Hans Fallada – Gesammelte Werke

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19. Die erste Karte wird abgelegt

Sie wagt es erst auf der Stra­ße, ihm da­von zu spre­chen, so wort­karg war Otto an die­sem Vor­mit­tag. »Wo willst du die Kar­te hin­brin­gen, Otto?«

Er ant­wor­tet mür­risch: »Sprich jetzt nicht da­von. Nicht jetzt auf der Stra­ße.«

Und dann setzt er doch noch wi­der­wil­lig hin­zu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifs­wal­der Stra­ße aus­ge­sucht.«

»Nein«, sagt sie ent­schie­den. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«

»Komm!«, sagt er böse, denn sie ist ste­hen ge­blie­ben. »Ich sage dir doch, nicht hier auf der Stra­ße!«

Er geht wei­ter, sie folgt ihm und be­steht auf ih­rem Recht mit­zu­spre­chen. »Nicht so in der Nähe un­se­rer Woh­nung«, be­tont sie. »Wenn die­se Sa­che de­nen in die Hän­de fällt, ha­ben sie gleich einen Fin­ger­zeig über die Ge­gend. Lass uns bis zum Alex run­ter­ge­hen …«

Er denkt nach, er über­legt. Vi­el­leicht, nein, si­cher hat sie recht. Man muss mit al­lem rech­nen. Und doch, die­ses plötz­li­che Umän­dern sei­ner Plä­ne passt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex lau­fen, wird die Zeit sehr knapp, und er muss doch zum Ar­beits­be­ginn zu­recht­kom­men. Auch weiß er kein pas­sen­des Haus am Alex. Si­cher gibt es dort vie­le, aber man muss das rich­ti­ge erst su­chen, und das tut er lie­ber al­lein als mit der Frau, die ihn da­bei stört.

Dann, ganz plötz­lich, ent­schließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Ge­hen wir zum Alex.«

Sie sieht ihn dank­bar von der Sei­te an. Sie ist glück­lich, dass er auch ein­mal einen Rat­schlag von ihr an­ge­nom­men hat. Und weil er sie eben gra­de so glück­lich ge­macht hat, will sie ihn nicht noch um das an­de­re bit­ten, dass sie mit ins Haus ge­hen darf. Nun gut, soll er al­lein ge­hen. Sie wird wäh­rend des War­tens auf sei­ne Rück­kehr ein biss­chen ängst­lich sein – aber warum ei­gent­lich? Sie zwei­felt nicht einen Au­gen­blick dar­an, dass er zu­rück­kom­men wird. Er ist so ru­hig und so kalt, er lässt sich nicht über­rum­peln. Noch in de­ren Hän­den wür­de er sich nicht ver­ra­ten, er wür­de sich frei­kämp­fen.

Wäh­rend sie so über­le­gend ne­ben dem schweig­sa­men Man­ne ein­her­geht, sind sie von der Greifs­wal­der in die Neue Kö­nigs­tra­ße hin­ein­ge­kom­men. Sie ist so be­schäf­tigt ge­we­sen mit ih­ren Ge­dan­ken, dass sie nicht dar­auf ge­ach­tet hat, wie wach­sam Otto Quan­gels Au­gen an den Häu­sern ent­langstri­chen. Nun bleibt er plötz­lich ste­hen – sie ha­ben noch ein gu­tes Stück bis zum Alex­an­der­platz – und sagt: »Da, sieh dir da das Schau­fens­ter an, ich bin gleich zu­rück.«

Schon geht er über die Fahr­bahn auf ein großes, hel­les Bü­ro­haus zu.

Ihr Herz fängt stark an zu klop­fen. Sie möch­te ihm zu­ru­fen: Nein, nicht, wir ha­ben Alex aus­ge­macht! Lass uns so lan­ge noch zu­sam­men­blei­ben! Und: Sage mir we­nigs­tens Le­be­wohl! Aber die Tür dort schlug schon hin­ter ihm zu.

Mit ei­nem schwe­ren Seuf­zer wen­det sie sich dem Schau­fens­ter zu. Aber sie sieht nichts von dem Aus­ge­stell­ten. Sie lehnt die Stirn ge­gen die kal­te Schei­be, vor ih­ren Au­gen flirrt und flim­mert es. Ihr Herz klopft so sehr, dass sie kaum at­men kann, al­les Blut scheint ihr in den Kopf zu tre­ten.

Also habe ich doch Angst, denkt sie. Um Got­tes wil­len, er darf das nie mer­ken, dass ich Angst habe! Sonst nimmt er mich nie wie­der mit. Aber ich habe auch kei­ne rich­ti­ge Angst, über­legt sie wei­ter. Ich habe kei­ne Angst um mich. Ich habe um ihn Angst. Wenn er nun nicht wie­der­kommt!

Sie kann es nicht las­sen, sie muss sich nach dem Bü­ro­haus um­dre­hen. Die Tür wird auf­ge­sto­ßen, Men­schen kom­men, Men­schen ge­hen; warum kommt Quan­gel nicht? Er muss fünf, nein, zehn Mi­nu­ten fort sein. Wa­rum rennt der Mann, der eben aus dem Haus kam, so? Soll er viel­leicht die Po­li­zei ru­fen? Ha­ben sie Quan­gel gleich beim ers­ten Male ge­fasst?

