Hans Fallada – Gesammelte Werke

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

26. Frau Hete beschließt

Dem Kom­missar Esche­rich wie sei­nen bei­den Spio­nen vom Alex wäre es wohl recht selt­sam zu ver­neh­men ge­we­sen, dass der klei­ne Enno Klu­ge gar nichts da­von ge­ahnt hat­te, dass er be­schat­tet wur­de. Son­dern von dem Au­gen­blick an, als ihn As­sis­tent Schrö­der end­gül­tig in die Frei­heit entließ, hat­te er nur den einen Ge­dan­ken: Bloß fort von hier und zur Hete!

Er lief durch die Stra­ßen und sah kei­ne Men­schen, er ahn­te nicht, wer hin­ter und wer ne­ben ihm war. Er sah nicht hoch, er dach­te bloß: Hin zu Hete!

Der Schacht der U-Bahn ver­schluck­te ihn. Er stieg in einen Zug und ent­rann so für die­ses Mal dem Kom­missar Esche­rich, den Her­ren vom Alex und der gan­zen Ge­sta­po.

Enno Klu­ge hat­te sich ent­schlos­sen: er fuhr erst noch ein­mal zur Lot­te und hol­te sei­ne Sa­chen. Er woll­te gleich mit sei­nem Kof­fer bei der Hete an­rücken, da sah er denn gleich, ob sie ihn wirk­lich lieb­te, und er be­wies ihr, dass er mit sei­nem al­ten Le­ben Schluss ma­chen woll­te.

So kam es, dass ihn sei­ne Be­schat­ter im Ge­drän­ge und schlech­ten Licht der U-Bahn aus dem Auge ver­lo­ren. Er war ja wirk­lich nur ein Schat­ten, die­ser schmäch­ti­ge Enno! Wäre er aber gleich zu der Hete ge­gan­gen – und zum Kö­nigs­tor konn­te er ja vom Alex aus gut zu Fuß ge­hen, da brauch­te er kei­ne U-Bahn –, so hät­ten sie ihn nicht ver­lo­ren und hät­ten in der klei­nen Tier­hand­lung im­mer wie­der einen Aus­gangs­punkt für ihre Beo­b­ach­tun­gen ge­habt.

Mit der Lot­te hat­te er Glück. Sie war nicht zu Haus, und ei­lig pack­te er sei­ne paar Sa­chen in den Hand­kof­fer. Er wi­der­stand so­gar der Ver­su­chung, ihre Sa­chen zu durch­stö­bern, ob er etwa ei­ni­ges zum Mit­neh­men Brauch­ba­res fän­de – nein, dies­mal soll­te es an­ders wer­den. Nicht wie­der wie da­mals soll­te es kom­men, als er in das enge Zim­mer des klei­nen Ho­tels ein­zog, nein, dies­mal woll­te er wirk­lich ein an­de­res Le­ben füh­ren – wenn die Hete ihn auf­nahm.

Im­mer lang­sa­mer ging er, je nä­her er dem La­den kam. Im­mer häu­fi­ger setz­te er den Kof­fer ab, und so schwer war der gar nicht. Im­mer öf­ter wisch­te er den Schweiß von der Stirn, und so heiß war es auch nicht.

Dann stand er schließ­lich vor dem La­den und späh­te durch die blan­ken Git­ter­stä­be der Vo­gel­kä­fi­ge hin­ein: ja, Hete war an der Ar­beit. Sie be­dien­te gra­de; vier, fünf Kun­den stan­den im La­den. Er stell­te sich zu ih­nen und sah stolz und doch zit­tern­den Her­zens zu, wie ge­schickt sie die Kun­den ab­fer­tig­te, wie höf­lich sie mit ih­nen sprach.

