Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Die Sprech­stun­den­hil­fe hat den klei­nen Enno Klu­ge auf sei­nen Platz ge­jagt, sie geht zu­rück über den Flur. Dem hat sie es aber be­sorgt!

Da sieht sie eine Kar­te am Bo­den lie­gen, et­was ent­fernt vom Brief­kas­ten­schlitz. Die Kar­te hat vor fünf Mi­nu­ten noch nicht hier ge­le­gen, als sie dem letz­ten Pa­ti­en­ten öff­ne­te, das weiß sie ge­nau. Und es hat gar nicht ge­klin­gelt, jetzt ist doch über­haupt nicht die Zeit für Post­zu­stel­lung.

All das hat die Hil­fe flüch­tig ge­dacht, wäh­rend sie sich nach der Kar­te bück­te, und spä­ter weiß sie es auch ganz ge­nau, dass sie schon da, ehe sie die Kar­te in Hän­den hielt, ehe sie noch ge­se­hen hat­te, was mit ihr los war, dass sie da schon das Ge­fühl hat­te, es war die­ser klei­ne, schlei­chen­de Mann, der et­was da­mit zu schaf­fen hat­te.

Sie wirft nur einen Blick auf den Text, liest ein paar Wor­te und stürzt auf­ge­regt zum Arzt in das Be­hand­lungs­zim­mer. »Herr Dok­tor! Herr Dok­tor! Was ich da eben auf un­serm Flur ge­fun­den habe!«

Sie un­ter­bricht die Kon­sul­ta­ti­on, sie er­reicht, dass der halb­aus­ge­zo­ge­ne Pa­ti­ent in ein Ne­ben­zim­mer ge­schickt wird, dann gibt sie dem Arzt die Kar­te zu le­sen. Sie kann es kaum ab­war­ten, dass er zu Ende ge­le­sen hat, und schon be­rich­tet sie von ih­rem Ver­dacht: »Es kann wirk­lich kein an­de­rer ge­we­sen sein als die­ser klei­ne Schlei­cher! Gleich war er mir un­sym­pa­thisch mit sei­nem scheu­en Blick! Und das ver­kör­per­te schlech­te Ge­wis­sen, nicht einen Au­gen­blick hat er sich ru­hig hal­ten kön­nen, im­mer auf den Flur raus, zwei­mal hab ich ihn von der Toi­let­te ge­jagt! Und wie ich das zum zwei­ten Mal tat, da hat hin­ter­her die Kar­te auf dem Flur ge­le­gen! Von au­ßen kann sie gar nicht ein­ge­wor­fen sein, da­für hat sie viel zu weit ab vom Brief­kas­ten­schlitz ge­le­gen! Herr Dok­tor, ru­fen Sie gleich die Po­li­zei an, ehe der Kerl weg­schleicht! O Gott, er kann jetzt schon weg sein, ich muss gleich ein­mal nach­se­hen …«

Da­mit stürzt sie aus dem Be­hand­lungs­zim­mer, die Tür hin­ter sich weit of­fen­las­send.

Der Arzt steht da, die Kar­te noch im­mer in der Hand. Es ist ihm äu­ßerst pein­lich, dass so was gra­de in sei­ner Sprech­stun­de pas­sie­ren muss! Gott­lob, dass die Hil­fe die Kar­te fand und dass er nach­wei­sen kann, dass er seit zwei Stun­den sein Zim­mer nicht ver­las­sen hat, nicht ein­mal auf der Toi­let­te ist er ge­we­sen. Das Mäd­chen hat recht, das Bes­te ist, gleich die Po­li­zei an­zu­ru­fen. Er fängt an, im Te­le­fon­buch nach der Num­mer sei­nes Re­viers zu su­chen.

Das Mäd­chen sieht durch die of­fen ge­blie­be­ne Tür. »Er ist noch da, Herr Dok­tor!«, flüs­tert sie. »Er denkt na­tür­lich, so kann er den Ver­dacht von sich ab­len­ken. Aber ich bin ganz si­cher …«

»Es ist gut«, un­ter­bricht der Arzt die Auf­ge­reg­te. »Ma­chen Sie bit­te die Tür zu. Ich spre­che jetzt mit der Po­li­zei.«