Oh, ich hal­te das nicht aus! Was hat er sich vor­ge­nom­men?! Und ich dach­te, es wäre et­was Klei­nes! Jede Wo­che ein­mal, und wenn er erst zwei Kar­ten schreibt, jede Wo­che zwei­mal in Le­bens­ge­fahr! Und er wird mich nicht im­mer mit­neh­men wol­len! Ich habe das heu­te früh schon ge­merkt, ei­gent­lich war ihm mein Mit­kom­men nicht recht. Er wird al­lein ge­hen, al­lein wird er die Kar­ten fort­brin­gen, und von da wird er zur Fa­brik ge­hen (oder er wird auch nie wie­der zur Fa­brik ge­hen!), und ich wer­de zu Hau­se sit­zen, sit­zen und mit Angst auf ihn war­ten. Ich füh­le, die­se Angst wird nie auf­hö­ren, dar­an wer­de ich mich nie ge­wöh­nen. Da kommt Otto! End­lich! Nein, er ist es nicht. Er ist es wie­der nicht! Jetzt gehe ich ihm nach, er kann noch so böse wer­den! Es ist be­stimmt et­was pas­siert, er muss schon eine Vier­tel­stun­de fort sein, so lan­ge kann das nie und nim­mer dau­ern! Jetzt su­che ich ihn!

Sie macht drei Schrit­te auf das Haus zu – und kehrt wie­der um. Stellt sich vor das Schau­fens­ter, starrt hin­ein.

Nein, ich wer­de ihm nicht nach­ge­hen, ich wer­de ihn nicht su­chen. Nicht schon gleich beim ers­ten Male kann ich so ver­sa­gen. Ich bil­de mir ja nur ein, dass was ge­sche­hen ist; sie ge­hen in dem Haus ein und aus wie im­mer. Si­cher ist Otto auch noch kei­ne Vier­tel­stun­de fort. Ich will jetzt se­hen, was in die­sem Schau­fens­ter ist. Büs­ten­hal­ter, Gür­tel …

Un­ter­des war Quan­gel in das Bü­ro­haus ein­ge­tre­ten. Er hat­te sich nur dar­um so rasch dazu ent­schlos­sen, weil die Frau an sei­ner Sei­te war. Sie mach­te ihn un­ru­hig, je­den Au­gen­blick konn­te sie wie­der »da­von« zu re­den an­fan­gen. In ih­rer Ge­gen­wart moch­te er nicht lan­ge su­chen. Sie wür­de si­cher wie­der da­von zu re­den an­fan­gen, die­ses Haus vor­schla­gen, je­nes ab­leh­nen. Nein, nichts mehr da­von! Da ging er lie­ber in das ers­te Bes­te hin­ein, wenn es auch das ers­te Schlech­tes­te war.

Es war das ers­te Schlech­tes­te. Es war ein hel­les, mo­der­nes Bü­ro­haus, mit vie­len Fir­men wohl, aber auch mit ei­nem Por­tier in grau­er Uni­form. Quan­gel geht, ihn gleich­gül­tig an­se­hend, an ihm vor­über. Er ist dar­auf ge­fasst, nach dem Wo­hin ge­fragt zu wer­den, er hat sich ge­merkt, dass Rechts­an­walt Toll im vier­ten Stock sein Büro hat. Aber der Por­tier fragt ihn nichts, er re­det mit ei­nem Herrn. Er streift den Vor­über­ge­hen­den nur mit ei­nem flüch­ti­gen, gleich­gül­ti­gen Blick. Quan­gel wen­det sich nach links, schickt sich an, die Trep­pe hoch­zu­stei­gen, da hört er einen Fahr­stuhl sur­ren. Sie­he da, da­mit hat er auch nicht ge­rech­net, dass es in ei­nem sol­chen mo­der­nen Haus Fahr­stüh­le gibt, so­dass die Trep­pen kaum be­nutzt wer­den.

Aber Quan­gel steigt wei­ter die Trep­pe hoch. Der Jun­ge im Lift wird den­ken: Das ist ein al­ter Mann, er miss­traut ei­nem Fahr­stuhl. Oder er wird den­ken, er will nur in den ers­ten Stock. Oder er wird über­haupt nichts den­ken. Je­den­falls sind die­se Trep­pen kaum be­nutzt. Er ist schon auf der zwei­ten, und bis­her ist ihm nur ein Bü­ro­jun­ge be­geg­net, der ei­lig, ein Pa­ket Brie­fe in der Hand, die Trep­pen hin­ab­stürz­te. Er sah Quan­gel gar nicht an. Der könn­te sei­ne Kar­te hier über­all ab­le­gen, aber er ver­gisst nicht einen Au­gen­blick, dass die­ser Fahr­stuhl da ist, durch des­sen blin­ken­de Schei­ben er je­der­zeit be­ob­ach­tet wer­den kann. Er muss noch hö­her, und der Fahr­stuhl muss gra­de in die Tie­fe ver­sun­ken sein, dann wird er es tun.

