Hans Fallada – Gesammelte Werke

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36. Die erste Warnung

Der Über­fall Hit­lers auf Russ­land hat­te Quan­gels Zorn auf die­sen Ty­ran­nen neue Nah­rung ver­lie­hen. Die­ses Mal hat­te Quan­gel das Wer­den ei­nes sol­chen Über­falls in al­len Ein­zel­hei­ten ver­folgt. Nichts war ihm über­ra­schend ge­kom­men, von den ers­ten Trup­pen­an­samm­lun­gen an »un­sern Gren­zen« bis zu dem Ein­marsch. Er hat­te von vorn­her­ein ge­wusst, dass sie lo­gen, die­se Hit­ler, Go­eb­bels, Fritz­sche,1 je­des Wort war er­stun­ken und er­lo­gen. Nie­man­den konn­ten sie in Frie­den las­sen, und in zor­ni­ger Ent­rüs­tung hat­te er auf eine der Kar­ten ge­schrie­ben: »Was ha­ben denn die rus­si­schen Sol­da­ten ge­tan, als Hit­ler sie über­fiel? Kar­ten ha­ben sie ge­spielt, kei­ner hat in Russ­land an Krieg ge­dacht!«

Wenn er jetzt in der Werk­statt an eine Grup­pe Schwat­zen­der her­an­trat, so wünsch­te er manch­mal, wenn sie von Po­li­tik spra­chen, sie möch­ten nicht so schnell aus­ein­an­der­ge­hen. Er hör­te jetzt ger­ne, was an­de­re über den Krieg sag­ten.

Aber sie ver­san­ken so­fort in mür­ri­sches Schwei­gen, es war sehr ge­fähr­lich ge­wor­den, zu schwat­zen. Der ver­gleichs­wei­se harm­lo­se Tisch­ler Doll­fuß war längst ab­ge­löst wor­den; wer sein Nach­fol­ger war, konn­te Quan­gel nur mut­ma­ßen. Elf sei­ner Leu­te, dar­un­ter zwei Män­ner, die schon über zwan­zig Jah­re in der Mö­bel­fa­brik ge­ar­bei­tet hat­ten, wa­ren spur­los ver­schwun­den, mit­ten aus der Ar­beit her­aus, oder sie ka­men ei­nes Mor­gens nicht mehr. Nie wur­de ge­sagt, wo sie ge­blie­ben wa­ren, und das war ein Be­weis mehr da­für, dass sie ir­gend­wann ein­mal ein Wort zu viel ge­spro­chen hat­ten und dar­um ins KZ ge­wan­dert wa­ren.

Statt die­ser elf Mann wa­ren neue Ge­sich­ter auf­ge­taucht, und oft frag­te sich der alte Werk­meis­ter, ob nicht alle die­se elf Spit­zel wa­ren, ob nicht über­haupt die eine Hälf­te der Be­leg­schaft die an­de­re be­lau­er­te und um­ge­kehrt. Die Luft stank nach Ver­rat. Kei­ner konn­te dem an­de­ren noch trau­en, und in die­ser schreck­li­chen At­mo­sphä­re schie­nen die Leu­te im­mer mehr ge­gen al­les ab­zu­stump­fen, wur­den nur noch zu Tei­len der Ma­schi­nen, die sie be­dien­ten.

Aber manch­mal flamm­te dann aus die­ser Dumpf­heit ein schreck­li­cher Zorn hoch, so wie da­mals, als ein Ar­bei­ter den Arm ge­gen die Säge ge­presst und da­bei ge­schri­en hat­te: »Ver­re­cken soll der Hit­ler! Und er wird ver­re­cken! So wahr ich mir mei­nen Arm ab­sä­ge!«

Sie hat­ten die­sen Wahn­sin­ni­gen nur schwer aus der Ma­schi­ne rei­ßen kön­nen, und na­tür­lich hat­ten sie nie wie­der et­was von ihm ge­hört. Wahr­schein­lich war er längst tot, hof­fent­lich war er das! Ja, man muss­te ver­flucht vor­sich­tig sein, nicht je­der stand so un­be­arg­wohnt da wie die­ses alte, stumpf ge­wor­de­ne Ar­beit­s­tier Otto Quan­gel, den nur noch zu in­ter­es­sie­ren schi­en, ob sie auch ihr Ta­ge­s­quan­tum Sär­ge schaff­ten. Ja, Sär­ge! Von den Bom­ben­kis­ten wa­ren sie zu Sär­gen hin­ab­ge­sun­ken, elen­den Din­gern aus bil­ligs­tem, dünns­tem Aus­schuss­holz, braun­schwarz an­ge­schmiert. Sie stell­ten Tau­sen­de und Zehn­tau­sen­de von die­sen Sär­gen her, Gü­ter­zü­ge, einen Bahn­hof voll von Gü­ter­zü­gen, vie­le Bahn­hö­fe voll!