Er er­stat­tet sei­ne Mel­dung, be­kommt die Wei­sung, den Mann un­be­dingt fest­zu­hal­ten, bis je­mand vom Re­vier kommt, gibt die­se Wei­sung an die Hil­fe wei­ter, sagt ihr, sie sol­le ihn so­fort ru­fen, wenn der Mann An­stal­ten macht zu ge­hen, und setzt sich wie­der in sei­nen Schreib­tisch­stuhl. Nein, die Be­hand­lun­gen kann er jetzt nicht fort­set­zen, er ist zu er­regt. Dass ge­ra­de ihm so was pas­sie­ren muss­te, warum nur ge­ra­de ihm? Ein ge­wis­sen­lo­ser Kerl, die­ser Kar­ten­schrei­ber, er brach­te die Leu­te in die größ­te Be­dräng­nis! Dach­te er gar nicht an die Schwie­rig­kei­ten, die er ih­nen mit sei­ner ver­damm­ten Kar­te mach­te?

Wahr­haf­tig, die­se Kar­te hat­te gra­de noch zum Glück des Arz­tes ge­fehlt! Jetzt war Po­li­zei zu ihm un­ter­wegs, viel­leicht ge­riet er doch in Ver­dacht, man mach­te eine Haus­su­chung, und wenn sich dann auch er­wies, dass der Ver­dacht falsch war, so fand man hin­ten in der Dienst­bo­ten­kam­mer …

Der Arzt stand auf, er muss­te ihr we­nigs­tens Be­scheid sa­gen …

Und setz­te sich wie­der. Wie konn­te er denn in Ver­dacht ge­ra­ten? Und au­ßer­dem, selbst wenn man sie fand, so war sie eben sei­ne Haus­da­me, wie es ja auch ihre Pa­pie­re aus­sag­ten. All das war ja hun­dert­fach be­dacht und be­spro­chen wor­den, seit er sich vor gut ei­nem Jahr von sei­ner Frau, ei­ner Jü­din, hat­te schei­den las­sen müs­sen – un­ter dem Druck der Na­zis. Er hat­te es ge­tan, haupt­säch­lich auf ihre Bit­ten hin, um den Kin­dern we­nigs­tens eine Exis­tenz zu si­chern. Spä­ter hat­te er dann, nach­dem er die Woh­nung ge­wech­selt, sei­ne ehe­ma­li­ge Frau mit falschen Pa­pie­ren als sei­ne Haus­da­me zu­rück­ge­holt. Ei­gent­lich konn­te gar nichts pas­sie­ren, so jü­disch sah sie gar nicht aus …

Die­se un­se­li­ge Kar­te! Dass sie gra­de auf ihn tref­fen muss­te! Aber wahr­schein­lich war es so, dass sie über­all, wo­hin sie auch kam, Schre­cken und Angst er­reg­te. Je­der hat­te in die­sen Zei­ten et­was zu ver­ber­gen!

Aber viel­leicht war es gra­de der Zweck die­ser Kar­te, Angst und Schre­cken zu er­re­gen? Vi­el­leicht wur­de die­se Kar­te mit teuf­li­schem Vor­be­dacht un­ter den Ver­däch­ti­gen ver­teilt, um fest­zu­stel­len, wie sich die ver­hiel­ten? Vi­el­leicht stand er schon län­ger un­ter Beo­b­ach­tung, und dies war nur ei­nes der Mit­tel, um fest­zu­stel­len, ob der Ver­däch­ti­ge sich kei­ne Blö­ße gab?

Nun, er hat­te sich je­den­falls kor­rekt be­nom­men. Fünf Mi­nu­ten nach Auf­fin­den der Kar­te hat­te er die Po­li­zei ver­stän­digt. Und er konn­te ihr so­gar einen Ver­däch­ti­gen prä­sen­tie­ren, viel­leicht einen ar­men Teu­fel, der gar nichts mit der Sa­che zu tun hat­te. Nun, er konn­te da nicht hel­fen, soll­te der sel­ber se­hen, wie er aus der Ge­schich­te her­aus­kam! Die Haupt­sa­che war, er blieb ver­schont.

