Hans Fallada – Gesammelte Werke

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

25

An den Rest die­ser Nacht hat­te Ku­falt nur eine ver­wirr­te Erin­ne­rung, von dem Mo­ment an, da er die Kel­ler­trep­pe zum Café Zen­trum hin­un­ter­pol­ter­te und mit ei­nem Krach im Lo­kal lan­de­te, bis zu dem Au­gen­blick, da er, Arm in Arm mit Herrn Che­fre­dak­teur Free­se, auf ei­nem wüs­ten Fa­brik­hof stand und wie ge­bannt in ein grau­es, öli­ges, lang­sam zie­hen­des Was­ser starr­te, wäh­rend Free­se ge­heim­nis­voll flüs­ter­te: »Die Treh­ne ent­springt bei Ru­ten­dorf, un­ter­halb des Gal­gen­ber­ges, nimmt in un­se­rer Va­ter­stadt die Ab­wäs­ser von sechs­und­drei­ßig Le­der­fa­bri­ken mit Ger­be­rei­en auf. Berühmt als Ver­brei­te­rin des Milz­brander­re­gers … Die Treh­ne …«

Eine ge­spens­ter­haf­te Nacht. Un­wahr­schein­lich schon, wie er in die Gast­stu­be pol­ter­te, eine ganz kom­mu­ne Gast­stu­be, ohne jede Lu­de­rei und Ver­wor­fen­heit, wie er sich su­chend um­sah und in den di­cken Schwa­den von Zi­gar­ren­dampf doch nichts er­ken­nen konn­te – und eine Stim­me schrie aus dem Win­kel: »He, Ku­falt! Bräut­jamm Ku­falt!!«

Er folg­te der Stim­me und fand an ei­nem Eck­tisch in trau­ter Ge­mein­sam­keit ers­tens den Free­se, zwei­tens den Diet­rich – über Grog hockend, Free­se glü­hend rot, die wüs­ten Haar­zot­teln wüst ins schänd­li­che Ge­sicht, und Diet­rich gelb­lich­bleich, mit stump­fen, dum­men Mau­seau­gen.

»Setz dich, Ku­falt«, sag­te Free­se. »Das ist der Diet­rich, den ich dei­net­we­gen raus­ge­schmis­sen habe.«

»Sehr an­ge­nehm«, mur­mel­te Diet­rich und mach­te eine hal­be Ver­beu­gung.

»Be­sof­fen!« sag­te Free­se. »Setz dich, Ku­falt. Be­sof­fen wie ein Be­senstiel. Wo hast’en dei­ne Braut?«

»Ver­steh im­mer Braut«, mur­mel­te Diet­rich.

»Halt die Schnau­ze, du!« rüf­fel­te ihn Free­se. »Hier wird nicht an­ge­spielt. Hier wird über­haupt nicht ge­spielt. Was trinkst’en«

»Ein Hel­les«, sag­te Ku­falt.

»Min­na, ein Hel­les und einen drei­stö­cki­gen Ko­gnak für den Herrn. – Min­na, das is’en Bräut­jamm, re­ell, kiek ihn dir an.«

Ku­falt sah das di­cke Weib mit dem gro­ben, ge­mei­nen, ro­ten Ge­sicht, das ihm sei­ne Ge­trän­ke hin­stell­te, böse an.

»Ach so, Sie sind der jun­ge Mann, der sich mit Har­ders Hil­de ver­lobt hat? Hab da­von ge­hört, jaja, man hört al­ler­lei …«

»Ab­schwir­ren!« be­fahl Free­se, und sie wa­ckel­te ge­hor­sam hin­ter das Bü­fett.

»Is ’ne Per­le, was, die Min­na?« frag­te Free­se, der Ku­falt nicht aus den Au­gen ge­las­sen hat­te. »Ge­fällt sie dir nicht? So wer­den sie alle, äu­ßer­lich oder in­ner­lich oder äu­ßer­lich und in­ner­lich, Speck oder kein Speck, so wer­den sie alle, die Wei­ber.«

»Ja – hupp«, mach­te Diet­rich.

»Hälts­te die Schnau­ze!« brüll­te Free­se. »Ich en­ga­gier dich, ich en­ga­gier dich mit fünf Mark Vor­schuss auf der Stel­le, bloß dass ich dich auf der Stel­le wie­der raus­schmei­ßen kann!«

Und Free­se such­te in sei­nen Ta­schen nach Geld.