Quan­gel, sei­nen Kopf acht­sam nach je­der Ma­schi­ne ge­r­eckt, dach­te oft an all die vie­len Le­ben, die in die­sen Sär­gen zu Gra­be ge­tra­gen wer­den wür­den, hin­ge­mor­de­tes Le­ben, nutz­los hin­ge­mor­de­tes Le­ben, sei es nun, dass die­se Sär­ge für die Op­fer der Bom­ben­an­grif­fe be­stimmt wa­ren, also haupt­säch­lich für alte Leu­te, für Müt­ter und Kin­der …, oder sei es wahr, dass die­se Sär­ge in die KZs wan­der­ten, jede Wo­che ein paar tau­send Stück, für Män­ner, die ihre Über­zeu­gung nicht hat­ten ver­ber­gen kön­nen oder sie nicht ver­ber­gen woll­ten, jede Wo­che ein paar tau­send Sär­ge in ein ein­zi­ges KZ. Oder viel­leicht tra­ten die­se Gü­ter­zü­ge mit Sär­gen wirk­lich den wei­ten Weg an die Fron­ten an – ob­wohl Otto Quan­gel das ei­gent­lich nicht glau­ben woll­te, denn was küm­mer­ten die sich um tote Sol­da­ten! Ein to­ter Sol­dat war ih­nen nicht mehr wert als ein to­ter Maul­wurf.

Das kal­te Vo­gel­au­ge blinkt im elek­tri­schen Licht hart und böse, ruck­wei­se be­wegt sich der Kopf, der schmal­lip­pi­ge Mund ist fest zu­sam­men­ge­presst. Von dem Aufruhr, dem Ab­scheu, die in die­ses Man­nes Brust le­ben, ahnt nie­mand et­was, aber er weiß, er hat noch viel zu tun, er weiß, dass er zu ei­ner großen Auf­ga­be be­ru­fen ist, und er schreibt nun nicht mehr nur am Sonn­tag. Er schreibt auch wo­chen­tags vor dem Ar­beits­be­ginn. Seit dem Über­fall auf Russ­land schreibt er auch dann und wann Brie­fe, die ihn zwei Tage Ar­beit kos­ten, aber sein Zorn muss sich Luft ma­chen.

Quan­gel ge­steht es sich ein, er ar­bei­tet nicht mehr mit der al­ten Vor­sicht. Er ist de­nen nun schon zwei Jah­re glück­lich ent­gan­gen, nie ist der ge­rings­te Ver­dacht auf ihn ge­fal­len, er fühlt sich ganz si­cher.

Eine ers­te War­nung ist ihm da die Be­geg­nung mit Tru­del Her­ge­sell. Statt ih­rer hät­te auch je­mand an­ders auf der Trep­pe ste­hen und ihn be­ob­ach­ten kön­nen, und dann war es um ihn und Anna ge­sche­hen. Nein, es kam we­der auf ihn noch auf Anna an; es kam al­lein dar­auf an, dass die­se Ar­beit ge­tan wur­de, heu­te und alle Tage wei­ter. Im In­ter­es­se die­ser Ar­beit muss­te er hier vor­sich­ti­ger wer­den. Dass ihn die Tru­del da auf der Trep­pe beim Ab­le­gen der Kar­te be­ob­ach­tet hat­te, das war bö­ses­ter Leicht­sinn von ihm ge­we­sen.

Und da­bei ahn­te Otto Quan­gel nicht, dass der Kom­missar Esche­rich zu die­sem Zeit­punkt be­reits von zwei Sei­ten eine Be­schrei­bung sei­ner Per­son be­kom­men hat­te. Schon zwei­mal vor­her war Otto Quan­gel beim Ab­le­gen der Kar­ten be­ob­ach­tet wor­den, bei­de Male von Frau­en, die dann neu­gie­rig die Kar­ten auf­ge­nom­men hat­ten, aber nicht schnell ge­nug Alarm rie­fen, um den Tä­ter noch im Hau­se zu fas­sen.

Ja, Kom­missar Esche­rich be­saß jetzt be­reits zwei Per­so­nal­be­schrei­bun­gen des Kar­tenab­le­gers. Es war nur zu be­dau­ern, dass die­se Be­schrei­bun­gen fast in al­len Punk­ten von­ein­an­der ab­wi­chen. Nur in ei­nem Punkt wa­ren sich bei­de Beo­b­ach­te­rin­nen ei­nig, dass das Ge­sicht des Tä­ters ganz un­ge­wöhn­lich aus­ge­se­hen habe, gar nicht wie bei an­de­ren Men­schen. Aber als Esche­rich die­ses un­ge­wöhn­li­che Ge­sicht nä­her ge­schil­dert wis­sen woll­te, stell­te sich her­aus, dass die bei­den Frau­en ent­we­der nicht be­ob­ach­ten konn­ten oder ihre Beo­b­ach­tun­gen nicht in Wor­te zu klei­den wuss­ten. Sie konn­ten bei­de nichts wei­ter sa­gen, als dass der Tä­ter wie ein rich­ti­ger Ver­bre­cher aus­ge­se­hen habe. Be­fragt, wie ein rich­ti­ger Ver­bre­cher ih­rer An­sicht nach aus­sä­he, zuck­ten sie die Ach­seln und mein­ten, das müss­ten doch die Her­ren am bes­ten wis­sen.

Quan­gel hat­te lan­ge ge­schwankt, ob er die­se Be­geg­nung mit Tru­del der Anna er­zäh­len soll­te oder nicht. Aber er ent­schloss sich dann doch dazu: er woll­te nicht das kleins­te Ge­heim­nis vor ihr ha­ben.

Und sie hat­te auch ein Recht dar­auf, die Wahr­heit zu er­fah­ren, wenn auch die Ge­fahr, dass durch Tru­del et­was ver­ra­ten wur­de, ganz ge­ring war, auch von ei­ner ganz ge­rin­gen Ge­fahr muss­te Anna wis­sen. Er er­zähl­te es ihr also, ge­nau wie es ge­sche­hen war, ohne sei­nen Leicht­sinn zu be­schö­ni­gen.

