Hans Fallada – Gesammelte Werke

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15. Enno Kluge arbeitet wieder

Als Otto Quan­gel sei­ne Ar­beit in der Tisch­ler­werk­statt be­gann, stand Enno Klu­ge schon seit sechs Stun­den an ei­ner Dreh­bank. Ja, es hat den klei­nen Mann nicht mehr in sei­nem Bet­te ge­lit­ten, trotz sei­ner Schwä­che und sei­ner Schmer­zen ist er in die Fa­brik ge­fah­ren. Der Empfang dort war frei­lich nicht sehr freund­lich, aber das war kaum an­ders zu er­war­ten.

»Na, bist du auch mal wie­der bei uns zu Be­such, Enno?«, hat­te ihn der Meis­ter ge­fragt. »Wie lan­ge wills­te denn dies­mal wie­der mit­ma­chen, eine oder zwei Wo­chen?«

»Ich bin jetzt wie­der ganz ge­sund, Meis­ter«, ver­si­cher­te Enno Klu­ge eif­rig. »Ich kann wie­der ar­bei­ten, und ich werd auch ar­bei­ten, das sollst du schon se­hen!«

»Nana!«, mein­te der Meis­ter ziem­lich un­gläu­big und woll­te wie­der ge­hen. Aber er blieb noch ein­mal ste­hen, be­trach­te­te nach­denk­lich En­nos Ge­sicht und frag­te: »Und was has­te denn mit dei­ner Vi­sa­ge ge­macht, Enno? Ein biss­chen in die Heiß­man­gel ge­kom­men, was?«

Enno hat den Kopf auf sein Werk­stück ge­senkt, er sieht den Meis­ter auch nicht an, als er schließ­lich ant­wor­tet: »Ja­wohl, Meis­ter, durch die Man­gel ge­dreht …«

Der Meis­ter bleibt nach­denk­lich vor ihm ste­hen und be­trach­tet ihn im­mer wei­ter. Schließ­lich glaubt er sich einen Vers auf die Sa­che ma­chen zu kön­nen und sagt: »Na, viel­leicht hat’s wirk­lich ge­hol­fen, viel­leicht hast du nun wirk­lich Trieb zur Ar­beit, Enno!«

Da­mit ging der Meis­ter, und Enno Klu­ge war froh, dass die Schlä­ge so ver­stan­den wor­den wa­ren. Soll­te der nur ru­hig den­ken, er war we­gen sei­ner Ar­beits­scheu so ab­ge­rollt wor­den, umso bes­ser! Dar­über woll­te er mit kei­nem re­den. Und wenn sie hier so dach­ten, wür­den sie ihn mit al­len Fra­gen ver­scho­nen. Sie wür­den höchs­tens hin­ter sei­nem Rücken über ihn la­chen, und das soll­ten sie ru­hig, das war ihm egal. Er woll­te jetzt ar­bei­ten, wun­dern soll­ten sich die über ihn!

Be­schei­den lä­chelnd und doch nicht ohne Stolz ließ sich Enno Klu­ge für die frei­wil­li­ge Sonn­tags­schicht auf­schrei­ben. Ein paar äl­te­re Ar­beits­kol­le­gen, die ihn noch von frü­her her kann­ten, mach­ten spöt­ti­sche Be­mer­kun­gen. Er lach­te ein­fach mit und sah es ger­ne, dass auch der Meis­ter grins­te.

Üb­ri­gens hat­te ihm die irr­tüm­li­che An­nah­me des Meis­ters, er habe die Schlä­ge we­gen sei­ner Ar­beits­scheu be­zo­gen, si­cher auch bei der Di­rek­ti­on genützt. Dor­thin war er gleich nach der Mit­tags­pau­se ge­ru­fen wor­den. Wie ein An­ge­klag­ter stand er dort, und dass von sei­nen Rich­tern ei­ner in Wehr­machts­uni­form, ei­ner in SA-Uni­form steck­te, wäh­rend nur ei­ner Zi­vil trug, frei­lich auch mit dem Ho­heits­zei­chen ge­schmückt, das er­höh­te noch sei­ne Angst.

Der Wehr­machts­of­fi­zier blät­ter­te in ei­nem Ak­ten­stück und hielt Enno Klu­ge mit ei­ner eben­so gleich­gül­ti­gen wie an­ge­ekel­ten Stim­me sei­ne Sün­den vor. Den und den Tag von der Wehr­macht zur Rüs­tungs­in­dus­trie ent­las­sen, dann und dann erst Mel­dung in dem zu­ge­wie­se­nen Be­trieb, elf Tage ge­ar­bei­tet, krank­ge­schrie­ben we­gen Ma­gen­blu­tun­gen, drei Ärz­te, zwei Kran­ken­häu­ser in An­spruch ge­nom­men. Dann und dann ar­beits­fä­hig ge­sund­ge­schrie­ben, fünf Tage ge­ar­bei­tet, drei Tage blau­ge­macht, einen Tag ge­ar­bei­tet, wie­der Ma­gen­blu­tun­gen usw. usw.