Und ob­wohl die­se Er­wä­gun­gen den Arzt ru­hi­ger ge­macht ha­ben, steht er auf und macht sich rasch und si­cher eine klei­ne Mor­phi­um­sprit­ze. Die wird ihn in­stand­set­zen, die­sen Her­ren, die da zu ihm im An­marsch sind, ru­hig und so­gar ein biss­chen ge­lang­weilt zu be­geg­nen. Die­se klei­ne Sprit­ze ist das Hilfs­mit­tel, zu dem der Arzt seit der Schan­de sei­ner Schei­dung, wie er die­sen Schritt in­ner­lich noch im­mer nennt, häu­fi­ger und häu­fi­ger sei­ne Zuf­lucht nimmt. Er ist noch kein Mor­phi­nist, weit ent­fernt, er kommt manch­mal fünf, sechs Tage ohne Mor­phi­um aus, aber wenn Schwie­rig­kei­ten auf sei­nem Le­bens­weg auf­tau­chen, und die­se Schwie­rig­kei­ten häu­fen sich jetzt wäh­rend des Krie­ges im­mer mehr, so nimmt er Mor­phi­um. Das al­lein hilft ihm noch, ohne die­se künst­li­che Hil­fe ver­liert er sei­ne Ner­ven. Nein, noch ist er kein Mor­phi­nist! Aber er ist auf dem bes­ten Wege, ei­ner zu wer­den. Ach, wenn nur erst die­ser Krieg vor­bei wäre, dass man aus die­sem elen­den Lan­de hin­aus­könn­te! Mit dem kleins­ten Hilfs­arzt­pos­ten drau­ßen im Aus­lan­de wür­de er zu­frie­den sein.

Ei­ni­ge Mi­nu­ten dar­auf emp­fängt ein blas­ser, et­was mü­der Arzt die bei­den Her­ren von der Po­li­zei­wa­che. Der eine ist nur ein uni­for­mier­ter Wacht­meis­ter, zur Auf­sicht über die Fl­ur­tür hier­her­kom­man­diert. Er löst so­fort die Sprech­stun­den­hil­fe ab.

Der an­de­re ist ein Zi­vi­list, Kri­mi­nal­as­sis­tent Schrö­der – in sei­nem Be­hand­lungs­zim­mer über­gibt ihm der Arzt die Kar­te. Was er aus­sa­gen kön­ne? Nun, er kann ei­gent­lich nichts aus­sa­gen, er habe seit über zwei Stun­den hier schon ohne Un­ter­bre­chung Pa­ti­en­ten ab­ge­fer­tigt, etwa zwan­zig oder fünf­und­zwan­zig hin­ter­ein­an­der. Aber er wer­de so­fort die Sprech­stun­den­hil­fe ho­len.

Die Hil­fe kommt, und sie hat viel aus­zu­sa­gen. Sehr viel. Sie schil­dert die­sen Schlei­cher, wie sie ihn nur nennt, mit ei­nem Hass, der zwei harm­lo­sen Rau­che­rei­en auf der Toi­let­te ge­gen­über völ­lig un­be­greif­lich ist. Der Arzt be­ob­ach­tet sie ge­nau, wie sie da er­regt, mit oft ver­sa­gen­der Stim­me aus­sagt. Er denkt: Ich muss jetzt mal se­hen, dass sie wirk­lich was Ernst­li­ches ge­gen ih­ren Ba­se­dow un­ter­nimmt. Es wird im­mer schlim­mer mit ihr. So er­regt, wie sie jetzt spricht, ist sie ei­gent­lich schon nicht mehr voll zu­rech­nungs­fä­hig.

Der Kri­mi­nal­as­sis­tent scheint Ähn­li­ches zu den­ken. Mit ei­nem kur­z­en »Dan­ke! Ich weiß jetzt vor­läu­fig ge­nug«, un­ter­bricht er ihre Aus­sa­gen. »Zei­gen Sie mir jetzt noch, Fräu­lein, wo die Kar­te auf dem Flur ge­le­gen hat. Aber bit­te mög­lichst ge­nau!«

Das Fräu­lein, die Hil­fe, legt die Kar­te auf eine Stel­le, die sie vom Brief­kas­ten­schlitz, wie es scheint, un­mög­lich er­rei­chen kann. Aber der As­sis­tent pro­biert, vom Wacht­meis­ter un­ter­stützt, so lan­ge das Ein­wer­fen der Kar­te, bis sie na­he­zu auf dem von der Hil­fe be­zeich­ne­ten Platz zu lie­gen kommt. Na­he­zu, etwa zehn Zen­ti­me­ter feh­len …

»Da könn­te sie doch auch ge­le­gen ha­ben, Fräu­lein?«, fragt der As­sis­tent.

