Hans Fallada – Gesammelte Werke

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22. Ein halbes Jahr danach: Kommissar Escherich

Ein hal­b­es Jahr nach Empfang der ers­ten Kar­te stand der Kom­missar Esche­rich, sei­nen sand­far­be­nen Schnurr­bart strei­chend, vor der Kar­te Ber­lins, auf der er mit ro­ten Fähn­chen die Fund­punk­te von Quan­gels Kar­ten mar­kiert hat­te. Es steck­ten jetzt vierund­vier­zig sol­cher Fähn­chen auf dem Blatt; von den achtund­vier­zig Kar­ten, die Quan­gels in die­sem hal­b­en Jahr ge­schrie­ben und aus­ge­tra­gen hat­ten, wa­ren nur vier nicht bei der Ge­sta­po ge­lan­det. Und auch die­se vier wa­ren wohl kaum in den Be­trie­ben von Hand zu Hand ge­gan­gen, wie es sich die Quan­gels er­hofft, son­dern sie wa­ren, kaum ge­le­sen, schon angst­voll zer­ris­sen, weg­ge­spült oder ver­brannt wor­den.

Die Tür geht, und Esche­richs Vor­ge­setz­ter, der SS-Ober­grup­pen­füh­rer Prall, kommt her­ein: »Heil Hit­ler, Esche­rich! Nun, warum bei­ßen Sie so auf Ihrem Bart her­um?«

»Heil Hit­ler, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Das ist der Kar­ten­schrei­ber, der Kla­bau­ter­mann, wie ich ihn bei mir nen­ne.«

»Nanu? Wa­rum denn Kla­bau­ter­mann?«

»Weiß nicht. Fiel mir so ein. Vi­el­leicht, weil er die Leu­te grau­lich ma­chen will.«

»Und wie weit sind wir da­mit, Esche­rich?«

»Tja!«, sag­te der Kom­missar ge­dehnt. Er sah wie­der nach­denk­lich auf die Kar­te. »Nach der Ver­brei­tung zu schlie­ßen, muss er ir­gend­wo nörd­lich vom Alex­an­der­platz sit­zen, da sind die meis­ten Vor­kom­men. Aber auch Os­ten und Zen­trum sind ganz gut be­pflas­tert. Der Sü­den gar nicht, im Wes­ten, et­was süd­lich vom Nol­len­dorf­platz, sind zwei Vor­kom­men – da muss er ir­gend­wie ge­le­gent­lich zu tun ha­ben.«

»Gut deutsch: aus der Kar­te lässt sich noch gar nichts sa­gen! Da­mit kom­men wir nicht einen Schritt wei­ter!«

»Ab­war­ten! Ein hal­b­es Jahr spä­ter, wenn mein Kla­bau­ter­mann bis da­hin kei­nen an­de­ren Schwup­per macht, wird die Kar­te schon viel mehr Auf­schluss ge­ben.«

»Hal­bes Jahr! Sie sind ja präch­tig, Esche­rich! Ein hal­b­es Jahr wol­len Sie die­ses Schwein noch wüh­len und grun­zen las­sen und nichts tun, als in al­ler Ge­müts­ru­he Ihre Fähn­chen ein­pie­ken!«

»Bei un­se­rer Ar­beit muss man Ge­duld ha­ben, Herr Ober­grup­pen­füh­rer. Das ist, wie wenn Sie auf dem An­stand sit­zen und auf den Bock war­ten. Sie müs­sen eben war­ten. Ehe er kommt, kön­nen Sie nicht schie­ßen. Aber wenn er kommt, da schieß ich, ver­las­sen Sie sich drauf!«

»Ich hör im­mer­zu Ge­duld, Esche­rich! Glau­ben Sie denn, die Her­ren über uns ha­ben so viel Ge­duld? Ich fürch­te, wir krie­gen bald einen rein­ge­hängt, an dem wir lan­ge kau­en wer­den. Be­den­ken Sie, in ei­nem hal­b­en Jahr vierund­vier­zig Kar­ten, das sind in je­der Wo­che fast zwei Kar­ten, die bei uns ein­tru­deln, das se­hen doch die Her­ren. Da fra­gen sie mich: Na, und? Noch nicht ge­fasst? Wa­rum noch nicht ge­fasst? Was tut ihr ei­gent­lich? Fähn­chen pie­ken und Dau­men dre­hen, ant­wor­te ich. Und dann krie­ge ich mei­nen rein­ge­würgt und den Be­fehl, den Mann in zwei Wo­chen zu fas­sen.«

Kom­missar Esche­rich grins­te un­ter sei­nem sand­far­be­nen Bart. »Und dann wür­gen Sie mir einen rein, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, und ge­ben mir den dienst­li­chen Be­fehl, den Mann in ei­ner Wo­che zu fas­sen!«

»Grin­sen Sie nicht so al­bern, Esche­rich! Über so einen Fall, wenn der zum Bei­spiel dem Himm­ler zu Ohren kommt, kann man sich die schöns­te Kar­rie­re ver­pfu­schen, und viel­leicht den­ken wir bei­de im KZ Sach­sen­hau­sen ei­nes Ta­ges noch trüb­se­lig dar­über nach, wie schön doch die Zei­ten wa­ren, als wir noch rote Fähn­chen ein­pie­ken durf­ten.«

