Hans Fallada – Gesammelte Werke

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27. Angst und Furcht

Seit je­ner Nacht sind zwei Wo­chen ver­gan­gen. Frau Hete und Enno Klu­ge ha­ben in dem en­gen Bei­ein­an­der­le­ben ei­nes das an­de­re bes­ser ken­nen­ge­lernt. Es war ja nun so, dass der Mann we­gen der Furcht vor der Ge­sta­po nicht aus dem Hau­se durf­te. Sie leb­ten wie auf ei­ner In­sel, nur sie zwei. Sie konn­ten sich nicht aus dem Wege ge­hen, sich bei an­de­ren Men­schen ein we­nig fri­schen Wind um die Nase we­hen las­sen. Sie wa­ren ganz auf­ein­an­der an­ge­wie­sen.

In den ers­ten Ta­gen hat­te sie es dem Enno nicht ein­mal er­laubt, ihr im La­den zu hel­fen, in die­sen ers­ten Ta­gen, da sie noch nicht ganz si­cher war, ob nicht doch ein Agent der Ge­sta­po ums Haus schlich. Sie hat­te ihm ge­sagt, dass er ganz still in der Stu­be blei­ben müs­se. Von nie­man­dem dür­fe er sich se­hen las­sen. Ein we­nig über­rascht war sie, mit wel­cher Ge­las­sen­heit er die­se Er­öff­nung auf­nahm; ihr wäre es schreck­lich ge­we­sen, zu sol­chem un­tä­ti­gen Sit­zen in der en­gen Stu­be ver­ur­teilt zu sein. Aber er hat­te nur ge­sagt: »Nun gut, da wer­de ich mich ein biss­chen pfle­gen!«

»Und was wirst du tun, Enno?«, hat­te sie ge­fragt. »So ein Tag ist lang, und ich kann mich nicht viel um dich küm­mern, und Grü­beln trägt nichts ein.«

»Tun?«, hat­te er ganz er­staunt ge­fragt. »Wie­so tun? Ach, du meinst ar­bei­ten?« Er hat­te es schon auf der Zun­ge, dass er sei­ner An­sicht nach ei­gent­lich ge­nug ge­ar­bei­tet hat­te für eine lan­ge Zeit, aber er war noch sehr vor­sich­tig bei ihr und sag­te dar­um: »Na­tür­lich wür­de ich ger­ne was ar­bei­ten. Aber was kann ich denn hier im Zim­mer ar­bei­ten? Ja, wenn da ’ne Dreh­bank stün­de!« Und er lach­te.

»Aber ich weiß eine Ar­beit für dich! Sieh mal her, Enno!«

Sie trug einen großen Kar­ton her­ein, ganz ge­füllt mit al­len mög­li­chen Sä­me­rei­en. Nun stell­te sie ein Brett­chen vor ihn hin, ei­nes je­ner höl­zer­nen Zahl­bret­ter mit Rand, wie sie auf vie­len La­den­ti­schen ste­hen. Und sie nahm einen Fe­der­hal­ter zur Hand, in dem die Fe­der ver­kehrt her­um steck­te. Die­sen Hal­ter wie eine Schau­fel be­nut­zend, fing sie an, eine Hand­voll Sä­me­rei­en, die sie auf das Zahl­brett ge­schüt­tet hat­te, auf­zu­tei­len in die ver­schie­de­nen Sor­ten. Rasch und ge­schickt ging die Fe­der hin und her, teil­te, schob in eine Ecke, son­der­te wie­der, und da­bei er­klär­te sie: »Das sind al­les Fut­ter­res­te, aus den Ecken zu­sam­men­ge­fegt, aus zer­platz­ten Tü­ten, das habe ich al­les ge­sam­melt, seit Jah­ren. Jetzt, da das Fut­ter so knapp ist, kommt es mir zu­gu­te. Ich sor­tie­re es …«

»Aber warum sor­tierst du es? Das ist ja eine Rie­sen­ar­beit! Gib’s den Vö­geln doch so zu fres­sen, die sor­tie­ren es sich schon selbst!«

»Und ver­aa­sen da­bei drei Vier­tel des Fut­ters! Oder fres­sen Fut­ter, das ih­nen nicht be­kommt, und ge­hen mir ein! Nein, die klei­ne Ar­beit muss man sich schon ma­chen. Ich hab’s meist am Abend ge­tan und am Sonn­tag, im­mer wenn ich ein biss­chen Zeit hat­te. An ei­nem Sonn­tag habe ich ein­mal fast fünf Pfund sor­tiert, ne­ben mei­ner Haus­ar­beit! Nun, wir wer­den ja se­hen, ob du mei­nen Re­kord schlägst. Du hast ja jetzt viel Zeit, und es denkt sich gut da­bei nach. Si­cher hast du viel nach­zu­den­ken. So, nun ver­such du es ein­mal, Enno!«

Sie gab ihm die klei­ne Schau­fel in die Hand und sah zu, wie er zu ar­bei­ten an­fing.