Er bleibt an ei­nem der ho­hen Fens­ter zwi­schen zwei Stock­wer­ken ste­hen und starrt auf die Stra­ße hin­un­ter. Da­bei zieht er, gut ge­gen Sicht ge­deckt, den einen Hand­schuh aus der Ta­sche und streift ihn über sei­ne Rech­te. Er steckt die­se Rech­te wie­der in die Ta­sche, vor­sich­tig glei­tet sie an der dort be­reit­lie­gen­den Kar­te vor­bei, vor­sich­tig, um sie nicht zu zer­knit­tern. Er fasst sie mit zwei Fin­gern …

Wäh­rend Otto Quan­gel all das tut, hat er längst ge­se­hen, dass Anna nicht auf ih­rem Platz am Schau­fens­ter, son­dern dass sie am Ran­de des Fahr­damms steht und höchst auf­fal­lend mit sehr blas­sem Ge­sicht nach dem Bü­ro­haus hin­über­sieht. So hoch, wie er steht, er­hebt sie den Blick nicht, sie mus­tert wohl die Tü­ren im Erd­ge­schoss. Er schüt­telt un­mu­tig den Kopf, fest ent­schlos­sen, die Frau nie wie­der auf einen sol­chen Weg mit­zu­neh­men. Na­tür­lich hat sie Angst um ihn. Aber warum hat sie Angst um ihn? Sie soll­te um sich selbst Angst ha­ben, so falsch wie sie sich be­nimmt. Sie erst bringt sie bei­de in Ge­fahr!

Er steigt wei­ter trepp­auf. Als er am nächs­ten Fens­ter vor­bei­kommt, schaut er noch ein­mal auf die Stra­ße, aber jetzt sieht Anna wie­der in das Schau­fens­ter hin­ein. Gut, sehr gut, sie hat ihre Angst un­ter­ge­kriegt. Sie ist eine mu­ti­ge Frau. Er wird gar nicht mit ihr dar­über spre­chen. Und plötz­lich nimmt Quan­gel die Kar­te, legt sie vor­sich­tig auf das Fens­ter­brett, reißt, schon im Ge­hen, den Hand­schuh von der Hand und steckt ihn in die Ta­sche.

Die ers­ten Stu­fen hin­ab­stei­gend, sieht er noch ein­mal zu­rück. Da liegt sie im hel­len Ta­ges­licht, von hier aus kann er noch se­hen, eine wie große, deut­li­che Schrift sei­ne ers­te Kar­te be­deckt! Je­der wird sie le­sen kön­nen! Und ver­ste­hen auch! Quan­gel lä­chelt grim­mig.

Zu­gleich hört er aber auch, dass eine Tür im Stock­werk über ihm geht. Der Fahr­stuhl ist vor ei­ner Mi­nu­te in die Tie­fe ge­sun­ken. Wenn es dem da oben, der gra­de ein Büro ver­las­sen hat, zu lang­wei­lig ist, auf das Wie­der­her­auf­kom­men des Fahr­stuhls zu war­ten, wenn er die Trep­pe hin­un­ter­steigt, die Kar­te fin­det: Quan­gel ist nur eine Trep­pe tiefer. Wenn der Mann läuft, kann er Quan­gel noch er­wi­schen, viel­leicht erst ganz un­ten, aber krie­gen kann er ihn, denn Quan­gel darf nicht lau­fen. Ein al­ter Mann, der wie ein Schul­jun­ge die Trep­pe hin­un­ter­läuft – nein, das fällt auf. Und er darf nicht auf­fal­len, nie­mand darf sich er­in­nern, einen Mann von dem und dem Aus­se­hen über­haupt in die­sem Hau­se ge­se­hen zu ha­ben.

 

Er geht aber im­mer­hin ziem­lich rasch die­se Stein­stu­fen hin­un­ter, und zwi­schen dem Geräusch, das sei­ne Schrit­te ma­chen, lauscht er nach oben, ob der Mann wohl wirk­lich die Trep­pe be­nutzt hat. Dann muss er ei­gent­lich die Kar­te ge­se­hen ha­ben, die ist gar nicht zu über­se­hen. Aber Quan­gel ist sei­ner Sa­che nicht si­cher. Ein­mal glaubt er, Schrit­te ge­hört zu ha­ben. Aber nun hört er schon lan­ge nichts mehr. Und jetzt ist er zu tief un­ten, um noch ir­gen­det­was zu hö­ren. Der Fahr­stuhl fährt lich­ter­glän­zend an ihm vor­bei in die Höhe.

Quan­gel tritt in den Aus­gang. Gra­de kommt ein großer Trupp Men­schen vom Hofe her, Ar­bei­ter aus ir­gend­ei­ner Fa­brik, Quan­gel schiebt sich un­ter sie. Dies­mal, ist er ganz si­cher, hat ihn der Por­tier über­haupt nicht an­ge­se­hen.

Er geht über den Fahr­damm und stellt sich ne­ben Anna.

»Er­le­digt!«, sagt er.

Und als er das Auf­leuch­ten ih­res Au­ges, das Nach­zit­tern ih­rer Lip­pen sieht, setzt er hin­zu: »Nie­mand hat mich ge­se­hen!« Und schließ­lich: »Komm, lass uns ge­hen. Es ist gra­de noch Zeit, dass ich zu Fuß in die Fa­brik kom­me.«

Sie ge­hen. Aber bei­de wer­fen im Ge­hen noch einen Blick auf die­ses Bü­ro­haus zu­rück, in dem nun die ers­te Kar­te Quan­gels ih­ren Weg in die Welt an­tritt. Sie ni­cken dem Haus ge­wis­ser­ma­ßen Ab­schied neh­mend zu. Es ist ein gu­tes Haus, und so vie­le Häu­ser sie auch in den nächs­ten Mo­na­ten und Jah­ren in der glei­chen Ab­sicht auf­su­chen wer­den – die­ses Haus wird von ih­nen nicht ver­ges­sen wer­den.