Er fand nichts. »Gib die zwan­zig Mark, die du mir schul­dig bist, Ku­falt.«

Ku­falt sah Diet­rich an, der ver­nei­nend mit den Au­gen blin­zel­te.

»Na, mach schon, Mensch, ich be­stell auch ’ne Lage.«

»Ge­ben – Sie – sie – nicht – wie­der«, sag­te Diet­rich müh­sam, als buch­sta­bie­re er. »Ich – hab – ge­sagt – wir – ar­bei­ten – zu­sam­men – ar­bei­ten wir zu­sam­men.«

Free­se brach in ein brül­len­des Ge­läch­ter aus. Er lach­te, dass es ihn schüt­tel­te.

»Zu­sam­men ar­bei­ten, fes­te, ihr bei­den Boh­rer, was? Im sel­ben Loch ar­bei­ten, was?!«

Und er lach­te mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen, dass das schwam­mi­ge Fett sei­ner Ba­cken zit­ter­te.

Ku­falt sah ihn an, angst­voll, et­was in ihm er­beb­te, sei­ne Hand tas­te­te nach dem Bier­sei­del.

»Also en­ga­gierst du uns bei­de!« frag­te plötz­lich Diet­rich und konn­te rich­tig spre­chen. »Kön­nen wir jetzt bei­de ar­bei­ten in dei­nem Loch, in dei­nem plei­ten ›Bo­ten‹?«

Diet­richs Stim­me klang streng und böse.

Free­se hat­te zu la­chen auf­ge­hört, er starr­te Diet­rich an.

»Du kannst ganz gut zwei Wer­ber brau­chen«, be­harr­te Diet­rich.

In Ku­falts Schä­del dreh­te es sich. Habe zu viel ge­trun­ken, dach­te er. Von was re­den sie ei­gent­lich? Re­den sie von dem, wo­von sie re­den, oder re­den sie nicht da­von?

Er horch­te wie­der auf die bei­den.

»1848«, sag­te Free­se gra­de fei­er­lich, »war Herr van der Smis­sen Bür­ger­meis­ter un­se­rer Stadt. Herr van der Smis­sen war ein ech­ter Ari­sto­krat, ein auf­rech­ter Herr ohne Schar­nie­re, mit blü­ten­wei­ßer Wä­sche …

Der Mob zog vor sein Haus und fing an, alle Ar­ten Kot und Dreck durch die Fens­ter­schei­ben des Herrn van der Smis­sen zu wer­fen. Der Stadt­po­li­zei ge­lang es an die­sem Tage noch, die Men­ge zu zer­streu­en. Der Herr Bür­ger­meis­ter, der gar nicht an­we­send ge­we­sen war, kam erst am spä­ten Abend von ei­ner Rei­se zu­rück. Schwei­gend ging er, von ei­nem Stadt­sol­da­ten be­glei­tet, durch die ver­wüs­te­ten Räu­me …

Im Spei­se­saal hing an der Schmal­wand ein sehr großes Öl­ge­mäl­de sei­ner früh ver­stor­be­nen Ge­mah­lin, ei­ner ge­bo­re­nen Frei­in von Putham­mer. Ein be­son­ders wi­der­li­cher, stin­ken­der Dreck­bat­zen hat­te das Bild der schö­nen Frau gra­de auf dem schne­ei­gen Bu­sen ge­trof­fen …

Der Stadt­sol­dat, ein ge­wis­ser Wilms, hat an­ge­ge­ben, der Herr Bür­ger­meis­ter habe un­ge­fähr fünf Mi­nu­ten re­gungs­los, aber ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen, vor dem ge­schän­de­ten Por­trät ge­stan­den. Dann sei er an einen Schrank ge­gan­gen, habe eine Fla­sche Wein und ein schön ge­schlif­fe­nes Glas ge­holt und bei­des vor ihn, den Wilms, hin­ge­setzt, mit der strik­ten An­wei­sung, sich die Zeit mit Trin­ken zu ver­trei­ben. Er, näm­lich der Herr van der Smis­sen, wer­de un­ter­des das not­wen­di­ge Rei­ni­gungs­ge­rät zu­sam­men­su­chen. Da­rauf sei der Bür­ger­meis­ter fes­ten Schrit­tes aus dem Spei­se­saal ge­gan­gen …

Am nächs­ten Mor­gen zog man ihn, aufs säu­ischs­te be­schmutzt, aus der Treh­ne, die am Bür­ger­meis­ter­gar­ten vor­über­fließt.«

Diet­richs Kopf war längst auf die Brust ge­sun­ken, er schnarch­te. Die Zi­gar­re im Mund­win­kel war er­lo­schen, nach­dem sie ein kreis­run­des Loch in sei­ne Hem­den­brust ge­brannt hat­te.