Die Sprech­stun­den­hil­fe ist sicht­lich ent­rüs­tet, dass dem As­sis­ten­ten dies Ex­pe­ri­ment ge­glückt ist. Sie er­klärt mit Ent­schie­den­heit: »Nein, so nah an der Tür kann die Kar­te un­mög­lich ge­le­gen ha­ben! Eher noch wei­ter in den Flur hin­ein, als ich vor­hin zeig­te. Ich glau­be jetzt, sie lag hier di­rekt bei dem Stuhl.« Und sie zeigt einen Fleck, der noch einen hal­b­en Me­ter wei­ter vom Ein­wurf ent­fernt liegt. »Ich bin fast si­cher, dass ich ge­gen die­sen Stuhl beim Auf­he­ben ge­sto­ßen habe.«

»Soso«, sagt der As­sis­tent und mus­tert kühl die Zor­ni­ge. Im In­nern macht er einen Strich durch alle ihre Aus­sa­gen. Die ist ja hys­te­risch, denkt er. Der fehlt na­tür­lich ein Mann. Na ja, wo alle im Fel­de sind, und sehr ver­lo­ckend sieht sie auch nicht aus.

Er wen­det sich laut an den Arzt: »Ich möch­te jetzt wie ein be­lie­bi­ger Pa­ti­ent drei Mi­nu­ten im War­te­zim­mer sit­zen und mir den be­schul­dig­ten Herrn erst ein­mal so an­se­hen, ohne dass er weiß, wer ich bin. Das lässt sich doch ma­chen?«

 

»Na­tür­lich lässt sich das ma­chen. Fräu­lein Kie­sow wird Ih­nen sa­gen, wo er sitzt.«

»Steht!«, er­klärt die Hil­fe är­ger­lich. »So ei­ner setzt sich doch nicht! Der tritt lie­ber den an­de­ren auf den Fü­ßen her­um! Dem lässt sein schlech­tes Ge­wis­sen doch kei­ne Ruhe! Die­ser Schlei­cher …«

»Also, wo steht er«, un­ter­bricht sie der As­sis­tent wie­der und nicht sehr höf­lich.

»Vor­hin stand er beim Spie­gel am Fens­ter«, ant­wor­tet sie ihm ge­kränkt. »Aber ich kann na­tür­lich nicht sa­gen, wo er jetzt steht, so un­ru­hig, wie der ist!«

»Ich wer­de ihn schon fin­den«, meint der As­sis­tent Schrö­der. »Sie ha­ben ihn mir ja be­schrie­ben.«

Und er geht ins War­te­zim­mer.

Dort herrscht ei­ni­ge Er­re­gung. Seit über zwan­zig Mi­nu­ten ist kein Pa­ti­ent zum Arzt ge­ru­fen wor­den – wie lan­ge sol­len sie hier noch sit­zen? Sie ha­ben wahr­haf­tig an­de­res zu tun! Wahr­schein­lich fer­tigt der Dok­tor vor­ne gut zah­len­de Pri­vat­pa­ti­en­ten ab, und die Kas­sen­pa­ti­en­ten hier kön­nen sit­zen, bis sie schwarz wer­den! Aber so ma­chen es doch alle die­se Ärz­te, mein lie­ber Herr, da kön­nen Sie hin­ge­hen, wo Sie wol­len! Über­all hat das Geld den Vor­tritt!

Wäh­rend die Be­rich­te über die Käuf­lich­keit der Ärz­te im­mer hö­he­re Wel­len schla­gen, mus­tert der As­sis­tent schwei­gend sei­nen Mann. Er hat ihn so­fort er­kannt. Der Mann ist we­der so un­ru­hig noch so schlei­che­risch, wie ihn die Hil­fe ge­schil­dert hat. Er steht da ganz ru­hig an sei­nem Spie­gel, an der Un­ter­hal­tung der an­de­ren be­tei­ligt er sich nicht. Er scheint nicht ein­mal auf das zu hö­ren, was die sa­gen, und das tut man sonst doch ger­ne, eine lang­wei­li­ge War­te­zeit sich zu ver­kür­zen. Er schaut ein biss­chen stumpf­sin­nig und ein biss­chen ängst­lich dar­ein. Klei­ner Ar­bei­ter, ent­schei­det der As­sis­tent. Nee, ein biss­chen bes­ser, die Hän­de se­hen ge­schickt aus, Ar­beitss­pu­ren, aber nicht nach schwe­rer Ar­beit … An­zug und Man­tel mit großer Sorg­falt in­stand­ge­hal­ten, was frei­lich nicht über ihr Ab­ge­tra­gen­sein hin­weg­täuscht. Im Gan­zen nichts von dem Man­ne, den man sich nach dem Ton der Kar­te vor­stellt. Der schreibt doch einen ganz kräf­ti­gen Stil, und nun die­ses sor­gen­vol­le Ka­nin­chen …

