Hans Fallada – Gesammelte Werke

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17. Auch Anna Quangel macht sich frei



Für die Quan­gels ver­lief die­ser Sonn­tag nicht so er­folg­reich, we­nigs­tens kam es nicht zu der von Frau Anna ge­wünsch­ten Auss­pra­che.



»Nee«, sag­te Quan­gel auf ihr Drän­gen. »Nee, Mut­ter, heu­te nicht. Der Tag hat falsch an­ge­fan­gen, an sol­chem Tag kann ich nicht tun, was ich ei­gent­lich woll­te. Und wenn ich’s nicht tun kann, will ich auch nicht da­von spre­chen. Vi­el­leicht an­de­ren Sonn­tag. Horchst du? Ja, da schleicht wohl schon wie­der ei­ner von den Per­sickes über die Trep­pe – na, lass sie! Wenn sie uns nur in Frie­den las­sen!«



Aber Otto Quan­gel war un­ge­wöhn­lich weich an die­sem Sonn­tag. Anna durf­te so viel von dem ge­fal­le­nen Sohn re­den, wie sie woll­te, er ver­bot ihr nicht den Mund. Er sah so­gar mit ihr die we­ni­gen Fo­tos durch, die sie von dem Soh­ne be­saß, und als sie da­bei wie­der zu wei­nen an­fing, leg­te er ihr die Hand auf die Schul­ter und sag­te: »Lass, Mut­ter, lass. Wer weiß, wo­zu’s gut ist, was ihm al­les er­spart bleibt.«



Also: die­ser Sonn­tag war auch ohne Auss­pra­che gut. Lan­ge hat­te Anna Quan­gel den Mann nicht so mil­de ge­se­hen, es war, als schie­ne die Son­ne noch ein­mal, ein letz­tes Mal über das Land, ehe der Win­ter kam, der al­les Le­ben un­ter sei­ner Eis- und Schnee­de­cke ver­barg. In den nächs­ten Mo­na­ten, die Quan­gel im­mer käl­ter und wort­kar­ger mach­ten, muss­te sie oft an die­sen Sonn­tag zu­rück­den­ken, er war ihr Trost und Auf­mun­te­rung zu­gleich.



Dann fing die Ar­beits­wo­che wie­der an, eine die­ser im­mer glei­chen Ar­beits­wo­chen, die eine der an­de­ren äh­nel­ten, ob nun Blu­men blüh­ten oder Schnee drau­ßen trieb. Die Ar­beit war im­mer die glei­che, und die Men­schen blie­ben auch, wie sie ge­we­sen wa­ren.



Nur ein klei­nes Er­leb­nis, ein ganz klei­nes, hat­te Otto Quan­gel in die­ser Ar­beits­wo­che. Als er zur Fa­brik ging, kam ihm in der Ja­blons­ki­stra­ße der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm ent­ge­gen. Quan­gel hät­te ihn schon ge­grüßt, aber er scheu­te die Au­gen der Per­sickes. Er woll­te auch nicht, dass Bark­hau­sen, von dem Anna ihm er­zählt hat­te, die Ge­sta­po habe ihn mit­ge­nom­men, et­was sähe. Der Bark­hau­sen war näm­lich wie­der da, wenn er über­haupt je fort­ge­we­sen war, und hat­te sich vor dem Hau­se her­um­ge­drückt.



So ging denn Quan­gel stur, ohne ihn zu se­hen, an dem Kam­mer­ge­richts­rat vor­bei. Der hat­te wohl nicht so vie­le Be­den­ken, je­den­falls lüf­te­te er leicht sei­nen Hut vor dem Mit­be­woh­ner des Hau­ses, lä­chel­te mit den Au­gen und ging ins Haus.



Gra­de recht!, dach­te Quan­gel. Wer’s ge­se­hen hat, denkt: der Quan­gel bleibt im­mer der glei­che rohe Klotz, und der Kam­mer­ge­richts­rat ist ein fei­ner Mann. Aber dass die bei­den was mit­ein­an­der zu tun hat­ten, das denkt er nicht!



Anna Quan­gel aber hat­te in die­ser Wo­che noch eine schwie­ri­ge Ar­beit zu er­le­di­gen. Beim Ein­schla­fen am Sonn­tag hat­te ihr der Mann noch ge­sagt: »Sieh, dass du aus der Frau­en­schaft raus­kommst. Aber so, dass es kei­nem auf­fällt. Ich bin auch mei­nen Pos­ten bei der Ar­beits­front los.«



»Oh Gott!«, rief sie. »Wie hast du das denn ge­macht, Otto? Wie­so ha­ben die dich ge­hen las­sen?«



»We­gen an­ge­bo­re­ner Kör­per­doof­heit«, hat­te Quan­gel un­ge­wöhn­lich auf­ge­räumt geant­wor­tet und da­mit die­se Un­ter­hal­tung be­en­det.