Anna Quan­gel möch­te ger­ne ein­mal rasch die Hand des Man­nes strei­cheln, aber sie wagt es nicht. So streift sie nur wie zu­fäl­lig da­ge­gen und sagt er­schro­cken: »Ver­zei­hung, Otto!«

Er sieht sie ver­wun­dert von der Sei­te an, aber er schweigt.

Sie ge­hen wei­ter.

ZWEITER TEIL – Die Gestapo

20. Der Weg der Karten

Der Schau­spie­ler Max Har­t­ei­sen hat­te, wie sein Freund und An­walt Toll sich aus­zu­drücken be­lieb­te, aus vor­na­zis­ti­schen Zei­ten noch reich­lich viel But­ter auf dem Kopf. Er hat­te in Fil­men mit­ge­spielt, die von jü­di­schen Re­gis­seu­ren ge­lei­tet wa­ren, er hat­te in pa­zi­fis­ti­schen Fil­men mit­ge­spielt, und eine sei­ner Haup­trol­len auf dem Thea­ter war je­ner ver­damm­te Schwäch­ling, der Prinz von Hom­burg, ge­we­sen, den je­der wah­re Na­tio­nal­so­zia­list nur an­spu­cken kann. Max Har­t­ei­sen hat­te also al­len An­lass, sehr vor­sich­tig zu sein; eine Zeit lang war es ja sehr zwei­fel­haft ge­we­sen, ob er un­ter den brau­nen Her­ren über­haupt noch spie­len durf­te.

Aber das hat­te dann ja schließ­lich doch ge­klappt. Na­tür­lich muss­te der gute Jun­ge eine ge­wis­se Zu­rück­hal­tung üben und erst ein­mal echt braun ge­färb­ten Schau­spie­lern den Vor­tritt las­sen, wenn sie auch lan­ge nicht so viel konn­ten wie er. Aber gra­de an die­ser Zu­rück­hal­tung hat­te er es feh­len las­sen; der ah­nungs­lo­se Kna­be hat­te so ge­spielt, dass dies so­gar dem Mi­nis­ter Go­eb­bels auf­ge­fal­len war. Ja, der Mi­nis­ter hat­te so­gar einen Nar­ren an dem Har­t­ei­sen ge­fres­sen. Und was es mit sol­chen Vor­lie­ben des Mi­nis­ters auf sich hat­te, das wuss­te ja je­des Kind, denn es gab kei­nen lau­ni­sche­ren, un­be­re­chen­ba­re­ren Men­schen als den Dok­tor Jo­seph Go­eb­bels.

Es kam dann auch al­les so, wie es kom­men muss­te. Zu­erst hat­te es wie ei­tel Freu­de und Glanz aus­ge­se­hen, denn wenn der Mi­nis­ter je­man­den zu ver­eh­ren ge­ruh­te, so mach­te er kei­nen Un­ter­schied, ob dies eine Frau oder ein Mann war. Wie bei ei­ner Ge­lieb­ten hat­te Dok­tor Go­eb­bels je­den Mor­gen bei dem Schau­spie­ler Har­t­ei­sen an­ge­ru­fen, er hat­te sich nach sei­nem Schlaf er­kun­digt, er hat­te ihm wie ei­ner Diva Blu­men und Kon­fekt ge­sandt, und es durf­te ei­gent­lich kein Tag ver­ge­hen, ohne dass der Mi­nis­ter we­nigs­tens kur­ze Zeit mit Har­t­ei­sen zu­sam­men war. Ja, er nahm den Schau­spie­ler so­gar nach Nürn­berg auf den Par­tei­tag mit, er er­klär­te ihm den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus »rich­tig«, und der Har­t­ei­sen ver­stand auch al­les, was er ver­ste­hen soll­te.

Er ver­stand nur nicht, dass zum rich­ti­gen Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auch ge­hört, dass ein ein­fa­cher Volks­ge­nos­se ei­nem Mi­nis­ter nicht wi­der­spricht, denn ein Mi­nis­ter ist schon ein­fach durch die Tat­sa­che, dass er Mi­nis­ter ist, zehn­mal klü­ger als je­der an­de­re. Bei ir­gend­ei­ner ganz be­lang­lo­sen Film­fra­ge wi­der­sprach Har­t­ei­sen sei­nem Mi­nis­ter und be­haup­te­te gra­de­zu, es sei Quatsch, was der Herr Go­eb­bels da ge­re­det habe. Es soll da­hin­ge­stellt blei­ben, ob die wirk­lich be­lang­lo­se und dazu auch noch rein theo­re­ti­sche Film­fra­ge den Schau­spie­ler in so zor­ni­gen Ei­fer ge­ris­sen hat­te oder ob ihm die ver­stie­ge­ne An­him­me­lei des Mi­nis­ters ein­fach über war und ob er dar­um einen Bruch wünsch­te. Je­den­falls blieb er, trotz man­cher Er­mah­nung, bei sei­nem Satz, Quatsch sei es und Quatsch blei­be es, ob Mi­nis­ter oder nicht, ganz egal!