»Kei­ne Ban­ge, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Ich bin ein al­ter Kri­mi­na­list und weiß, kei­ner kann was Bes­se­res ma­chen als wir tun: war­ten. Die sol­len uns doch einen bes­se­ren Weg vor­schla­gen, die Klug­schei­ßer, wie man an mei­nen Kla­bau­ter­mann ran­kommt. Aber na­tür­lich wis­sen die auch kei­nen.«

»Esche­rich, be­den­ken Sie, wenn vierund­vier­zig bei uns ein­ge­tru­delt sind, so heißt das, dass min­des­tens eben­so viel, viel­leicht aber über hun­dert Kar­ten heu­te in Ber­lin um­lau­fen, Un­zu­frie­den­heit säen, Sa­bo­ta­ge stif­ten. Das kann man doch nicht ru­hig mit an­se­hen!«

»Hun­dert Kar­ten im Um­lauf!«, lach­te Esche­rich. »Ha­ben Sie eine Ah­nung vom deut­schen Volk, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Bit­te tau­send­mal um Ent­schul­di­gung, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, so woll­te ich es wirk­lich nicht sa­gen, es ist mir nur so raus­ge­rutscht! Na­tür­lich ha­ben Herr Ober­grup­pen­füh­rer viel Ah­nung vom deut­schen Vol­ke, mehr als ich wahr­schein­lich, aber die Leu­te ha­ben jetzt doch sol­che Angst! Die lie­fern ab – mehr als zehn Kar­ten sind be­stimmt nicht im Um­lauf!«

Nach sei­ner zor­ni­gen Ge­bär­de we­gen des be­lei­di­gen­den Aus­ru­fes von Esche­rich (die­se Leu­te, die von der Kri­po ka­men, wa­ren ein biss­chen reich­lich dumm und ta­ten viel zu kol­le­gi­al!), nach­dem also der Ober­grup­pen­füh­rer Prall den be­lei­di­gen­den Aus­ruf Esche­richs mit ei­nem Zorn­blick und ei­nem wü­ten­den Vor­schnel­len des Ar­mes ge­rügt hat­te, sag­te er jetzt: »Aber zehn sind auch noch zu viel! Eine ist noch zu viel! Gar kei­ne darf mehr um­lau­fen! Sie müs­sen den Mann fas­sen, Esche­rich – und schnell!«

Der Kom­missar stand stumm da. Er hob den Blick nicht von den glän­zen­den Stie­fel­spit­zen des Ober­grup­pen­füh­rers, er strich ge­dan­ken­voll den Schnurr­bart und schwieg hart­nä­ckig.

»Ja, da ste­hen Sie und schwei­gen!«, rief Prall är­ger­lich. »Und ich weiß auch, was Sie den­ken. Sie den­ken näm­lich gra­de, dass ich auch solch ein Klug­schei­ßer bin, der wohl Rüf­fel aus­tei­len kann, aber nichts Bes­se­res vor­zu­schla­gen weiß.«

Rot wer­den konn­te der Kom­missar Esche­rich schon lan­ge nicht mehr, aber er war in die­sem Au­gen­blick, da er ge­nau über sei­nen heim­li­chen Ge­dan­ken er­wi­scht wor­den war, dem Er­rö­ten so nahe wie nur mög­lich. Und ver­le­gen war er auch, was ihm seit end­lo­sen Zei­ten nicht mehr pas­siert war.

Ober­grup­pen­füh­rer Prall merk­te das al­les wohl. Hei­ter sag­te er: »Nun, ich will Sie ge­wiss nicht in Ver­le­gen­heit brin­gen, Esche­rich, ich ge­wiss nicht! Und ich will Ih­nen auch kei­ne gu­ten Ratschlä­ge ge­ben. Sie wis­sen, ich bin kein Kri­mi­na­list, ich bin in die­sen La­den nur kom­man­diert wor­den. Aber un­ter­rich­ten Sie mich mal ein biss­chen. Ich wer­de in den nächs­ten Ta­gen be­stimmt über die­sen Fall be­rich­ten müs­sen, da wüss­te ich ger­ne ge­nau Be­scheid. Der Mann ist nie beim Ab­le­gen der Kar­ten be­ob­ach­tet wor­den?«

»Nie.«

»Und kein Ver­dacht ge­äu­ßert in den Häu­sern, wo die Kar­ten auf­ge­fun­den wur­den?«

»Ver­dacht? Ver­dacht über Ver­dacht! Ver­dacht gib­t’s heu­te über­all. Aber es steckt nir­gends mehr da­hin­ter als ein biss­chen Wut auf den Nach­barn, Spit­zel­tum, De­nun­zi­an­ten­fie­ber. Nein, da­her kommt kei­ne Spur!«

»Und die Auf­fin­der selbst? Alle un­ver­däch­tig?«

»Un­ver­däch­tig?« Esche­rich ver­zog den Mund. »Ach Gott, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, un­ver­däch­tig ist heut­zu­ta­ge kei­ner.« Und nach ei­nem ra­schen Blick auf das Ge­sicht sei­nes Vor­ge­setz­ten: »Oder alle. Aber wir ha­ben hier sämt­li­che Fin­der ge­siebt und noch mal ge­siebt. Mit dem Schrei­ber der Kar­ten hat kei­ner was zu tun.«

