Die Sprechstundenhilfe hat den kleinen Enno Kluge auf seinen Platz gejagt, sie geht zurück über den Flur. Dem hat sie es aber besorgt!
Da sieht sie eine Karte am Boden liegen, etwas entfernt vom Briefkastenschlitz. Die Karte hat vor fünf Minuten noch nicht hier gelegen, als sie dem letzten Patienten öffnete, das weiß sie genau. Und es hat gar nicht geklingelt, jetzt ist doch überhaupt nicht die Zeit für Postzustellung.
All das hat die Hilfe flüchtig gedacht, während sie sich nach der Karte bückte, und später weiß sie es auch ganz genau, dass sie schon da, ehe sie die Karte in Händen hielt, ehe sie noch gesehen hatte, was mit ihr los war, dass sie da schon das Gefühl hatte, es war dieser kleine, schleichende Mann, der etwas damit zu schaffen hatte.
Sie wirft nur einen Blick auf den Text, liest ein paar Worte und stürzt aufgeregt zum Arzt in das Behandlungszimmer. »Herr Doktor! Herr Doktor! Was ich da eben auf unserm Flur gefunden habe!«
Sie unterbricht die Konsultation, sie erreicht, dass der halbausgezogene Patient in ein Nebenzimmer geschickt wird, dann gibt sie dem Arzt die Karte zu lesen. Sie kann es kaum abwarten, dass er zu Ende gelesen hat, und schon berichtet sie von ihrem Verdacht: »Es kann wirklich kein anderer gewesen sein als dieser kleine Schleicher! Gleich war er mir unsympathisch mit seinem scheuen Blick! Und das verkörperte schlechte Gewissen, nicht einen Augenblick hat er sich ruhig halten können, immer auf den Flur raus, zweimal hab ich ihn von der Toilette gejagt! Und wie ich das zum zweiten Mal tat, da hat hinterher die Karte auf dem Flur gelegen! Von außen kann sie gar nicht eingeworfen sein, dafür hat sie viel zu weit ab vom Briefkastenschlitz gelegen! Herr Doktor, rufen Sie gleich die Polizei an, ehe der Kerl wegschleicht! O Gott, er kann jetzt schon weg sein, ich muss gleich einmal nachsehen …«
Damit stürzt sie aus dem Behandlungszimmer, die Tür hinter sich weit offenlassend.
Der Arzt steht da, die Karte noch immer in der Hand. Es ist ihm äußerst peinlich, dass so was grade in seiner Sprechstunde passieren muss! Gottlob, dass die Hilfe die Karte fand und dass er nachweisen kann, dass er seit zwei Stunden sein Zimmer nicht verlassen hat, nicht einmal auf der Toilette ist er gewesen. Das Mädchen hat recht, das Beste ist, gleich die Polizei anzurufen. Er fängt an, im Telefonbuch nach der Nummer seines Reviers zu suchen.
Das Mädchen sieht durch die offen gebliebene Tür. »Er ist noch da, Herr Doktor!«, flüstert sie. »Er denkt natürlich, so kann er den Verdacht von sich ablenken. Aber ich bin ganz sicher …«
»Es ist gut«, unterbricht der Arzt die Aufgeregte. »Machen Sie bitte die Tür zu. Ich spreche jetzt mit der Polizei.«
Er erstattet seine Meldung, bekommt die Weisung, den Mann unbedingt festzuhalten, bis jemand vom Revier kommt, gibt diese Weisung an die Hilfe weiter, sagt ihr, sie solle ihn sofort rufen, wenn der Mann Anstalten macht zu gehen, und setzt sich wieder in seinen Schreibtischstuhl. Nein, die Behandlungen kann er jetzt nicht fortsetzen, er ist zu erregt. Dass gerade ihm so was passieren musste, warum nur gerade ihm? Ein gewissenloser Kerl, dieser Kartenschreiber, er brachte die Leute in die größte Bedrängnis! Dachte er gar nicht an die Schwierigkeiten, die er ihnen mit seiner verdammten Karte machte?