Sie aber hat­te ihre Auf­ga­be nun vor sich. We­gen Doof­heit wür­den die sie nie lau­fen­las­sen, da­für kann­ten sie die Quan­gel zu gut, ihr muss­te schon et­was an­de­res ein­fal­len. Den Mon­tag und Diens­tag grü­bel­te Anna Quan­gel dar­über, am Mitt­woch glaub­te sie es schließ­lich zu ha­ben. Wenn Doof­heit bei ihr nicht ver­fing, dann viel­leicht Über­klug­heit. Über­klug­heit, zu viel wis­sen, zu schlau sein, das war de­nen noch läs­ti­ger als ein biss­chen Doof­heit. Und Über­klug­heit, ge­paart mit Übe­rei­fer, ja, so muss­te es ge­hen.



Und kurz ent­schlos­sen mach­te sich Anna Quan­gel auf den Weg. Sie woll­te die­se Sa­che mög­lichst schnell hin­ter sich brin­gen, sie woll­te, wenn es ir­gend ging, heu­te Nacht noch Otto mel­den, dass sie es wie er ge­schafft hat­te, das heißt, ohne par­tei­po­li­tisch miss­lie­big auf­ge­fal­len zu sein. Sie muss­te es de­nen für im­mer ver­gäl­len, sich mit ihr zu be­schäf­ti­gen. Schon wenn de­nen die Quan­gel ein­fiel, soll­ten sie nur den­ken: ›Ach, die kommt für so was nicht in Fra­ge!‹, was die­ses So­was auch sein moch­te!



Zu Anna Quan­gels Haupt­auf­ga­ben ge­hör­te es in die­sen Ta­gen, da der Zwangs­ar­bei­ter-Im­port noch nicht recht in Gang ge­kom­men war und noch kein Son­der­be­auf­trag­ter des Füh­rers mit Mi­nis­ter­rang für die­se Skla­ven­ge­schäf­te er­nannt wor­den war – zu ih­ren Haupt­auf­ga­ben also ge­hör­te es, un­ter ih­ren deut­schen Volks­ge­nos­sin­nen sol­che zu er­mit­teln, die sich vor der Ar­beit in den Rüs­tungs­wer­ken drück­ten, die da­mit, wie es in der üb­li­chen Par­tei­ter­mi­no­lo­gie hieß, zu Ver­rä­tern am Füh­rer und am ei­ge­nen Volk wur­den. Gra­de erst kürz­lich hat­te das Mi­nis­ter­chen Go­eb­bels

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 in ei­nem Ar­ti­kel hä­misch auf jene ge­schmink­ten Däm­chen hin­ge­wie­sen, de­ren rot­la­ckier­te Fin­ger­nä­gel sie noch lan­ge nicht von der Ar­beit für das Volk – und nicht etwa nur von Bü­ro­ar­beit! – frei mach­ten.



Frei­lich hat­te der Mi­nis­ter in ei­nem wei­te­ren Ar­ti­kel, der wohl von den Da­men sei­nes ei­ge­nen Krei­ses er­zwun­gen wor­den war, sich be­eilt, hin­zu­zu­fü­gen, dass rote Fin­ger­nä­gel und ein ge­pfleg­tes Äu­ße­res nicht ohne Wei­te­res die Merk­ma­le ei­ner Aso­zia­len und Ar­beits­scheu­en sei­en. Er warn­te drin­gend vor An­rem­pe­lun­gen nur aus sol­chen Grün­den! Die Par­tei wer­de in ih­rer Ge­rech­tig­keit je­den ein­zel­nen ihr ge­mel­de­ten Fall nach­prü­fen. Wo­mit er ei­ner wohl be­ab­sich­tig­ten Hoch­flut von De­nun­zia­tio­nen Tür und Tor öff­ne­te.



Aber wie so oft schon vor­her und nach­her hat­te der Mi­nis­ter mit sei­nem ers­ten Ar­ti­kel die nie­ders­ten Pö­bel­in­stink­te wach­ge­ru­fen, und Anna Quan­gel sah hier ohne Wei­te­res ihre Mög­lich­kei­ten. Zwar wohn­ten in ih­rem Be­zirk meist nur schlich­te Leu­te, aber eine Dame wuss­te sie doch, auf die jene Be­schrei­bung des Mi­nis­ters haar­ge­nau pass­te. Anna Quan­gel lä­chel­te schon im Voraus bei dem Ge­dan­ken, wel­che Wir­kung ihr Be­such wohl ha­ben wür­de.