»In­di­sche Hir­se gibt es nicht mehr, mei­ne Dame. Das müss­ten Sie doch wis­sen, wo In­di­en zum Em­pi­re ge­hört. Aber bul­ga­ri­sche Hir­se habe ich noch, die ist ei­gent­lich viel bes­ser.«

Und sag­te mit­ten aus der Be­die­nung her­aus: »Ach, Herr Enno, das ist nett, dass Sie mir ein biss­chen hel­fen wol­len. Den Kof­fer set­zen Sie am bes­ten in die Stu­be. Und dann ho­len Sie mir bit­te gleich Vo­gel­sand aus dem Kel­ler. Kat­zen­sand brau­che ich auch. Und dann Amei­se­nei­er …«

Und wäh­rend er mit die­sen und an­de­ren Auf­trä­gen vollauf be­schäf­tigt war, dach­te er: Sie hat mich gleich ge­se­hen, und sie hat auch so­fort ge­se­hen, dass ich einen Kof­fer mit habe. Dass ich ihn in die Stu­be set­zen durf­te, ist ei­gent­lich ein gu­tes Zei­chen. Aber si­cher wird sie mich erst aus­fra­gen, sie nimmt al­les so schreck­lich ge­nau. Aber ich wer­de ihr schon ir­gend­ei­ne Ge­schich­te er­zäh­len.

Und die­ser Mann um die Fünf­zig, die­ser alt ge­wor­de­ne He­rum­trei­ber, Nichts­tu­er und Wei­ber­held be­te­te wie ein Schul­kind: Ach, lie­ber Gott, lass mich doch noch ein­mal Glück ha­ben, nur die­ses ein­zi­ge Mal noch! Ich will auch ganz be­stimmt ein an­de­res Le­ben an­fan­gen, nur mach, dass mich die Hete auf­nimmt!

So be­te­te, bet­tel­te er. Und da­bei wünsch­te er doch, dass es noch recht lan­ge hin bis zum La­den­schluss sein möch­te, bis zu die­ser aus­führ­li­chen Auss­pra­che und sei­nem Ge­ständ­nis, denn ir­gen­det­was ge­ste­hen muss­te er der Hete, das war klar. Wie soll­te er ihr sonst be­greif­lich ma­chen, warum er hier mit Sack und Pack an­ge­rückt kam und mit ei­nem so dürf­ti­gen Sack und Pack dazu! Er hat­te doch vor ihr im­mer den großen Mann ge­spielt.

Und dann war es plötz­lich doch so weit. Schon längst war die La­den­tür ge­schlos­sen, an­dert­halb Stun­den hat­te es dann noch ge­kos­tet, all sei­ne Be­woh­ner mit fri­schem Was­ser und Fut­ter zu ver­se­hen und den La­den auf­zuräu­men. Nun sa­ßen die bei­den ein­an­der ge­gen­über an dem run­den So­fa­tisch, hat­ten ge­ges­sen, ein we­nig ge­plau­dert, im­mer ängst­lich das Haupt­the­ma ver­mei­dend, und plötz­lich hat­te die­se zer­flie­ßen­de, ver­blüh­te Frau den Kopf er­ho­ben und ge­fragt: »Nun, Häns­chen? Was ist es? Was ist dir ge­sche­hen?«

Kaum hat­te sie die­se Wor­te in ei­nem ganz müt­ter­lich be­sorg­ten Ton ge­spro­chen, da fin­gen bei Enno die Trä­nen an zu flie­ßen; erst lang­sam, dann im­mer reich­li­cher ström­ten sie über sein ma­ge­res, farb­lo­ses Ge­sicht, des­sen Nase da­bei stets spit­zer zu wer­den schi­en.

Er stöhn­te: »Ach, Hete, ich kann nicht mehr! Es ist zu schlimm! Die Ge­sta­po hat mich vor­ge­habt …«

Und er barg, laut auf­schluch­zend, den Kopf an ih­rem großen, müt­ter­li­chen Bu­sen.

Bei die­sen Wor­ten rich­te­te Frau Hete Hä­ber­le den Kopf auf, in ihre Au­gen kam ein har­ter Glanz, ihr Na­cken steif­te sich, und sie frag­te fast has­tig: »Was ha­ben die denn von dir ge­wollt?«

Der klei­ne Enno Klu­ge hat­te es – mit nacht­wand­le­ri­scher Si­cher­heit – mit sei­nen Wor­ten so gut, wie es nur mög­lich war, ge­trof­fen. Mit all sei­nen an­de­ren Ge­schich­ten, mit de­nen er sich an ihr Mit­leid oder an ihre Lie­be hät­te wen­den kön­nen, wäre es ihm nicht so gut er­gan­gen wie mit die­sem einen Wort Ge­sta­po. Denn Wit­we Hete Hä­ber­le hass­te Un­ord­nung, und nie hät­te sie einen wi­der­li­chen He­rum­trei­ber und Zeit­tot­schlä­ger in ihr Haus und in ihre müt­ter­li­chen Arme ge­nom­men. Aber das eine Wort Ge­sta­po öff­ne­te ihm alle Pfor­ten ih­res müt­ter­li­chen Her­zens, ein von der Ge­sta­po Ver­folg­ter war von vorn­her­ein ih­res Mit­leids und ih­rer Hil­fe si­cher.