Wahrhaftig, diese Karte hatte grade noch zum Glück des Arztes gefehlt! Jetzt war Polizei zu ihm unterwegs, vielleicht geriet er doch in Verdacht, man machte eine Haussuchung, und wenn sich dann auch erwies, dass der Verdacht falsch war, so fand man hinten in der Dienstbotenkammer …
Der Arzt stand auf, er musste ihr wenigstens Bescheid sagen …
Und setzte sich wieder. Wie konnte er denn in Verdacht geraten? Und außerdem, selbst wenn man sie fand, so war sie eben seine Hausdame, wie es ja auch ihre Papiere aussagten. All das war ja hundertfach bedacht und besprochen worden, seit er sich vor gut einem Jahr von seiner Frau, einer Jüdin, hatte scheiden lassen müssen – unter dem Druck der Nazis. Er hatte es getan, hauptsächlich auf ihre Bitten hin, um den Kindern wenigstens eine Existenz zu sichern. Später hatte er dann, nachdem er die Wohnung gewechselt, seine ehemalige Frau mit falschen Papieren als seine Hausdame zurückgeholt. Eigentlich konnte gar nichts passieren, so jüdisch sah sie gar nicht aus …
Diese unselige Karte! Dass sie grade auf ihn treffen musste! Aber wahrscheinlich war es so, dass sie überall, wohin sie auch kam, Schrecken und Angst erregte. Jeder hatte in diesen Zeiten etwas zu verbergen!
Aber vielleicht war es grade der Zweck dieser Karte, Angst und Schrecken zu erregen? Vielleicht wurde diese Karte mit teuflischem Vorbedacht unter den Verdächtigen verteilt, um festzustellen, wie sich die verhielten? Vielleicht stand er schon länger unter Beobachtung, und dies war nur eines der Mittel, um festzustellen, ob der Verdächtige sich keine Blöße gab?
Nun, er hatte sich jedenfalls korrekt benommen. Fünf Minuten nach Auffinden der Karte hatte er die Polizei verständigt. Und er konnte ihr sogar einen Verdächtigen präsentieren, vielleicht einen armen Teufel, der gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Nun, er konnte da nicht helfen, sollte der selber sehen, wie er aus der Geschichte herauskam! Die Hauptsache war, er blieb verschont.
Und obwohl diese Erwägungen den Arzt ruhiger gemacht haben, steht er auf und macht sich rasch und sicher eine kleine Morphiumspritze. Die wird ihn instandsetzen, diesen Herren, die da zu ihm im Anmarsch sind, ruhig und sogar ein bisschen gelangweilt zu begegnen. Diese kleine Spritze ist das Hilfsmittel, zu dem der Arzt seit der Schande seiner Scheidung, wie er diesen Schritt innerlich noch immer nennt, häufiger und häufiger seine Zuflucht nimmt. Er ist noch kein Morphinist, weit entfernt, er kommt manchmal fünf, sechs Tage ohne Morphium aus, aber wenn Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg auftauchen, und diese Schwierigkeiten häufen sich jetzt während des Krieges immer mehr, so nimmt er Morphium. Das allein hilft ihm noch, ohne diese künstliche Hilfe verliert er seine Nerven. Nein, noch ist er kein Morphinist! Aber er ist auf dem besten Wege, einer zu werden. Ach, wenn nur erst dieser Krieg vorbei wäre, dass man aus diesem elenden Lande hinauskönnte! Mit dem kleinsten Hilfsarztposten draußen im Auslande würde er zufrieden sein.
Einige Minuten darauf empfängt ein blasser, etwas müder Arzt die beiden Herren von der Polizeiwache. Der eine ist nur ein uniformierter Wachtmeister, zur Aufsicht über die Flurtür hierherkommandiert. Er löst sofort die Sprechstundenhilfe ab.