»Du bist gar nicht un­ge­schickt!«, lob­te sie ihn. »Du hast klu­ge Hän­de!«

Und einen Au­gen­blick spä­ter: »Aber du musst bes­ser auf­pas­sen, Häns­chen – nein, Enno, mei­ne ich. Ich muss mich erst dar­an ge­wöh­nen! Sieh mal, dies spit­ze glän­zen­de Korn, das ist Hir­se, und das stump­fe, schwar­ze, run­de, das ist Raps. Das darfst du nicht durch­ein­an­der­brin­gen. Die Son­nen­blu­men­ker­ne nimmst du am bes­ten vor­her mit den Fin­gern her­aus, das geht schnel­ler als mit der Fe­der. War­te, ich hole dir noch Scha­len, in die du das fer­tig Sor­tier­te tun kannst!«

Sie war ganz Ei­fer, ihn für sei­ne lang­wei­li­gen Tage mit Ar­beit zu ver­sor­gen. Dann ging die La­denklin­gel zum ers­ten Mal, und von nun an riss es nicht ab mit Kun­den, sie konn­te ihn im­mer nur für einen Au­gen­blick be­su­chen. Dann traf sie ihn träu­mend vor sei­nem Zahl­brett mit den Sä­me­rei­en. Oder noch schlim­mer war es, wenn er sich ei­lig, vom Geräusch der Tür er­schreckt, an sei­nen Ar­beits­platz schlich wie ein Kind, das beim Faul­sein er­tappt ist.

Sie sah bald, nie wür­de er ih­ren Re­kord von fünf Pfund schla­gen, er wür­de es nicht ein­mal auf zwei Pfund brin­gen. Und die wür­de sie auch noch ein­mal durch­se­hen müs­sen, so lie­der­lich hat­te er ge­ar­bei­tet.

Sie war ein biss­chen ent­täuscht, aber sie gab ihm recht, als er sag­te: »Nicht ganz zu­frie­den, Hete, was?« Er lach­te ver­le­gen. »Aber, weißt du, das ist kei­ne rich­ti­ge Ar­beit für einen Mann. Gib mir ’ne rich­ti­ge Ar­beit für einen Mann, und du sollst mal se­hen, wie ich los­haue!«

Na­tür­lich hat­te er recht, und am nächs­ten Tag setz­te sie ihm das Brett mit den Sä­me­rei­en nicht mehr hin. »Du musst eben se­hen, wie du den Tag hin­bringst, du Ar­mer!«, sag­te sie trös­tend. »Es muss schreck­lich für dich sein. Aber viel­leicht liest du ein biss­chen? Ich habe dort im Schrank noch vie­le Bü­cher von mei­nem Mann. War­te, ich schlie­ße dir gleich auf.«

Er stand hin­ter ihr, als sie die Rei­hen mus­ter­te. »Es sind frei­lich fast al­les mar­xis­ti­sche Bü­cher. Du weißt ja, er war Funk­tio­när in der KPD.1 Da, den Le­nin habe ich noch gra­de bei ei­ner Haus­su­chung ge­ret­tet. Ich hat­te ihn ins Ofen­loch ge­steckt, und gra­de woll­te ein SA-Mann die Ofen­tür auf­ma­chen, da gab ich ihm rasch eine Zi­ga­ret­te, und er ver­gaß es.« Sie sah ihm ins Ge­sicht. »Aber das sind wohl kei­ne Bü­cher für dich, Lie­ber, was? Ich muss dir ge­ste­hen, ich habe auch kaum hin­ein­ge­se­hen, seit mein Mann tot ist. Vi­el­leicht ist das falsch, je­der müss­te sich um Po­li­tik küm­mern. Hät­ten wir das alle recht­zei­tig ge­tan, so wäre es nicht ge­kom­men, wie es jetzt durch die Na­zis ge­wor­den ist, das hat Wal­ter im­mer ge­sagt. Aber ich bin nur eine Frau …«

Sie brach ab, sie merk­te, er hat­te gar nicht hin­ge­hört.

»Aber da un­ten ste­hen noch ein paar Ro­ma­ne von mir.«

»Am liebs­ten hät­te ich einen rich­ti­gen De­tek­tivro­man, so was mit Ver­bre­chern und Mord«, er­klär­te Enno.

»Ich glau­be, so was ist nicht da. Aber hier habe ich ein wirk­lich schö­nes Buch, das habe ich im­mer wie­der ge­le­sen. Raa­be: Chro­nik der Sper­lings­gas­se. Das ver­such mal, das wird dich freu­en …«

Aber sie sah, wenn sie in die Stu­be kam, er las nicht dar­in. Es lag auf­ge­schla­gen auf dem Tisch, spä­ter war es bei­sei­te­ge­scho­ben. »Es ge­fällt dir nicht?«

»Ach, weißt du, ich weiß nicht … Das sind al­les so schreck­lich gute Men­schen, so was ist doch lang­wei­lig. So ein rich­tig from­mes Buch ist das. Kein Buch für einen Mann. Wir wol­len mehr was Auf­re­gen­des, ver­stehst du …«

»Scha­de«, sag­te sie. »Scha­de.« Und sie stell­te das Buch in den Schrank zu­rück.

Es ir­ri­tier­te sie, wenn sie jetzt in die Stu­be kam, den Mann da­sit­zen zu se­hen, im­mer in der glei­chen schlaf­fen Hal­tung, vor sich hin dö­send. Oder er schlief auch, den Kopf auf den Tisch ge­legt. Oder er stand am Fens­ter und starr­te auf den Hof, im­mer die glei­che Me­lo­die vor sich hin pfei­fend. Es ir­ri­tier­te sie sehr. Sie war im­mer eine tä­ti­ge Frau ge­we­sen, sie war es noch, ein Le­ben ohne Ar­beit wäre ihr sinn­los er­schie­nen. Am liebs­ten hat­te sie es, wenn der gan­ze La­den vol­ler Kun­den stand, und sie hät­te sich am liebs­ten in zehn Stücke zer­teilt.