Oh, wie än­der­te sich da die Welt für Max Har­t­ei­sen! Kei­ne mor­gend­li­chen Er­kun­di­gun­gen mehr nach der Güte sei­nes Schla­fes, kei­ne Pra­li­nen, kei­ne Blu­men, kei­ne Be­su­che bei Herrn Dok­tor Go­eb­bels mehr, auch nichts mehr von Be­leh­run­gen über den rich­ti­gen Na­tio­nal­so­zia­lis­mus! Ach, das wäre al­les noch zu er­tra­gen ge­we­sen, ja, viel­leicht war es so­gar er­wünscht, aber plötz­lich gab es für den Har­t­ei­sen auch kei­ne En­ga­ge­ments mehr, schon fest ab­ge­schlos­se­ne Film­ver­trä­ge zer­platz­ten, Gast­spie­le zer­ran­nen in nichts, es gab nichts mehr zu tun für den Schau­spie­ler Har­t­ei­sen.

Da der Har­t­ei­sen ein Mann war, der sei­nen Be­ruf nicht nur des Geld­ver­die­nens hal­ber schätz­te, son­dern da er ein wirk­li­cher Schau­spie­ler war, des­sen Le­ben sei­ne Hö­he­punk­te auf der Büh­ne, vor der Ka­me­ra fin­den muss­te, so war er über die­se er­zwun­ge­ne Un­tä­tig­keit ganz ver­zwei­felt. Er konn­te und woll­te es nicht glau­ben, dass der Mi­nis­ter, der an­dert­halb Jah­re lang sein bes­ter Freund ge­we­sen war, nun zu ei­nem so be­den­ken­lo­sen, ja ge­mei­nen Feind ge­wor­den war, dass er die Macht sei­ner Stel­lung dazu be­nutz­te, we­gen ei­nes Wi­der­spruchs ei­nem an­de­ren alle Le­bens­freu­de zu neh­men. (Er hat­te im Jah­re 1940 noch im­mer nicht be­grif­fen, der gute Har­t­ei­sen, dass je­der Nazi zu je­der Zeit be­reit war, je­dem Deut­schen, der eine von sei­ner ab­wei­chen­de Mei­nung hat­te, nicht nur alle Le­bens­freu­de, son­dern auch das Le­ben selbst zu neh­men.)

Aber wie die Zeit da­hin­ging und kei­ner­lei Ar­beits­mög­lich­keit auf­tauch­te, muss­te Max Har­t­ei­sen schließ­lich dar­an glau­ben. Freun­de be­rich­te­ten ihm, dass der Mi­nis­ter auf ei­ner Film­kon­fe­renz er­klärt hat­te, der Füh­rer wol­le die­sen Schau­spie­ler nie wie­der im Rock ei­nes Of­fi­ziers auf der Lein­wand se­hen. Nicht viel spä­ter hieß es schon, der Füh­rer wol­le die­sen Schau­spie­ler über­haupt nicht mehr se­hen, und dann wur­de ganz of­fi­zi­ell er­klärt, der Schau­spie­ler Har­t­ei­sen sei »un­er­wünscht«. Aus, zu Ende, mein Lie­ber, mit sechs­und­drei­ßig Jah­ren auf die schwar­ze Lis­te ge­setzt – für ein gan­zes Tau­send­jäh­ri­ges Reich!

Jetzt hat­te der Schau­spie­ler Har­t­ei­sen wirk­lich But­ter auf dem Kopf. Aber er ließ nicht nach, er bohr­te und frag­te, er woll­te um je­den Preis er­fah­ren, ob die­se ver­nich­ten­den Ur­tei­le wirk­lich vom Füh­rer aus­gin­gen oder ob sie sich der klei­ne Mann nur aus­ge­dacht hat­te, um einen Feind zu er­le­di­gen. Und an die­sem Mon­tag war Har­t­ei­sen nun völ­lig sie­ges­ge­wiss zu sei­nem An­walt Toll ge­stürzt und hat­te ge­ru­fen: »Ich hab’s! Ich hab’s, Er­win! Der Schur­ke hat ge­lo­gen. Der Füh­rer hat den Film, in dem ich den preu­ßi­schen Of­fi­zier spie­le, über­haupt nicht ge­se­hen, und er hat nie ein Wort ge­gen mich ge­äu­ßert.«

Und er be­rich­te­te eif­rig, dass die­se Nach­richt ganz ge­wiss sei, denn sie stam­me von Gö­ring selbst. Eine Freun­din sei­ner Frau habe eine Tan­te, und de­ren Cou­si­ne sei zu Gö­rings nach Ca­rin­hall ein­ge­la­den ge­we­sen. Da habe sie den Fall zur Spra­che ge­bracht, und der Gö­ring habe sich, wie be­rich­tet, ge­äu­ßert.