Der Wehr­machts­of­fi­zier leg­te das Ak­ten­stück weg, er sah an­ge­ekelt den Klu­ge an, das heißt, er rich­te­te sei­nen Blick etwa auf den obers­ten Knopf von En­nos Jackett und sag­te mit er­ho­be­ner Stim­me: »Was denkst du dir ei­gent­lich, du Schwein?« Plötz­lich schrie er, aber man sah es ihm an, dass er ganz ge­wohn­heits­mä­ßig schrie, ohne jede in­ne­re Er­re­gung. »Denkst du, du kannst hier einen Ein­zi­gen mit dei­nen duss­li­gen Ma­gen­blu­tun­gen an der Nase rum­füh­ren? Ich wer­de dich zu ei­ner Straf­kom­pa­nie schi­cken, da wer­den sie dir dei­ne stin­ken­den Ge­där­me aus dem Lei­be rei­ßen, da sollst du ler­nen, was Ma­gen­blu­tun­gen sind!«

So schrie der Of­fi­zier noch eine gan­ze Wei­le. Enno war das vom Mi­li­tär her ge­wohnt, es konn­te ihn nicht be­son­ders schre­cken. Er hör­te sich die­se Straf­pre­digt an, die Hän­de vor­schrifts­mä­ßig an die Naht sei­ner Zi­vil­ho­se ge­legt, das Auge auf­merk­sam auf den Schel­ten­den ge­hef­tet. Muss­te der Of­fi­zier ein­mal Luft ho­len, so sag­te Enno im vor­ge­schrie­be­nen Ton, klar und deut­lich, aber we­der de­mü­tig noch frech, son­dern sach­lich: »Ja­wohl, Herr Ober­leut­nant! Zu Be­fehl, Herr Ober­leut­nant!« An ei­ner Stel­le ge­lang es ihm so­gar, frei­lich ohne jede sicht­ba­re Wir­kung, den Satz ein­zu­schie­ben: »Mel­de mich ge­hor­samst ge­sund, Herr Ober­leut­nant! Mel­de ge­hor­samst, wer­de ar­bei­ten!«

Eben­so plötz­lich, wie er mit dem Schrei­en be­gon­nen hat­te, hör­te der Of­fi­zier wie­der da­mit auf. Er mach­te den Mund zu, nahm den Blick von dem obers­ten Rock­knopf Klu­ges und rich­te­te ihn auf sei­nen Nach­bar in Braun. »Sonst noch was?«, frag­te er an­ge­ekelt.

Ja­wohl, auch die­ser Herr hat­te noch et­was zu sa­gen oder viel­mehr zu schrei­en – alle die­se Her­ren Vor­ge­setz­ten schie­nen ja nur mit ih­ren Leu­ten schrei­en zu kön­nen. Die­ser schrie von Volks­ver­rat und Ar­beitssa­bo­ta­ge, vom Füh­rer, der kei­ne Ver­rä­ter in den ei­ge­nen Rei­hen dul­de­te, und von den KZs, wo ihm schon sein Recht wer­den sol­le.

»Und wie kommst du zu uns?«, schrie der Brau­ne plötz­lich. »Wie has­te dich zu­ge­rich­tet, du Schwein, du? Mit sol­cher Fres­se kommst du zur Ar­beit? Bei den Wei­bern has­te rum­ge­hurt, du Hu­ren­bock! Da läss­te dei­ne Kraft, und wir dür­fen dich hier be­zah­len! Wo bis­te ge­we­sen, wo has­te dich so zu­ge­rich­tet, du elen­der Zu­häl­ter, du?«

»Mich ha­ben sie durch die Rol­le ge­dreht«, sag­te Enno, ver­schüch­tert un­ter dem Blick des an­de­ren.

»Wer, wer hat dich so zu­ge­rich­tet, ich will’s wis­sen!«, schrie das Braun­hemd. Und er fuch­tel­te mit der Faust un­ter der Nase des an­de­ren und stampf­te mit dem Fuße auf.

Hier war der Au­gen­blick ge­kom­men, wo je­der ei­ge­ne Ge­dan­ke den Schä­del Enno Klu­ges ver­ließ. Un­ter der Be­dro­hung mit neu­en Schlä­gen ent­lie­fen ihm Vor­satz wie Vor­sicht, er flüs­ter­te angst­voll: »Mel­de ge­hor­samst, die SS hat mich so zu­ge­rich­tet.«

In der sinn­lo­sen Angst die­ses Man­nes lag et­was so Über­zeu­gen­des, dass die drei Män­ner am Tisch ihm so­fort Glau­ben schenk­ten. Ein ver­ständ­nis­vol­les, bil­li­gen­des Lä­cheln trat auf ihre Ge­sich­ter. Der Brau­ne schrie noch: »Zu­ge­rich­tet nennst du das? Ge­züch­tigt heißt das, zu Recht be­straft! Wie heißt das?«

»Mel­de ge­hor­samst, es heißt: zu Recht be­straft!«

»Na, ich hof­fe, du wirst es dir mer­ken. Das nächs­te Mal kommst du nicht so bil­lig da­von weg! Ab­tre­ten!«

Noch eine hal­be Stun­de da­nach zit­ter­te Enno Klu­ge so stark, dass er sei­ne Ar­beit an der Dreh­bank nicht ver­rich­ten konn­te. Er drück­te sich auf dem Ab­tritt her­um, wo ihn der Meis­ter schließ­lich auf­stö­ber­te und schel­tend an die Ar­beit jag­te. Der Meis­ter stell­te sich dann da­ne­ben und sah schimp­fend zu, wie Enno Klu­ge ein Werk­stück nach dem an­de­ren verd­arb. In dem Kopf des klei­nen Kerls dreh­te sich noch al­les: vom Meis­ter be­schimpft, von den Ar­beits­kol­le­gen ver­spot­tet, von Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und Straf­kom­pa­nie be­droht, ver­moch­te er nichts mehr klar zu se­hen. Die sonst so ge­schick­ten Hän­de ver­wei­ger­ten ihm den Dienst. Er konn­te nicht, und doch muss­te er, sonst war er ganz ver­lo­ren.