Die von ihr auf­ge­such­te Dame wohn­te in ei­nem großen Hau­se am Fried­richs­hain, und Frau Quan­gel sag­te zu dem öff­nen­den Mäd­chen mit Barsch­heit, durch die sie ihre ei­ge­ne, sie plötz­lich heim­su­chen­de Un­si­cher­heit ver­ste­cken woll­te: »Ach was, nach­se­hen, ob die gnä­di­ge Frau zu spre­chen ist! Ich kom­me von der Frau­en­schaft, und ich muss sie spre­chen, und ich wer­de es auch! – Üb­ri­gens, Fräu­lein«, setz­te sie plötz­lich mit ge­senk­ter Stim­me hin­zu, »wie­so gnä­di­ge Frau? So was gibt es doch im Drit­ten Reich gar nicht mehr! Wir ar­bei­ten alle für un­sern ge­lieb­ten Füh­rer – je­des an sei­nem Platz! Ich will zu Frau Ge­rich!«



Es bleibt un­ge­wiss, warum Frau Ge­rich die­se Ge­sand­tin der NS-Frau­en­schaft emp­fing, ob doch lei­se be­un­ru­higt durch den Be­richt ih­res Mäd­chens oder ob ein­fach aus Lan­ger­wei­le, die hal­be Stun­de ei­nes öden Nach­mit­tags zu ver­kür­zen. Je­den­falls emp­fing sie Frau Quan­gel.



Sie kam ihr mit ei­nem lie­bens­wür­di­gen Lä­cheln bis in die Mit­te ih­res üp­pi­gen Sa­lons ent­ge­gen, und Frau Quan­gel stell­te mit ei­nem Blick fest, dass Frau Ge­rich wirk­lich das Ge­schöpf war, das sie such­te: eine lang­bei­ni­ge Blon­di­ne, zu­recht­ge­macht und par­fü­miert, über der Stirn ein ho­her Auf­bau von Lo­cken und Löck­chen. Die Hälf­te da­von falsch!, ent­schied Anna Quan­gel so­fort. Die­se Fest­stel­lung gab ihr ein we­nig von ih­rer Si­cher­heit zu­rück, die beim An­blick die­ses wirk­lich pracht­vol­len Zim­mers ins Wan­ken ge­kom­men war, ei­nes Zim­mers, wie es mit Sei­den­tep­pi­chen, Cou­ches, Ses­seln und Ses­sel­chen, Ti­schen und Tisch­chen, mit Wand­be­hän­gen und ei­ner Un­zahl blit­zen­der Be­leuch­tungs­kör­per Anna Quan­gel noch nie in ih­rem Le­ben ge­se­hen hat­te, selbst nicht bei je­nen wirk­lich fei­nen Herr­schaf­ten, bei de­nen sie vor mehr als zwan­zig Jah­ren in Stel­lung ge­we­sen war.



Die Dame be­grüß­te Anna Quan­gel ge­büh­rend, aber nur mit ei­ner läs­si­gen Er­he­bung des Ar­mes: »Heil Hit­ler!« Ernst und ge­nau kor­ri­gier­te Anna Quan­gel durch ihr za­cki­ges »Heil Hit­ler!« die­se Nach­läs­sig­keit.



»Sie kom­men von der NS-Frau­en­schaft, wie ich höre, Frau –?« Die Dame war­te­te einen Au­gen­blick, da ihr aber kein Name ge­nannt wur­de, lä­chel­te sie un­merk­lich und sag­te: »Aber bit­te, neh­men Sie doch Platz! Si­cher han­delt es sich um eine Spen­de – ich gebe ger­ne, so­weit es mir mög­lich ist.«