Der Ober­grup­pen­füh­rer seufz­te. »Sie hät­ten Pfar­rer wer­den sol­len. Sie kön­nen so wun­der­bar trös­ten, Esche­rich!«, sag­te er. »Blei­ben also noch die Kar­ten. Und wie steht es da mit den An­halts­punk­ten?«

»Dürf­tig. Sehr dürf­tig!«, sag­te Esche­rich. »Nee, lie­ber nicht Pfar­rer, aber die Wahr­heit für Sie, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Nach dem ers­ten Schwup­per, den er ge­macht hat mit dem ein­zi­gen Sohn, habe ich ge­dacht, er wür­de sich mir selbst ans Mes­ser lie­fern. Aber das ist ein schlau­er Fuchs.«

»Sa­gen Sie mal, Esche­rich«, rief Prall plötz­lich, »ha­ben Sie je dar­an ge­dacht, dass es auch eine Frau sein könn­te? Mir fiel das eben so ein, als Sie vom ein­zi­gen Sohn spra­chen.«

Der Kom­missar sah einen Au­gen­blick sei­nen Vor­ge­setz­ten über­rascht an. Er dach­te nach. Dann sag­te er, be­küm­mert den Kopf schüt­telnd: »Da­mit ist’s auch nichts, Herr Ober­grup­pen­füh­rer. Das ist viel­mehr gra­de ei­ner der Punk­te, die ich für ab­so­lut si­cher an­se­he. Mein Kla­bau­ter­mann ist ein Wit­wer oder je­den­falls ein Mann, der ganz für sich al­lein lebt. Wäre ein Weib in der Sa­che, das hät­te längst in­zwi­schen ein biss­chen Ge­schwätz ge­ge­ben. Be­den­ken Sie: ein hal­b­es Jahr, so lan­ge hält kei­ne Frau dicht!«

»Aber eine Mut­ter, die den ein­zi­gen Sohn ver­lo­ren hat?«

»Auch nicht. Gra­de die nicht!«, ent­schied Esche­rich. »Wer Kum­mer hat, will ge­trös­tet wer­den, und um Trost zu be­kom­men, muss man re­den. Nein, be­stimmt ist kei­ne Frau in der Sa­che. Von der weiß nur ei­ner, und der kann schwei­gen.«

»Wie ge­sagt: Pfar­rer! Und was sonst für An­halts­punk­te?«

»Dürf­tig, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, sehr dürf­tig. Ziem­lich si­cher ist der Mann gei­zig oder hat ir­gend­wann mal Krach mit dem Win­ter­hilfs­werk ge­habt. Denn auf den Kar­ten mag ste­hen, was da will, noch nicht ein­mal hat er die Mah­nung ver­ges­sen: Gebt nichts für das WHW!«

»Na, wenn wir nach ei­nem in Ber­lin su­chen sol­len, der nicht ger­ne fürs WHW spen­det, Esche­rich …«

»Sage ich auch, Herr Ober­grup­pen­füh­rer. Zu we­nig. Zu dürf­tig.«

»Und sonst?«

Der Kom­missar zuck­te die Ach­seln. »We­nig. Nichts«, sag­te er. »Wir kön­nen viel­leicht noch mit ziem­li­cher Si­cher­heit an­neh­men, dass der Kar­tenab­le­ger kei­nen fes­ten Be­ruf hat, denn die Kar­ten sind ei­gent­lich zu al­len Ta­ges­zei­ten auf­ge­fun­den wor­den, zwi­schen mor­gens acht und abends neun Uhr. Und bei der Be­lebt­heit der Trep­pen­häu­ser, die mein Kla­bau­ter­mann be­nutzt, ist wohl an­zu­neh­men, dass jede Kar­te ziem­lich rasch nach ih­rem Ab­le­gen ge­fun­den ist. Sonst? Ein Hand­ar­bei­ter, der we­nig ge­schrie­ben hat in sei­nem Le­ben, aber nicht mit schlech­ter Schul­bil­dung, macht kaum je einen Schreib­feh­ler, drückt sich nicht un­ge­wandt aus …«

 

Esche­rich schwieg, bei­de schwie­gen sie ziem­lich lan­ge, wo­bei sie ge­dan­ken­los auf die Kar­te mit den ro­ten Fähn­chen starr­ten.

Dann sag­te der Ober­grup­pen­füh­rer Prall: »Eine har­te Nuss, Esche­rich. Hart für uns bei­de.«

Der Kom­missar mein­te trös­tend: »Es gibt kei­ne Nuss, die so hart ist – ein Nuss­knacker schafft sie doch!«

»Man­cher klemmt sich auch die Fin­ger da­bei, Esche­rich!«

»Nur Ge­duld, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, bloß ein biss­chen Ge­duld!«

»Wenn die an­de­ren oben sie bloß ha­ben, an mir lieg­t’s nicht, Esche­rich. Na, mar­tern Sie Ihr Köpf­chen mal ein biss­chen, Esche­rich, viel­leicht fällt Ih­nen doch noch was Bes­se­res ein als die­se blö­de War­te­rei. Heil Hit­ler, Esche­rich!«