Der andere ist ein Zivilist, Kriminalassistent Schröder – in seinem Behandlungszimmer übergibt ihm der Arzt die Karte. Was er aussagen könne? Nun, er kann eigentlich nichts aussagen, er habe seit über zwei Stunden hier schon ohne Unterbrechung Patienten abgefertigt, etwa zwanzig oder fünfundzwanzig hintereinander. Aber er werde sofort die Sprechstundenhilfe holen.
Die Hilfe kommt, und sie hat viel auszusagen. Sehr viel. Sie schildert diesen Schleicher, wie sie ihn nur nennt, mit einem Hass, der zwei harmlosen Rauchereien auf der Toilette gegenüber völlig unbegreiflich ist. Der Arzt beobachtet sie genau, wie sie da erregt, mit oft versagender Stimme aussagt. Er denkt: Ich muss jetzt mal sehen, dass sie wirklich was Ernstliches gegen ihren Basedow unternimmt. Es wird immer schlimmer mit ihr. So erregt, wie sie jetzt spricht, ist sie eigentlich schon nicht mehr voll zurechnungsfähig.
Der Kriminalassistent scheint Ähnliches zu denken. Mit einem kurzen »Danke! Ich weiß jetzt vorläufig genug«, unterbricht er ihre Aussagen. »Zeigen Sie mir jetzt noch, Fräulein, wo die Karte auf dem Flur gelegen hat. Aber bitte möglichst genau!«
Das Fräulein, die Hilfe, legt die Karte auf eine Stelle, die sie vom Briefkastenschlitz, wie es scheint, unmöglich erreichen kann. Aber der Assistent probiert, vom Wachtmeister unterstützt, so lange das Einwerfen der Karte, bis sie nahezu auf dem von der Hilfe bezeichneten Platz zu liegen kommt. Nahezu, etwa zehn Zentimeter fehlen …
»Da könnte sie doch auch gelegen haben, Fräulein?«, fragt der Assistent.
Die Sprechstundenhilfe ist sichtlich entrüstet, dass dem Assistenten dies Experiment geglückt ist. Sie erklärt mit Entschiedenheit: »Nein, so nah an der Tür kann die Karte unmöglich gelegen haben! Eher noch weiter in den Flur hinein, als ich vorhin zeigte. Ich glaube jetzt, sie lag hier direkt bei dem Stuhl.« Und sie zeigt einen Fleck, der noch einen halben Meter weiter vom Einwurf entfernt liegt. »Ich bin fast sicher, dass ich gegen diesen Stuhl beim Aufheben gestoßen habe.«
»Soso«, sagt der Assistent und mustert kühl die Zornige. Im Innern macht er einen Strich durch alle ihre Aussagen. Die ist ja hysterisch, denkt er. Der fehlt natürlich ein Mann. Na ja, wo alle im Felde sind, und sehr verlockend sieht sie auch nicht aus.
Er wendet sich laut an den Arzt: »Ich möchte jetzt wie ein beliebiger Patient drei Minuten im Wartezimmer sitzen und mir den beschuldigten Herrn erst einmal so ansehen, ohne dass er weiß, wer ich bin. Das lässt sich doch machen?«
»Natürlich lässt sich das machen. Fräulein Kiesow wird Ihnen sagen, wo er sitzt.«
»Steht!«, erklärt die Hilfe ärgerlich. »So einer setzt sich doch nicht! Der tritt lieber den anderen auf den Füßen herum! Dem lässt sein schlechtes Gewissen doch keine Ruhe! Dieser Schleicher …«
»Also, wo steht er«, unterbricht sie der Assistent wieder und nicht sehr höflich.
»Vorhin stand er beim Spiegel am Fenster«, antwortet sie ihm gekränkt. »Aber ich kann natürlich nicht sagen, wo er jetzt steht, so unruhig, wie der ist!«
»Ich werde ihn schon finden«, meint der Assistent Schröder. »Sie haben ihn mir ja beschrieben.«
Und er geht ins Wartezimmer.