Free­se hat­te mit der falschen, lei­ern­den Stim­me ei­nes Frem­den­füh­rers ge­spro­chen, nun, als er fer­tig war, rief er ganz an­ders: »Na prost, Ku­falt, so­weit ist es mit uns noch nicht, was!?«

»Wa­rum er­zäh­len Sie mir das?!« frag­te Ku­falt er­bit­tert. Er ver­wünsch­te sich, dass er hier­her­ge­gan­gen war, er ver­wünsch­te sich, dass er nicht weg­fin­den konn­te, er ver­wünsch­te sich, dass er wei­ter­trank, er ver­wünsch­te sich, dass er über­haupt mit Free­se sprach.

»Das ist«, sag­te der, »ein Ab­schnitt aus der Chro­nik die­ser Stadt, an der ich seit vier­zig Jah­ren ar­bei­te. Die­ser Ab­schnitt wird den Na­men füh­ren ›Op­fer der Treh­ne‹.«

»Aber ich wer­de nicht dar­in ste­hen, Sie Lump, Sie!« schrie Ku­falt, plötz­lich tod­wü­tend. »Den­ken Sie, ich ka­pier nicht, Sie Schwein, dass Sie mich da­hin trei­ben wol­len?! Aber ich geh nicht, Ih­nen zu Ge­fal­len gehe ich noch lan­ge nicht, wenn Sie auch auf mei­ne Braut Dreck­klum­pen schmei­ßen …!«

Er hielt tiefer­schro­cken inne. Es hät­te gar nicht des Fin­gers von Free­se be­durft, den er war­nend, auf Diet­rich deu­tend, an den Mund leg­te.

Denn jetzt stand plötz­lich deut­lich vor Ku­falts Au­gen das schö­ne, groß­fenst­ri­ge Bür­ger­meis­ter­haus un­ter den Lin­den­bäu­men, an dem er so oft vor­bei­ge­trabt war. Er mein­te, die zer­bro­che­nen Schei­ben zu se­hen, den Ster­nen­fall der Glass­plit­ter ins Gras, den düs­te­ren Spei­se­saal, von ei­ner ein­zi­gen Ker­ze er­hellt – und eine lan­ge schma­le Hand mit di­cken blau­en Adern und rund­li­chen gel­ben Al­ters­fle­cken hebt den Leuch­ter, in dem die Ker­ze steckt. Aus dem Schat­ten der Wand tritt strah­lend das Ge­sicht der schö­nen jun­gen Frau, ihr schlan­ker, wei­ßer Hals, die herr­li­chen Schul­tern, und nun … und nun …

»Se­hen Sie es …?!« schreit Free­se. »Se­hen Sie es …?!«

Es ist ein an­de­res Ge­sicht, komm doch mit, komm doch nur ein ein­zi­ges Mal mit, bit­tet, bet­telt ein Mund.

Oh, ver­lo­ren, ver­passt, ver­geu­det. Oh, al­les falsch ge­tan. Zer­ron­nen, ver­tan, vor­über die Frist …

Kei­ne Hand hält einen Leuch­ter mehr, es ist sehr dun­kel, eine Dun­kel­heit, die sich nur all­mäh­lich auf­hellt …

»Na, ein Nicker­chen ge­macht?« fragt Free­se. »Sie ha­ben ge­schri­en im Schlaf. Der da pennt fes­ter.«

Und er zeigt auf Diet­rich.

»Ich gehe«, sagt Ku­falt, tau­melnd vor Mü­dig­keit.

»War­te, ich komm mit«, sagt Free­se. »So fin­dest du doch nie nach Haus.«

Er sah zwei­felnd auf den Schlä­fer Diet­rich. »Wer’ ich der Min­na sa­gen, kann ihn zu sich ins Bett neh­men«, mur­mel­te er.

Plötz­lich fing er an zu grin­sen. »War­te noch einen Au­gen­blick, Ku­falt, sollst mal se­hen, was ich mit ihm tue.«

Ku­falt woll­te fort. Er hielt sich an sei­ner Stuhl­leh­ne, tas­te­te mit der an­de­ren Hand nach dem nächs­ten Tisch, er­reich­te ihn nicht, ver­such­te es von Neu­em.