»Heil Hit­ler, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

Al­lein ge­blie­ben, stand der Kom­missar Esche­rich noch eine Wei­le vor der Kar­te, ge­dan­ken­voll den hel­len Schnurr­bart strei­chelnd. Es war ja nicht ganz so, wie er sei­nen Vor­ge­setz­ten hat­te glau­ben ma­chen wol­len. In die­sem Fal­le war er nicht nur der ab­ge­brüh­te Kri­mi­na­list, den nichts mehr auf­re­gen kann. Son­dern er hat­te In­ter­es­se ge­fun­den an die­sem stum­men, ihm lei­der noch gänz­lich un­be­kann­ten Kar­ten­schrei­ber, der sich da so scho­nungs­los und doch so vor­sich­tig, so klug be­rech­nend in einen fast aus­sichts­lo­sen Kampf ge­stürzt hat­te. Die­ser Fall Kla­bau­ter­mann war zu­erst nur ei­ner von vie­len ge­we­sen. Dann hat­te er ihn warm ge­macht. Er muss­te die­sen Mann fin­den, der da mit ihm un­ter den zehn­tau­send Dä­chern von Ber­lin saß, er muss­te ihn von An­ge­sicht zu An­ge­sicht se­hen, ihn, der dem Kom­missar all­wö­chent­lich mit der Re­gel­mä­ßig­keit ei­ner Ma­schi­ne zwei, drei Post­kar­ten am Mon­tag­abend, spä­tes­tens am Diens­tag­vor­mit­tag auf den Schreib­tisch sand­te.

Esche­rich war längst weit ent­fernt von je­ner Ge­duld, die er dem Ober­grup­pen­füh­rer eben noch so sehr emp­foh­len hat­te. Esche­rich jag­te – die­ser alte Kri­mi­na­list war ein ech­ter Jä­ger. Das steck­te ihm im Blut. Er hetz­te Men­schen, wie an­de­re Jä­ger Schwei­ne het­zen. Dass die Schwei­ne und die Men­schen am Schluss der Jagd ster­ben muss­ten, das rühr­te ihn nicht. Es war dem Schwein be­stimmt, auf die­se Art zu ster­ben, wie es auch den Men­schen, die sol­che Kar­ten schrie­ben, be­stimmt war. Er hat­te sich längst den Kopf zer­mar­tert, wie er schnel­ler an den Kla­bau­ter­mann her­an­kom­men könn­te – so was brauch­te ihm der Ober­grup­pen­füh­rer Prall nicht erst zu emp­feh­len. Aber er fand kei­nen Weg, denn es gab hier nur Ge­duld. Man konn­te nicht we­gen ei­ner solch un­be­deu­ten­den Sa­che den gan­zen Po­li­zei­ap­pa­rat in Be­we­gung set­zen, jede Woh­nung in Ber­lin durch­su­chen las­sen – ganz ab­ge­se­hen da­von, dass er nicht sol­che Beun­ru­hi­gung in die Stadt tra­gen durf­te. Er muss­te im­mer wei­ter Ge­duld ha­ben …

Und wenn man ge­nug Ge­duld ge­habt hat­te, da ge­sch­ah es dann plötz­lich: fast im­mer ge­sch­ah et­was. Der Ver­bre­cher be­ging einen Feh­ler, oder der Zu­fall spiel­te ihm einen Streich. Auf ei­nes von die­sen bei­den muss­te man war­ten, auf den Zu­fall oder auf den Feh­ler. Ei­nes ge­sch­ah im­mer oder fast im­mer. Esche­rich hoff­te, dass es in die­sem Fal­le kein »fast im­mer« ge­ben wür­de. Er war in­ter­es­siert, oh, er war stark in­ter­es­siert. Im Grun­de war es ihm ganz egal, ob er hier ei­nem Ver­bre­cher das Hand­werk leg­te oder nicht. Esche­rich, es ist schon ge­sagt wor­den, Esche­rich jag­te. Nicht um des Bra­tens wil­len, son­dern weil das Ja­gen eine Lust ist. Er wuss­te, im glei­chen Au­gen­blick, wo das Wild zur Stre­cke ge­bracht, der Ver­bre­cher ge­fan­gen und ihm sei­ne Ver­bre­chen hin­rei­chend be­wie­sen wa­ren – in dem glei­chen Mo­ment wür­de Esche­richs In­ter­es­se an die­sem Fal­le auf­hö­ren. Das Wild war er­legt, der Mann saß in Un­ter­su­chungs­haft – die Jagd war zu Ende. Auf ein Neu­es!

Esche­rich hat den farb­lo­sen Blick von der Kar­te ge­wen­det. Er sitzt jetzt an sei­nem Schreib­tisch und isst lang­sam und ge­dan­ken­voll sei­ne Früh­stücks­stul­len. Als das Te­le­fon klin­gelt, greift er nur zö­gernd da­nach. Noch ganz gleich­gül­tig hört er die Mel­dung: »Hier Po­li­zei­re­vier Frank­fur­ter Al­lee. Kom­missar Esche­rich?«

»Am Ap­pa­rat.«

»Sie be­ar­bei­ten den Fall: Kar­te Un­be­kannt?«

»Ja. Was gib­t’s? Schnell ein biss­chen!«

»Wir ha­ben mit ziem­li­cher Si­cher­heit den Kar­ten­ver­tei­ler ge­fasst.«

»Bei der Ver­tei­lung?«

»Na­he­zu. Er leug­net na­tür­lich.«

»Wo ha­ben Sie ihn?«

»Noch bei uns auf dem Re­vier.«

»Be­hal­ten Sie ihn dort, ich bin mit mei­nem Wa­gen in zehn Mi­nu­ten bei Ih­nen. Und: nicht wei­ter ver­neh­men! Den Mann in Ruhe las­sen! Ich will mit ihm sel­ber spre­chen. Ver­stan­den?«

»Zu Be­fehl, Herr Kom­missar!«

»Ich kom­me dann!«

Ei­nen Au­gen­blick stand Kom­missar Esche­rich fast reg­los über dem Te­le­fon. Der Zu­fall – der gnä­di­ge, gute Zu­fall! Er hat­te es ja ge­wusst, nur Ge­duld muss­te man ha­ben!