Denn ih­ren ers­ten Mann, einen klei­nen kom­mu­nis­ti­schen Funk­tio­när, hat­te die Ge­sta­po schon im Jah­re 1934 in ein KZ ab­ge­holt, und nie wie­der hat­te sie von ih­rem Mann et­was ge­se­hen und ge­hört, au­ßer ei­nem Pa­ket, das ein paar zer­ris­se­ne und ver­schmutz­te Sa­chen von ihm ent­hielt. Oben­auf hat­te der To­ten­schein ge­le­gen, aus­ge­stellt vom Stan­des­amt II, Ora­ni­en­burg, To­des­ur­sa­che: Lun­gen­ent­zün­dung. Aber sie hat­te spä­ter von an­de­ren Häft­lin­gen, die ent­las­sen wor­den wa­ren, ge­hört, was sie in Ora­ni­en­burg und in dem nahe ge­le­ge­nen KZ Sach­sen­hau­sen un­ter Lun­gen­ent­zün­dung ver­stan­den.

Und nun hat­te sie wie­der einen Mann in ih­ren Ar­men, einen Mann, für den sie bis­her sei­nes schüch­ter­nen, an­schmie­gen­den, lie­be­be­dürf­ti­gen We­sens hal­ber schon Sym­pa­thie emp­fun­den, und wie­der war er von der Ge­sta­po ver­folgt.

»Ru­hig, Häns­chen!«, sag­te sie trös­tend. »Er­zäh­le mir nur al­les. Wenn ei­ner von der Ge­sta­po ver­folgt wird, der kann von mir al­les ha­ben!«

Die­se Wor­te wa­ren Bal­sam in sei­nen Ohren, und er hät­te ja nicht der mit Frau­en er­fah­re­ne Enno Klu­ge sein müs­sen, wenn er nicht sei­ne Ge­le­gen­heit be­nutzt hät­te. Was er da un­ter vie­lem Schluch­zen und Trä­nen vor­brach­te, war nun frei­lich ein son­der­li­ches Ge­misch von Wahr­heit und Lüge: er brach­te es doch so­gar fer­tig, die Miss­hand­lun­gen durch den SS-Mann Per­si­cke in sei­ne neues­ten Aben­teu­er ein­zu­schmug­geln.

Aber was die­se Er­zäh­lung an Un­wahr­schein­li­chem ha­ben moch­te, das ver­deck­te für Hete Hä­ber­le der Hass auf die Ge­sta­po. Und schon be­gann ihre Lie­be einen strah­len­den Glanz um den Nichts­nutz an ih­rer Brust zu we­ben, sie sag­te: »Du hast also das Pro­to­koll un­ter­schrie­ben und da­durch den ei­gent­li­chen Tä­ter ge­deckt, Häns­chen. Das war sehr mu­tig von dir, ich be­wun­de­re dich. Von zehn Män­nern hät­te das kaum ei­ner ge­wagt. Aber, das weißt du doch, wenn sie dich krie­gen, so be­kommst du es schlimm, denn dass sie dich mit die­sem Pro­to­koll für im­mer in der Fal­le ha­ben, ist doch ganz klar?«

Er sag­te, schon halb ge­trös­tet: »Oh, wenn du nur zu mir hältst, wer­den die mich nie krie­gen!«

Aber sie schüt­tel­te lei­se und be­denk­lich den Kopf. »Ich ver­ste­he nicht, warum sie dich über­haupt wie­der los­ge­las­sen ha­ben.« Plötz­lich fiel es ihr schreck­lich ein: »O Gott, wenn sie dir nach­spio­niert ha­ben, wenn sie nur wis­sen woll­ten, wo­hin du gehst?«