»Es han­delt sich um kei­ne Spen­de!« Anna Quan­gel stieß die­se Wor­te fast zor­nig her­vor. Sie emp­fand plötz­lich eine tie­fe Ab­nei­gung ge­gen die­ses bild­schö­ne Ge­schöpf, das doch nur ein Weib­chen war und das nie Frau und Mut­ter wer­den wür­de, wie es Anna Quan­gel ge­we­sen war und noch war. Sie hass­te und ver­ach­te­te die an­de­re, weil sie nie jene Bin­dun­gen an­er­ken­nen wür­de, die Anna Quan­gel stets hei­lig und un­ver­letz­lich er­schie­nen wa­ren. Die­ser da war al­les nur ein Spiel, zu wah­rer Lie­be war sie völ­lig un­fä­hig, und nur auf jene Be­zie­hun­gen leg­te sie Wert, die Anna in ih­rer Ehe mit Otto Quan­gel stets als einen ganz un­we­sent­li­chen Teil die­ser Ehe er­schie­nen wa­ren. »Nein, kei­ne Spen­de!«, stieß sie noch ein­mal un­ge­dul­dig her­vor. »Son­dern es han­delt sich dar­um –«



Sie wur­de noch ein­mal un­ter­bro­chen. »Aber bit­te, neh­men Sie doch wirk­lich Platz! Ich kann doch nicht sit­zen blei­ben, wenn Sie hier ste­hen, und Sie als die Äl­te­re …«

 



»Ich habe kei­ne Zeit!«, sag­te Anna Quan­gel. »Wenn Sie mö­gen, dann ste­hen Sie auf, sonst kön­nen Sie auch ru­hig sit­zen blei­ben. Mir macht das nichts aus!«



Frau Ge­rich kniff die Au­gen ein we­nig zu­sam­men und mus­ter­te er­staunt die­se bie­de­re Frau aus dem Vol­ke, die mit sol­cher Bru­ta­li­tät ge­gen sie vor­ging. Sie zuck­te leicht mit den Ach­seln und sag­te, im­mer noch lie­bens­wür­dig, aber nicht mehr ganz so ver­bind­lich: »Ganz nach Ihrem Wunsch! Ich wer­de also sit­zen blei­ben. Sie woll­ten sa­gen …«



»Ich will Sie fra­gen«, sag­te Frau Quan­gel ent­schlos­sen, »warum Sie nicht ar­bei­ten? Sie ha­ben doch si­cher die Auf­ru­fe ge­le­sen, dass je­der in der Rüs­tungs­in­dus­trie ar­bei­ten soll, der noch kei­ne Be­schäf­ti­gung hat? Wa­rum ar­bei­ten Sie also nicht? Was ha­ben Sie für Grün­de?«



»Ich habe den sehr gu­ten Grund«, sag­te Frau Ge­rich jetzt mit hei­te­rer Ge­las­sen­heit und be­trach­te­te nicht ohne Spott die ver­ar­bei­te­ten, vom Ge­mü­se­put­zen ver­färb­ten Hän­de der an­de­ren, »dass ich noch nie in mei­nem Le­ben kör­per­lich ge­ar­bei­tet habe. Ich bin in kei­ner Wei­se für kör­per­li­che Ar­beit ge­eig­net.«



»Ha­ben Sie es denn je ver­sucht?«



»Ich den­ke gar nicht dar­an, mich durch einen sol­chen Ver­such krank ma­chen zu las­sen. Ich kann je­der­zeit ein ärzt­li­ches At­test bei­brin­gen, dass –«



»Das glau­be ich!«, un­ter­brach sie Frau Anna Quan­gel. »Ein At­test für zehn oder zwan­zig Mark! Aber bei die­ser Sa­che sind nicht die At­tes­te ge­fäl­li­ger Pri­va­tärz­te gül­tig, son­dern der Fa­brik­arzt des Be­trie­bes, dem Sie zu­ge­wie­sen wer­den, wird über Ihre Ar­beits­fä­hig­keit ent­schei­den!«



Frau Ge­rich be­trach­te­te für einen Au­gen­blick das zor­ni­ge Ge­sicht der Frau. Dann zuck­te sie die Ach­seln. »Also schön, wei­sen Sie mich ir­gend­ei­nem Be­trie­be zu! Sie wer­den ja se­hen, was Sie da­von ha­ben!«



»Das wer­den Sie se­hen!« Anna Quan­gel hol­te ein Heft her­vor, ein in Wachs­tuch ein­ge­schla­ge­nes Heft, wie es die Schul­kin­der be­nut­zen. Sie trat an ein Tisch­chen, schob är­ger­lich eine Scha­le mit Blu­men bei­sei­te und feuch­te­te, ehe sie mit Schrei­ben an­fing, den Blei­stift mit der Zun­gen­spit­ze an. Sie tat das al­les be­wusst, sie woll­te die an­de­re rei­zen; sie konn­te nicht eher den Zweck die­ses Be­su­ches für er­füllt an­se­hen, ehe sie nicht die spöt­ti­sche Ge­las­sen­heit der an­de­ren zer­schla­gen und auch sie in Zorn ge­bracht hat­te.