Und da stand nun die­ser Mann, stand, saß, hock­te, lag zehn Stun­den, zwölf Stun­den, vier­zehn Stun­den und tat nichts, rein gar nichts! Er stahl dem lie­ben Herr­gott den Tag! Was fehl­te ihm denn? Er schlief ge­nug, er aß mit Ap­pe­tit, es ging ihm nichts ab, aber er ar­bei­te­te nicht! Ein­mal riss ihr die Ge­duld, und sie sag­te ge­reizt: »Wenn du nur nicht im­mer die­sel­be Me­lo­die pfei­fen woll­test, Enno! Seit sechs, acht Stun­den pfeifst du schon: Klei­ne Mäd­chen müs­sen schla­fen gehn …«

Er lach­te ver­le­gen. »Stört dich mei­ne Pfei­fe? Na, ich kann auch an­ders. Soll ich dir mal das Horst-Wes­sel-Lied pfei­fen?« Und er fing an: Die Fah­ne hoch! Die Rei­hen fest ge­schlos­sen. SA mar­schiert mit mu­tig fes­tem Schritt …

Ohne ein Wort ging sie in den La­den zu­rück. Dies­mal hat­te er sie nicht nur ir­ri­tiert, dies­mal war sie ernst­lich ver­letzt.

Aber das ver­ging wie­der. Sie war nicht nach­tra­gend, und au­ßer­dem hat­te auch er ge­merkt, dass er et­was falsch ge­macht hat­te, und hat­te ihr als Über­ra­schung eine neue Lam­pe über dem Bett zu­recht­ge­bas­telt. Ja, so was konn­te er auch; wenn er woll­te, war er ge­schickt ge­nug, aber meist woll­te er nicht.

Üb­ri­gens gin­gen die­se Tage sei­ner Ver­ban­nung in die Stu­be rasch vor­über. Frau Hete hat­te sich bald da­von über­zeugt, dass wirk­lich kein Spit­zel um das Haus her­um­strich, und Enno konn­te wie­der im La­den hel­fen. Auf die Stra­ße frei­lich durf­te er vor­läu­fig über­haupt nicht, im­mer konn­te ihn ein Be­kann­ter se­hen. Aber im La­den hel­fen, das konn­te er, und da er­wies er sich nun wie­der recht nütz­lich und ge­schickt. Sie sah bald, dass ihn eine län­ge­re Zeit gleich­för­mig hin­ter­ein­an­der aus­ge­führ­te Ar­beit rasch er­mü­de­te, so gab sie ihm jetzt dies, dann das zu tun.

Bald ließ sie ihn auch bei der Kun­den­be­die­nung hel­fen. Er wur­de gut mit der Kund­schaft fer­tig, er war höf­lich, schlag­fer­tig, manch­mal so­gar auf eine et­was schlaf­müt­zi­ge Art wit­zig.

 

»Mit dem Herrn ha­ben Sie aber einen gu­ten Griff ge­tan, Frau Hä­ber­le«, sag­ten alte Kun­den. »Wohl was Ver­wand­tes?«

»Ja, ein Vet­ter von mir«, log Frau Hete und war glück­lich über dies Enno ge­spen­de­te Lob.

Ei­nes Ta­ges sag­te sie zu ihm: »Enno, ich möch­te ei­gent­lich heu­te nach Dah­lem fah­ren. Du weißt doch, die Tier­hand­lung von Löbe dort macht zu, weil er zur Wehr­macht muss. Ich kann sei­ne Be­stän­de kau­fen. Er hat sehr viel zu lie­gen, es wür­de eine große Hil­fe für uns sein, wo die Ware doch im­mer knap­per wird. Glaubst du, dass du al­lein mit dem La­den fer­tig wirst?«

»Aber selbst­re­dend, Hete, selbst­re­dend! So was er­le­di­ge ich doch spie­lend. Wie lan­ge willst du denn fort­blei­ben?«

»Na, ich wür­de gleich nach dem Mit­ta­ges­sen fah­ren, aber ich glau­be nicht, dass ich bis La­den­schluss zu­rück sein wer­de. Ich möch­te dann auch gleich bei mei­ner Schnei­de­rin ran­ge­hen …«

»Tu das, Hete. Von mir aus hast du Ur­laub bis Mit­ter­nacht. Um den La­den hier mach dir kei­ne Sor­gen, den er­le­di­ge ich dir pri­ma.«

Er setz­te sie noch in die U-Bahn. Es war Mit­tags­pau­se, der La­den war ge­schlos­sen.