Er schüt­tel­te den Kopf. »Glau­be ich nicht, Hete. Ich war erst bei – ich war erst auf ei­ner an­de­ren Stel­le, um mei­ne Sa­chen zu ho­len. Ich hät­te es mer­ken müs­sen, wenn je­mand hin­ter mir her war. Und warum ei­gent­lich? Da hät­ten sie mich doch gar nicht erst los­zu­las­sen brau­chen.«

Aber sie hat­te es schon über­legt: »Sie glau­ben, du kennst den Kar­ten­schrei­ber und bringst sie auf die Spur. Und viel­leicht kennst du ihn wirk­lich und hast die Kar­te doch selbst dort­hin ge­legt. Aber ich will es gar nicht wis­sen, das sollst du mir nie sa­gen!« Sie bück­te sich zu ihm und flüs­ter­te: »Ich gehe jetzt eine hal­be Stun­de weg, Häns­chen, und be­ob­ach­te das Haus, ob viel­leicht doch ir­gend­wo ein Spit­zel her­um­steht. Nicht wahr, du wirst hier ganz still im Zim­mer blei­ben?«

Er sag­te ihr, dass die­ses Nach­se­hen ganz un­nütz sei, nie­mand sei ihm ge­folgt, be­stimmt nicht.

 

Aber ihr stand es in zu schreck­vol­ler Erin­ne­rung, wie sie ihr schon ein­mal den Mann aus der Woh­nung und da­mit aus dem Le­ben hol­ten. Ihre Un­ru­he litt es nicht, sie muss­te auf und hin­aus, um nach­zu­se­hen.

Und wäh­rend sie lang­sam um den Block geht – sie hat den Blacky aus dem La­den an ei­ner Lei­ne mit­ge­nom­men, einen rei­zen­den Scotch, und durch ihn sieht die­ser Abend­weg doch ganz un­ver­fäng­lich aus –, wäh­rend sie also um sei­ner Si­cher­heit wil­len lang­sam auf und ab schlen­dert, an­schei­nend nur mit dem Hund be­schäf­tigt, aber die wach­sa­men Au­gen und Ohren über­all­hin ge­rich­tet – un­ter­des nimmt Enno mit vor­sich­ti­gen Hän­den ein ra­sches ers­tes In­ven­tar ih­rer Stu­be auf. Es kann nicht mehr als nur ganz flüch­tig sein, au­ßer­dem hat sie die meis­ten Mö­bel­stücke ver­schlos­sen. Aber schon die­se ers­te Durch­sicht ver­rät ihm, dass er in sei­nem gan­zen Le­ben so eine Frau noch nicht ge­habt hat, eine Frau mit Bank­kon­to und so­gar mit Post­scheck­kon­to, wo ihr Name ganz rich­tig ge­druckt auf al­len For­mu­la­ren steht!

Und Enno Klu­ge be­schließt wie­der­um bei sich, wirk­lich ein ganz an­de­res Le­ben an­zu­fan­gen, sich in die­ser Woh­nung stets kor­rekt zu be­neh­men und nicht zu be­schlag­nah­men, was sie ihm nicht frei­wil­lig gibt.

Sie kommt zu­rück und sagt: »Nein, ich kann nichts Auf­fäl­li­ges se­hen. Aber viel­leicht ha­ben sie dich doch hier her­ein­ge­hen se­hen und kom­men mor­gen früh zu­rück. Ich gehe mor­gen gleich noch mal, ich wer­de den We­cker auf sechs stel­len.«

»Ist nicht nö­tig, Hete«, sagt er wie­der. »Mir ist be­stimmt kei­ner ge­folgt.«

Dann macht sie ihm ein La­ger auf dem Sofa und legt sich selbst ins Bett. Aber sie lässt die Tür zwi­schen den bei­den Zim­mern of­fen und horcht dar­auf, wie er sich hin und her wirft, wie er stöhnt und wie un­ru­hig er schläft, als er end­lich wirk­lich ein­ge­schla­fen ist. Dann, sie ist eben gra­de selbst ein we­nig ein­ge­däm­mert, dann wacht sie wie­der da­von auf, dass sie ihn wei­nen hört. Wie­der weint er, ob nun im Wa­chen oder im Schlaf. Frau Hete sieht im Dun­keln sein Ge­sicht deut­lich vor sich, die­ses Ge­sicht, das trotz sei­ner fünf­zig Jah­re im­mer noch et­was Kind­li­ches hat – viel­leicht durch das schwa­che Kinn und den voll­lip­pi­gen, sehr ro­ten Mund.