Was war der Va­ter ge­we­sen? Tisch­ler­meis­ter, so – und dann im gan­zen Le­ben nie kör­per­lich ge­ar­bei­tet! Nun ja, wir wer­den ja se­hen. Wie groß ist denn hier der Haus­halt? Drei Per­so­nen? Die Hau­san­ge­stell­te mit ein­ge­rech­net? Also ei­gent­lich zwei Per­so­nen …



»Kön­nen Sie wirk­lich nicht Ihren Mann al­lein ver­sor­gen? Noch ein Mensch mehr der Rüs­tungs­in­dus­trie ent­zo­gen, wer­de ich mir auch no­tie­ren! Kin­der ha­ben Sie na­tür­lich kei­ne?«



Der an­de­ren schoss jetzt auch das Blut in die Wan­gen, man sah es aber nur an den Schlä­fen, so ge­malt war sie. Aber eine Ader über die Stirn weg zur Na­sen­wur­zel hin fing an zu schwel­len und zu klop­fen.



»Nein, Kin­der na­tür­lich kei­ne!«, sag­te Frau Ge­rich jetzt auch sehr scharf. »Aber Sie kön­nen sich noch no­tie­ren, dass ich mir zwei Hun­de hal­te!«



Anna Quan­gel rich­te­te sich steif auf und sah die an­de­re mit düs­ter glü­hen­den Au­gen an. (In die­sem Au­gen­blick hat­te sie voll­kom­men ver­ges­sen, warum sie die­sen Be­such ge­macht hat­te.) »Sa­gen Sie mal!«, rief sie und gab ih­rer Stim­me ab­sicht­lich einen ge­wöhn­li­chen Klang. »Wol­len Sie mich und die Frau­en­schaft ver­höh­nen? Wol­len Sie sich etwa über die Ar­beits­be­stim­mun­gen und un­sern Füh­rer lus­tig ma­chen? Ich war­ne Sie!«



»Und ich war­ne Sie!«, schrie Frau Ge­rich da­ge­gen. »Sie schei­nen nicht zu wis­sen, bei wem Sie sind! Ich und mich über eine Be­stim­mung lus­tig ma­chen! Mein Mann ist Ober­sturm­bann­füh­rer!«



»Ach so!«, sag­te Anna Quan­gel. »Ach so!« Ihre Stim­me war plötz­lich ganz ru­hig ge­wor­den. »Na ja, Ihre An­ga­ben habe ich ja nun, Sie be­kom­men dann Be­scheid! Oder ha­ben Sie noch ir­gend­was gel­tend zu ma­chen? Vi­el­leicht eine kran­ke Mut­ter zu ver­sor­gen?«



Frau Ge­rich zuck­te nur ver­ächt­lich mit den Ach­seln. »Ehe Sie jetzt ge­hen«, sag­te sie, »möch­te ich doch ein­mal Ihren Aus­weis se­hen. Ich hät­te mir auch ger­ne Ihren Na­men no­tiert.«



»Bit­te!«, sag­te Frau Quan­gel und hielt der an­de­ren ih­ren Aus­weis hin. »Steht al­les drauf. Vi­si­ten­kar­ten habe ich lei­der kei­ne.«



Zwei Mi­nu­ten spä­ter war Frau Anna Quan­gel ge­gan­gen, und nicht drei Mi­nu­ten da­nach rief ein fas­sungs­lo­ses, in Trä­nen auf­ge­lös­tes We­sen den Ober­sturm­bann­füh­rer Ge­rich an und be­rich­te­te ihm schluch­zend, manch­mal aber auch vor Wut mit den Fü­ßen tram­pelnd, von der un­er­hör­ten Be­lei­di­gung, die ihr durch eine Bo­tin der Frau­en­schaft an­ge­tan wor­den war.



»Nein, nein, nein«, ge­lang es dem Ober­sturm­bann­füh­rer schließ­lich, be­ru­hi­gend ein­zu­schie­ben. »Wir wer­den selbst­ver­ständ­lich von Par­tei we­gen dies nach­prü­fen. Aber du musst im­mer be­den­ken, dass Nach­kon­trol­len not­wen­dig sind. Na­tür­lich war es eine Dä­me­lei, mit so was zu dir zu kom­men. Ich wer­de da­für sor­gen, dass das nicht wie­der vor­kommt!«