Aber der As­sis­tent weiß längst, dass die Men­schen oft sehr an­ders sind, als sie aus­se­hen. Und die­ser Mann ist im­mer­hin durch die Aus­sa­ge der Zeu­gin so schwer be­las­tet, dass man die An­ge­le­gen­heit we­nigs­tens nach­prü­fen muss. Die­ser Kar­ten­schrei­ber muss die Her­ren oben ein biss­chen ner­vös ge­macht ha­ben, erst neu­lich gab’s da wie­der un­ter »Ge­heim! Streng ge­heim!« einen Be­fehl, dass auch der kleins­ten Spur in die­ser Sa­che un­ver­züg­lich nach­zu­ge­hen sei.

Wär ganz schön, wenn ich da einen klei­nen Er­folg hät­te!, denkt der As­sis­tent. Es wird höchs­te Zeit mit ei­ner klei­nen Be­för­de­rung.

In dem all­ge­mei­nen Ge­schimp­fe geht er fast un­be­ach­tet an den klei­nen Mann beim Spie­gel her­an, tippt ihn auf die Schul­ter und sagt: »Kom­men Sie doch mal einen Au­gen­blick auf den Flur. Ich möch­te Sie mal was fra­gen.«

Ge­hor­sam folgt ihm Enno Klu­ge, wie er je­dem Be­fehl ge­hor­sam folgt. Aber wäh­rend er schon hin­ter dem un­be­kann­ten Herrn drein­geht, er­fasst ihn Angst: Was soll das? Was will der von mir? Der sieht doch wie ein Bul­le aus, und er spricht auch ganz wie ein Bul­le. Was habe ich mit der Kri­po zu tun – ich habe doch gar nichts ge­tan!

Im glei­chen Au­gen­blick fällt ihm der Ein­bruch bei der Ro­sen­thal ein. Es ist kein Zwei­fel, der Bark­hau­sen ist hoch­ge­gan­gen und hat ihn ver­pfif­fen. Und die Angst wird stär­ker in ihm, er hat doch ge­schwo­ren, er will nichts aus­sa­gen, und wenn er nun doch aus­sagt, wird ihn die­ser Kerl von der SS wie­der vor­neh­men und ver­trim­men, und dies­mal noch viel schlim­mer! Er darf nichts aus­sa­gen, aber wenn er nichts aus­sagt, nimmt ihn sich die­ser Bul­le vor, und dann schwatzt er doch. Hier Ver­der­ben, dort Ver­der­ben … Oh, die­se Angst!

Als er auf den Flur tritt, se­hen ihn vier Ge­sich­ter er­war­tungs­voll an – aber er sieht sie gar nicht, er sieht nur die Uni­form des Schu­pos und weiß, dass er mit sei­ner Angst recht ge­habt hat, dass er nun wirk­lich zwi­schen Ver­der­ben und Ver­der­ben steht.

Und die­se Angst ver­leiht Enno Klu­ge Ei­gen­schaf­ten, die er sonst nicht be­sitzt, näm­lich Ent­schluss­kraft, Stär­ke und Schnel­lig­keit. Er wirft den über­rasch­ten As­sis­ten­ten, der dies nie von dem klei­nen Schwäch­ling er­war­tet hät­te, ge­gen den Schu­po, läuft an Arzt und Hil­fe vor­bei, reißt die Fl­ur­tür auf und ist schon auf der Trep­pe …

Aber hin­ter ihm tril­lert die Pfei­fe des Schu­pos, und die­sem lang­bei­ni­gen jun­gen Mann ist er im Tem­po nicht ge­wach­sen. Auf der un­ters­ten Trep­pe wird er ein­ge­holt, der Schu­po ver­setzt ihm einen Schlag, der ihn gleich auf die Stu­fen nie­der­schickt, und als er vor dre­hen­den Son­nen und Feu­er­krei­sen wie­der se­hen kann, sagt die­ser Schu­po freund­lich lä­chelnd: »Na, streck mal dei­ne süße Pfo­te her! Will dir lie­ber ein Arm­band schen­ken. Das nächs­te Mal ma­chen wir so ’nen Spa­zier­gang ge­mein­sam, was?«

Und schon hat die Stahl­fes­sel um sein Hand­ge­lenk ge­klirrt, und es geht wie­der trepp­auf, zwi­schen dem schweig­sa­men, fins­ter bli­cken­den Bul­len und dem ver­gnügt lä­cheln­den Bul­len, dem die­ser klei­ne Aus­rei­ßer nur Spaß macht.