Sie lä­chel­te vor sich hin, als der Wa­gen schon fuhr. Das Le­ben zu zwei­en war doch ein an­der Le­ben! Es war schön, wenn man so ge­mein­sam ar­bei­te­te. Dann erst hat­te man abends das rich­ti­ge Ge­fühl von Be­frie­di­gung. Und er gab sich Mühe, ent­schie­den gab er sich Mühe, es ihr recht zu ma­chen. Er tat, was er konn­te. Si­cher war er kein ener­gi­scher oder auch nur flei­ßi­ger Mensch, sie ge­stand es sich ein. Wenn er zu viel hat­te lau­fen müs­sen, zog er sich ger­ne ein­mal in die Stu­be zu­rück, der La­den moch­te noch so voll ste­hen, er über­ließ ihr die Kund­schaft al­lein. Oder sie fand ihn nach lan­gem ver­geb­li­chem Ru­fen im Kel­ler, wie er auf dem Rand der Sand­kis­te saß und vor sich hin dös­te; das halb mit Sand ge­füll­te Ei­mer­chen stand vor ihm – und sie war­te­te schon zehn Mi­nu­ten dar­auf!

Er fuhr zu­sam­men, wenn sie ihn ein we­nig scharf an­rief: »Enno, wo bleibst du bloß? Ich war­te mir die See­le aus dem Lei­be!«

Wie ein er­schro­cke­ner Schul­jun­ge sprang er auf. »Ein biss­chen ein­ge­d­öst«, mur­mel­te er ver­le­gen und fing lang­sam zu schip­pen an. »Kom­me gleich, Frau Che­fin, soll auch nicht wie­der pas­sie­ren.«

Mit sol­chen klei­nen Scher­zen ver­such­te er dann, sie zu ver­söh­nen.

Nein, in kei­ner Hin­sicht ein großes Kir­chen­licht, die­ser Enno, so­weit sah sie jetzt schon klar, aber er tat, was er konn­te. Und da­bei gut zu lei­den, höf­lich, um­gäng­lich, an­schmieg­sam, ohne er­sicht­li­che Las­ter. Dass er ein biss­chen sehr viel Zi­ga­ret­ten rauch­te, das sah sie ihm nach. Sie rauch­te sel­ber ger­ne mal eine, wenn sie ab­ge­spannt war …

Mit ih­ren Be­sor­gun­gen aber hat­te Frau Hete an die­sem Tage Pech. Das Ge­schäft von Löbe in Dah­lem war ge­schlos­sen, als sie hin­kam, man konn­te ihr auch nicht sa­gen, wann Herr Löbe zu­rück­kam. Nein, ein­ge­zo­gen war er noch nicht, aber er hat­te jetzt wohl vie­le Gän­ge durch sei­ne Ein­be­ru­fung. Vor­mit­tags ab zehn Uhr war das Ge­schäft sonst im­mer ge­öff­net ge­we­sen – viel­leicht ver­such­te sie es mor­gen Vor­mit­tag?

Sie dank­te und fuhr zu ih­rer Schnei­de­rin. Vor dem Hau­se aber blieb sie er­schro­cken ste­hen. In der Nacht war eine Flie­ger­bom­be hin­ein­ge­gan­gen, das Haus war nur noch eine Rui­ne. Die Leu­te gin­gen ei­lig dar­an vor­über, man­che mit ab­sicht­lich ab­ge­wand­ten Ge­sich­tern, die das Grau­en der Zer­stö­rung nicht se­hen woll­ten oder die Angst hat­ten, ihre Er­bit­te­rung nicht ver­ber­gen zu kön­nen, an­de­re be­son­ders lang­sam (Po­li­zei sorg­te da­für, dass nie­mand ste­hen blieb), ent­we­der mit sorg­los lä­cheln­den, neu­gie­ri­gen Ge­sich­tern oder mit ei­nem fins­te­ren, fast dro­hen­den Blick die Ver­wüs­tung mus­ternd.

Ja, Ber­lin wur­de jetzt öf­ter in den Kel­ler ge­schickt, und jetzt fie­len auch im­mer häu­fi­ger Bom­ben und die ge­fürch­te­ten Phos­phor­ka­nis­ter. Im­mer öf­ter wur­de jetzt auch das Wort Gö­rings zi­tiert, er wol­le Mei­er hei­ßen, wenn sich ein feind­li­ches Flug­zeug über Ber­lin se­hen lie­ße. In der ver­gan­ge­nen Nacht hat­te Frau Hete auch im Kel­ler ge­ses­sen, al­lein, denn sie woll­te nicht, dass Enno schon jetzt als ihr of­fi­zi­el­ler Freund und Haus­ge­nos­se ge­se­hen wur­de. Sie hat­te das Sur­ren der Flie­ger über sich ge­hört, die­ses ner­ven­zer­rüt­ten­de Geräusch, wie wenn im­mer wie­der eine Mücke sirrt und surrt. Das Geräusch von Ein­schlä­gen hat­te sie nicht ge­hört, ihre Ge­gend war bis­her noch ganz ver­schont ge­blie­ben. Die Leu­te er­zähl­ten ja, die Eng­län­der woll­ten den Ar­bei­tern nichts tun, sie woll­ten nur die fei­nen Fa­mi­li­en im Wes­ten er­le­di­gen …

Die Schnei­de­rin war kein rei­cher Mensch ge­we­sen, nun hat­te es sie doch ge­trof­fen. Frau Hete Hä­ber­le such­te von ei­nem Schutz­mann zu er­fah­ren, wo die Schnei­de­rin ge­blie­ben, ob ihr et­was ge­sche­hen sei. Der Schutz­mann be­dau­er­te, kei­ne Aus­kunft ge­ben zu kön­nen. Vi­el­leicht gin­ge die Dame mal aufs Re­vier, oder sie er­kun­dig­te sich auch auf der nächs­ten Stel­le des Luft­schutz­bun­des?