»Nein, Ernst!«, schrie es förm­lich am an­de­ren Ende der Lei­tung. »Du wirst nichts der­art tun! Son­dern du wirst da­für sor­gen, dass mich die­ses Weib um Ver­zei­hung bit­tet. Schon der Ton, in dem sie mit mir ge­spro­chen hat! ›Kin­der na­tür­lich kei­ne!‹, das hat sie ge­sagt. Da­mit hat sie auch dich be­lei­digt, Ernst – emp­fin­dest du das denn gar nicht?«



Der Ober­sturm­bann­füh­rer muss­te es schließ­lich emp­fin­den, er ver­sprach sei­ner ›sü­ßen Clai­re‹ al­les, um sie zu be­ru­hi­gen. Ja, sie wür­de um Ver­zei­hung ge­be­ten wer­den. Ja­wohl, es wür­de noch heu­te ge­sche­hen. Selbst­ver­ständ­lich wür­de er Kar­ten für die Staats­o­per be­sor­gen und hin­ter­her viel­leicht die Fe­mi­na, da­mit sie ein we­nig ab­ge­lenkt und be­ru­higt wer­de? Ja, er wür­de so­fort einen Tisch für sie be­stel­len las­sen, sie möge doch ver­su­chen, ein paar Freun­din­nen und Freun­de te­le­fo­nisch zu­sam­men­zu­trom­meln …



Nach­dem er sei­ner Frau so eine ab­len­ken­de Be­schäf­ti­gung ge­ge­ben hat­te, ließ er sich mit der Haupt­lei­tung der Frau­en­schaft ver­bin­den und rüg­te im schärfs­ten Ton die ihm an­ge­ta­ne Be­lei­di­gung. Ob man denn wahr­haf­tig nie­mand Bes­se­res als der­ar­tig ge­mei­ne Wei­ber für sol­che Auf­ga­ben ein­zu­set­zen habe? Da sei ver­mut­lich eine ge­naue Nach­prü­fung fäl­lig! Ja­wohl, um Ver­zei­hung habe die­se Quan­gel-Quin­gel-Qu­un­gel sei­ne Frau zu bit­ten! Heu­te Abend noch, er müs­se doch sehr bit­ten! Er ver­lan­ge auch so­for­ti­ge Mel­dung von dem Ge­sche­he­nen!



Als der Ober­sturm­bann­füh­rer schließ­lich an­häng­te, war er nicht nur blau­rot im Ge­sicht, son­dern er war jetzt auch fest da­von über­zeugt, un­ver­zeih­lich schwer be­lei­digt wor­den zu sein. Er rief so­fort sei­ne süße Claire an, muss­te es aber min­des­tens zehn­mal ver­su­chen, ehe er eine Ver­bin­dung mit ihr be­kam, denn sie war jetzt eif­rig da­bei, ihre Freun­din­nen von der ihr an­ge­ta­nen Schmach zu be­nach­rich­ti­gen.



Das von ih­rem Man­ne aber ge­führ­te Te­le­fon­ge­spräch si­cker­te ein in das Netz von Ber­lin, es brei­te­te sich aus, es lief hier­hin und dort­hin, Er­kun­di­gun­gen wur­den ein­ge­zo­gen, Nach­fra­gen wur­den ge­hal­ten, streng ver­trau­lich wur­de ge­flüs­tert. Manch­mal schi­en das Ge­spräch ganz von sei­nem ur­sprüng­li­chen Zie­le ab­ge­kom­men, aber dank der Treff­lich­keit und Un­fehl­bar­keit des Selbst­wäh­ler­sys­tems fand es im­mer wie­der zu­rück, bis es schließ­lich, zu ei­ner La­wi­ne ver­grö­ßert, jene klei­ne Ge­schäfts­stel­le der Frau­en­schaft fand, der Anna Quan­gel un­ter­stellt war. Dort hat­ten zur­zeit zwei Da­men (eh­ren­amt­lich) Dienst, die eine weiß­haa­rig und dürr, mit dem Mut­ter­kreuz ge­schmückt, die an­de­re mol­lig und noch jung, aber mit Her­ren­schnitt und dem Par­tei­ab­zei­chen auf der schwel­len­den Brust ver­se­hen.