Schließ­lich sah es selbst der Meis­ter ein, dass hier nicht üb­ler Wil­le und Ar­beits­scheu vor­la­gen. »Wenn du nicht ge­ra­de krank ge­we­sen wärst, wür­de ich sa­gen, leg dich erst ein paar Tage ins Bett und ku­ri­er dich ge­sund.« Mit die­sen Wor­ten ver­ließ ihn der Meis­ter. Und er setz­te hin­zu: »Aber du weißt ja wohl, was dir dann pas­siert!«

Ja, er wuss­te es. Er mach­te im­mer wei­ter, ver­such­te, nicht an die Schmer­zen, an den un­er­träg­li­chen Druck in sei­nem Kopf zu den­ken. Eine Wei­le zog ihn das sich schim­mernd dre­hen­de Ei­sen ma­gisch an. Er brauch­te nur die Fin­ger da­zwi­schen­zu­hal­ten, und er hat­te Ruhe, kam in ein Bett, konn­te lie­gen, aus­ru­hen, schla­fen, ver­ges­sen! Aber gleich dach­te er wie­der dar­an, dass mit dem Tode be­straft wird, wer sich mut­wil­lig selbst ver­stüm­melt, und die Hand zuck­te zu­rück …

Und so war es: Tod in der Straf­kom­pa­nie, Tod in ei­nem KZ, Tod auf ei­nem Ge­fäng­nis­hof, das wa­ren die Din­ge, die ihn täg­lich be­droh­ten, die er von sich ab­wen­den muss­te. Und er hat­te so we­nig Kraft …

Ir­gend­wie ging die­ser Nach­mit­tag hin, ir­gend­wie war er kurz nach fünf auch im Stro­me der Heim­keh­ren­den. Er hat­te sich so nach Ruhe und Schlaf ge­sehnt; als er dann aber in sei­nem en­gen Ho­tel­zim­mer­chen stand, brach­te er es nicht über sich, ins Bett zu ge­hen. Er lief wie­der los, er kauf­te sich ein we­nig Es­sen ein.

Und wie­der im Zim­mer, die Ess­wa­ren auf dem Tisch vor sich, das Bett ne­ben sich – aber er konn­te hier ein­fach nicht blei­ben. Er war wie ge­hetzt, es litt ihn nicht in die­sem Zim­mer. Er muss­te sich noch ein biss­chen Wasch­zeug kau­fen, auch se­hen, dass er bei ei­nem Tröd­ler eine blaue Blu­se kau­fen konn­te.

Lief wie­der los, und als er in ei­ner Dro­ge­rie stand, fiel ihm ein, dass er noch einen gan­zen schwe­ren Hand­kof­fer mit all sei­nen Be­sitz­tü­mern bei der Lot­te zu ste­hen hat­te, de­ren auf Ur­laub kom­men­der Mann ihn so roh hin­aus­ge­wor­fen hat­te. Er rann­te aus der Dro­ge­rie, er stieg auf eine Elek­tri­sche; er ris­kier­te es: er fuhr ein­fach zu ihr. Er konn­te doch nicht alle sei­ne Sa­chen preis­ge­ben! Vor ei­ner Wucht Prü­gel grau­te es ihn, aber es trieb ihn, er muss­te zur Lot­te.

 

Und er hat­te Glück, er fand die Lot­te zu Haus, der Mann war nicht da. »Dei­ne Sa­chen, Enno?«, frag­te sie. »Ich habe sie gleich in den Kel­ler ge­setzt, da­mit er sie nicht fin­det. War­te, ich hole den Schlüs­sel!«

Aber er hielt sie um­fasst, er lehn­te den Kopf ge­gen ihre star­ke Brust. Die An­stren­gun­gen der letz­ten Wo­chen wa­ren zu viel für ihn ge­we­sen, er wein­te ein­fach los.

»Ach, Lot­te, Lot­te, ich halt es ein­fach ohne dich nicht aus! Ich hab sol­che Sehn­sucht nach dir!«

Sein gan­zer Kör­per beb­te vor Schluch­zen. Sie war or­dent­lich er­schro­cken. Sie war den Um­gang mit Män­nern ge­wohnt, auch den mit flen­nen­den, aber dann wa­ren sie be­trun­ken, und die­ser hier war nüch­tern … Und dann die­ses Ge­re­de von Sehn­sucht nach ihr und nicht ohne sie aus­kom­men, das war Ewig­kei­ten her, dass je­mand so was zu ihr ge­sagt hat­te! Wenn es über­haupt je je­mand zu ihr ge­sagt hat­te!

Sie be­ru­hig­te ihn, so gut sie konn­te. »Er bleibt ja nur drei Wo­chen auf Ur­laub, dann kanns­te wie­der bei mir, Enno! Nimm dich jetzt zu­sam­men, hol dei­ne Sa­chen, eh er kommt. Du weißt doch!«

Oh, wie er wuss­te, wie ge­nau er wuss­te, was al­les ihn be­droh­te!