Es war be­zeich­nend für Anna, wie sie rea­gier­te. Die Tru­del und ihre Ver­hei­ra­tung und das er­war­te­te Kind in­ter­es­sier­ten sie gar nicht, aber sie flüs­ter­te, sehr er­schro­cken: »Aber den­ke doch, Otto, wenn da ein an­de­rer ge­stan­den hät­te, ei­ner von der SA!«

Er lä­chel­te ver­ächt­lich: »Es hat aber kein an­de­rer da ge­stan­den! Und von jetzt an bin ich wie­der vor­sich­tig!«

Aber die­se Ver­si­che­rung konn­te sie nicht be­ru­hi­gen. »Nein, nein«, sag­te sie hef­tig. »Von nun an wer­de ich al­lein die Kar­ten aus­tra­gen. Auf eine alte Frau ach­tet nie­mand. Du fällst al­len Leu­ten gleich auf, Otto!«

»Ich bin in zwei Jah­ren kei­nem auf­ge­fal­len, Mut­ter. Das kommt gar nicht in Fra­ge, dass du das ge­fähr­lichs­te Ge­schäft al­lein be­sorgst! Das wär so was, wenn ich mich hin­ter dei­ner Schür­ze ver­steck­te!«

»Ja«, er­wi­der­te sie är­ger­lich. »Nun komm mir auch noch mit sol­chen dum­men Männ­er­re­dens­ar­ten! Was für ein Un­sinn: dich hin­ter mei­ner Schür­ze ver­ste­cken! Dass du Mut hast, das weiß ich auch so, aber dass du un­vor­sich­tig bist, das habe ich nun er­fah­ren, und da­nach rich­te ich mich. Da kannst du re­den, was du willst!«

»Anna«, sag­te er und fass­te ihre Hand, »du darfst mir nun auch nicht, wie es an­de­re Frau­en tun, stets den­sel­ben Feh­ler vor­wer­fen! Ich habe dir ge­sagt, ich wer­de vor­sich­ti­ger sein, und das musst du mir glau­ben. Ich hab’s ja zwei Jah­re lang nicht schlecht ge­macht – warum soll es da in Zu­kunft schlecht gehn?«

»Ich sehe nicht ein«, sag­te sie hart­nä­ckig, »warum ich nicht die Kar­ten ver­tei­len soll. Ich hab’s doch bis­her dann und wann tun dür­fen.«

»Das sollst du auch wei­ter. Wenn’s zu vie­le sind oder wenn mich das Rei­ßen plagt.«

»Aber ich habe mehr Zeit als du. Und ich fal­le wirk­lich nicht so auf. Und ich habe jün­ge­re Bei­ne. Und ich will hier nicht vor Angst um­kom­men, alle Tage, wenn ich dich un­ter­wegs weiß.«

»Und was denkst du über mich? Meinst du, ich sit­ze hier zu­frie­den im Haus, wenn ich weiß, die Anna läuft drau­ßen her­um? Ver­stehst du nicht, dass ich mich schä­men müss­te, wenn du die meis­te Ge­fahr trü­gest? Nein, Anna, das kannst du nicht von mir ver­lan­gen!«

»So lass uns ge­mein­sam ge­hen. Vier Au­gen se­hen mehr als zwei, Otto.«

 

»Zu zwei­en wür­den wir mehr auf­fal­len, ei­ner al­lein schiebt sich leicht un­ter die an­de­ren. Und ich glau­be auch nicht, dass in so ’ner Sa­che vier Au­gen mehr sehn als zwei. Da ver­lässt sich schließ­lich das eine im­mer auf das an­de­re. Und über­haupt, Anna, sei nicht bös, es wür­de mich ner­vös ma­chen, wenn ich dich ne­ben mir weiß, und ich glau­be, dir wür­de es nicht an­ders ge­hen.«

»Ach, Otto«, sag­te sie. »Ich weiß ja, wenn du et­was willst, setzt du es auch durch. Ich kann mich nicht ge­gen dich be­haup­ten. Aber ich wer­de vor Angst um­kom­men, jetzt, wo ich dich so in Ge­fahr weiß.«

»Die Ge­fahr ist nicht grö­ßer als frü­her, nicht grö­ßer als da­mals, als ich die ers­te Kar­te in der Neu­en Kö­nigs­tra­ße ab­leg­te. Ge­fahr ist im­mer, Anna, für je­den, der das tut, was wir tun. Oder möch­test du, dass wir ganz da­mit auf­hö­ren?«

»Nein!«, rief sie laut. »Nein, ich hiel­te es kei­ne zwei Wo­chen ohne die­se Kar­ten aus! Wozu le­ben wir dann noch? Das ist ja un­ser Le­ben, die­se Kar­ten!«

Er lä­chel­te düs­ter, mit ei­nem düs­te­ren Stolz sah er sie an.

»Siehst du, Anna«, sag­te er dann. »So mag ich dich. Wir ha­ben kei­ne Angst. Wir wis­sen, was uns droht, und wir sind be­reit, zu je­der Stun­de sind wir be­reit – aber hof­fent­lich ge­schieht es zu ei­ner mög­lichst spä­ten Stun­de.«

»Nein«, sag­te sie. »Nein. Ich den­ke im­mer, es ge­schieht nie. Wir über­le­ben den Krieg, wir über­le­ben die Na­zis, und dann …«

»Dann?«, frag­te auch er, denn plötz­lich sa­hen sie – nach dem end­lich er­run­ge­nen Sieg – ein völ­lig lee­res Le­ben vor sich.