Aber dazu hat­te Frau Hete jetzt kei­ne Ruhe. So leid ihr die Schnei­de­rin auch tat und so ger­ne sie et­was über ihr Er­ge­hen er­fah­ren hät­te, es dräng­te Hete jetzt nach Haus. Im­mer, wenn man so et­was sah, dräng­te es einen nach Haus. So­fort muss­te man sich dort über­zeu­gen, dass auch al­les in Ord­nung war. Es war tö­richt, man wuss­te es, aber man fuhr doch los. Man muss­te sich erst mit ei­ge­nen Au­gen über­füh­ren, dass dort nichts ge­sche­hen war.

Aber lei­der war doch et­was ge­sche­hen mit der klei­nen Tier­hand­lung am Kö­nigs­tor. Nichts Tra­gi­sches, ge­wiss nicht, und doch er­schüt­ter­te es Frau Hä­ber­le tief, tiefer als man­ches Er­leb­nis in vie­len Jah­ren. Frau Hä­ber­le fand den Roll­la­den vor dem La­den hin­un­ter­ge­las­sen, und an ihm war ein Schild fest­ge­macht, ein Schild mit der dum­men In­schrift, über die sie sich im­mer em­pört hat­te: »Kom­me gleich wie­der.« Und dar­un­ter: »Frau Hed­wig Hä­ber­le.«

Dass un­ter die­sem Zet­tel auch noch ihr Name stand, dass sie mit ih­rem gu­ten Na­men die­se Lie­de­rei und Pf­licht­ver­ges­sen­heit de­cken muss­te, das be­lei­dig­te sie fast eben­so tief wie der Ver­trau­ens­bruch, den Enno be­gan­gen hat­te. Hin­ter ih­rem Rücken fort­ge­schli­chen, und hin­ter ih­rem Rücken hät­te er auch wie­der auf­ge­macht, hät­te ihr kein Wort da­von ge­sagt, dass er sie be­lo­gen hat­te. Und wie dumm da­bei, wie über­aus dumm, denn es war doch fast si­cher, dass eine ih­rer Stamm­kun­din­nen sie frag­te: »Ges­tern Nach­mit­tag zu­ge­habt? Un­ter­wegs ge­we­sen, Frau Hä­ber­le?«

Sie kommt über den Haus­flur in ihre Woh­nung. Dann zieht sie den La­den vor ih­rer La­den­tür hoch, öff­net die Tür. Sie war­tet, bis der ers­te Kun­de kommt, nein, sie möch­te jetzt gar nicht, dass er kommt. Solch ein Ver­rat hin­ter ih­rem Rücken – in ih­rer gan­zen Ehe mit Wal­ter hat es nie so et­was ge­ge­ben. Im­mer hat­ten sie vol­les Ver­trau­en zu­ein­an­der, und nie hat­te ei­nes je das Ver­trau­en des an­de­ren ge­täuscht. Und nun dies! Sie hat­te ihm doch nicht die ge­rings­te Ver­an­las­sung ge­ge­ben!

Die ers­te Kun­din kommt, sie wird von ihr be­dient; aber als Hete ihr auf einen Zwan­zig­mark­schein her­aus­ge­ben will und die La­den­kas­se auf­zieht, ist die leer. Es war reich­lich Wech­sel­geld in der Kas­se, als sie fort­ging, an die hun­dert Mark. Und nun ist die Kas­se leer. Sie be­zwingt sich, sie holt aus ih­rer Hand­ta­sche Geld, gibt her­aus, fer­tig! Die La­den­tür bim­melt.

Ja, jetzt möch­te sie den La­den zu­schlie­ßen und ganz mit sich al­lein sein. Ihr fällt ein – wäh­rend sie im­mer wei­ter Kund­schaft ab­fer­tigt –, dass es ihr in den letz­ten Ta­gen schon ein paar­mal so vor­ge­kom­men war, als kön­ne die Kas­se nicht ganz stim­men, als müs­se die Ta­ges­lo­sung hö­her sein. Da­mals hat sie sol­che Ge­dan­ken un­mu­tig ver­jagt. Was soll­te Enno auch mit dem Gel­de an­fan­gen? Er kam ja gar nicht aus dem Hau­se, war im­mer un­ter ih­ren Au­gen!

Aber jetzt denkt sie dar­an, dass die Toi­let­te auf der hal­b­en Trep­pe liegt und dass er viel mehr Zi­ga­ret­ten ge­raucht hat, als er in sei­nem Köf­fer­chen mit­ge­bracht ha­ben kann. Si­cher hat er je­man­den im Hau­se ge­fun­den, der ihm Zi­ga­ret­ten holt, schwarz ge­kauf­te, ohne Kar­te, hin­ter ih­rem Rücken! Wie schmäh­lich und ge­mein! Sie hät­te ihn lie­bend ger­ne mit Zi­ga­ret­ten ver­sorgt, er hät­te nur den Mund auf­tun müs­sen!