Die Weiß­haa­ri­ge hat­te es er­wi­scht, sie hat­te zu­erst zum Te­le­fon ge­grif­fen, über sie stürz­te die­se La­wi­ne zu­erst da­hin. Sie wur­de völ­lig über­schüt­tet von ihr, sie ru­der­te hilf­los mit den Ar­men, sie warf fle­hen­de Bli­cke auf die Mol­li­ge, sie ver­such­te klei­ne Be­mer­kun­gen ein­zu­schie­ben: »Aber die Quan­gel – eine ganz zu­ver­läs­si­ge Frau. Ken­ne sie seit Jah­ren …«



Um­sonst, nichts konn­te sie ret­ten! Kein Blatt wur­de, auch bei der Frau­en­schaft nicht, vor den Mund ge­nom­men, es wur­de ihr klar­ge­macht, was für eine Sau­wirt­schaft auf ih­rer Ge­schäfts­stel­le herr­sche. Sie kön­ne sich gra­tu­lie­ren, wenn sie da ei­ni­ger­ma­ßen mit sau­be­rer Wes­te her­aus­kam! Aber was die­se Quan­gel an­ge­he – na­tür­lich heu­te noch und für im­mer und ewig ab­set­zen und um Ver­zei­hung bit­ten, heu­te noch! Ja­wohl, Heil Hit­ler!



Und kaum hat­te die Weiß­haa­ri­ge an­ge­hängt und be­gann, noch an al­len Glie­dern zit­ternd, der Mol­li­gen einen Be­richt zu ma­chen, so schrill­te wie­der das Te­le­fon, und eine an­de­re vor­ge­setz­te Dienst­stel­le fühl­te sich eben­falls be­ru­fen, zu schrei­en, zu schel­ten, zu dro­hen.



Dies­mal hat­te es die Mol­li­ge ge­trof­fen. Auch sie wank­te un­ter die­sem An­prall, auch sie zit­ter­te, denn wenn sie auch schon in der Par­tei war, ihr Mann galt als po­li­tisch un­zu­ver­läs­sig, weil er als An­walt vor 1933 öf­ters ›Ro­te‹ vor Ge­richt ver­tei­digt hat­te. So eine Sa­che konn­te ih­nen den Hals bre­chen. Sie ver­such­te es mit De­mut, Be­reit­wil­lig­keit, tiefs­ter Er­ge­ben­heit. »Ja­wohl, ein be­dau­er­li­ches Ver­se­hen … Die­se Frau muss wahn­sin­nig ge­wor­den sein … Na­tür­lich, es wird al­les ge­sche­hen, heu­te Abend noch. Ich gehe sel­ber …«



Um­sonst, al­les um­sonst! Die La­wi­ne stürz­te auch über sie nie­der und zer­brach ihr je­den Kno­chen im Lei­be. Sie war nur noch ein nas­ser Lap­pen.



Und nun folg­te An­ruf auf An­ruf. Es war, als sei die Höl­le her­ein­ge­bro­chen! Sie be­ka­men kaum noch Atem, so rasch folg­te ein An­ruf dem an­de­ren. Schließ­lich flo­hen sie aus die­sem Büro, ein­fach un­fä­hig, die­se stän­dig wie­der­hol­ten Be­schimp­fun­gen wei­ter an­zu­hö­ren. Noch als sie die Tür ab­schlos­sen, hör­ten sie das Te­le­fon nach im­mer neu­er Beu­te schrei­en, aber sie gin­gen nicht wie­der zu­rück. Sie nicht, für kein Geld der Welt! Ihr Be­darf war ein­ge­deckt für heu­te, für mor­gen, für die nächs­ten Jah­re!



Eine Wei­le mar­schier­ten sie schwei­gend ih­rem Zie­le, der Quan­gel’­schen Woh­nung, zu. Dann sag­te die eine: »Der wer­de ich es aber ge­ben, uns der­ar­ti­ge Schwie­rig­kei­ten zu be­rei­ten!«



Und die mit dem Par­tei­ab­zei­chen: »So ist es. Die Quan­gel kann uns ganz egal sein! Aber Sie wis­sen ja, man hat auch so schon viel zu viel Schwie­rig­kei­ten …«



»Ge­wiss!«, sag­te das Mut­ter­kreuz kurz und dach­te an einen Sohn, der in Spa­ni­en, aber auf der falschen, näm­lich auf der ro­ten Sei­te ge­kämpft hat­te.



Aber die Un­ter­hal­tung mit Frau Anna Quan­gel ver­lief dann doch we­sent­lich an­ders, als die bei­den er­war­tet hat­ten. Frau Quan­gel ließ sich we­der an­don­nern noch ein­schüch­tern.