Sie setz­te ihn noch in sei­ne Elek­tri­sche, half ihm mit dem Hand­kof­fer.

Enno Klu­ge fuhr in sein Ho­tel, doch ein we­nig er­leich­tert. Nur noch drei Wo­chen, von de­nen vier Tage schon rum wa­ren. Dann ging er wie­der an die Front, und er konn­te sich in sein Bett le­gen! Enno hat­te ge­dacht, er hiel­te es ganz ohne Wei­ber aus, aber das ging nicht, er konn­te es ein­fach nicht. Er wür­de bis da­hin auch noch ein­mal nach der Tut­ti se­hen; er sah doch jetzt, wenn man ih­nen nur was vor­wein­te, dann wa­ren sie gar nicht so schlimm. Dann hal­fen sie ei­nem gleich! Er konn­te viel­leicht die drei Wo­chen bei der Tut­ti blei­ben, das ein­sa­me Ho­tel­zim­mer war zu schlimm!

Aber trotz der Wei­ber wür­de er ar­bei­ten, ar­bei­ten, ar­bei­ten! Er wür­de kei­ne Zi­cken ma­chen, er nicht, nie wie­der! Er war ge­heilt!

16. Das Ende der Frau Rosenthal

Am Sonn­tag­mor­gen wach­te Frau Ro­sen­thal mit ei­nem Schre­ckens­schrei aus tie­fem Schlaf auf. Sie hat­te wie­der et­was Grau­si­ges von dem ge­träumt, was sie jetzt fast in je­der Nacht heim­such­te: sie war mit Sieg­fried auf der Flucht. Sie ver­steck­ten sich, die Ver­fol­ger gin­gen an ih­nen vor­über, wo­bei sie die so schlecht Ver­steck­ten aus den Au­gen­win­keln zu ver­höh­nen schie­nen.

Plötz­lich fing Sieg­fried an zu lau­fen, sie hin­ter ihm drein. Sie konn­te nicht so schnell lau­fen wie er. Sie rief: »Nicht so schnell, Sieg­fried! Ich kom­me nicht mit! Lass mich nicht al­lein!«

Er hob sich von der Erde, er flog. Flog erst we­nig über dem Pflas­ter, dann hob er sich im­mer hö­her, nun ent­schwand er über den Dä­chern. Sie stand al­lein auf der Greifs­wal­der Stra­ße. Ihre Trä­nen lie­fen. Eine große, rie­chen­de Hand leg­te sich er­drückend vor ihr Ge­sicht, eine Stim­me flüs­ter­te an ih­rem Ohr: »Olle Ju­densau, hab ich dich end­lich?«

Sie starr­te nach der Ver­dun­ke­lung vor den Fens­tern, an den Spal­ten si­cker­te Ta­ges­licht hin­ein. Die Schre­cken der Nacht ent­wi­chen vor de­nen des Ta­ges, der ihr be­vor­stand. Es war schon wie­der Tag! Wie­der hat­te sie den Kam­mer­ge­richts­rat ver­schla­fen, den ein­zi­gen Men­schen, mit dem sie spre­chen konn­te! Sie hat­te sich fest vor­ge­nom­men, wach zu blei­ben, und nun war sie doch wie­der ein­ge­schla­fen! Wie­der einen Tag al­lein, zwölf Stun­den, fünf­zehn Stun­den! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wän­de die­ses Zim­mers stürz­ten über ihr zu­sam­men, im­mer das glei­che blei­che Ge­sicht im Spie­gel, stets wie­der das­sel­be Geld zäh­len – nein, so ging es nicht wei­ter! Das Schlimms­te war nicht so schlimm wie die­ses ta­ten­lo­se Ein­ge­sperrt­sein.

Has­tig klei­det sich Frau Ro­sen­thal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Rie­gel, öff­net lei­se und späht auf den Flur hin­aus. Al­les ist still in der Woh­nung, auch im Hau­se ist noch al­les still. Die Kin­der lär­men noch nicht auf der Stra­ße – es muss noch sehr früh sein. Vi­el­leicht ist der Rat noch in sei­nem Bü­cher­zim­mer? Vi­el­leicht kann sie ihm noch gu­ten Mor­gen sa­gen, zwei, drei Sät­ze mit ihm wech­seln, die ihr Mut ma­chen wer­den, einen end­lo­sen Tag zu er­tra­gen?

Sie wagt es, ge­gen sein Ver­bot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zim­mer ein. Sie schreckt et­was vor der Hel­le zu­rück, die durch die ge­öff­ne­ten Fens­ter her­ein­strömt, vor der Stra­ße, der Öf­fent­lich­keit, die mit die­ser Luft zu­sam­men hier jetzt herr­schen. Aber mehr noch erschrickt sie vor ei­ner Frau, die mit ei­nem Tep­pichrol­ler den Zwickau­er Tep­pich rei­nigt. Sie ist eine dür­re, äl­te­re Frau; das Tuch um den Kopf, der Tep­pichrol­ler be­stä­ti­gen, dass sie hier die Rein­ma­che­frau ist.