»Nun«, sag­te sie, »ich den­ke, wir wer­den auch dann noch et­was fin­den, für das es sich lohnt zu kämp­fen. Vi­el­leicht ganz of­fen, ohne so viel Ge­fah­ren.«

»Ge­fahr«, sag­te er, »Ge­fahr ist im­mer, Anna, sonst ist es ja kein Kampf. Manch­mal weiß ich, dass sie mich so nicht krie­gen wer­den, und dann lie­ge ich Stun­den und Stun­den und grü­b­le, wo sonst Ge­fahr ist, was ich viel­leicht über­se­hen habe. Ich grü­b­le, ich fin­de nichts. Und doch ist ir­gend­wo Ge­fahr, ich füh­le das. Was kön­nen wir ver­ges­sen ha­ben, Anna?«

»Nichts«, sag­te sie. »Nichts. Wenn du mit dem Kar­ten­ver­tei­len vor­sich­tig bist …«

Er schüt­tel­te un­mu­tig den Kopf. »Nein, Anna«, sag­te er, »so mei­ne ich es nicht. Die Ge­fahr steht nicht auf der Trep­pe und nicht beim Schrei­ben. Die Ge­fahr steht ganz wo­an­ders, wo ich nicht hin­se­hen kann. Plötz­lich wer­den wir auf­wa­chen und wis­sen, da hat sie im­mer ge­stan­den, aber wir ha­ben sie nicht ge­se­hen. Und dann wird es zu spät sein.«

Sie ver­stand ihn noch im­mer nicht. »Ich weiß nicht, warum du dir plötz­lich Sor­gen machst, Otto«, sag­te sie. »Wir ha­ben doch al­les hun­dert­mal über­legt und er­probt. Wenn wir nur vor­sich­tig sind …«

»Vor­sich­tig!«, rief er, un­mu­tig über ihr feh­len­des Ver­ständ­nis, aus. »Wie kann man sich vor et­was vor­se­hen, das man nicht sieht! Ach, Anna, du ver­stehst mich nicht! Man kann nicht al­les aus­rech­nen im Le­ben!«

»Nein, ich ver­steh dich nicht«, sag­te sie kopf­schüt­telnd. »Ich glau­be, du machst dir un­nö­ti­ge Sor­ge, Va­ter. Ich glau­be, du soll­test mehr schla­fen in der Nacht, Otto. Du schläfst zu we­nig.«

Er schwieg.

Nach ei­ner Wei­le frag­te sie: »Weißt du, wie die Tru­del Bau­mann jetzt heißt und wo sie wohnt?«

Er schüt­tel­te den Kopf. Er sag­te: »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wis­sen.«

»Ich möch­te es aber wis­sen«, sag­te sie hart­nä­ckig. »Ich will es mit mei­nen ei­ge­nen Ohren hö­ren, dass es mit dem Ab­le­gen der Kar­te glatt­ge­gan­gen ist. Du hät­test ihr das nicht über­las­sen sol­len, Otto! Was weiß so ’n Kind, was sie da tut. Vi­el­leicht hat sie die Kar­te ganz of­fen hin­ge­legt, und die ha­ben sie da­bei ge­kitscht. Und wenn die erst ein­mal so eine jun­ge Frau in den Fän­gen ha­ben, dann wis­sen sie auch bald den Na­men Quan­gel.«

Er schüt­tel­te den Kopf: »Ich weiß, von der Tru­del droht uns kei­ne Ge­fahr.«

»Ich möch­te es aber si­cher wis­sen!«, rief Frau Quan­gel. »Ich wer­de in ihre Fa­brik ge­hen und mich er­kun­di­gen.«

»Du wirst nicht ge­hen, Mut­ter! Tru­del gibt es nicht mehr für uns. Nein, rede nicht, du bleibst hier. Ich will kein Wort mehr da­von hö­ren.« Dann, als er sie noch im­mer wi­der­spens­tig sah, sag­te er: »Glau­be mir schon, Anna, es ist al­les rich­tig, wie ich es dir sage. Von der Tru­del brau­chen wir nicht mehr zu spre­chen, das ist al­les er­le­digt. Aber«, fuhr er lei­ser fort, »aber wenn ich nachts wach lie­ge, dann den­ke ich oft, dass wir doch nicht heil durch­kom­men wer­den, Anna.«

Sie sah ihn mit großen Au­gen an.

»Und dann male ich mir al­les aus, wie es wer­den wird. Es ist gut, sich so et­was vor­her aus­zu­ma­len, dann kann einen nichts mehr über­ra­schen. Denkst du manch­mal dar­an?«

»Ich weiß nicht ge­nau, wo­von du sprichst, Otto«, sag­te Anna Quan­gel ab­wei­send.

Er stand mit dem Rücken ge­gen das Bü­cher­brett Ot­to­chens ge­lehnt, eine Schul­ter von ihm be­rühr­te das Ra­dio­bas­tel­buch des Jun­gen. Er sah sie durch­drin­gend an.