In die­sen an­dert­halb Stun­den bis zum Wie­der­auf­tau­chen En­nos kämpft Frau Hä­ber­le einen schwe­ren Kampf mit sich. In den letz­ten Ta­gen hat sie sich dar­an ge­wöhnt, dass wie­der ein Mann im Hau­se ist, dass sie nicht mehr al­lein ist, son­dern für je­man­den zu sor­gen hat, für je­man­den, den sie ger­ne hat. Aber wenn der Mann so ist, wie es jetzt den An­schein hat, so muss sie die Lie­be aus­rei­ßen aus ih­rem Her­zen! Bes­ser al­lein sein, als in solch ewi­gem Miss­trau­en und in sol­cher grau­en­vol­len Angst le­ben! Sie kann ja nicht mehr um die Ecke in den Grün­kram ge­hen, schon muss sie Angst ha­ben, er be­trügt sie wie­der!

Und dann fällt Hete ein, dass es ihr auch so vor­ge­kom­men ist, als lä­gen die Sa­chen nicht ganz rich­tig in ih­rem Wä­sche­spind. Nein, es muss sein, sie muss ihn fort­schi­cken, heu­te noch, so schwer es ihr auch fällt. Spä­ter wür­de es noch schwe­rer sein.

Aber dann denkt sie dar­an, dass sie eine al­tern­de Frau ist, dass dies viel­leicht ihre letz­te Ge­le­gen­heit ist, ei­nem ein­sa­men Le­bens­abend zu ent­ge­hen. Nach die­sem Er­leb­nis mit Enno Klu­ge wird sie sich kaum noch ent­schlie­ßen, mit ei­nem an­de­ren Man­ne es aufs Neue zu ver­su­chen. Nach die­sem er­schre­cken­den, zer­schmet­tern­den Er­leb­nis mit Enno!

»Ja, Mehl­wür­mer sind wie­der da. Wie viel darf es denn sein, mei­ne Dame?«

Eine hal­be Stun­de vor La­den­schluss kommt Enno. Es ist für ih­ren Ge­fühls­zu­stand be­zeich­nend, dass sie erst jetzt dar­an denkt, dass er sich ja gar nicht auf der Stra­ße se­hen las­sen soll, in sol­cher Ge­fahr, wie er durch die Ge­sta­po war! Bis­her hat sie dar­an gar nicht den­ken kön­nen, so sehr war sie mit dem Ver­rat be­schäf­tigt, den er an ihr be­gan­gen. Aber was hel­fen denn alle Vor­sichts­maß­re­geln, wenn er in ih­rer Ab­we­sen­heit ein­fach los­läuft? Und viel­leicht ist all das mit der Ge­sta­po auch Lug und Trug? Bei die­sem Man­ne ist al­les mög­lich!

Er hat na­tür­lich schon an dem hoch­ge­zo­ge­nen Roll­la­den ge­merkt, dass sie wie­der im La­den ist. Er kommt von der Stra­ße her­ein, vor­sich­tig und be­hut­sam schlän­gelt er sich durch die Kun­den, lä­chelt ihr zu, als sei nicht das Ge­rings­te vor­ge­fal­len, und sagt, in der Stu­be ver­schwin­dend: »Ich kom­me gleich und hel­fe, Che­fin!«

Und er kommt wirk­lich sehr schnell zu­rück, und not­ge­drun­gen, um vor der Kund­schaft das An­se­hen zu be­wah­ren, muss sie mit ihm spre­chen, ihm An­wei­sun­gen ge­ben, tun, als sei nichts ge­sche­hen – und doch ist ihre Welt ein­ge­stürzt! Aber sie lässt sich nichts mer­ken, sie geht so­gar auf sei­ne schwa­chen Witz­chen ein, die er heu­te be­son­ders reich­lich be­reithält, und nur, als er an die La­den­kas­se will, sagt sie scharf: »Bit­te, die Kas­se be­sor­ge ich!«

Er ist et­was zu­sam­men­ge­fah­ren, mit ei­nem scheu­en Blick sieht er sie von der Sei­te an – wie ein Hund, der ge­schla­gen wird, ja, ge­nau wie ein ver­prü­gel­ter Hund, denkt sie. Dann hat sich sei­ne Hand in die Ta­sche ge­tas­tet, ein Lä­cheln ist auf sein Ge­sicht ge­tre­ten, ja­wohl, er hat den Schlag schon wie­der ver­wun­den.

»Zu Be­fehl, Che­fin!«, schnarrt er und knallt die Ab­sät­ze zu­sam­men.

Die Kun­den la­chen über den klei­nen, ko­mi­schen Mann, der da Sol­dat spie­len will, aber ihr ist nicht zum La­chen zu­mu­te.

Dann ist der La­den ge­schlos­sen. Fünf vier­tel Stun­den ar­bei­ten sie noch eif­rig mit­ein­an­der, ganz mit Füt­tern und Trän­ken und Säu­bern be­schäf­tigt, bei­de schließ­lich fast wort­los, nach­dem sie auf sei­ne Scher­ze, die er im­mer wie­der ver­such­te, nicht ein­ge­gan­gen war.

Frau Hete steht in der Kü­che, sie macht das Abendes­sen zu­recht. Sie hat Brat­kar­tof­feln in der Pfan­ne, rich­ti­ge, schö­ne Brat­kar­tof­feln, mit Speck an­ge­bra­ten. Den Speck hat sie von ei­ner Kun­din im Aus­tausch ge­gen einen Har­zer Rol­ler be­kom­men. Sie hat sich dar­auf ge­freut, ihn mit ei­nem so schö­nen Abendes­sen über­ra­schen zu kön­nen, denn er isst ger­ne was Gu­tes. Die Kar­tof­feln wer­den schön gold­gelb.