Der An­walt sah den Auf­ge­reg­ten ein we­nig spöt­tisch an. »Nun, Max, und was ist da­durch ge­än­dert?«

Der Schau­spie­ler mur­mel­te ganz ver­dutzt: »Aber der Go­eb­bels hat doch ge­lo­gen, Er­win!«

»Und? Hast du je ge­glaubt, al­les, was Hin­ke­bein­chen sagt, sei wahr?«

»Nein, das na­tür­lich nicht. Aber wenn man den Fall vor den Füh­rer bringt … Er hat doch den Na­men des Füh­rers miss­braucht!«

»Ja, und weil er das ge­tan hat, wird der Füh­rer einen al­ten Par­t­ei­ge­nos­sen und Pro­pa­mi1 raus­schmei­ßen, bloß weil er dem Har­t­ei­sen Kum­mer ge­macht hat!«

Der Schau­spie­ler sah den über­le­ge­nen, spöt­ti­schen An­walt hil­fe­fle­hend an. »Aber es muss doch was ge­sche­hen in mei­ner Sa­che, Er­win!«, sag­te er schließ­lich. »Ich will doch ar­bei­ten! Und der Go­eb­bels hin­dert mich zu Un­recht dar­an!«

»Ja«, sag­te der An­walt. »Ja!« Und schwieg wie­der. Als aber Har­t­ei­sen ihn so er­war­tungs­voll an­sah, fuhr er fort: »Du bist ein Kind, Max, ein rich­ti­ges groß ge­wor­de­nes Kind!«

Der Schau­spie­ler, der stets viel von sei­ner Welt­läu­fig­keit ge­hal­ten hat­te, warf un­mu­tig den Kopf zu­rück.

»Wir sind ja hier un­ter uns, Max«, fuhr der An­walt fort, »die­se Tür ist gut ge­pols­tert, wir kön­nen also of­fen mit­ein­an­der spre­chen. Du wuss­test es doch ei­gent­lich auch, we­nigs­tens ein ganz klein biss­chen, wie viel schrei­en­des, blu­ti­ges, herz­zer­rei­ßen­des Un­recht heu­te in Deutsch­land ge­schieht – und kein Hahn kräht da­nach. Im Ge­gen­teil, sie rüh­men sich noch laut ih­rer Schan­de. Aber weil der Schau­spie­ler Har­t­ei­sen ein ganz klei­nes Weh­weh­chen hat, ent­deckt er plötz­lich, dass Un­recht in der Welt ge­schieht, und schreit nach Ge­rech­tig­keit. Max!«

Har­t­ei­sen sag­te nie­der­ge­drückt: »Aber was soll ich denn tun, Er­win? Es muss doch et­was ge­sche­hen!«

»Was du tun sollst? Nun, das ist doch ganz klar! Du ziehst dich mit dei­ner Frau an einen hüb­schen Ort auf dem Lan­de zu­rück und hältst dich fein stil­le. Vor al­lem hörst du mit die­sem un­sin­ni­gen Ge­re­de über ›dei­nen‹ Mi­nis­ter auf und un­ter­lässt die Ver­brei­tung des Gö­ring-In­ter­views. Sonst kann es ge­sche­hen, dass dir der Mi­nis­ter noch et­was ganz an­de­res an­tut.«

»Aber wie lan­ge soll ich denn da ta­ten­los auf dem Lan­de sit­zen?«

»Die Lau­nen ei­nes Mi­nis­ters kom­men und ge­hen. Sie ge­hen auch, Max, sei si­cher. Ei­nes Ta­ges wirst du wie­der in Glanz und flo­ri­bus sein.«

Der Schau­spie­ler schau­der­te. »Nicht das!«, bat er. »Nur nicht das!« Er stand auf. »Und du meinst wirk­lich nicht, dass du in mei­ner Sa­che et­was tun kannst?«

»Nicht das Ge­rings­te!«, mein­te der An­walt lä­chelnd. »Es sei denn, du hät­test den Wunsch, als Mär­ty­rer für dei­nen Mi­nis­ter ins KZ zu ge­hen.«

Drei Mi­nu­ten dar­auf stand der Schau­spie­ler Max Har­t­ei­sen im Trep­pen­haus des Bü­ro­ge­bäu­des und hielt ver­wirrt eine Kar­te in der Hand: »Mut­ter! Der Füh­rer hat mir mei­nen Sohn er­mor­det …«

Um des Him­mels wil­len!, dach­te er. Wel­cher Mensch schreibt denn so was? Er muss wahn­sin­nig sein! Er schreibt sich ja um sei­nen Kopf! Un­will­kür­lich dreh­te er die Kar­te um. Aber dort stand kein Ab­sen­der oder Emp­fän­ger, son­dern: »Gebt die­se Kar­te wei­ter, dass vie­le sie le­sen! – Stif­tet nichts für das Win­ter­hilfs­werk! – Ar­bei­tet lang­sam, noch lang­sa­mer! Tut Sand in die Ma­schi­nen! Je­der Hand­schlag we­ni­ger ge­tan, hilft die­sen Krieg frü­her be­en­den!«

Der Schau­spie­ler sah hoch. Lich­ter­glän­zend fuhr der Fahr­stuhl an ihm vor­bei. Er hat­te das Ge­fühl, dass vie­le Au­gen auf ihn sa­hen.

Rasch steck­te er die Kar­te in die Ta­sche, und ra­scher noch riss er sie wie­der her­vor. Er woll­te sie schon auf die Fens­ter­bank zu­rück­le­gen – und Be­den­ken über­ka­men ihn. Vi­el­leicht hat­ten ihn die vom Fahr­stuhl aus hier ste­hen se­hen, die Kar­te in der Hand – und sein Ge­sicht kann­ten vie­le. Die Kar­te wur­de ge­fun­den, es fan­den sich wel­che, die be­ei­de­ten, er habe sie hin­ge­legt. Er hat­te sie ja wirk­lich hin­ge­legt, wie­der hin­ge­legt, hieß das. Aber wer wür­de ihm glau­ben, gra­de jetzt, wo er die­sen Streit mit dem Mi­nis­ter hat­te? Er hat­te so viel But­ter auf dem Kop­fe, und nun dies noch!