Beim Ein­tritt von Frau Ro­sen­thal hat die­se Frau die Ar­beit un­ter­bro­chen. Sie starrt erst einen Au­gen­blick die un­er­war­te­te Be­su­che­rin an, wo­bei sie die Au­gen­li­der rasch hin­ter­ein­an­der ein paar Mal zu­kneift, als kön­ne sie den An­blick da nicht für ganz wirk­lich neh­men. Dann lehnt sie den Tep­pichrol­ler ge­gen den Tisch und fängt an, mit Hän­den und Ar­men ab­weh­ren­de Be­we­gun­gen zu ma­chen, wo­bei sie von Zeit zu Zeit ein schar­fes »Sch! Sch!« aus­stößt, als scheu­che sie Hüh­ner.

Frau Ro­sen­thal, schon im Rück­zug, sagt fle­hend:

»Wo ist der Kam­mer­ge­richts­rat? Ich muss ihn einen Au­gen­blick spre­chen!«

Die Frau kneift die Lip­pen eng zu­sam­men und schüt­telt hef­tig den Kopf. Dann be­ginnt sie wie­der mit ih­ren Scheuch­be­we­gun­gen und dem »Sch! Sch!«, bis Frau Ro­sen­thal ganz in ihr Zim­mer zu­rück­ge­wi­chen ist. Dort sinkt sie, wäh­rend die Rein­ma­che­frau lei­se die Tür schließt, an ih­rem Tisch in den Ses­sel und bricht fas­sungs­los in Trä­nen aus. Al­les um­sonst! Wie­der ein Tag, der sie nur zum ein­sa­men, sinn­lo­sen War­ten ver­ur­teilt! Viel ge­schieht in der Welt, viel­leicht stirbt jetzt ge­ra­de Sieg­fried, oder eine deut­sche Flie­ger­bom­be tö­tet ihr die Eva – sie aber muss hier im­mer wei­ter im Dun­keln sit­zen und nichts tun.

Sie schüt­telt un­wil­lig den Kopf: sie macht dies ein­fach nicht mehr mit. Sie macht es nicht! Wenn sie un­glück­lich sein soll, wenn sie denn ewig ge­hetzt und in Angst le­ben soll, so will sie dies auf ihre Art tun. Möge sich denn die­se Tür für im­mer hin­ter ihr schlie­ßen, sie kann es nicht hin­dern. Sie war gut ge­meint, die­se Gast­freund­schaft, aber sie tut ihr nicht gut.

Als sie wie­der an der Tür steht, be­sinnt sie sich. Sie geht wie­der an den Tisch zu­rück und nimmt das di­cke, gol­de­ne Arm­band mit den Sa­phi­ren. Vi­el­leicht so …

Doch in dem Ar­beits­zim­mer ist die Frau nicht mehr, die Fens­ter sind schon wie­der ge­schlos­sen. Frau Ro­sen­thal steht ab­war­tend auf dem Flur, nahe der Aus­gangs­tür. Dann hört sie Teller­ge­klap­per, und sie folgt die­sem Geräusch, bis sie die Frau in der Kü­che beim Ab­wa­schen fin­det.

Sie hält ihr fle­hend das Arm­band hin und sagt sto­ckend: »Ich muss den Kam­mer­ge­richts­rat wirk­lich spre­chen. Bit­te, bit­te doch!«

Die Be­die­ne­rin hat bei der neu­er­li­chen Stö­rung die Stirn ge­run­zelt. Nur einen flüch­ti­gen Blick wirft sie auf das hin­ge­hal­te­ne Arm­band. Dann be­ginnt sie wie­der zu scheu­chen, mit ru­dern­den Arm­be­we­gun­gen und »Sch! Sch!«, und vor die­sem Scheu­chen flieht Frau Ro­sen­thal in ihr Zim­mer. Sie stürzt ge­ra­de­zu auf ih­ren Nacht­tisch zu, sie nimmt aus der Lade das ihr vom Kam­mer­ge­richts­rat ver­ord­ne­te Schlaf­mit­tel.

Sie schüt­tet alle Ta­blet­ten, zwölf oder vier­zehn an der Zahl, in ihre hoh­le Hand, geht zum Wasch­tisch und spült sie mit ei­nem Gla­se Was­ser hin­un­ter. Sie muss heu­te schla­fen, sie wird heu­te den Tag ver­schla­fen … Dann wird sie abends den Kam­mer­ge­richts­rat spre­chen und hö­ren, was zu tun ist. Sie legt sich an­ge­klei­det auf das Bett, zieht die De­cke nur leicht über sich. Still auf dem Rücken lie­gend, die Au­gen zur De­cke ge­rich­tet, war­tet sie auf den Schlaf.

Und er scheint wirk­lich zu kom­men. Die quä­len­den Ge­dan­ken, die im­mer glei­chen Schreck­bil­der, die von der Angst in ih­rem Hirn ge­bo­ren wer­den, sie ver­schwim­men. Sie schließt die Au­gen, ihre Glie­der ent­span­nen sich, wer­den schlaff, sie hat sich schon fast hin­über­ge­ret­tet in ih­ren Schlaf …

Da ist es, als hät­te sie auf der Schwel­le zu die­sem Schlaf eine Hand zu­rück­ge­sto­ßen ins Wa­chen. Sie ist förm­lich zu­sam­men­ge­schreckt, solch einen Ruck hat es ihr ge­ge­ben. Ihr Kör­per ist zu­sam­men­ge­zuckt wie in ei­nem plötz­li­chen Krampf …