Dort herrscht einige Erregung. Seit über zwanzig Minuten ist kein Patient zum Arzt gerufen worden – wie lange sollen sie hier noch sitzen? Sie haben wahrhaftig anderes zu tun! Wahrscheinlich fertigt der Doktor vorne gut zahlende Privatpatienten ab, und die Kassenpatienten hier können sitzen, bis sie schwarz werden! Aber so machen es doch alle diese Ärzte, mein lieber Herr, da können Sie hingehen, wo Sie wollen! Überall hat das Geld den Vortritt!
Während die Berichte über die Käuflichkeit der Ärzte immer höhere Wellen schlagen, mustert der Assistent schweigend seinen Mann. Er hat ihn sofort erkannt. Der Mann ist weder so unruhig noch so schleicherisch, wie ihn die Hilfe geschildert hat. Er steht da ganz ruhig an seinem Spiegel, an der Unterhaltung der anderen beteiligt er sich nicht. Er scheint nicht einmal auf das zu hören, was die sagen, und das tut man sonst doch gerne, eine langweilige Wartezeit sich zu verkürzen. Er schaut ein bisschen stumpfsinnig und ein bisschen ängstlich darein. Kleiner Arbeiter, entscheidet der Assistent. Nee, ein bisschen besser, die Hände sehen geschickt aus, Arbeitsspuren, aber nicht nach schwerer Arbeit … Anzug und Mantel mit großer Sorgfalt instandgehalten, was freilich nicht über ihr Abgetragensein hinwegtäuscht. Im Ganzen nichts von dem Manne, den man sich nach dem Ton der Karte vorstellt. Der schreibt doch einen ganz kräftigen Stil, und nun dieses sorgenvolle Kaninchen …
Aber der Assistent weiß längst, dass die Menschen oft sehr anders sind, als sie aussehen. Und dieser Mann ist immerhin durch die Aussage der Zeugin so schwer belastet, dass man die Angelegenheit wenigstens nachprüfen muss. Dieser Kartenschreiber muss die Herren oben ein bisschen nervös gemacht haben, erst neulich gab’s da wieder unter »Geheim! Streng geheim!« einen Befehl, dass auch der kleinsten Spur in dieser Sache unverzüglich nachzugehen sei.
Wär ganz schön, wenn ich da einen kleinen Erfolg hätte!, denkt der Assistent. Es wird höchste Zeit mit einer kleinen Beförderung.
In dem allgemeinen Geschimpfe geht er fast unbeachtet an den kleinen Mann beim Spiegel heran, tippt ihn auf die Schulter und sagt: »Kommen Sie doch mal einen Augenblick auf den Flur. Ich möchte Sie mal was fragen.«
Gehorsam folgt ihm Enno Kluge, wie er jedem Befehl gehorsam folgt. Aber während er schon hinter dem unbekannten Herrn dreingeht, erfasst ihn Angst: Was soll das? Was will der von mir? Der sieht doch wie ein Bulle aus, und er spricht auch ganz wie ein Bulle. Was habe ich mit der Kripo zu tun – ich habe doch gar nichts getan!
Im gleichen Augenblick fällt ihm der Einbruch bei der Rosenthal ein. Es ist kein Zweifel, der Barkhausen ist hochgegangen und hat ihn verpfiffen. Und die Angst wird stärker in ihm, er hat doch geschworen, er will nichts aussagen, und wenn er nun doch aussagt, wird ihn dieser Kerl von der SS wieder vornehmen und vertrimmen, und diesmal noch viel schlimmer! Er darf nichts aussagen, aber wenn er nichts aussagt, nimmt ihn sich dieser Bulle vor, und dann schwatzt er doch. Hier Verderben, dort Verderben … Oh, diese Angst!
Als er auf den Flur tritt, sehen ihn vier Gesichter erwartungsvoll an – aber er sieht sie gar nicht, er sieht nur die Uniform des Schupos und weiß, dass er mit seiner Angst recht gehabt hat, dass er nun wirklich zwischen Verderben und Verderben steht.