Oben, wo die Pa­ti­en­ten jetzt auf dem Flur ste­hen und gar nicht mehr böse sind über die lan­ge War­te­zeit bei ih­rem Dok­tor, denn eine Ver­haf­tung ist im­mer et­was In­ter­essan­tes, und wie die Sprech­stun­den­hil­fe er­zählt hat, ist dies so­gar ein Po­li­ti­scher, ein Kom­mu­nist, und die­sen Brü­dern ge­schieht es ganz recht – oben also geht es an all die­sen Ge­sich­tern vor­bei in das Be­hand­lungs­zim­mer des Arz­tes. Das Fräu­lein Kie­sow wird gleich von dem As­sis­ten­ten hin­aus­ge­schickt, der Arzt aber darf bei der Ver­neh­mung da­beiblei­ben und hört, wie der As­sis­tent sagt: »So, mein Sohn, nun setz dich erst mal hier auf den Stuhl und ruhe dich von dei­ner Ren­ne­rei aus. Du machst ja or­dent­lich einen ab­ge­hetz­ten Ein­druck! Wacht­meis­ter, Sie kön­nen dem Herrn erst ein­mal die Fes­sel wie­der ab­neh­men. Der rennt uns nicht noch ein­mal weg – oder?«

»Nein, nein!«, ver­si­chert Enno Klu­ge ver­zwei­felt, und schon rol­len die Trä­nen über sein Ge­sicht.

»Wür­de ich dir auch ge­ra­ten ha­ben! Das nächs­te Mal knall­t’s, und ich kann schie­ßen, Sohn!« Der As­sis­tent bleibt da­bei, den wohl zwan­zig Jah­re äl­te­ren Klu­ge mit »Sohn« an­zu­re­den. »Na, wei­ne man bloß nicht so! So schlimm wird’s ja gar nicht ge­we­sen sein, was du aus­ge­fres­sen hast. Oder?«

»Gar nichts habe ich aus­ge­fres­sen!«, stößt Enno Klu­ge un­ter Trä­nen her­vor. »Rein gar nichts!«

»Aber na­tür­lich, Sohn!«, stimmt der As­sis­tent zu. »Da­rum rennst du ja auch so schnell wie ein Hase, so­bald du die Uni­form von ei­nem Wacht­meis­ter siehst! Dok­tor, ha­ben Sie nicht ir­gend­was, wo­mit Sie die­sem Jam­mer­ge­stell wie­der ein biss­chen auf die Bei­ne hel­fen kön­nen?«

Jetzt, da der Arzt fühlt, alle Ge­fahr ist von sei­nem ei­ge­nen Haupt ab­ge­wen­det, sieht er mit herz­li­chem Mit­leid auf die­ses un­glück­se­li­ge Männ­lein. Auch so ein Ge­schla­ge­ner des Le­bens ist das, den je­des Hin­der­nis um­wirft. Der Dok­tor ist in der Ver­su­chung, dem Klei­nen auch eine Sprit­ze Mor­phi­um zu be­wil­li­gen, in leich­tes­ter Do­sie­rung. Er wagt es aber nicht recht we­gen des Kri­mi­nal­be­am­ten. Lie­ber ein biss­chen Brom …

Aber wäh­rend er das Brom­salz noch im Was­ser auf­löst, sagt Enno Klu­ge: »Ich brauch nichts. Ich will nichts ein­neh­men. Ich las­se mich nicht ver­gif­ten. Ich will lie­ber aus­sa­gen …«

»Na also!«, sagt der Kri­mi­nal­be­am­te. »Wuss­te ich doch, dass du ver­nünf­tig wer­den wür­dest, Sohn! Dann er­zäh­le also mal …«

Und Enno Klu­ge wischt sich die Trä­nen von den Ba­cken und fängt an zu er­zäh­len …

Als er näm­lich mit Wei­nen an­fing, hat er ganz ech­te Trä­nen ge­weint, ein­fach weil ihn sei­ne Ner­ven im Stich lie­ßen. Wenn es aber auch ganz ech­te Trä­nen wa­ren, so weiß Enno doch längst aus sei­nem Um­gang mit den Frau­en, dass man beim Wei­nen sehr gut nach­den­ken kann. Und bei die­sem Nach­den­ken ist er dar­auf ge­kom­men, dass es doch ei­gent­lich sehr un­wahr­schein­lich ist, dass die ihn aus dem Sprech­zim­mer ei­nes Arz­tes her­aus we­gen Ein­bruchs ver­haf­ten. Wenn die ihn wirk­lich be­schat­tet ha­ben, dann konn­ten sie ihn auch auf der Stra­ße oder im Trep­pen­flur ver­haf­ten, da brauch­ten sie ihn doch nicht erst zwei Stun­den im War­te­zim­mer sit­zen zu las­sen …