»So­bald sie uns ver­haf­tet ha­ben, wer­den wir ge­trennt sein, Anna. Wir wer­den uns viel­leicht noch zwei- oder drei­mal se­hen, beim Ver­hör, bei der Ver­hand­lung, viel­leicht spä­ter noch ein­mal eine hal­be Stun­de vor der Hin­rich­tung …«

»Nein! Nein! Nein!« Sie schrie es. »Ich will nicht, dass du da­von sprichst! Wir wer­den durch­kom­men, Otto, wir müs­sen durch­kom­men!«

Er leg­te sei­ne große, ver­ar­bei­te­te Hand be­ru­hi­gend auf ihre klei­ne, war­me, zit­tern­de.

»Und wenn wir nicht durch­kom­men? Wür­dest du ir­gen­det­was be­reu­en? Möch­test du et­was un­ge­tan wis­sen von dem, was wir ge­tan ha­ben?«

»Nein, nichts! Aber wir wer­den un­ent­deckt durch­kom­men, Otto, ich füh­le das!«

»Siehst du, Anna«, sag­te er, ohne auf ihre letz­te Ver­si­che­rung zu ach­ten. »Das woll­te ich hö­ren. Wir wer­den nie et­was be­reu­en. Wir wer­den zu dem ste­hen, was wir ge­tan ha­ben, auch wenn sie uns sehr quä­len.«

Sie sah ihn an, sie ver­such­te, ein Zit­tern zu un­ter­drücken. Ver­geb­lich. »Ach, Otto!«, rief sie schluch­zend. »Wa­rum musst du so re­den? So ziehst du das Un­glück ja nur auf uns. Nie hast du noch so ge­re­det!«

»Ich weiß nicht, warum ich so heu­te mit dir re­den muss«, sag­te er und ging von dem Bü­cher­brett fort. »Ich muss es, ein­mal. Wahr­schein­lich wer­de ich nie wie­der mit dir dar­über spre­chen. Aber ein­mal muss­te ich es. Denn du musst wis­sen, wir wer­den dann sehr al­lein sein in un­sern Zel­len, ohne ein Wort zu­ein­an­der, die wir viel über zwan­zig Jah­re nicht einen Tag ohne das an­de­re ge­lebt ha­ben. Es wird uns sehr schwer­fal­len. Aber wir wer­den von­ein­an­der wis­sen, dass kei­nes je schlapp­macht, dass wir uns auf­ein­an­der ver­las­sen kön­nen, wie im gan­zen Le­ben, so auch im Tode. Wir wer­den auch al­lein ster­ben müs­sen, Anna.«

»Otto, du sprichst, als wäre es schon so weit! Und wir sind doch ganz frei und au­ßer Ver­dacht. Wir könn­ten je­den Tag da­mit auf­hö­ren, wenn wir woll­ten …«

»Aber wol­len wir? Kön­nen wir über­haupt wol­len?«

»Nein, ich sage nicht, dass wir auf­hö­ren wol­len. Ich will’s nicht, das weißt du! Aber ich will auch nicht, dass du sprichst, als hät­ten sie uns schon ge­fasst und als blie­be uns nur noch das Ster­ben. Ich will noch nicht ster­ben, Otto, ich möch­te mit dir le­ben!«

»Wer will denn ster­ben?«, frag­te er. »Alle wol­len sie doch le­ben, alle, alle – auch das arm­se­ligs­te Würm­lein schreit nach Le­ben. Auch ich will noch le­ben. Aber es ist viel­leicht gut, Anna, schon im ru­hi­gen Le­ben an ein schwe­res Ster­ben zu den­ken, sich dar­auf vor­zu­be­rei­ten. Dass man weiß, man wird an­stän­dig ster­ben kön­nen, ohne Ge­wim­mer und Ge­schrei. Das fän­de ich ekel­haft …«

Eine Wei­le war es still.

Dann sag­te Anna Quan­gel lei­se: »Du kannst dich auf mich ver­las­sen, Otto. Ich wer­de dir schon kei­ne Schan­de ma­chen.«

1 Au­gust Franz An­ton Hans Fritz­sche war ein deut­scher Jour­na­list und be­klei­de­te ver­schie­de­ne Funk­tio­nen im Reichs­mi­nis­te­ri­um für Volks­auf­klä­rung und Pro­pa­gan­da. <<<

37. Der Sturz des Kommissars Escherich

In dem Jahr, das auf den »Selbst­mord« des klei­nen Enno Klu­ge ge­folgt war, hat­te der Kom­missar Esche­rich ein ver­hält­nis­mä­ßig ru­hi­ges Le­ben füh­ren kön­nen, nicht gar zu be­läs­tigt durch die Un­ge­duld sei­ner Vor­ge­setz­ten. Da­mals, als die­ser Selbst­mord ge­mel­det wor­den war, als er­sicht­lich wur­de, dass der schmäch­ti­ge Mann sich al­len Ver­hö­ren durch Ge­sta­po und SS ent­zo­gen hat­te, gab es na­tür­lich bei Ober­grup­pen­füh­rer Prall Ge­wit­ter über Ge­wit­ter. Aber das leg­te sich mit der Zeit, die Spur war end­gül­tig kalt ge­wor­den, nun muss­te auf eine neue Spur ge­war­tet wer­den.