Er ging rasch zur ers­ten Ver­neh­mung des Kar­ten­ver­tei­lers.

23. Ein halbes Jahr danach: Enno Kluge

Ein hal­b­es Jahr da­nach saß der Fein­me­cha­ni­ker Enno Klu­ge un­ge­dul­dig war­tend im Vor­zim­mer ei­nes Arz­tes. Er saß dort mit noch an­de­ren drei­ßig oder vier­zig War­ten­den. Eine stets ge­reiz­te Sprech­stun­den­hil­fe rief eben die Num­mer 18 aus, Enno aber hat­te die Num­mer 29. Er wür­de noch über eine Stun­de sit­zen müs­sen, und in der Knei­pe »Fer­ner lie­fen« war­te­te man schon auf ihn.

Enno Klu­ge konn­te es nicht län­ger beim Sit­zen aus­hal­ten. Er wuss­te gut, er durf­te nicht eher ge­hen, bis der Arzt da vorn ihn krank­ge­schrie­ben hat­te, sonst gab es Stunk in der Fa­brik. Aber ei­gent­lich konn­te er gar nicht län­ger war­ten, sonst war es zu spät, noch sei­ne Renn­wet­ten ab­zu­schlie­ßen.

Enno will im War­te­zim­mer auf und ab ge­hen. Aber da­für ist es viel zu voll, er wird an­ge­schnauzt. So zieht er sich auf den Flur zu­rück, und als ihn die Sprech­stun­den­hil­fe dort ent­deckt und sehr ge­reizt auf­for­dert, ins War­te­zim­mer zu­rück­zu­ge­hen, fragt er sie nach der Toi­let­te.

Sie zeigt sie ihm wi­der­spens­tig ge­nug, und sie will auch ab­war­ten, bis der Mann wie­der her­aus­kommt. Aber dann geht die Flur­klin­gel ein paar­mal kurz nach­ein­an­der, und sie muss den 43., den 44., den 45. Pa­ti­en­ten emp­fan­gen, sie hat Per­so­na­li­en auf­zu­neh­men, Kar­to­thek­kar­ten aus­zu­fül­len, Kran­ken­schei­ne zu stem­peln.

So geht das vom frü­hen Mor­gen bis in die spä­te Nacht. Sie ist halb tot, der Arzt ist halb tot, und nie ver­lässt sie mehr die­ser un­se­li­ge Zu­stand dau­ern­der Ge­reizt­heit, in dem sie nun schon Wo­chen und Wo­chen ist. In die­sem Zu­stand hat sie einen wah­ren Hass auf die­sen im­mer wei­ter flie­ßen­den Strom von Pa­ti­en­ten ge­wor­fen, die sie nie mehr zur Ruhe kom­men las­sen, die schon mor­gens um acht Uhr, wenn sie kommt, ge­dul­dig an der Tür ste­hen und die noch abends um zehn im War­te­zim­mer her­um­ho­cken, es mit ih­ren üb­len Gerü­chen er­fül­lend: al­les Drücke­ber­ger von der Ar­beit, Drücke­ber­ger von der Front, Men­schen, die sich auf eine ärzt­li­che Be­schei­ni­gung mehr Le­bens­mit­tel, bes­se­re Le­bens­mit­tel er­schlei­chen wol­len. Al­les Leu­te, die sich von ih­ren Pf­lich­ten drücken wol­len, sie aber kann das nicht. Sie muss hier aus­hal­ten, darf nicht krank sein (was fin­ge denn der Dok­tor ohne sie an?), sie muss noch freund­lich sein zu die­sen Heuch­lern, die al­les schmut­zig ma­chen, voll­schlei­men, voll­kot­zen! Auf der Toi­let­te liegt im­mer al­les voll Zi­ga­ret­ten­asche.

Da­bei fällt ihr der klei­ne Schlei­cher ein, dem sie vor­hin die Toi­let­te hat zei­gen müs­sen. Si­cher sitzt der noch im­mer da und qualmt Zi­ga­ret­ten. Sie springt auf, rennt hin­aus, rüt­telt an der Tür.

»Be­setzt!«, ruft es von drin­nen.