»Er­klä­ren Sie mir bloß erst, was ich falsch ge­macht habe. Hier sind mei­ne No­ti­zen. Die Frau Ge­rich fällt un­ter das Ar­beits­dienst­pflicht-Ge­setz …«



»Aber, Liebs­te, Bes­te« – dies sag­te die Mol­li­ge – »dar­um han­delt es sich hier doch gar nicht. Sie ist die Gat­tin ei­nes Ober­sturm­bann­füh­rers. Sie ver­ste­hen doch?«



»Nein! Was hat das da­mit zu tun? Wo steht ge­schrie­ben, dass die Frau­en von hö­he­ren Füh­rern frei sind? Ich weiß da­von nichts!«



»Sei­en Sie bloß nicht so be­griffs­stut­zig!«, mein­te die Weiß­haa­ri­ge streng. »Als Frau ei­nes hö­he­ren Füh­rers hat Frau Ge­rich hö­he­re Pf­lich­ten. Sie muss für ih­ren über­ar­bei­te­ten Mann sor­gen.«



»Muss ich auch.«



»Sie hat große Re­prä­sen­ta­ti­ons­pflich­ten.«



»Was ist denn das?«



Nichts zu ma­chen mit der Frau, nichts mir ihr an­zu­fan­gen, sie sieht ihr Un­recht nicht ein. Sie will ein­fach nicht be­grei­fen, dass hö­he­re Füh­rer mit all ih­ren An­ver­wand­ten von all ih­ren Pf­lich­ten ge­gen den Staat und die Ge­mein­schaft be­freit sind.

 



Die Mol­li­ge mit dem Ha­ken­kreuz ist es, die den wirk­li­chen Grund für Frau Anna Quan­gels Hart­nä­ckig­keit zu er­mit­teln meint. Sie ent­deckt das Foto ei­nes bläss­lich, un­ter­er­nährt aus­se­hen­den Jun­gen an der Wand, mit ei­nem Kranz und ei­ner Trau­er­schlei­fe ge­schmückt. »Ihr Sohn?«, fragt sie.



»Ja«, ant­wor­tet Anna Quan­gel kurz und ver­dros­sen.



»Ihr ein­zi­ger – ge­fal­len?«



»Ja.«



Die Weiß­haa­ri­ge mit dem Mut­ter­kreuz sagt mil­de: »Man soll eben nicht nur einen Sohn in die Welt set­zen!«



Anna Quan­gel hat eine has­ti­ge Ant­wort auf der Zun­ge. Aber sie ver­kneift sie sich noch. Sie will nicht jetzt noch al­les ver­der­ben.



Die bei­den Da­men tau­schen einen Blick. Ih­nen ist al­les klar. Die­se Frau hat den ein­zi­gen Sohn ver­lo­ren, und da sieht sie solch eine Dame, von der sie meint, sie will sich ei­ner klei­nen Pf­licht ent­zie­hen, nicht das ge­rings­te Op­fer brin­gen … So was muss ja schief­ge­hen.



Die Mol­li­ge sagt: »Sie wer­den sich doch ent­schlie­ßen, eine klei­ne Ent­schul­di­gung vor­zu­brin­gen?«



»So­bald Sie mir be­wie­sen ha­ben, dass ich im Un­recht bin.«



Die Weiß­haa­ri­ge: »Aber ich habe es Ih­nen be­wie­sen!«



»Dann habe ich es nicht be­grif­fen. Für so was bin ich wohl zu dumm.«



»Na schön. Dann müs­sen wir es erst ein­mal al­lein ver­su­chen. Ein schwe­rer Weg für uns.«



»Ich bit­te Sie nicht dar­um!«



»Und dann, Frau Quan­gel, vor­erst müs­sen Sie mal dar­an den­ken, sich zu scho­nen. Im­mer trepp­auf und trepp­ab, und jetzt die­ser Kum­mer. Sie sind ja eine un­se­rer Flei­ßigs­ten ge­we­sen.«



»Sie schmei­ßen mich also raus!«, stellt Anna Quan­gel fest. »Weil ich so ei­ner Dame mal die Wahr­heit ge­sagt habe!«



»Aber nein, um Got­tes wil­len, fas­sen Sie das bloß nicht so auf! Vor­läu­fig sind Sie erst ein­mal zur Scho­nung be­ur­laubt. Wir ho­len Sie uns wie­der …«



Den Weg bis zum Fried­richs­hain leg­ten die bei­den Da­men schwei­gend zu­rück. Sie sind ganz mit ih­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt. Ver­mut­lich hät­ten sie eben zu der Quan­gel viel schär­fer sein müs­sen, sie auch an­brül­len und nie­der­don­nern müs­sen. Aber das ist ih­nen lei­der nicht ge­ge­ben – sie ge­hö­ren zu je­nen, die im­mer ku­schen, sie sind wehr­los.