Und diese Angst verleiht Enno Kluge Eigenschaften, die er sonst nicht besitzt, nämlich Entschlusskraft, Stärke und Schnelligkeit. Er wirft den überraschten Assistenten, der dies nie von dem kleinen Schwächling erwartet hätte, gegen den Schupo, läuft an Arzt und Hilfe vorbei, reißt die Flurtür auf und ist schon auf der Treppe …
Aber hinter ihm trillert die Pfeife des Schupos, und diesem langbeinigen jungen Mann ist er im Tempo nicht gewachsen. Auf der untersten Treppe wird er eingeholt, der Schupo versetzt ihm einen Schlag, der ihn gleich auf die Stufen niederschickt, und als er vor drehenden Sonnen und Feuerkreisen wieder sehen kann, sagt dieser Schupo freundlich lächelnd: »Na, streck mal deine süße Pfote her! Will dir lieber ein Armband schenken. Das nächste Mal machen wir so ’nen Spaziergang gemeinsam, was?«
Und schon hat die Stahlfessel um sein Handgelenk geklirrt, und es geht wieder treppauf, zwischen dem schweigsamen, finster blickenden Bullen und dem vergnügt lächelnden Bullen, dem dieser kleine Ausreißer nur Spaß macht.
Oben, wo die Patienten jetzt auf dem Flur stehen und gar nicht mehr böse sind über die lange Wartezeit bei ihrem Doktor, denn eine Verhaftung ist immer etwas Interessantes, und wie die Sprechstundenhilfe erzählt hat, ist dies sogar ein Politischer, ein Kommunist, und diesen Brüdern geschieht es ganz recht – oben also geht es an all diesen Gesichtern vorbei in das Behandlungszimmer des Arztes. Das Fräulein Kiesow wird gleich von dem Assistenten hinausgeschickt, der Arzt aber darf bei der Vernehmung dabeibleiben und hört, wie der Assistent sagt: »So, mein Sohn, nun setz dich erst mal hier auf den Stuhl und ruhe dich von deiner Rennerei aus. Du machst ja ordentlich einen abgehetzten Eindruck! Wachtmeister, Sie können dem Herrn erst einmal die Fessel wieder abnehmen. Der rennt uns nicht noch einmal weg – oder?«
»Nein, nein!«, versichert Enno Kluge verzweifelt, und schon rollen die Tränen über sein Gesicht.
»Würde ich dir auch geraten haben! Das nächste Mal knallt’s, und ich kann schießen, Sohn!« Der Assistent bleibt dabei, den wohl zwanzig Jahre älteren Kluge mit »Sohn« anzureden. »Na, weine man bloß nicht so! So schlimm wird’s ja gar nicht gewesen sein, was du ausgefressen hast. Oder?«
»Gar nichts habe ich ausgefressen!«, stößt Enno Kluge unter Tränen hervor. »Rein gar nichts!«
»Aber natürlich, Sohn!«, stimmt der Assistent zu. »Darum rennst du ja auch so schnell wie ein Hase, sobald du die Uniform von einem Wachtmeister siehst! Doktor, haben Sie nicht irgendwas, womit Sie diesem Jammergestell wieder ein bisschen auf die Beine helfen können?«
Jetzt, da der Arzt fühlt, alle Gefahr ist von seinem eigenen Haupt abgewendet, sieht er mit herzlichem Mitleid auf dieses unglückselige Männlein. Auch so ein Geschlagener des Lebens ist das, den jedes Hindernis umwirft. Der Doktor ist in der Versuchung, dem Kleinen auch eine Spritze Morphium zu bewilligen, in leichtester Dosierung. Er wagt es aber nicht recht wegen des Kriminalbeamten. Lieber ein bisschen Brom …
Aber während er das Bromsalz noch im Wasser auflöst, sagt Enno Kluge: »Ich brauch nichts. Ich will nichts einnehmen. Ich lasse mich nicht vergiften. Ich will lieber aussagen …«