Schon tauch­te Free­se wie­der auf, eine Pap­pe, durch die er eine Schnur ge­zo­gen hat­te, in der Hand. Er blin­zel­te Ku­falt lis­tig und auf­mun­ternd zu, als ver­sprä­che er ihm einen glän­zen­den Witz, und ging an Diet­rich her­an.

Er setz­te ihn gra­de.

»Sitz or­dent­lich, ver­sof­fe­nes Schwein«, schrie er. »Gra­de sollst du sit­zen!«

 

Diet­rich riss die Au­gen auf, sie fie­len so­fort wie­der zu, er rö­chel­te ein­mal und schlief wei­ter. Aber schon hat­te Free­se ihm das Schild um den Hals ge­hängt. »Da, kannst du noch le­sen?«

Mit Koh­le in Druck­buch­sta­ben hin­ge­schmiert, stand es da deut­lich: »Mäd­chen­schän­der« …

Al­les wur­de erst schwarz vor Ku­falts Au­gen, dann rot. Er hat­te das Ge­fühl, als stür­ze sei­ne Hand förm­lich auf ein Bier­sei­del zu, das sie schon in der Luft her­um­wir­bel­te … Er hör­te noch deut­lich die Stim­me der di­cken Min­na krei­schen: »Ach­tung, Free­se, er schmeißt …!« Er hör­te Free­se hä­misch ki­chern …

Und dann mach­te es: »Gluck­gluck! Gluck­gluck! Gluck­gluck!«

Arm in Arm mit Free­se stand er am Ufer der Treh­ne, grau und neb­lig war der Mor­gen her­auf­ge­däm­mert, grau und ölig glucks­te das Was­ser ge­gen die Boh­len des Fa­brik­ho­fes, und er hör­te Free­se sa­gen: »Die Treh­ne ent­springt bei Ru­ten­dorf, un­ter­halb des Gal­gen­ber­ges, nimmt in un­se­rer Va­ter­stadt die Ab­wäs­ser von sechs­und­drei­ßig Le­der­fa­bri­ken mit Ger­be­rei­en auf. Berühmt als Ver­brei­te­rin des Milz­brander­re­gers … Die Treh­ne …«

Aber al­les war nur ver­wirr­te, ge­spens­ter­haf­te Erin­ne­rung, als er am Nach­mit­tag er­wach­te.

Er hat­te ge­träumt, er hat­te si­cher al­les nur ge­träumt – aber je­den­falls fing das neue Jahr mit solch bö­sem Traum an.

SIEBTES KAPITEL – Der Zusammenbruch

1

Der De­zem­ber mit sei­nem leich­ten kla­ren Frost war ge­gan­gen, und der Ja­nu­ar war an sei­ner Stel­le mit Re­gen und Schlacker­wet­ter ge­kom­men. Seuf­zend hol­te Ku­falt aus dem Klei­der­schrank statt des schö­nen schwar­zen Uls­ters den gel­ben sack­ar­ti­gen Gum­mi­man­tel.

Der De­zem­ber war der größ­te Er­folgs­mo­nat in Ku­falts Le­ben ge­we­sen. Der Ja­nu­ar setz­te ein mit ei­ner Se­rie wid­rigs­ter Mis­ser­fol­ge. Weit­ab la­gen noch die In­ven­turaus­ver­käu­fe, erst am ein­und­zwan­zigs­ten Ja­nu­ar be­gan­nen sie – und kein Mensch woll­te abon­nie­ren.

Ku­falt stand da und re­de­te, wenn man ihn über­haupt re­den ließ, heißt das. Man hör­te zu, aber dann sag­te man, er wis­se doch, wie knapp das Geld jetzt nach dem Fest sei, oder man er­klär­te auch ge­ra­de­zu, der »Freund« sei eben doch bes­ser als der »Bote«. Der »Bote« bräch­te ja nicht ein Vier­tel der Fa­mi­li­en­an­zei­gen des »Freunds«, und die müss­te man doch min­des­tens ha­ben.