Und wie­der liegt sie, die De­cke an­star­rend, auf dem Rücken, die ewig glei­che Müh­le dreht die ewig glei­chen Qual­ge­dan­ken und Angst­bil­der in ihr. Dann – all­mäh­lich – wird das schwä­cher, die Au­gen schlie­ßen sich, der Schlaf ist nahe. Und wie­der auf sei­ner Schwel­le der Stoß, der Ruck, der Krampf, der ih­ren gan­zen Kör­per zu­sam­men­zieht. Wie­der ist sie ver­trie­ben aus der Ruhe, dem Frie­den, dem Ver­ges­sen …

Als sich das drei- oder vier­mal wie­der­holt hat, gibt sie es auf, den Schlaf zu er­war­ten. Sie steht auf, geht lang­sam, ein we­nig tau­me­lig, mit hän­gen­den Glie­dern an den Tisch und setzt sich. Sie starrt vor sich hin. Sie er­kennt in dem Wei­ßen, das vor ihr liegt, den Brief an Sieg­fried, den sie vor drei Ta­gen be­gann, der nicht über die ers­ten Zei­len hin­aus­kam. Sie sieht wei­ter: sie er­kennt die Schei­ne, die Schmuck­sa­chen. Dort hin­ten steht auch das Ta­blett mit dem ihr be­stimm­ten Es­sen. Sonst hat sie sich mor­gens völ­lig aus­ge­hun­gert dar­über­ge­stürzt, jetzt mus­tert sie es mit gleich­gül­ti­gem Blick. Sie mag nicht es­sen …

Wäh­rend sie dort so sitzt, ist ihr dun­kel be­wusst, dass die Ta­blet­ten doch eine Ver­än­de­rung in ihr her­vor­ge­ru­fen ha­ben: wenn sie ihr auch kei­nen Schlaf schen­ken konn­ten, so ha­ben sie ihr doch die ja­gen­de Un­ru­he des Mor­gens ge­nom­men. Sie sitzt nur so da, manch­mal ist sie auch im Ses­sel bei­na­he ein­ge­nickt, dann fährt sie wie­der hoch. Ei­ni­ge Zeit ist ver­gan­gen, ob viel oder we­nig, das weiß sie nicht, aber ei­ni­ge Zeit von die­sem Schre­ckens­tag ist doch wohl fort …

Dann, spä­ter, hört sie einen Schritt auf der Trep­pe. Sie fährt zu­sam­men – in ei­nem Au­gen­blick der Selbst­be­ob­ach­tung sucht sie sich dar­über klar­zu­wer­den, ob sie von die­sem Zim­mer aus über­haupt hö­ren kann, wenn je­mand auf der Trep­pe geht. Aber die­se kri­ti­sche Mi­nu­te ist schon wie­der vor­bei, und sie lauscht nur an­ge­spannt auf den Schritt im Trep­pen­haus, den Schritt ei­nes Men­schen, der sich müh­sam trepp­auf schleppt, im­mer wie­der in­ne­hal­tend, dann, nach ei­nem Hüs­teln, sich wie­der am Trep­pen­ge­län­der hoch­zie­hend.

Jetzt hört sie nicht nur, jetzt sieht sie auch. Sie sieht Sieg­fried ganz deut­lich, wie er sich da durch das noch stil­le Trep­pen­haus in ihre Woh­nung hin­auf­schleicht. Sie ha­ben ihn na­tür­lich wie­der miss­han­delt, um sei­nen Kopf lie­gen ein paar has­tig ge­schlun­ge­ne Bin­den, die schon wie­der durch­blu­tet sind, und sein Ge­sicht ist wund und fle­ckig von ih­ren Faust­schlä­gen. So schleppt sich Sieg­fried müh­se­lig die Trep­pen hin­auf. In sei­ner Brust krächzt und or­gelt es, in die­ser Brust, die von ih­ren Fuß­trit­ten ver­letzt ist. Sie sieht Sieg­fried um den Trep­pen­ab­satz her­um ent­schwin­den …

Eine Wei­le sitzt sie noch so da. Be­stimmt denkt sie an gar nichts, auch nicht an den Kam­mer­ge­richts­rat und das mit ihm Ver­ein­bar­te. Son­dern sie muss da oben in die Woh­nung – was soll Sieg­fried den­ken, wenn er sie leer fin­det? – Aber sie ist so schreck­lich müde, und es ist fast un­mög­lich, aus dem Ses­sel hoch­zu­kom­men!

Dann steht sie doch wie­der da. Sie nimmt das Schlüs­sel­bund aus der Hand­ta­sche, greift nach dem Sa­phi­r­arm­band, als sei es ein Ta­lis­man, der sie be­schüt­zen kann – und lang­sam und tau­me­lig geht sie aus der Woh­nung. Die Tür fällt hin­ter ihr zu.

Der nach lan­gem Be­den­ken von sei­ner Be­die­ne­rin doch end­lich ge­weck­te Kam­mer­ge­richts­rat kommt zu spät, um sei­nen Gast von die­sem Aus­flug in eine zu ge­fähr­li­che Welt ab­zu­hal­ten.

Der Rat steht einen Au­gen­blick in der lei­se wie­der ge­öff­ne­ten Tür, er lauscht nach oben, er lauscht nach un­ten. Er hört nichts. Dann, als er doch et­was hört, näm­lich den ra­schen, ener­gi­schen Schritt von Stie­feln, zieht er sich wie­der in sei­ne Woh­nung zu­rück. Aber er ver­lässt den Aus­guck an der Tür nicht. Soll­te es doch noch eine Mög­lich­keit ge­ben, die­se Un­se­li­ge zu ret­ten, er wird ihr doch noch ein­mal trotz al­ler Ge­fahr sei­ne Tür öff­nen.