Im Üb­ri­gen war die­ser Kla­bau­ter­mann nicht mehr so wich­tig. Die sture Mo­no­to­nie, mit der er Kar­ten im­mer glei­chen In­halts schrieb, die nie­mand las, nie­mand le­sen woll­te und die alle Leu­te in Ver­le­gen­heit oder Angst stürz­ten, ließ ihn nur lä­cher­lich und dumm er­schei­nen. Wohl piek­te Esche­rich noch brav sei­ne Fähn­chen in den Stadt­plan von Ber­lin. Mit ei­ni­ger Be­frie­di­gung sah er, dass sie nörd­lich vom Alex­an­der­platz im­mer dich­ter wur­den – da muss­te der Vo­gel sein Nest ha­ben! Und dann die­se auf­fäl­li­ge An­samm­lung von fast zehn Fähn­chen süd­lich vom Nol­len­dorf­platz – auch dort muss­te der Kla­bau­ter­mann re­gel­mä­ßig, wenn auch in großen Zeitab­stän­den hin­kom­men. Das al­les wür­de sich ei­nes Ta­ges schon noch be­frie­di­gend auf­klä­ren …

Du kommst uns schon! Du kommst uns im­mer nä­her, un­ver­meid­lich!, ki­cher­te der Kom­missar und rieb sich die Hän­de.

Aber dann ging er wie­der zu sei­nen an­de­ren Ar­bei­ten über. Es gab wich­ti­ge­re und drin­gen­de­re Fäl­le. Eine Art Wahn­sin­ni­ger, ein über­zeug­ter Nazi, wie er sich ti­tu­lier­te, war ge­ra­de sehr ak­tu­ell, er tat nichts, als alle Tage dem Mi­nis­ter Go­eb­bels einen grob be­lei­di­gen­den, oft por­no­gra­fi­schen Brief zu schrei­ben. Zu­erst hat­ten die­se Brie­fe den Mi­nis­ter amü­siert, spä­ter ir­ri­tiert, dann hat­te er ge­tobt und sein Op­fer ver­langt. Sei­ne Ei­tel­keit war töd­lich ver­letzt.

Nun, Kom­missar Esche­rich hat­te Glück ge­habt, er hat­te den Fall »Schwein­igel«, wie er ihn ge­tauft hat­te, bin­nen heu­te und ei­nem Vier­tel­jahr er­le­di­gen kön­nen. Der Brief­schrei­ber, der üb­ri­gens wirk­lich in der Par­tei war und so­gar al­tes Par­tei­mit­glied, war zu Herrn Mi­nis­ter Go­eb­bels ge­bracht wor­den, und da­mit konn­te Esche­rich den Fall ad acta le­gen. Er wuss­te, er wür­de nie wie­der et­was von »Schwein­igeln« hö­ren. Der Mi­nis­ter ver­gaß nie eine ihm an­ge­ta­ne Krän­kung.

Dann ka­men an­de­re Fäl­le – vor al­lem der je­nes Man­nes, der an pro­mi­nen­te Leu­te En­zy­kli­ken des Paps­tes und Ra­dio­an­spra­chen von Tho­mas Mann ver­sand­te, ech­te und ge­fälsch­te. Ein ge­schick­ter Bur­sche, die­ser Mann – es war nicht ganz ein­fach ge­we­sen, ihn zu krie­gen. Aber schließ­lich hat­te Esche­rich ihn doch für die Hin­rich­tungs­zel­le in der Plöt­ze reif ma­chen kön­nen.

Und die­ser klei­ne Pro­ku­rist, der plötz­lich grö­ßen­wahn­sin­nig ge­wor­den war, der sich zum Ge­ne­ral­di­rek­tor ei­nes nicht exis­tie­ren­den Stahl­werks ge­macht hat­te und der ver­trau­li­che Brie­fe nicht nur an an­de­re Di­rek­to­ren tat­säch­lich exis­tie­ren­der Wer­ke schrieb, son­dern auch an den Füh­rer, die über den alar­mie­ren­den Stand der deut­schen Rüs­tungs­in­dus­trie Ein­zel­hei­ten mit­teil­ten, die oft nicht er­fun­den sein konn­ten. Nun, die­ser Vo­gel war ver­hält­nis­mä­ßig leicht zu fan­gen ge­we­sen; der Kreis der Leu­te, die sol­che In­for­ma­tio­nen be­sa­ßen wie der Brief­schrei­ber, war ver­hält­nis­mä­ßig klein.

Ja, Kom­missar Esche­rich hat­te ei­ni­ge be­deut­sa­me Er­fol­ge ge­habt; in den Kol­le­gen­krei­sen mun­kel­te man schon, er wer­de bald au­ßer der Rei­he auf­rücken. Es war ein ganz er­freu­li­ches Jahr ge­we­sen, die­ser Zeit­raum seit dem Selbst­mord des klei­nen Klu­ge; der Kom­missar Esche­rich war zu­frie­den.

Aber dann kam eine Zeit, da stan­den die Vor­ge­setz­ten Esche­richs plötz­lich wie­der vor dem Stadt­plan Kla­bau­ter­mann still. Sie lie­ßen sich die Fähn­chen er­klä­ren, sie nick­ten nach­denk­lich, wenn auf ihre Mas­sie­rung nörd­lich des Alex­an­der­plat­zes hin­ge­wie­sen wur­de, sie nick­ten noch nach­denk­li­cher, wenn Esche­rich auf die­sen in­ter­essan­ten Vor­trupp süd­lich des Nol­len­dorf­plat­zes ver­wies, und dann sag­ten sie: »Und was ha­ben Sie nun für Spu­ren, Herr Esche­rich? Was für Plä­ne ha­ben Sie aus­ge­heckt, die­sen Kla­bau­ter­mann zu fan­gen? Seit dem Ein­marsch in Russ­land ist der Bur­sche ja mäch­tig ak­tiv ge­wor­den! In der letz­ten Wo­che wa­ren es ja wohl fünf Brie­fe und Post­kar­ten?«