Nein, die­se Sa­che hat wahr­schein­lich nicht das Ge­rings­te mit dem Ein­bruch bei der Frau Ro­sen­thal zu tun. Wahr­schein­lich liegt der Ver­haf­tung ein Irr­tum zu­grun­de, und dun­kel ahnt Enno Klu­ge, dass sie ir­gend­was mit der bös­ar­ti­gen Sprech­stun­den­hil­fe zu tun hat.

Aber nun ist er ein­mal ge­türmt, und nie wird er so ei­nem Bul­len ein­re­den kön­nen, dass er nur aus Ner­vo­si­tät weg­ge­lau­fen ist, ein­fach, weil er jede Be­sin­nung beim An­blick ei­ner Uni­form ver­liert. So was nimmt ihm solch ein Bul­le nie ab. Er muss also schon was Glaub­haf­tes, Nach­zu­prü­fen­des ge­ste­hen, und was das sein soll, das weiß er auch gleich. Es ist zwar schlimm, dar­über zu spre­chen, und die Fol­gen sind nicht ab­zu­se­hen, aber von zwei Übeln ist solch ein Ge­ständ­nis ge­wiss das klei­ne­re.

Als er also jetzt zum Re­den auf­ge­for­dert ist, trock­net er sich die Trä­nen ab und be­ginnt mit leid­lich fes­ter Stim­me von sei­ner Ar­beit als Fein­me­cha­ni­ker zu spre­chen, und wie er so viel krank ge­we­sen ist, dass die Her­ren dort böse auf ihn ge­wor­den sind, und nun wol­len sie ihn ent­we­der ins KZ oder in eine Straf­kom­pa­nie ste­cken. Na­tür­lich er­zählt Enno Klu­ge nichts von sei­ner Ar­beits­scheu, aber er denkt, das wird der Bul­le auch so ka­pie­ren.

Und da­mit hat er so­gar recht, der Bul­le ka­piert das ganz gut, was für ein win­di­ges Frücht­chen die­ser Enno Klu­ge ist. »Ja, Herr Kom­missar, und wie ich Sie da sah und die Uni­form von dem Herrn Wacht­meis­ter, und ich saß doch gra­de beim Dok­tor, um mich krank­schrei­ben zu las­sen, da habe ich ge­dacht, nun ist es so weit, nun ho­len sie dich ins KZ, und da bin ich denn los­ge­lau­fen …«

»Soso«, sagt der As­sis­tent. »Soso!« Er über­legt eine Wei­le und sagt dann: »Aber es scheint mir, Sohn, dass du gar nicht mehr so recht glaubst, dass wir des­we­gen hier sind.«

»Nein, ei­gent­lich nicht«, gibt Klu­ge zu.

»Und warum glaubst du das nicht mehr, Sohn?«

»Weil Sie mich da doch viel ein­fa­cher in der Fa­brik oder in mei­ner Woh­nung fest­neh­men könn­ten.«

»Also, ’ne Woh­nung hast du auch, Sohn?«

»Aber na­tür­lich, Herr Kom­missar. Mei­ne Frau ist doch bei der Post, ich bin rich­tig ver­hei­ra­tet. Mei­ne bei­den Jun­gen ste­hen im Fel­de, der eine ist bei der SS in Po­len. Ich habe auch Pa­pie­re hier, ich kann Ih­nen al­les be­wei­sen, was ich ge­sagt habe, we­gen der Woh­nung und we­gen mei­ner Ar­beits­stel­le.«

Und Enno Klu­ge zieht sein schä­bi­ges, ab­ge­grif­fe­nes Brief­täsch­chen her­vor und fängt an, Pa­pie­re vor­zu­su­chen.

»Dei­ne Pa­pie­re lass jetzt mal ste­cken, Sohn«, sagt der As­sis­tent ab­wei­send. »Das hat spä­ter auch noch Zeit …«

Er ver­sinkt in Nach­den­ken, und al­les schweigt nun.