 

Frau Ro­sen­thal hat es gar nicht ge­merkt, dass sie auf der Trep­pe an je­mand vor­über­ging. Sie hat nur den einen Ge­dan­ken, mög­lichst rasch die Woh­nung mit Sieg­fried zu er­rei­chen. Aber der HJ-Füh­rer Bal­dur Per­si­cke, der eben zu ei­nem Mor­ge­n­ap­pell will, bleibt völ­lig ver­blüfft, mit of­fe­nem Mun­de auf der Trep­pe ste­hen, als die­se Frau, ihn fast an­sto­ßend, an ihm vor­über­geht. Die Ro­sen­thal, die ta­ge­lang ver­schwun­de­ne Ro­sen­thal, an die­sem Sonn­tag­mor­gen un­ter­wegs, in ei­ner dunklen ge­stick­ten Blu­se ohne Ju­dens­tern, ein Schlüs­sel­bund und ein Arm­band in der einen Hand, mit der an­de­ren sich müh­sam am Trep­pen­ge­län­der hoch­zie­hend – so be­sof­fen ist die Frau! Am frü­hen Sonn­tag­mor­gen schon so be­sof­fen!

Ei­nen Au­gen­blick steht Bal­dur noch so da, in völ­li­ger Ver­blüf­fung. Aber als Frau Ro­sen­thal um die Trep­pen­keh­re her­um ver­schwun­den ist, keh­ren sei­ne Ge­dan­ken wie­der in ihn zu­rück, und sein Mund schließt sich. Er hat das Ge­fühl, jetzt ist der rich­ti­ge Au­gen­blick ge­kom­men, jetzt darf er nur nichts falsch ma­chen! Nein, dies­mal wird er die Sa­che al­lein er­le­di­gen, we­der die Brü­der noch der Va­ter noch ein Bark­hau­sen sol­len sie ihm ver­sau­en.

Bal­dur war­tet noch, bis er si­cher ist, dass Frau Ro­sen­thal jetzt schon die Quan­gel’­sche Woh­nung er­reicht hat, dann geht er lei­se in die el­ter­li­che Woh­nung. Dort schläft noch al­les, und das Te­le­fon hängt auf dem Flur. Er hebt ab und dreht die Schei­be, dann ver­langt er einen be­stimm­ten Ap­pa­rat. Er hat Glück: trotz des Sonn­tags be­kommt er die Ver­bin­dung und auch den rich­ti­gen Mann. Er sagt kurz, was zu sa­gen ist; dann rückt er sich einen Stuhl an die Tür, öff­net sie einen Spalt und macht sich ge­dul­dig dar­auf ge­fasst, eine hal­be oder auch eine Stun­de Wa­che hal­ten zu müs­sen, da­mit der Vo­gel nicht wie­der ent­wischt …

Bei Quan­gels ist nur erst Anna wach, lei­se wirt­schaf­tet sie in der Woh­nung. Zwi­schen­durch sieht sie nach Otto, er schläft noch im­mer ganz fest. Er sieht müde und ge­quält aus, selbst jetzt im Schlaf. Als lie­ße ihm ir­gen­det­was kei­ne Ruhe. Sie steht da und sieht nach­denk­lich in das Ge­sicht des Man­nes, mit dem sie fast drei Jahr­zehn­te Tag für Tag zu­sam­men­ge­lebt hat. Sie hat sich na­tür­lich längst an die­ses Ge­sicht ge­wöhnt, das vo­gel­schar­fe Pro­fil, der dün­ne, fast stets ge­schlos­se­ne Mund – das er­schreckt sie nicht mehr. So sieht eben der Mann aus, dem sie ihr gan­zes Le­ben ge­weiht hat. Es kommt nicht auf das Aus­se­hen an …

Aber an die­sem Mor­gen scheint ihr doch, als sei das Ge­sicht noch schär­fer ge­wor­den, der Mund noch schma­ler, als hät­ten sich die Fal­ten von der Nase her noch mehr ver­tieft. Er hat Sor­gen, schwe­re Sor­gen, und sie hat es ver­säumt, recht­zei­tig mit ihm dar­über zu spre­chen, ihm die Last tra­gen zu hel­fen. An die­sem Sonn­tag­mor­gen, vier Tage nach­dem sie die Nach­richt vom Tode des Soh­nes be­kom­men hat, ist Anna Quan­gel wie­der fest da­von über­zeugt, nicht nur, dass sie bei die­sem Man­ne wie bis­her aus­zu­hal­ten hat, son­dern dass sie auch im Un­recht war, über­haupt erst mit die­ser Trot­ze­rei an­zu­fan­gen. Sie hät­te ihn bes­ser ken­nen müs­sen: er schwieg lie­ber, als dass er sprach. Sie muss­te ihn stets er­mun­tern, ihm die Zun­ge lö­sen – von selbst sprach die­ser Mann nie.