 

Aber plötz­lich löscht sie die Gas­flam­me un­ter der Pfan­ne. Plötz­lich kann sie auf die­se Auss­pra­che nicht mehr war­ten. Sie geht in die Stu­be, lehnt sich mit dem Rücken, dun­kel und mas­sig, ge­gen den Ofen und fragt in ei­nem fast dro­hen­den Tone: »Nun?«

Er hat am Tisch ge­ses­sen, dem Abend­brot­tisch, den er für sie bei­de ge­deckt hat­te, vor sich hin flö­tend, nach sei­ner Ge­wohn­heit.

Bei die­sem dro­hen­den »Nun?« fährt er zu­sam­men, er steht auf und sieht zu der dunklen Ge­stalt hin­über.

»Ja, Hete?«, sagt er. »Gib­t’s bald Abendes­sen? Ich hab mäch­ti­gen Kohldampf.«

Sie möch­te ihn vor Wut schla­gen, die­sen Mann, der glaubt, sie ist be­reit, einen sol­chen Ver­rat tot­zu­schwei­gen! Der fühlt sich ja schon sehr si­cher, die­ser Herr, weil er mit ihr in ei­nem Bett ge­schla­fen hat! Sie ist von ei­nem ganz un­ge­wohn­ten Zorn er­fasst, am liebs­ten wür­de sie den Kerl schüt­teln und schla­gen, noch ein­mal und noch ein­mal.

Aber sie be­zwingt sich und wie­der­holt nur noch ein­mal ihr »Nun?«, nur noch dro­hen­der.

»Ach so!«, sagt er. »Du meinst das mit dem Geld, Hete.« Er greift in die Ta­sche und zieht einen Hau­fen Schei­ne her­vor. »Da, Hete, das sind 210 Mark, und ich hat­te 92 Mark aus der Kas­se ge­nom­men.« Er lacht ein biss­chen ver­le­gen. »Da­mit ich doch auch et­was zur Wirt­schaft bei­steue­re!«

»Und wie kommst du zu dem vie­len Geld?«

»Heu­te Nach­mit­tag war das große Tra­b­er­ren­nen in Karls­horst. Ich bin gra­de noch recht­zei­tig ge­kom­men, um Ade­bar zu set­zen. Ade­bar, Sieg. Ich wett näm­lich ger­ne auf Pfer­de. Ich ver­ste­he ziem­lich viel von Ren­nen, Hete.« Er sagt das mit ei­nem bei ihm ganz un­ge­wohn­ten Stolz. »Nicht die gan­zen 92, nur 50 Mark habe ich ge­setzt. Die Quo­te war …«

»Und was hät­test du ge­tan, wenn das Pferd nicht ge­won­nen hät­te?«

»Aber Ade­bar muss­te ge­win­nen – da gab’s gar nichts an­de­res!«

»Und wenn er doch nicht ge­won­nen hät­te?«

Jetzt ist er es ein­mal, der sich der Frau über­le­gen fühlt. Er lä­chelt, als er sagt: »Sieh mal, Hete, du ver­stehst nichts vom Rennsport, ich ver­ste­he aber al­les da­von. Und wenn ich sage: Ade­bar ge­winnt, und ris­kie­re so­gar 50 Mark dar­auf …«

Sie un­ter­bricht ihn. Sie sagt scharf: »Du hast mein Geld ris­kiert! Das will ich nicht ha­ben! Wenn du Geld brauchst, sagst du es, du sollst bei mir nicht nur für die Kost ar­bei­ten müs­sen. Aber ohne mei­ne Er­laub­nis nimmst du kein Geld aus der Kas­se, ver­stan­den?«

Bei die­sem un­ge­wohnt schar­fen Ton ist er wie­der völ­lig un­si­cher ge­wor­den. Er sagt kla­gend (und sie weiß, gleich wird er los­wei­nen, und sie fürch­tet sich schon vor die­sen Trä­nen), er sagt also kla­gend: »Aber wie re­dest du denn mit mir, Hete? Als ob ich nur dein Ar­bei­ter wäre! Na­tür­lich neh­me ich nicht wie­der Geld aus der Kas­se. Ich dach­te bloß, ich wür­de dir eine Freu­de ma­chen, wenn ich so schön Geld ver­die­ne. Wo der Sieg doch auch ganz si­cher war!«

Sie geht gar nicht auf die­ses Ge­schwätz ein. Das Geld war ihr ja im­mer Ne­ben­sa­che, das Wich­ti­ge war das ent­täusch­te Ver­trau­en. Er denkt jetzt, sie ist bloß we­gen des Gel­des är­ger­lich, so ein Schwach­kopf! Sie sagt: »Und we­gen die­ser Pfer­de­wet­te­rei hast du also ein­fach den La­den zu­ge­macht?«

»Ja«, sagt er. »Du hät­test ihn doch auch zu­ma­chen müs­sen, wenn ich nicht da ge­we­sen wäre!«

»Und dass du ihn zu­ma­chen woll­test, das hast du schon ge­wusst, als ich fort­ging?«