»Wol­len Sie wohl ma­chen, dass Sie da run­ter­kom­men!«, fängt sie zor­nig zu schel­ten an. »Den­ken Sie, Sie kön­nen da Stun­den und Stun­den sit­zen? An­de­re Leu­te möch­ten auch die Toi­let­te be­nut­zen!«

Sie wirft dem an ihr vor­bei­schlei­chen­den Klu­ge zor­nig die Wor­te nach: »Na­tür­lich al­les wie­der voll­ge­qualmt! Ich wer­de dem Herrn Dok­tor er­zäh­len, wie krank Sie sind! Sie sol­len mal was er­le­ben!«

Ent­mu­tigt lehnt Enno Klu­ge im Sprech­zim­mer ge­gen die Wand – sein Stuhl ist un­ter­des auch be­setzt wor­den. Der Arzt ist in­zwi­schen bis Num­mer 22 ge­kom­men. Wahr­schein­lich ganz sinn­los, hier noch wei­ter zu war­ten. Das Biest da drau­ßen ist im­stan­de, den Arzt auf­zu­het­zen, dass er ihn wirk­lich nicht krank­schreibt. Und was dann? Dann funkt es drau­ßen in der Fa­brik! Er fehlt nun schon mal wie­der den vier­ten Tag; die sind im­stan­de und schi­cken ihn wirk­lich noch in eine Straf­kom­pa­nie oder in ein KZ – im­stan­de sind die Brü­der dazu! Ja, er muss heu­te noch einen Kran­ken­schein krie­gen, und es ist am schlaues­ten, er war­tet hier wei­ter, da er nun schon so lan­ge ge­war­tet hat. Bei ei­nem an­de­ren Arzt ist es eben­so voll, er muss bis in die Nacht sit­zen, und von die­sem hier hat er we­nigs­tens ge­hört, dass er leicht krank­schreibt. Wird er heu­te eben mal nicht auf Pfer­de wet­ten, muss es eben heu­te mal ohne den Enno ge­hen, hilft nichts …

Er lehnt hüs­telnd ge­gen die Wand, ein schwäch­li­ches Et­was. Bes­ser ein Gar­nichts. Von je­ner Abrei­bung durch den SS-Mann Per­si­cke hat er sich nie ganz er­ho­len kön­nen. Ja­wohl, mit der Ar­beit war es nach ein paar Ta­gen bes­ser ge­wor­den, ob­wohl sei­ne Hän­de nicht wie­der die alte Ge­schick­lich­keit er­lang­ten. Es reich­te jetzt gra­de zu ei­nem Durch­schnitts­ar­bei­ter. Nie wie­der wür­de er die alte Hand­fer­tig­keit er­lan­gen, ein an­ge­se­he­ner Mann in sei­nem Fach wer­den.

Vi­el­leicht war es das, was ihm die Ar­beit so gleich­gül­tig mach­te, viel­leicht lag es aber auch dar­an, dass er auf die Län­ge über­haupt nicht ger­ne mehr ar­bei­te­te. Er sah den Sinn und den Zweck der Ar­beit nicht so recht ein. Wozu ei­gent­lich sich so an­stren­gen, wenn man auch ohne Ar­beit aus­rei­chend le­ben konn­te! Etwa für den Krieg? Die soll­ten ih­ren Scheiß­krieg gut und ger­ne al­lei­ne füh­ren, ihn in­ter­es­sier­te der nicht. Vi­el­leicht schick­ten die mal ihre gan­zen fet­ten Bon­zen an die Front, dann wür­de der Krieg schnell alle sein!

Nein, es war aber auch nicht die Fra­ge nach dem Sinn sei­ner Ar­beit, die ihm alle Tä­tig­keit ver­hasst mach­te. Es war der Um­stand, dass Enno zur­zeit ohne Ar­beit le­ben konn­te. Ja, er war schwach ge­we­sen, er ge­stand es sich jetzt ein, er war wie­der zu den Wei­bern ge­gan­gen, erst zu Tut­ti, dann zu Lot­te, und die wa­ren auch ganz be­reit ge­we­sen, die­sen klei­nen, an­schmieg­sa­men Mann eine Wei­le durch­zu­schlep­pen. Und so­bald man sich mit den Wei­bern ein­ließ, war es mit je­der ge­re­gel­ten Ar­beit aus. Schon mor­gens schimpf­ten sie, wenn er um sechs Uhr sei­nen Kaf­fee und das Früh­stück ver­lang­te, was das wohl hei­ßen soll­te? Um die­se Zeit schlief je­der Mensch, und ob er es denn nö­tig habe? Er sol­le doch ru­hig wie­der ins war­me Bett krie­chen!

Nun, ein- oder zwei­mal be­stand man ein sol­ches Ge­fecht sieg­reich, aber, wenn man ein Enno Klu­ge war, kein drit­tes Mal. Man gab nach, kroch zu der Frau in die Bet­ten und schlief noch ein oder zwei oder so­gar noch drei Stun­den.

War es so spät, ging er über­haupt nicht mehr in die Fa­brik, son­dern mach­te den Tag blau. Oder war es noch frü­her, kam man eben ein biss­chen zu spät zur Ar­beit, mit ir­gend­ei­ner lah­men Ent­schul­di­gung, wur­de an­ge­schnauzt (aber das war man ja schon lan­ge ge­wohnt, da hör­te man gar nicht mehr hin), tat ein paar Stun­den was und ging heim, wie­der vom Ge­schimp­fe emp­fan­gen: Wozu man denn einen Mann im Haus hiel­te, wenn er den gan­zen Tag fort war? We­gen der paar Mark! Die wä­ren ge­wiss leich­ter zu ver­die­nen! Nein, wenn es Ar­beit sein muss­te, wäre er bes­ser in sei­nem en­gen Ho­tel­zim­mer­chen ge­blie­ben, Wei­ber und Ar­beit, das ließ sich nicht ver­ei­ni­gen. Bei ei­ner ja, bei der Eva – und na­tür­lich hat­te Enno Klu­ge auch wie­der einen Ver­such ge­macht, bei sei­ner Frau, der Brief­be­stel­le­rin, un­ter­zu­krie­chen. Aber da er­fuhr er von der Frau Gesch, dass die Eva ver­reist war. Die Gesch hat­te einen Brief von ihr ge­kriegt, sie saß ir­gend­wo im Rup­pin­schen bei Ver­wand­ten. Ja­wohl, sie, die Gesch, hat­te jetzt die Schlüs­sel zu der Woh­nung, aber sie dach­te nicht dar­an, sie dem Enno Klu­ge aus­zu­hän­di­gen. Wer schick­te re­gel­mä­ßig die Mie­te: er oder sei­ne Frau? Nun also, ge­hör­te die Woh­nung doch ihr, nicht ihm! Sie hat­te sich sei­net­we­gen schon ge­nug Un­ge­le­gen­hei­ten ge­macht, sie dach­te gar nicht dar­an, ihm die Woh­nung frei­zu­ge­ben.