Nun, heu­te wird er spre­chen. Er hat­te es ihr zu­ge­sagt, heu­te in der Nacht, als er von der Ar­beit heim­ge­kom­men war. Anna hat­te da einen schlim­men Tag hin­ter sich ge­bracht. Als er ganz ohne Früh­stück los­ge­lau­fen war, als sie Stun­den ver­geb­lich auf ihn ge­war­tet hat­te, als er auch nicht zum Mit­ta­ges­sen er­schie­nen war, als ihr klar wur­de, jetzt hat­te sei­ne Ar­beit schon be­gon­nen, jetzt wür­de er be­stimmt nicht mehr kom­men – da war sie völ­lig ver­zwei­felt ge­we­sen.

Was war in die­sen Mann ge­fah­ren, seit sie je­nes vor­schnel­le, un­be­dach­te Wort ge­sagt hat­te? Was trieb ihn so ru­he­los um? Sie kann­te ihn doch: Seit­dem sie das ge­sagt hat­te, sann er nur dar­auf, ihr zu zei­gen, dass der nicht »sein« Füh­rer war. Als wenn sie es je ernst­lich so ge­meint hät­te! Sie hät­te es ihm sa­gen müs­sen, dass sie das Wort nur im ers­ten trau­ern­den Zorn ge­sagt hat­te. Sie hät­te auch ganz an­de­re Din­ge sa­gen kön­nen ge­gen die­se Ver­bre­cher, die sie so sinn­los des Soh­nes be­raubt hat­ten – gra­de die­ses Wort muss­te ihr her­aus­fah­ren!

Aber nun hat­te sie eben gra­de dies ge­sagt, und nun lief er in der Welt um­her und be­gab sich in alle mög­li­chen Ge­fah­ren, um recht zu be­hal­ten, um ihr das Un­recht, das sie ihm an­ge­tan, noch ganz hand­greif­lich zu be­wei­sen! Wo­mög­lich kam er gar nicht wie­der. Hat­te et­was ge­sagt oder ge­tan, was die Werk­lei­tung oder die Ge­sta­po auf ihn hetz­te – wo­mög­lich saß er schon im Loch! So un­ru­hig, wie die­ser ru­hi­ge Mann schon am frü­hen Mor­gen ge­we­sen war!

Anna Quan­gel hält es nicht aus, so ta­ten­los kann sie nicht mehr auf ihn war­ten. Sie macht ein paar Stul­len zu­recht und tritt den Weg zu sei­ner Fa­brik an. Auch dar­in ist sie ganz sein ge­treu­es Ehe­weib, dass sie selbst jetzt, wo es ihr auf jede Mi­nu­te, die sie frü­her Ge­wiss­heit hat, an­kommt, nicht die Bahn be­nutzt. Nein, sie geht zu Fuß – sie spart den Gro­schen wie er.

Vom Pfört­ner der Mö­bel­fa­brik er­fährt sie dann, dass der Werk­meis­ter Quan­gel pünkt­lich wie im­mer auf sei­ne Ar­beits­stel­le ge­kom­men ist. Sie lässt ihm durch einen Bo­ten die »ver­ges­se­nen« Stul­len hin­ein­schi­cken und war­tet auch noch die Rück­kehr des Bo­ten ab.

»Nun, was hat er ge­sagt?«

»Was soll er denn ge­sagt ha­ben …? Der sagt doch nie was!«

Jetzt kann sie be­ru­hig­ter nach Haus ge­hen. Es ist noch nichts ge­sche­hen, trotz all sei­ner Un­ru­he am Mor­gen nicht. Und heu­te Abend wird sie mit ihm spre­chen …

Er kommt in der Nacht. Sie sieht sei­nem Ge­sicht an, wie müde er ist.

»Otto«, sagt sie bit­tend, »ich habe es doch nicht so ge­meint. Nur im ers­ten Er­schre­cken ist es mir so raus­ge­fah­ren. Sei nicht mehr böse!«

»Ich – böse – dir? We­gen so was? Nie!«

»Aber du willst was tun, ich spü­re es! Otto, tu’s nicht, stür­ze dich we­gen so was nicht ins Un­glück! Ich könn­te es mir nie ver­zei­hen.«

Er sieht sie einen Au­gen­blick an, fast lä­chelnd. Dann legt er bei­de Hän­de rasch auf ihre Schul­tern. Schon zieht er sie wie­der fort, als schä­me er sich die­ser ra­schen Zärt­lich­keit.

»Was ich tun wer­de? Schla­fen wer­de ich! Und mor­gen sage ich dir, was wir tun wer­den!«

Nun ist der Mor­gen ge­kom­men, und Quan­gel schläft noch. Aber jetzt kommt es auf eine hal­be Stun­de mehr oder we­ni­ger nicht an. Er ist bei ihr, er kann nichts Ge­fähr­li­ches tun, er schläft.

Sie wen­det sich ab von sei­nem Bett, sie macht sich wie­der an ihre klei­nen Haus­ar­bei­ten. –

Un­ter­des ist Frau Ro­sen­thal längst bei ih­rer Woh­nungs­tür an­ge­kom­men, so lang­sam sie auch trepp­auf ging. Sie ist nicht über­rascht, die Tür ver­schlos­sen zu fin­den – sie schließt sie auf. Und auch in der Woh­nung drin­nen sucht sie nicht erst lan­ge nach Sieg­fried oder ruft nach ihm. Auch das wüs­te Durchein­an­der be­ach­tet sie nicht, wie sie auch schon wie­der ver­ges­sen hat, dass sie ja ei­gent­lich dem Schritt ih­res Man­nes fol­gend die Woh­nung be­tre­ten hat.