»Na also!«, sagt der Kriminalbeamte. »Wusste ich doch, dass du vernünftig werden würdest, Sohn! Dann erzähle also mal …«
Und Enno Kluge wischt sich die Tränen von den Backen und fängt an zu erzählen …
Als er nämlich mit Weinen anfing, hat er ganz echte Tränen geweint, einfach weil ihn seine Nerven im Stich ließen. Wenn es aber auch ganz echte Tränen waren, so weiß Enno doch längst aus seinem Umgang mit den Frauen, dass man beim Weinen sehr gut nachdenken kann. Und bei diesem Nachdenken ist er darauf gekommen, dass es doch eigentlich sehr unwahrscheinlich ist, dass die ihn aus dem Sprechzimmer eines Arztes heraus wegen Einbruchs verhaften. Wenn die ihn wirklich beschattet haben, dann konnten sie ihn auch auf der Straße oder im Treppenflur verhaften, da brauchten sie ihn doch nicht erst zwei Stunden im Wartezimmer sitzen zu lassen …
Nein, diese Sache hat wahrscheinlich nicht das Geringste mit dem Einbruch bei der Frau Rosenthal zu tun. Wahrscheinlich liegt der Verhaftung ein Irrtum zugrunde, und dunkel ahnt Enno Kluge, dass sie irgendwas mit der bösartigen Sprechstundenhilfe zu tun hat.
Aber nun ist er einmal getürmt, und nie wird er so einem Bullen einreden können, dass er nur aus Nervosität weggelaufen ist, einfach, weil er jede Besinnung beim Anblick einer Uniform verliert. So was nimmt ihm solch ein Bulle nie ab. Er muss also schon was Glaubhaftes, Nachzuprüfendes gestehen, und was das sein soll, das weiß er auch gleich. Es ist zwar schlimm, darüber zu sprechen, und die Folgen sind nicht abzusehen, aber von zwei Übeln ist solch ein Geständnis gewiss das kleinere.
Als er also jetzt zum Reden aufgefordert ist, trocknet er sich die Tränen ab und beginnt mit leidlich fester Stimme von seiner Arbeit als Feinmechaniker zu sprechen, und wie er so viel krank gewesen ist, dass die Herren dort böse auf ihn geworden sind, und nun wollen sie ihn entweder ins KZ oder in eine Strafkompanie stecken. Natürlich erzählt Enno Kluge nichts von seiner Arbeitsscheu, aber er denkt, das wird der Bulle auch so kapieren.
Und damit hat er sogar recht, der Bulle kapiert das ganz gut, was für ein windiges Früchtchen dieser Enno Kluge ist. »Ja, Herr Kommissar, und wie ich Sie da sah und die Uniform von dem Herrn Wachtmeister, und ich saß doch grade beim Doktor, um mich krankschreiben zu lassen, da habe ich gedacht, nun ist es so weit, nun holen sie dich ins KZ, und da bin ich denn losgelaufen …«
»Soso«, sagt der Assistent. »Soso!« Er überlegt eine Weile und sagt dann: »Aber es scheint mir, Sohn, dass du gar nicht mehr so recht glaubst, dass wir deswegen hier sind.«
»Nein, eigentlich nicht«, gibt Kluge zu.
»Und warum glaubst du das nicht mehr, Sohn?«
»Weil Sie mich da doch viel einfacher in der Fabrik oder in meiner Wohnung festnehmen könnten.«
»Also, ’ne Wohnung hast du auch, Sohn?«
»Aber natürlich, Herr Kommissar. Meine Frau ist doch bei der Post, ich bin richtig verheiratet. Meine beiden Jungen stehen im Felde, der eine ist bei der SS in Polen. Ich habe auch Papiere hier, ich kann Ihnen alles beweisen, was ich gesagt habe, wegen der Wohnung und wegen meiner Arbeitsstelle.«
Und Enno Kluge zieht sein schäbiges, abgegriffenes Brieftäschchen hervor und fängt an, Papiere vorzusuchen.