 

Üb­ri­gens, wenn er durch­aus was für sei­ne Frau tun wol­le, so soll­te er doch mal auf die Post ge­hen. Die hat­ten schon ein paar­mal nach Frau Klu­ge ge­schickt, und vor kur­z­em war auch eine Vor­la­dung vor ir­gend­ein Par­t­ei­ge­richt ge­kom­men; die Gesch hat­te sie ein­fach mit dem Ver­merk »Emp­fän­ger un­be­kannt ver­reist« zu­rück­ge­hen las­sen. Aber das auf der Post soll­te er ru­hig mal re­geln. Sei­ne Frau hat­te da si­cher noch An­sprü­che.

Das mit den An­sprü­chen hat­te ihn ge­zwickt; schließ­lich konn­te er sich als recht­li­cher Ehe­mann aus­wei­sen, Evas An­sprü­che wa­ren auch sei­ne An­sprü­che. Aber der Weg er­wies sich als ein Fehl­weg; auf der Post nah­men sie ihn mäch­tig in die Zan­ge. Die Eva muss­te ir­gend­was mit der Par­tei an­ge­stellt ha­ben, die wa­ren wü­tend auf sie! Er hat­te es gar nicht mehr ei­lig, sich als recht­li­cher Ehe­mann Evas aus­zu­wei­sen – im Ge­gen­teil, er gab sich die größ­te Mühe, nach­zu­wei­sen, dass er schon län­ger von der Eva ge­trennt leb­te und kei­ne Ah­nung von ih­rem Tun und Las­sen hat­te.

Schließ­lich lie­ßen sie ihn lau­fen. Was war aus sol­chem klei­nen Männ­chen auch her­aus­zu­ho­len, das im­mer be­reit war, gleich los­zu­heu­len, und das bei je­dem An­pfiff zu zit­tern an­fing? Also, er konn­te ge­hen, er soll­te ma­chen, dass er fort­kam, und wenn er sei­ne Frau doch mal wie­der­sah, so soll­te er sie so­fort hier­her aufs Amt schi­cken. Oder bes­ser noch: Er sol­le de­nen einen Wink ge­ben, wo sie wohn­te, das Wei­te­re wür­den sie von hier aus er­le­di­gen.

Auf sei­nem Heim­weg zur Lot­te grins­te Enno Klu­ge wie­der. Also die tüch­ti­ge Eva saß auch in der Klem­me, war ins Rup­pin­sche zu ih­ren Ver­wand­ten aus­ge­ris­sen und wag­te nicht mehr, sich in Ber­lin se­hen zu las­sen! So dumm war Enno na­tür­lich nicht ge­we­sen, den Post­leu­ten zu ver­ra­ten, wo­hin die Eva ge­reist war; so schlau wie die Gesch war er auch. Es blie­be ein letz­ter Aus­weg; wenn es hier in Ber­lin für ihn mal ganz schief­ge­hen soll­te, so konn­te er im­mer noch bei der Eva auf­tau­chen, viel­leicht nahm sie ihn doch auf. Sie wür­de sich auch vor den Ver­wand­ten ge­nie­ren, all­zu scharf ge­gen ihn auf­zu­tre­ten. Eva gab noch was auf An­se­hen und gu­ten Ruf. Und schließ­lich hat­te er sie ja durch Kar­le­manns Hel­den­ta­ten in der Schrau­be; sie wür­de es nie lei­den, dass er da­von ih­ren Ver­wand­ten er­zähl­te, lie­ber noch nahm sie ihn in Kauf.

Ein letz­ter Aus­weg, wenn wirk­lich al­les schief­ging. Vor­läu­fig hat­te er noch sei­ne Lot­te. Sie war wirk­lich ganz nett, bis auf die Schnau­ze, die sie nicht eine Se­kun­de hal­ten konn­te, und bis auf ihre ver­damm­te An­ge­wohn­heit, ewig Män­ner auf die Bude zu brin­gen. Er muss­te dann die hal­be, manch­mal so­gar die gan­ze Nacht in der Kü­che hocken – und am nächs­ten Tag war es wie­der nichts mit der Ar­beit.