Eine Wei­le hört sie still auf die­ses Wei­nen, das durch die Nacht kla­ge­los im­mer wei­ter­geht, als trau­re die Nacht selbst über all den Kum­mer, den es jetzt auf der Welt gibt.

Dann ent­schließt sich Frau Hä­ber­le, sie steht auf und tas­tet sich im Dun­keln an sein Sofa.

»Wei­ne doch nicht so, Häns­chen! Du bist ja in Si­cher­heit, du bist bei mir. Dei­ne Hete hilft dir …«

So spricht sie ihm trös­tend zu, und als das Wei­nen trotz­dem nicht auf­hört, beugt sie sich über ihn, sie schiebt ih­ren Arm un­ter sei­ne Schul­tern, sie führt den Wei­nen­den zu ih­rem Bett, und dort nimmt sie ihn in ihre Arme, an ihre Brust …

Eine al­tern­de Frau, ein ält­li­cher Mann, lie­be­be­dürf­tig wie ein Kind, ein biss­chen Trost, ein biss­chen Lei­den­schaft, ein klein we­nig Glo­ri­en­schein um das Haupt des Ge­lieb­ten – und nicht ein­mal fällt es Frau Hete ein, sich dar­über klar­zu­wer­den, wie die­ses halt­lo­se, wei­ner­li­che We­sen denn zu ei­nem Kämp­fer und Hel­den passt.

»Nun ist al­les gut, nicht wahr, Häns­chen?«

Aber nein, die­se eine Fra­ge lässt den eben erst ver­sieg­ten Trä­nen­strom von neu­em flie­ßen, es schüt­telt ihn in ih­ren Ar­men.

»Aber was ist denn, Häns­chen? Hast du noch Sor­gen, von de­nen du mir noch nichts ge­sagt hast?«

Und dies ist nun der Au­gen­blick, auf den die­ser alte Frau­en­jä­ger seit Stun­den hin­ge­ar­bei­tet hat, denn er hat bei sich ent­schie­den, dass es doch zu ge­fähr­lich und für die Dau­er auch un­mög­lich sei, sie ganz im Un­kla­ren über sei­nen wirk­li­chen Na­men und sei­ne Ehe zu be­las­sen. Er ist nun ein­mal im Ge­ste­hen, nun gut, wird er auch die­ses noch ge­ste­hen, sie wird es schon hin­neh­men, ihn dar­um nicht we­ni­ger lie­ben. Gra­de jetzt, da sie ihn eben erst in ihre Arme ge­nom­men hat, wird sie ihn schon nicht wie­der auf die Stra­ße set­zen!

Sie hat das Häns­chen ge­fragt, ob es denn noch Sor­gen gebe, von de­nen er ihr nichts ge­sagt hat. Nun ge­steht er, wei­nend, ver­zwei­felt, dass er gar nicht Hans Enno heißt, son­dern Enno Klu­ge, und dass er ein ver­hei­ra­te­ter Mann ist, mit zwei großen Jun­gen. Ja, er ist ein Lump, er hat sie be­lü­gen und be­trü­gen wol­len, aber er bringt es nun doch nicht übers Herz, wo sie so gut zu ihm ge­we­sen ist.

Wie stets ist sein Ge­ständ­nis nur ein Teil­ge­ständ­nis, ein we­nig Wahr­heit mit viel Lüge un­ter­mischt. Er zeich­net das Bild sei­ner Frau, die­ser har­ten, bö­sen Na­zis­tin auf dem Post­amt, die den Mann nicht bei sich dul­den will, weil er nicht in die Par­tei ein­tre­ten mag. Die­se Frau, die sei­nen äl­tes­ten Sohn ge­zwun­gen hat, in die SS ein­zu­tre­ten – und er be­rich­tet von den Gräu­el­ta­ten Kar­le­manns. Er ent­wirft ein Bild die­ser un­glei­chen, schlech­ten Ehe, der stil­le, ge­dul­di­ge, al­les er­tra­gen­de Mann und die böse, ehr­gei­zi­ge, na­zis­ti­sche Frau. Sie kön­nen ja nicht zu­sam­men­le­ben, sie müs­sen ein­an­der ja has­sen. Und nun hat sie ihn aus der Woh­nung hin­aus­ge­trie­ben! So hat er sei­ne Hete be­lo­gen, aus Feig­heit, weil er sie zu sehr liebt, weil er ihr kei­nen Schmerz be­rei­ten woll­te!