 

Schweiß trat auf sei­ne Stir­ne, plötz­lich be­griff er, dass nicht nur der Kar­ten­schrei­ber, dass auch er in na­her Le­bens­ge­fahr war, er viel­leicht am meis­ten. Sei­ne Hand zuck­te; er woll­te die Kar­te hin­le­gen, er woll­te sie doch lie­ber fort­neh­men, er woll­te sie zer­rei­ßen, hier an Ort und Stel­le … Aber viel­leicht stand ei­ner oben auf der Trep­pe und be­ob­ach­te­te ihn? Er hat­te in den letz­ten Ta­gen schon ein paar­mal das Ge­fühl ge­habt, be­ob­ach­tet zu wer­den, er hat­te es für Ner­vo­si­tät ge­hal­ten, we­gen die­ser Ge­häs­sig­keit von Mi­nis­ter Go­eb­bels …

Und viel­leicht war das Gan­ze eine Fal­le die­ses Man­nes, für ihn zu­recht­ge­baut, dass er sich ganz gründ­lich fing? Um al­ler Welt zu be­wei­sen, wie recht der Mi­nis­ter mit der Be­ur­tei­lung des Schau­spie­lers Har­t­ei­sen hat­te? O Gott, er war ja schon wahn­sin­nig, er sah Ge­s­pens­ter! Das tat doch ein Mi­nis­ter nicht! Oder tat er gra­de das?

Aber er konn­te hier nicht ewig ste­hen blei­ben. Er muss­te sich ent­schlie­ßen; er hat­te jetzt kei­ne Zeit, an Go­eb­bels zu den­ken, er muss­te nur an sich den­ken!

Er stürmt die hal­be Trep­pe wie­der hin­auf, nie­mand steht dort und be­ob­ach­tet ihn. Aber er klin­gelt schon beim Rechts­an­walt Toll. Er stürmt an der Vor­zim­mer­da­me vor­bei, er knallt die Kar­te auf den Tisch des An­walts, er ruft: »Da! Was ich hier eben im Trep­pen­haus ge­fun­den habe!«

Der An­walt wirft nur einen kur­z­en Blick auf die Kar­te. Dann steht er auf und schließt sorg­fäl­tig die Dop­pel­tür sei­nes Bü­ros, die der Auf­ge­reg­te of­fen­ge­las­sen hat. Er kehrt zu sei­nem Schreib­tisch­platz zu­rück. Er nimmt die Kar­te wie­der auf und liest sie lan­ge und sorg­fäl­tig, wäh­rend Har­t­ei­sen auf und ab läuft und un­ge­dul­dig Bli­cke auf ihn wirft.

Jetzt lässt Toll die Kar­te sin­ken und fragt: »Wo, sag­test du, hast du die Kar­te ge­fun­den?«

»Hier auf der Trep­pe, eine hal­be Trep­pe tiefer.«

»Auf der Trep­pe! Auf den Stu­fen also?«

»Sei nicht so wort­klau­be­risch, Er­win! Nein, nicht auf den Stu­fen, son­dern auf der Fens­ter­bank!«

»Und darf ich dich fra­gen, warum du mir die­ses rei­zen­de An­ge­bin­de auf mein Büro schlep­pen muss­test?«

Die Stim­me des An­walts klingt schär­fer, der Schau­spie­ler sagt bit­tend: »Aber was soll­te ich denn tun? Die Kar­te lag da, ich habe sie ganz ge­dan­ken­los auf­ge­nom­men.«

»Und warum hast du sie nicht wie­der zu­rück­ge­legt? Das wäre doch das Selbst­ver­ständ­lichs­te ge­we­sen!«

»Ein Fahr­stuhl fuhr an mir vor­bei, wäh­rend ich las. Ich hat­te das Ge­fühl, be­ob­ach­tet zu wer­den. Mein Ge­sicht ist so be­kannt.«

»Noch bes­ser!«, sag­te der An­walt bit­ter. »Und dann bist du ver­mut­lich mit die­ser Kar­te of­fen in der Hand zu mir ge­lau­fen?« Der Schau­spie­ler nick­te düs­ter. »Nein, mein Freund«, sag­te Toll ent­schlos­sen und hielt ihm die Kar­te wie­der hin, »bit­te, nimm sie wie­der. Ich will da­mit nichts zu schaf­fen ha­ben. Wohl­ge­merkt, du kannst dich nicht auf mich be­ru­fen. Ich habe die­se Kar­te nie ge­se­hen. Nimm sie doch end­lich wie­der!«

Har­t­ei­sen starr­te den Freund mit blas­sem Ge­sicht an. »Ich den­ke«, sag­te er dann, »du bist nicht nur mein Freund, du bist auch mein An­walt, du nimmst mei­ne In­ter­es­sen wahr!«

»Nicht dies, oder sa­gen wir bes­ser: nicht mehr. Du bist ein Un­glücks­huhn, du hast ein un­glaub­li­ches Ta­lent, in die schlimms­ten Ge­schich­ten zu tap­pen. Du wirst auch an­de­re ins Un­glück rei­ßen. Also nimm end­lich dei­ne Kar­te zu­rück!«

Er bot sie ihm wie­der an.