Es war nie mehr ganz das Rech­te mit der Ar­beit, und es wür­de auch nie mehr rich­tig wer­den, das wuss­te er. Aber viel­leicht ging die­ser Krieg schnel­ler zu Ende, als man jetzt dach­te, und es ge­lang ihm doch noch, die so lan­ge hin­zu­hal­ten. So war er wie­der ganz all­mäh­lich ins Bum­meln und ins Blau­ma­chen ge­kom­men. Der Meis­ter krieg­te schon einen wut­ro­ten Kopf, wenn er ihn nur sah. Dann hat­te es einen zwei­ten An­pfiff von der Lei­tung ge­ge­ben, aber die­ses Mal hat­te er nicht lan­ge vor­ge­hal­ten. Enno Klu­ge sah doch auch, was hier ge­spielt wur­de, die brauch­ten je­den Tag Ar­bei­ter, so leicht war­fen die ihn nicht raus!

Dann wa­ren ganz rasch drei Bum­mel­ta­ge hin­ter­ein­an­der ge­kom­men. Er hat­te da so eine rei­zen­de Wit­we ken­nen­ge­lernt, nicht mehr ganz jung, ein biss­chen sehr aus dem Leim ge­gan­gen, aber ent­schie­den et­was Bes­se­res als sei­ne bis­he­ri­gen Wei­ber. Hat­te sie doch ein gut­ge­hen­des Tier­ge­schäft in der Nähe des Kö­nigs­tors! Sie han­del­te mit Vö­geln und Fi­schen und Hun­den, sie hat­te Fut­ter und Hals­bän­der und Sand und Hun­de­ku­chen und Mehl­wür­mer. Es gab Schild­krö­ten bei ihr, Laub­frösche, Sala­man­der, Kat­zen … Ein Ge­schäft, das wirk­lich was trug, und sie war eine tüch­ti­ge Frau, eine rich­ti­ge Ge­schäfts­frau.

Er hat­te sich ihr ge­gen­über als Wit­wer aus­ge­ge­ben, er hat­te sie auch glau­ben ge­macht, Enno sei sein Nach­na­me, sie nann­te ihn Häns­chen. Be­stimmt, er hat­te Chan­cen bei der Frau, das hat­te er wäh­rend der drei Bum­mel­ta­ge, die er ihr im Ge­schäft half, gut ge­se­hen. So ein Männ­lein, das nach ei­nem biss­chen Zärt­lich­keit ver­lang­te, war ihr gra­de recht. Sie war in den Jah­ren, da ei­ner Frau angst wird, ob sie für ihre al­ten Tage noch einen Mann ab­kriegt. Na­tür­lich wür­de sie ihn hei­ra­ten wol­len, aber das Ding konn­te er auch schon ir­gend­wie hin­dre­hen, dass es pass­te. Schließ­lich gab es jetzt Kriegs­trau­un­gen, wo die Un­ter­la­gen so ge­nau nicht ge­prüft wur­den, und we­gen der Eva brauch­te er kei­ne Be­den­ken zu ha­ben. Die wür­de froh sein, ihn für im­mer los­zu­wer­den, die wür­de den Mund schon hal­ten!

Da war plötz­lich bren­nend in ihm der Wunsch auf­ge­taucht, sich erst ein­mal ganz von der Fa­brik frei zu ma­chen. Er muss­te ja so­wie­so krank spie­len, jetzt, da er schon drei Tage ohne Ent­schul­di­gung ge­fehlt hat­te. Da woll­te er auch rich­tig krank sein! Und wäh­rend die­ser Krank­heit wür­de er die Sa­che mit der Wit­we Hete Hä­ber­le schon rich­tig zum Klap­pen brin­gen. Jetzt ekel­te es ihn bei der Lot­te; er konn­te die­se Wirt­schaft nicht län­ger er­tra­gen, ihr Ge­quas­sel nicht, ihre Män­ner nicht und am we­nigs­ten ihre Zärt­lich­keit, wenn sie an­ge­trun­ken war. Nein, in drei, vier Wo­chen woll­te er ver­hei­ra­tet sein und eine or­dent­li­che Wirt­schaft ha­ben! Dazu muss­te ihm der Arzt ver­hel­fen.

Erst Num­mer 24, es dau­ert im­mer noch eine hal­be Stun­de, bis Enno dran­kommt. Ganz me­cha­nisch steigt er über all die Füße weg und steht wie­der auf dem Flur. Trotz der bis­si­gen Sprech­stun­den­hil­fe wird er noch eine Zi­ga­ret­te auf dem Klo sto­ßen. Er hat Glück, er ge­langt un­ge­se­hen auf die Toi­let­te, aber kaum hat er die ers­ten paar Züge ge­macht, so rüt­telt die­ses Weibs­bild doch wie­der an der Tür.

»Sie sind ja schon wie­der auf der Toi­let­te! Sie rau­chen ja schon wie­der!«, schreit sie. »Ich weiß ge­nau, dass Sie es sind! Wol­len Sie wohl ma­chen, dass Sie raus­kom­men, oder muss ich erst den Herrn Dok­tor ho­len?«

Wie sie schreit, wie ekel­haft sie schreit! Da gibt er lie­ber gleich nach, wie er stets lie­ber nach­gibt als wi­der­steht. Er lässt sich von ihr in den War­te­raum ja­gen, er sagt nicht ein Wort zu sei­ner Ent­schul­di­gung. Und da lehnt er nun wie­der ge­gen die Wand und war­tet, dass sei­ne Num­mer dran­kommt. Die wird ihn schön beim Arzt ver­kla­gen, die­se ver­damm­te Kreuzot­ter, die!