 

»Ja«, sag­te der Kom­missar. »Und in die­ser Wo­che sind es auch schon wie­der drei!«

»Also wie steht die Sa­che, Esche­rich? Be­den­ken Sie, wie lan­ge der Mann jetzt schon schreibt, das kann doch un­mög­lich so wei­ter­ge­hen! Wir ha­ben hier kein sta­tis­ti­sches Amt zur Re­gis­trie­rung von hoch­ver­rä­te­rischen Kar­ten, Sie sind ein Fahn­dungs­be­am­ter, mein Lie­ber! Also, was ha­ben Sie für Spu­ren?«

So be­drängt, be­klag­te sich der Kom­missar bit­ter über die Dumm­heit der zwei Frau­en, die den Mann ge­se­hen und nicht an­ge­hal­ten hat­ten, die ihn ge­se­hen hat­ten und nicht mal be­schrei­ben konn­ten.

»Ja, ja, al­les schön und gut, mein Lie­ber. Aber wir re­den hier nicht von Zeu­gen­dumm­heit, wir re­den von den Spu­ren, die Ihr klu­ges Köpf­chen ge­fun­den hat!«

Worauf der Kom­missar die Her­ren wie­der an die Kar­te führ­te und ih­nen flüs­ternd zeig­te, wie über­all nörd­lich vom Alex Fah­nen steck­ten, nur ein be­stimm­ter, nicht sehr großer Be­zirk blieb völ­lig frei von Fah­nen.

»Und in die­sem Be­zirk steckt mein Kla­bau­ter­mann. Da legt er kei­ne Kar­te ab, weil er zu be­kannt ist, weil er im­mer be­fürch­ten muss, dass ihn ein Nach­bar sieht. Es sind nur ein paar Stra­ßen, al­les klei­ne Leu­te, die da woh­nen. Da sitzt er.«

»Und warum las­sen Sie ihn da sit­zen? Wa­rum ha­ben Sie nicht längst Haus­su­chung an­ge­ord­net in den paar Stra­ßen? Sie müs­sen ihn da doch schnap­pen, Esche­rich! Wir ver­ste­hen Sie nicht, sonst sind Sie doch wirk­lich ganz brauch­bar, aber in die­sem Fal­le ma­chen Sie eine Dumm­heit nach der an­de­ren. Wir ha­ben uns mal die Ak­ten an­ge­se­hen. Da ist die­se Ge­schich­te mit dem Klu­ge, den Sie trotz sei­nes Ge­ständ­nis­ses ha­ben lau­fen­las­sen! Und dann küm­mern Sie sich nicht mehr um ihn und las­sen den Bur­schen glatt Selbst­mord ver­üben, gra­de dann, wenn wir ihn am nö­tigs­ten ge­brau­chen! Dumm­hei­ten über Dumm­hei­ten, Esche­rich!«

Der Kom­missar Esche­rich, ner­vös sei­nen Schnurr­bart dre­hend, ge­stat­tet sich, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Klu­ge ent­schie­den mit dem Kar­ten­schrei­ber nicht das Ge­rings­te zu tun hat­te. Die Post­kar­ten wa­ren vor wie nach sei­nem Tode un­ver­än­dert ge­kom­men.

»Ich hal­te sein Ge­ständ­nis, dass ihm ein Un­be­kann­ter die Kar­te zum Ab­le­gen ge­ge­ben hat, für un­be­dingt glaub­haft.«

»Na, wenn Sie’s nur da­für hal­ten! Wir hal­ten es für not­wen­dig, dass Sie nun end­lich et­was tun! Ist uns ganz egal, was, aber jetzt wol­len wir Er­fol­ge sehn! Ma­chen Sie also erst mal Haus­su­chung in den paar Stra­ßen. Wer­den ja sehn, was da­bei raus­kommt. Ir­gend­was kommt im­mer raus, über­all stink­t’s!«

Wie­de­r­um gibt der Kom­missar Esche­rich in al­ler De­mut zu be­den­ken, dass, wenn auch nur ein paar Stra­ßen in Fra­ge kom­men, im­mer­hin fast tau­send Woh­nun­gen durch­sucht wer­den müs­sen.

»Es wird die Be­völ­ke­rung ge­wal­tig be­un­ru­hi­gen. Die Leu­te sind schon oh­ne­dies reich­lich ner­vös durch die zu­neh­men­den Flie­ger­an­grif­fe, und wenn wir ih­nen nun erst Grund zum Me­ckern ge­ben! Aber wei­ter: Was kann man sich von ei­ner Haus­su­chung ver­spre­chen? Was sol­len wir denn ei­gent­lich fin­den? Der Mann braucht für sei­ne ver­bre­che­ri­sche Tä­tig­keit nur einen Fe­der­hal­ter (hat je­der Haus­halt), ein Tin­ten­fläsch­chen (dito), ein paar Post­kar­ten (dito, dito). Ich wüss­te nicht, was für An­halts­punk­te ich mei­nen Leu­ten für die­se Haus­su­chun­gen ge­ben soll­te, wo­nach sie ei­gent­lich zu su­chen ha­ben. Höchs­tens et­was Ne­ga­ti­ves: der Kar­ten­schrei­ber be­sitzt be­stimmt kei­nen Ra­dio­ap­pa­rat. Noch nie habe ich auf all die­sen Kar­ten einen Hin­weis dar­auf ge­fun­den, dass er sei­ne Nach­rich­ten aus dem Ra­dio be­zo­gen hät­te. Oft ist er ein­fach schlecht in­for­miert. Nein, ich weiß nicht, wor­auf ich die­se Haus­su­chung an­set­zen soll.«