»Deine Papiere lass jetzt mal stecken, Sohn«, sagt der Assistent abweisend. »Das hat später auch noch Zeit …«
Er versinkt in Nachdenken, und alles schweigt nun.
Der Arzt aber hinter seinem Schreibtisch fängt eilig an zu schreiben. Vielleicht hat er doch Gelegenheit, diesem kleinen Männlein da, das von einer Angst in die andere gejagt wird, einen Krankenschein zuzustecken. Gallenleiden hat er gesagt, nun also. Das sind doch Zeiten, wo man dem anderen helfen muss, wenn’s nur irgend geht!
»Was schreiben Sie denn da, Doktor?«, fragt der Assistent, plötzlich aus seinem Nachdenken hochfahrend.
»Krankengeschichten«, erklärt der Arzt. »Ich will die Zeit ein bisschen nutzbringend verwenden, ein Haufen Menschen sitzt da noch in meinem Sprechzimmer.«
»Richtig, Doktor«, sagt der Assistent und steht auf. Er hat seinen Entschluss gefasst: »Da wollen wir Sie auch nicht länger aufhalten.«
Die Geschichte dieses Enno Kluge kann wahr sein, sie ist sogar höchstwahrscheinlich wahr, aber der Assistent wird das Gefühl nicht los, dass da noch irgendetwas anderes dahintersteckt, dass er nicht die ganze Geschichte zu hören bekommen hat. »Na, denn komm, mein Sohn! Du begleitest uns doch noch ein paar Schritte? O nein, nicht bis zum Alex, nur hierher auf unser Revier. Ich will mich doch gerne noch ein bisschen mit dir unterhalten, mein Sohn, so ein munterer Knabe wie du bist, und den Onkel Doktor dürfen wir hier auch nicht länger aufhalten.« Er sagt zum Wachtmeister: »Nein, keine Fessel. Er geht schon so fein brav mit, ist ja ein kluges Kind. Heil Hitler, Herr Doktor, und schönen Dank!«
Sie sind schon an der Tür, es sieht alles genauso aus, als wollten sie wirklich gehen. Aber da zieht der Assistent plötzlich die Karte, die Quangel’sche Karte, aus der Tasche, hält sie dem Enno Kluge unter die Nase und sagt zu dem Überraschten ganz scharf: »Da, lies uns das mal vor, Sohn! Aber ganz schnell, ohne zu zucken und zu stottern!«
So sagt er ganz bullenmäßig.
Aber schon, als der Assistent sieht, wie der Kluge die Karte anfasst, wie sein glotzendes Auge immer verständnisloser wird, wie Kluge dann zu stammeln anfängt: »Deutscher, vergiss es nicht! Mit dem Anschluss von Österreich fing es an. Es folgte Sudetenland und die Tschechoslowakei. Polen wurde überfallen, Belgien, Holland« – schon da weiß der Assistent mit ziemlicher Gewissheit: Dieser Mann hat die Karte noch nie in Händen gehabt, hat nie ihren Inhalt gelesen, geschweige denn ihn schreiben können – der ist ja viel zu blöd für so was!
Und ärgerlich reißt er dem Enno Kluge die Karte wieder aus der Hand, sagt kurz »Heil Hitler!« und verlässt mit dem Schupo und seinem Festgenommenen das Behandlungszimmer.
Langsam zerreißt der Arzt wieder den für Enno Kluge vorbereiteten Behandlungsschein. Es war keine Gelegenheit, ihm den zuzustecken. Schade! Aber wahrscheinlich hätte er ihm doch nichts geholfen, vielleicht war dieser Mann, der den Schwierigkeiten der heutigen Zeit so wenig gewachsen schien, doch bereits zum Untergang verurteilt. Vielleicht konnte ihm keine Hilfe von außen wirklich helfen, weil nichts Festes in ihm war.
Schade …