Aber nun hat er sich frei­ge­spro­chen. Nein, jetzt weint er nicht mehr. Er wird auf­ste­hen und sei­ne Sa­chen pa­cken und von ihr ge­hen – in die schlim­me Welt hin­aus. Er wird sich schon ir­gend­wo vor der Ge­sta­po ver­ber­gen, und wenn die ihn doch er­wi­schen, so macht das auch nicht viel aus. Jetzt, wo er He­tes Lie­be, die ein­zi­ge Frau, die er wirk­lich im Le­ben ge­liebt hat, ver­lor!

Ja, er ist ein recht ge­ris­se­ner al­ter Frau­en­ver­füh­rer, die­ser Enno Klu­ge. Er weiß schon, wie man es an­pa­cken muss bei die­sen Wei­bern: Lie­ben und Lü­gen, das geht al­les in ei­nem hin. Es muss nur ein biss­chen Wah­res da­zwi­schen sein, sie muss nur ein biss­chen von dem Zeug glau­ben kön­nen, das man er­zählt, und vor al­lem muss man stets die Trä­nen be­reit­hal­ten und die Hilf­lo­sig­keit …

Frau Hete hat dies­mal mit ei­nem wah­ren Schre­cken sein Ge­ständ­nis ge­hört. Wa­rum hat er sie nur so an­ge­lo­gen? Als sie sich ken­nen­lern­ten, lag doch noch gar kein Grund für sol­che Lü­gen vor! Hat­te er denn da­mals schon Ab­sich­ten auf sie ge­habt? Dann kön­nen es nur schlim­me Ab­sich­ten ge­we­sen sein, wenn sie zu sol­chen Lü­gen An­lass wur­den.

Ihr In­stinkt sagt ihr, dass sie ihn weg­schi­cken muss, dass ein Mann, der fä­hig ist, eine Frau vom ers­ten An­fang an so be­den­ken­los zu täu­schen, auch stets be­reit sein wird, sie spä­ter zu be­lü­gen. Und mit ei­nem Lüg­ner kann sie nicht zu­sam­men­le­ben. Sie hat im­mer ein sau­be­res Le­ben ge­lebt mit ih­rem ers­ten Mann, und die­se paar klei­nen Ge­schich­ten, die es seit sei­nem Tode gab, über so et­was lä­chelt eine er­fah­re­ne Frau nur.

Nein, aus ih­ren Ar­men noch wür­de sie ihn ge­hen las­sen – wenn sie ihn nicht gra­de dem Feind in die Arme jag­te, der ver­hass­ten Ge­sta­po. Denn sie ist fest über­zeugt, dass sie das tut, wenn sie ihn jetzt ge­hen heißt. Die­se gan­ze Ver­fol­gung durch die Ge­sta­po, die nimmt sie seit sei­ner Er­zäh­lung am Abend für bare Mün­ze. Sie kommt nicht ein­mal auf den Ge­dan­ken, an ih­rer Wahr­heit zu zwei­feln, ob­wohl sie ihn doch eben erst als Lüg­ner ken­nen­ge­lernt hat.

Und dann ist da die­se Frau … Es ist nicht mög­lich, dass al­les, was er über die­se Frau ge­sagt hat, un­wahr ist. So et­was denkt sich kein Mensch aus, da muss et­was Wah­res dar­an sein. Sie glaubt den Mann doch zu ken­nen an ih­rer Sei­te, ein schwa­ches Ge­schöpf, ein Kind, gut­ar­tig ei­gent­lich: mit ein paar freund­li­chen Wor­ten ist er zu lei­ten. Aber die­se Frau, hart, ehr­gei­zig, die­se Na­zis­tin, die durch die Par­tei hoch­kom­men will, für die war na­tür­lich ein sol­cher Mann nichts, ein Mann, der die Par­tei hass­te, viel­leicht ins­ge­heim ge­gen sie ar­bei­te­te, ein Mann, der sich wei­ger­te, in die Par­tei ein­zu­tre­ten!