»Aber liebs­ter, bes­ter Esche­rich – wir ver­ste­hen Sie wirk­lich nicht mehr! Im­mer ha­ben Sie nur Be­denk­lich­kei­ten, aber nicht einen po­si­ti­ven Vor­schlag wis­sen Sie zu ma­chen! Wir müs­sen den Mann doch fas­sen, und das bald!«

»Wir wer­den ihn auch fas­sen«, sag­te der Kom­missar lä­chelnd, »aber frei­lich, bald? Das kann ich nicht ver­spre­chen. Im­mer­hin glau­be ich nicht, dass er noch wei­te­re zwei Jah­re sei­ne Post­kar­ten schrei­ben wird.«

Sie stöhn­ten.

»Und warum nicht? Weil die Zeit ge­gen ihn ar­bei­tet. Se­hen Sie sich die Fähn­chen an, noch hun­dert mehr, und wir wer­den ein ge­wal­ti­ges Stück kla­rer sehn. Er ist ein ver­dammt zä­her, kalt­blü­ti­ger Bur­sche, mein Kla­bau­ter­mann, aber er hat auch einen Schwei­ne­du­sel ge­habt. Mit der Kalt­blü­tig­keit al­lein ist es näm­lich nicht ge­tan, man muss auch ein biss­chen Glück ha­ben, und das hat er bis­her in fast un­be­greif­li­cher­wei­se ge­habt. Aber das ist ge­nau wie beim Kar­ten­spie­len, mei­ne Her­ren, eine Wei­le kön­nen die Kar­ten für den einen Spie­ler güns­tig fal­len, aber dann ist es auch plötz­lich alle. Plötz­lich steht das Spiel ge­gen den Kla­bau­ter­mann, und wir ha­ben die Trümp­fe in der Hand!«

»Al­les sehr schön und in­ter­essant, Esche­rich! Feins­te Kri­mi­na­lis­ten­theo­rie, wir ver­ste­hen schon. Aber wir sind nicht so sehr für Theo­rie, und wir hö­ren aus Ihren Wor­ten nur her­aus, dass wir even­tu­ell noch zwei wei­te­re Jah­re zu war­ten ha­ben, bis Sie sich zum Han­deln ent­schlie­ßen wer­den. Da ma­chen wir nicht mit, son­dern wir schla­gen Ih­nen vor, Sie durch­den­ken den gan­zen Fall noch ein­mal gründ­lich und ma­chen uns, sa­gen wir in ei­ner Wo­che, Ihre Vor­schlä­ge. Dann wer­den wir ja se­hen, ob Sie zur Er­le­di­gung die­ses Fal­les ge­eig­net sind oder nicht. Heil Hit­ler, Esche­rich!«

Der Ober­grup­pen­füh­rer Prall aber, der bis­her we­gen An­we­sen­heit noch hö­he­rer Vor­ge­setz­ter die Klap­pe hat­te hal­ten müs­sen, kam noch ein­mal in Esche­richs Zim­mer ge­stürzt: »Sie Ka­mel! Sie Idi­ot! Den­ken Sie, ich las­se mei­ne Ab­tei­lung noch wei­ter durch einen Trot­tel, wie Sie es sind, schän­den? Eine Wo­che ha­ben Sie noch Zeit!« Er schüt­tel­te grim­mig die Fäus­te. »Der Him­mel gna­de Ih­nen, wenn Ih­nen auch in die­ser Wo­che nichts ein­fällt! Ich fah­re Schlit­ten mit Ih­nen!« Und so wei­ter und so wei­ter. Kom­missar Esche­rich hör­te das schon gar nicht mehr.

In der ihm ver­blie­be­nen ein­wö­chi­gen Gna­den­frist be­schäf­tig­te sich Kom­missar Esche­rich der­art mit dem Fall Kla­bau­ter­mann, dass er sich gar nicht mit ihm be­schäf­tig­te. Ein­mal hat­te er sich durch sei­ne Vor­ge­setz­ten aus der für rich­tig er­kann­ten Ab­war­te­tak­tik her­aus­drän­gen las­sen, und gleich war al­les auf ein falsches Gleis ge­ra­ten, drum hat­te die­ser Enno Klu­ge dar­an glau­ben müs­sen.

Nicht, dass die­ser Klu­ge sei­nem Ge­wis­sen viel zu­ge­setzt hät­te. Ein wert­lo­ser, jäm­mer­li­cher Plär­rer, das war ganz un­wich­tig, ob der leb­te oder nicht. Aber der Kom­missar Esche­rich hat­te viel Sche­re­rei­en we­gen die­ses klei­nen Biests ge­habt, es hat­te ei­ni­ge Mühe ge­kos­tet, den ein­mal ge­öff­ne­ten Mund wie­der zu schlie­ßen. Ja, in je­ner Nacht, an die er nicht ger­ne dach­te, war der Kom­missar sehr auf­ge­regt ge­we­sen – und wenn der lan­ge, farb­lo­se, graue Mann et­was hass­te, so war es Auf­ge­regt­sein.