­nis­ti­sche Zel­le im Be­trieb ge­bil­det, ganz klein erst, drei Män­ner und ich. Da ist ei­ner bei uns, der hat’s mir zu er­klä­ren ver­sucht. Wir sind, hat er ge­sagt, wie der gute Same in ei­nem Acker voll Un­kraut. Wenn der gute Same nicht wäre, stün­de der gan­ze Acker vol­ler Un­kraut. Und der gute Same kann sich aus­brei­ten …«

Sie hält inne, als sei sie über et­was zu­tiefst er­schro­cken.

»Was ist, Tru­del?«, fragt er. »Das mit dem gu­ten Sa­men, das ist kein schlech­ter Ge­dan­ke. Ich wer­de dar­über nach­den­ken, ich habe so viel nach­zu­den­ken in nächs­ter Zeit.«

Aber sie sagt voll Scham und Reue: »Nun habe ich das mit der Zel­le doch aus­ge­plap­pert, und ich habe doch hei­lig ge­schwo­ren, es kei­nem ein­zi­gen Men­schen zu ver­ra­ten!«

»Dar­über mach dir kei­ne Ge­dan­ken, Tru­del«, sagt Otto Quan­gel, und sei­ne Ruhe über­trägt sich un­will­kür­lich auf das ge­quäl­te Ding. »Bei dem Otto Quan­gel geht so was zum einen Ohr rein und zum an­de­ren raus. Ich weiß von nichts mehr.« Mit ei­ner grim­mi­gen Ent­schlos­sen­heit starrt er jetzt auf das Pla­kat. »Da könn­te die gan­ze Ge­sta­po kom­men, ich weiß eben von nichts mehr. Und«, setzt er hin­zu, »und wenn du willst, und es macht dich ru­hi­ger, so kennst du uns eben von die­ser Stun­de an nicht mehr. Du brauchst auch heu­te Abend nicht mehr zu Anna zu kom­men, ich mach’s ihr schon ir­gend­wie mund­ge­recht, ohne ihr et­was zu sa­gen.«

»Nein«, ant­wor­tet sie dar­auf, si­cher ge­wor­den. »Nein. Zur Mut­ter gehe ich heu­te Abend noch. Aber ich wer­de es den an­de­ren sa­gen müs­sen, dass ich mich ver­plap­pert habe, und viel­leicht wird dich ei­ner ver­neh­men, um zu se­hen, ob du auch zu­ver­läs­sig bist.«

»Die sol­len mir nur kom­men!«, sagt Otto Quan­gel dro­hend. »Ich weiß von nichts. Ich hab mit Po­li­tik noch nie was zu tun ge­habt, mein gan­zes Le­ben lang nicht. Auf Wie­der­se­hen, Tru­del. Ich wer­de dich wohl heu­te nicht mehr se­hen, vor zwöl­fe kom­me ich fast nie von der Ar­beit zu­rück.«

Sie gibt ihm die Hand und geht dann den Gang zu­rück, in das In­ne­re der Fa­brik hin­ein. Sie steckt nicht mehr so voll von sprü­hen­dem Le­ben, aber sie ist im­mer noch vol­ler Kraft. Gu­tes Mä­del!, denkt Quan­gel. Tap­fe­rer Kerl!

Dann steht Quan­gel al­lein auf dem Gang mit sei­nen Pla­ka­ten, die in dem ewi­gen Zug lei­se ra­scheln. Er schickt sich an zu ge­hen. Aber vor­her tut er noch et­was, das ihn selbst über­rascht: Er nickt dem Pla­kat, an dem Tru­del wein­te, zu – mit ei­ner grim­mi­gen Ent­schlos­sen­heit.

Im nächs­ten Au­gen­blick schämt er sich sei­nes Tuns. Das ist ja blö­de Fatz­ke­rei! Dann macht er, dass er nach Hau­se kommt. Es ist die al­ler­höchs­te Zeit, er muss so­gar eine Elek­tri­sche neh­men, was sei­nem Spar­sinn, der manch­mal fast an Geiz grenzt, ver­hasst ist.

1 Die Hit­ler­ju­gend oder Hit­ler-Ju­gend (ab­ge­kürzt HJ) war die Ju­gend- und Nach­wuchs­or­ga­ni­sa­ti­on der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Ar­bei­ter­par­tei (NSDAP). <<<