Konn­te sie ihn zu­rück­ja­gen zu sol­cher Frau? Der Ge­sta­po in die Arme?

Sie konn­te es nicht, und so durf­te sie es auch nicht.

Das Licht geht an. Da steht er schon ne­ben ih­rem Bett, in ei­nem viel zu kur­z­en blau­en Hemd­chen, stil­le Trä­nen rin­nen jetzt über sein blas­ses Ge­sicht. Er beugt sich über sie, er flüs­tert: »Adieu, Hete! Du bist sehr gut zu mir ge­we­sen, aber ich ver­die­ne es nicht, ich bin ein schlech­ter Mensch. Adieu! Ich gehe jetzt …«

Sie hält ihn fest. Sie flüs­tert: »Nein, du bleibst bei mir. Ich habe es dir ver­spro­chen, und ich hal­te mein Ver­spre­chen. Nein, sag nichts. Geh jetzt bit­te auf das Sofa und ver­su­che, noch ein biss­chen zu schla­fen. Ich will über­le­gen, wie al­les am bes­ten ein­zu­rich­ten ist.«

Er schüt­telt lang­sam und trau­rig den Kopf. »Hete, du bist zu gut für mich. Ich will al­les tun, was du sagst, aber wirk­lich, Hete, es ist bes­ser, du lässt mich ge­hen.«

Aber na­tür­lich geht er nicht. Na­tür­lich lässt er sich über­re­den zu blei­ben. Sie wird al­les über­le­gen, al­les ord­nen. Und na­tür­lich er­reicht er auch, dass die Ver­ban­nung zum Sofa wie­der auf­ge­ho­ben wird, dass er wie­der zu­rück zu ihr ins Bett darf. Ganz von ih­rer müt­ter­li­chen Wär­me um­schlos­sen, schläft er bald ein, die­ses Mal ohne wei­te­res Wei­nen.

Sie aber liegt noch lan­ge wach. Ei­gent­lich liegt sie die gan­ze Nacht wach. Sie hört auf sein At­men, es ist schön, wie­der einen Mann bei sich at­men zu hö­ren, ihn so nahe im Bett zu ha­ben. Sie war so lan­ge sehr al­lein. Nun hat sie wie­der je­mand, für den sie sor­gen kann. Ihr Le­ben ist nicht mehr ohne al­len In­halt. O ja, er wird ihr viel­leicht mehr Sor­gen ma­chen als gut ist. Aber sol­che Sor­gen, Sor­gen um einen Men­schen, den man lieb­hat, das sind gute Sor­gen.

Frau Hete be­schließt, stark für zwei zu sein. Frau Hete be­schließt, ihn vor al­len von der Ge­sta­po dro­hen­den Ge­fah­ren zu be­hü­ten. Frau Hete be­schließt, ihn zu er­zie­hen und aus ihm einen wahr­haf­ti­gen Men­schen zu ma­chen. Frau Hete be­schließt, das Häns­chen, ach nein, nun heißt er ja Enno, Frau Hete be­schließt, den Enno von die­ser an­de­ren Frau, der Na­zis­tin, frei­zu­kämp­fen. Frau Hete be­schließt, in die­ses Le­ben da, das nun bei ihr liegt, Ord­nung und Sau­ber­keit zu brin­gen.

Und Frau Hete hat kei­ne Ah­nung, dass die­ser schwa­che Mann an ih­rer Sei­te stark ge­nug sein wird, Un­ord­nung, Leid, Selbst­vor­wür­fe, Trä­nen, Ge­fahr in ihr Le­ben zu brin­gen. Frau Hete hat kei­ne Ah­nung, dass all ihre Stär­ke zu nichts wur­de im glei­chen Au­gen­blick, als sie be­schloss, die­sen Enno Klu­ge bei sich zu be­hal­ten und ihn ge­gen die gan­ze Welt zu ver­tei­di­gen. Frau Hete hat kei­ne Ah­nung, dass sie sich selbst mit dem gan­zen klei­nen Reich, das sie sich auf­bau­te, in höchs­te Ge­fahr ge­bracht hat.