»Ja«, sagt er ganz dumm. Und ver­bes­sert sich rasch: »Nein, na­tür­lich nicht, sonst hät­te ich dich um Er­laub­nis ge­be­ten. Es ist mir erst ein­ge­fal­len, als ich bei dem klei­nen La­den von dem Buch­ma­cher vor­bei­kam, in der Neu­en Kö­nigs­tra­ße, weißt du. Da las ich im Vor­bei­ge­hen die Tipps, und als ich da als Au­ßen­sei­ter Ade­bar las, da habe ich mich erst ent­schlos­sen.«

»So!«, sagt sie. Sie glaubt ihm nicht. Das hat er schon vor­her vor­ge­habt, ehe er sie in die U-Bahn setz­te. Ihr ist ein­ge­fal­len, dass er heu­te früh so lan­ge mit der Zei­tung her­um­ge­knis­tert hat und dass er dann lan­ge auf ei­nem Zet­tel ge­rech­net hat, im­mer noch, als schon die ers­ten Kun­den im La­den wa­ren. »So!«, sagt sie noch ein­mal. »Und du gehst also ein­fach in der Stadt spa­zie­ren, wo wir doch aus­ge­macht ha­ben, du lässt dich we­gen der Ge­sta­po mög­lichst nicht drau­ßen se­hen?«

»Du hast doch auch er­laubt, dass ich dich bis an die U-Bahn brin­ge!«

»Da wa­ren wir zu­sam­men. Und ich hat­te aus­drück­lich ge­sagt, es soll­te ein Ver­such sein! Das heißt noch nicht, dass du den hal­b­en Tag in der Stadt her­um­läufst. Wo bist du denn ge­we­sen?«

»Ach, nur in so ’nem klei­nen Lo­kal, das ich von frü­her ken­ne. Da kommt nie ei­ner von der Ge­sta­po hin, da ver­keh­ren nur Buch­ma­cher und Renn­wet­ter.«

»Die dich alle ken­nen! Die alle über­all er­zäh­len kön­nen: Wir ha­ben den Enno Klu­ge da und dort ge­se­hen!«

»Aber die Ge­sta­po weiß doch auch, dass ich ir­gend­wo sein muss. Nur wo, weiß sie nicht. Das Lo­kal ist sehr weit­ab von hier, auf dem Wed­ding. Und ein Be­kann­ter war nicht dort, der mich ver­pfei­fen könn­te!«

Er re­det ganz eif­rig und gut­her­zig; wenn man auf ihn hört, ist er voll­kom­men in sei­nem Recht. Er ver­steht gar nicht, wie sehr er ihr Ver­trau­en ent­täuscht hat, was für einen Kampf sie sei­net­we­gen mit sich kämpft. Geld ge­nom­men – um ihr eine Freu­de zu ma­chen. Das Ge­schäft ge­schlos­sen – hät­te sie ja auch ge­tan. In ein Lo­kal ge­gan­gen – war ja weit weg am Wed­ding. Dass sie sich aber um ihre Lie­be ge­ängs­tigt hat­te, da­von ver­stand er gar nichts, das ging nicht in sei­nen Schä­del hin­ein!

»Also, Enno«, fragt sie, »das ist al­les, was du dazu zu sa­gen hast? Oder?«

»Ja, was soll ich denn noch sa­gen, Hete? Ich seh ja, du bist mäch­tig un­zu­frie­den mit mir, aber ich fin­de wirk­lich nicht, dass ich so viel falsch ge­macht habe!« Nun ka­men sie doch, die ge­fürch­te­ten Trä­nen. »Ach, Hete, sei doch bloß wie­der gut zu mir! Ich will dich auch ge­wiss vor­her nach al­lem fra­gen! Sei bloß wie­der lieb zu mir. So hal­te ich es nicht aus …«

Aber dies­mal ver­fin­gen we­der Trä­nen noch Bit­ten. Et­was klang falsch dar­in. Es ekel­te sie bei­na­he vor dem wei­nen­den Man­ne.

»Das muss ich mir al­les erst gut über­le­gen, Enno«, sag­te sie voll Ab­wehr. »Du scheinst gar nicht zu ver­ste­hen, wie schwer du mein Ver­trau­en ent­täuscht hast.«

Und sie ging an ihm vor­bei in die Kü­che, die Kar­tof­feln wei­ter zu bra­ten. Da hat­te sie also die­se Auss­pra­che ge­habt. Und was hat­te sie ge­bracht? Hat­te sie Er­leich­te­rung ge­bracht, die Ver­hält­nis­se ge­klärt, eine Ent­schei­dung er­leich­tert?

Nichts von al­le­dem! Sie hat­te ihr nur ge­zeigt, dass die­ser Mann gar kein Ge­fühl da­für hat­te, wenn er schul­dig ge­wor­den war. Dass er be­sin­nungs­los log, wenn die Lage das zu er­for­dern schi­en, wo­bei es ihm gar nicht dar­auf an­kam, wen er an­log.

Nein, solch ein Mann war nicht der rich­ti­ge Mann für sie. Sie muss­te mit ihm zum Schluss kom­men. Frei­lich, ei­nes war klar, heu­te Abend konn­te sie ihn nicht mehr auf die Stra­ße set­zen. Er wuss­te ja gar nicht, was er ver­bro­chen hat­te. Er war wie ein jun­ger Hund, der ein Paar Schu­he zer­bis­sen hat und kei­ne Ah­nung be­sitzt, warum sein Herr ihn ei­gent­lich ver­prü­gelt.