Aber Har­t­ei­sen stand noch im­mer da, mit weißem Ge­sicht, die Hän­de in die Ta­schen ge­bohrt.

Nach ei­nem lan­gen Schwei­gen sag­te er lei­se: »Ich traue mich nicht. Ich habe in den letz­ten Ta­gen schon mehr­fach das Ge­fühl ge­habt, be­ob­ach­tet zu wer­den. Tu mir den Ge­fal­len und zer­reiß die Kar­te. Wirf sie un­ter das an­de­re Zeug in dei­nem Pa­pier­korb!«

»Zu ge­fähr­lich, mein Lie­ber! Der Bü­ro­bo­te oder eine schnüf­feln­de Rein­ma­che­frau, und ich säße drin!«

»Ver­bren­ne sie!«

»Du ver­gisst, dass wir hier Zen­tral­hei­zung ha­ben!«

»Nimm ein Streich­holz, ver­bren­ne sie über dei­nem Aschen­be­cher. Nie­mand wür­de es wis­sen.«

»Du wür­dest es wis­sen.«

Mit blas­sen Ge­sich­tern starr­ten sie sich an. Sie wa­ren alte Freun­de, schon seit der Schul­zeit, aber nun war die Angst zwi­schen sie ge­kom­men, und die Angst hat­te das Miss­trau­en mit sich ge­bracht. Sie sa­hen ein­an­der stumm an.

Er ist ein Schau­spie­ler, dach­te der An­walt. Vi­el­leicht hat er mir hier was vor­ge­spielt, will mich hin­ein­rei­ßen. Kommt im Auf­trag, mei­ne Zu­ver­läs­sig­keit auf die Pro­be zu stel­len. Neu­lich, bei die­ser un­glück­se­li­gen Ver­tei­di­gung vor dem Volks­ge­richts­hof, bin ich mit knap­per Not noch durch­ge­kom­men. Aber seit­dem wird mir miss­traut …

In­wie­fern ist Er­win ei­gent­lich mein An­walt?, dach­te un­ter­des fins­ter der Schau­spie­ler. In der Sa­che mit dem Mi­nis­ter will er mir nicht hel­fen, und jetzt will er so­gar ge­gen die Wahr­heit aus­sa­gen, er hät­te die Kar­te nie ge­se­hen. Er nimmt nicht mei­ne In­ter­es­sen wahr. Er han­delt ge­gen mich. Wer weiß, ob nicht die­se Kar­te – über­all hört man von Fal­len, die den Leu­ten ge­stellt wer­den. Aber Un­sinn, er ist im­mer mein Freund ge­we­sen, ein zu­ver­läs­si­ger Mensch …

Und bei­de be­san­nen sich, bei­de sa­hen sich an. Bei­de fin­gen an zu lä­cheln.

»Wir sind wahn­sin­nig ge­we­sen, wir ha­ben ein­an­der miss­traut!«

»Wir, die wir uns über zwan­zig Jah­re ken­nen!«

»Die gan­ze Pen­ne mit­ein­an­der!«

»Ja, wir ha­ben es herr­lich weit ge­bracht!«

»Wie ste­hen wir da? Der Sohn ver­rät die Mut­ter, die Schwes­ter den Bru­der, der Freund die Freun­din …«

»Aber wir uns nicht!«

»Wir wol­len über­le­gen, was am bes­ten mit die­ser Kar­te ge­schieht. Es wäre wirk­lich un­ver­nünf­tig, wenn du mit ihr in der Ta­sche auf die Stra­ße gin­gest, da du dich be­ob­ach­tet fühlst.«

»Es kann rei­ne Ner­vo­si­tät ge­we­sen sein. Gib mir die Kar­te, ich schaf­fe sie schon ir­gend­wie fort!«

»Du mit dei­nem un­heil­vol­len Hang zu Un­be­son­nen­hei­ten! Nein, die Kar­te bleibt hier!«

»Du hast Frau und zwei Kin­der, Er­win. Dein Bü­ro­per­so­nal ist viel­leicht auch nicht durch­weg zu­ver­läs­sig. Wer ist denn heu­te noch zu­ver­läs­sig? Gib mir die Kar­te. Ich rufe dich in ei­ner Vier­tel­stun­de an und mel­de dir, dass sie fort ist.«

»Um Got­tes wil­len! Das bist wie­der ein­mal du, Max. We­gen so et­was ein Te­le­fon­ge­spräch füh­ren! Wa­rum rufst du nicht gleich Himm­ler2 an? Das geht dann doch schnel­ler!«

Und wie­der se­hen sie sich an, ein we­nig ge­trös­tet, dass sie noch nicht ganz al­lein sind, dass sie doch noch einen zu­ver­läs­si­gen Freund be­sit­zen.

Plötz­lich schlägt der An­walt zor­nig auf die Kar­te. »Was die­ser Idi­ot sich wohl ge­dacht hat, als er die­ses Dings schrieb und hier ins Trep­pen­haus leg­te! An­de­re Leu­te aufs Scha­fott brin­gen!«

»Und we­gen was? Was schreibt er ei­gent­lich? Nichts, was je­der von uns nicht schon weiß! Es muss ein Wahn­sin­ni­ger sein!«