Der Arzt aber hin­ter sei­nem Schreib­tisch fängt ei­lig an zu schrei­ben. Vi­el­leicht hat er doch Ge­le­gen­heit, die­sem klei­nen Männ­lein da, das von ei­ner Angst in die an­de­re ge­jagt wird, einen Kran­ken­schein zu­zu­ste­cken. Gal­len­lei­den hat er ge­sagt, nun also. Das sind doch Zei­ten, wo man dem an­de­ren hel­fen muss, wenn’s nur ir­gend geht!

»Was schrei­ben Sie denn da, Dok­tor?«, fragt der As­sis­tent, plötz­lich aus sei­nem Nach­den­ken hoch­fah­rend.

»Kran­ken­ge­schich­ten«, er­klärt der Arzt. »Ich will die Zeit ein biss­chen nutz­brin­gend ver­wen­den, ein Hau­fen Men­schen sitzt da noch in mei­nem Sprech­zim­mer.«

»Rich­tig, Dok­tor«, sagt der As­sis­tent und steht auf. Er hat sei­nen Ent­schluss ge­fasst: »Da wol­len wir Sie auch nicht län­ger auf­hal­ten.«

Die Ge­schich­te die­ses Enno Klu­ge kann wahr sein, sie ist so­gar höchst­wahr­schein­lich wahr, aber der As­sis­tent wird das Ge­fühl nicht los, dass da noch ir­gen­det­was an­de­res da­hin­ter­steckt, dass er nicht die gan­ze Ge­schich­te zu hö­ren be­kom­men hat. »Na, denn komm, mein Sohn! Du be­glei­test uns doch noch ein paar Schrit­te? O nein, nicht bis zum Alex, nur hier­her auf un­ser Re­vier. Ich will mich doch ger­ne noch ein biss­chen mit dir un­ter­hal­ten, mein Sohn, so ein mun­te­rer Kna­be wie du bist, und den On­kel Dok­tor dür­fen wir hier auch nicht län­ger auf­hal­ten.« Er sagt zum Wacht­meis­ter: »Nein, kei­ne Fes­sel. Er geht schon so fein brav mit, ist ja ein klu­ges Kind. Heil Hit­ler, Herr Dok­tor, und schö­nen Dank!«

 

Sie sind schon an der Tür, es sieht al­les ge­nau­so aus, als woll­ten sie wirk­lich ge­hen. Aber da zieht der As­sis­tent plötz­lich die Kar­te, die Quan­gel’­sche Kar­te, aus der Ta­sche, hält sie dem Enno Klu­ge un­ter die Nase und sagt zu dem Über­rasch­ten ganz scharf: »Da, lies uns das mal vor, Sohn! Aber ganz schnell, ohne zu zu­cken und zu stot­tern!«

So sagt er ganz bul­len­mä­ßig.

Aber schon, als der As­sis­tent sieht, wie der Klu­ge die Kar­te an­fasst, wie sein glot­zen­des Auge im­mer ver­ständ­nis­lo­ser wird, wie Klu­ge dann zu stam­meln an­fängt: »Deut­scher, ver­giss es nicht! Mit dem An­schluss von Ös­ter­reich fing es an. Es folg­te Su­de­ten­land und die Tsche­cho­slo­wa­kei. Po­len wur­de über­fal­len, Bel­gi­en, Hol­land« – schon da weiß der As­sis­tent mit ziem­li­cher Ge­wiss­heit: Die­ser Mann hat die Kar­te noch nie in Hän­den ge­habt, hat nie ih­ren In­halt ge­le­sen, ge­schwei­ge denn ihn schrei­ben kön­nen – der ist ja viel zu blöd für so was!

Und är­ger­lich reißt er dem Enno Klu­ge die Kar­te wie­der aus der Hand, sagt kurz »Heil Hit­ler!« und ver­lässt mit dem Schu­po und sei­nem Fest­ge­nom­me­nen das Be­hand­lungs­zim­mer.

Lang­sam zer­reißt der Arzt wie­der den für Enno Klu­ge vor­be­rei­te­ten Be­hand­lungs­schein. Es war kei­ne Ge­le­gen­heit, ihm den zu­zu­ste­cken. Scha­de! Aber wahr­schein­lich hät­te er ihm doch nichts ge­hol­fen, viel­leicht war die­ser Mann, der den Schwie­rig­kei­ten der heu­ti­gen Zeit so we­nig ge­wach­sen schi­en, doch be­reits zum Un­ter­gang ver­ur­teilt. Vi­el­leicht konn­te ihm kei­ne Hil­fe von au­ßen wirk­lich hel­fen, weil nichts Fes­tes in ihm war.

Scha­de …