An man­chen Ta­gen gab es sechs, sie­ben, ach, es gab zehn, zwölf Mis­ser­fol­ge nach­ein­an­der, und mit den Mis­ser­fol­gen kam die Mut­lo­sig­keit. Da stand dann Ku­falt ge­schla­ge­ne zehn Mi­nu­ten vor so ei­nem Miets­kas­ten mit zwölf Par­tei­en und trau­te sich nicht rein, er ging die Stra­ße rauf, und er ging sie wie­der run­ter, der Nie­sel­re­gen durch­käl­te­te ihn bis auf die Kno­chen. Am schlaues­ten war es, nach Haus zu ge­hen, sich an den war­men Ofen zu set­zen und zu dö­sen …

Aber da war der lee­re Quit­tungs­block, und Herr Kraft er­war­te­te um vier sei­ne sechs Neu­abon­ne­ments, und der hat­te so eine hunds­ge­mei­ne Art zu sa­gen: »So, heu­te nur zwei? – Heu­te nur zwei. – Heu­te nur zwei!«

Und da­bei nu­schel­te er mit sei­nen Pa­pie­ren.

»Üb­ri­gens ha­ben von Ihren Neu­abon­nen­ten aus dem De­zem­ber sie­ben­und­drei­ßig den ›Bo­ten‹ wie­der ab­be­stellt. Da hat Wer­bung ei­gent­lich we­nig Sinn …«

»Ist das etwa mei­ne Schuld?« frag­te Ku­falt ge­reizt.

»Kein Mensch hat ein Wort von Schuld ge­sagt«, ant­wor­te­te Kraft gleich­mü­tig und nu­schel­te wei­ter mit sei­nen Pa­pie­ren, »Sie sind ner­vös, Ku­falt.«

Wenn nun aber auch un­ge­wiss blieb, was ei­gent­lich in der Sil­ves­ter­nacht wirk­lich vor­ge­fal­len war, Free­se je­den­falls war die Freund­lich­keit selbst. Ja, er wur­de noch freund­li­cher.

»Friert Sie?« konn­te er fra­gen. »Ja, stel­len Sie sich man ran an mei­nen ge­treu­en Knecht Fri­do­lin, dem habe ich heu­te was ein­ge­ka­chelt! Ich hab üb­ri­gens auch ’ne Ar­beit für Sie!«

Er kram­te rum.

»Da ist so ’n Wasch­zet­tel vom Kino. Ich hab mir den Mist nicht an­ge­se­hen. Strei­chen Sie zwan­zig Zei­len und den dicks­ten Schmus raus. – Hier ist ein Fuff­zi­ger.«

Und als Ku­falt pro­tes­tie­ren woll­te: »Nee, nee, Ku­falt, um­sonst ist nur der Tod, und auch der nur für die Ver­stor­be­nen. Ste­cken Sie den Fuff­zi­ger ru­hig ein: Einst wird kom­men der Tag …«

Un­ver­än­dert … un­ver­än­dert mit sei­nen An­spie­lun­gen, sei­ner Ver­sof­fen­heit, der rau­en Scha­le um den frag­li­chen Kern.

Un­ver­än­dert blieb auch Va­ter Har­der in sei­ner Be­wun­de­rung der Ku­falt­schen Qua­li­tä­ten, aber ver­än­dert, sehr ver­än­dert war Hil­de. Kein frei­wil­li­ger Kuss mehr, kaum ein Ja, kaum ein Nein, nichts mehr von Ge­dich­ten, kein ge­mein­schaft­li­cher Sings­ang.

Es war halb zehn. Frau Har­der gab das Ab­schieds­si­gnal, gute Nacht wur­de ge­sagt, das Braut­paar war al­lein, und nun muss­te er an­stands­hal­ber min­des­tens noch eine hal­be Stun­de blei­ben.

Er steht auf, er brennt sich eine Zi­ga­ret­te an, er geht auf und ab.

»Wie es stürmt«, sagt er, bleibt ste­hen und lauscht nach dem Fens­ter.

»Ja«, sagt sie und stickt wei­ter, ohne Auf­se­hen, an dem Mo­no­gramm.

»Man möch­te am liebs­ten hier­blei­ben, die Nacht«, sagt er und lacht ein biss­chen ver­le­gen.

Sie sagt nichts.

Er war­tet einen Au­gen­blick, dann nimmt er sei­ne Wan­de­rung wie­der auf. Er zer­grü­belt sein Hirn, end­lich fragt er: »Hat der Jun­ge heu­te bes­ser ge­ges­sen, Hil­de?«

»Nein«, sagt sie und stickt wei­ter.

Wei­ter auf und ab ge­hen, wei­ter grü­beln, und der Re­gu­la­tor macht Ping-Pang, Ping-Pang, und schließ­lich wie­der eine spär­li­che Fra­ge, ein dürf­ti­ges Nein oder Ja.

Aber – die Lam­pe brennt so düs­ter –, wenn er auf den ge­neig­ten dunklen Schei­tel starrt, auf das Stück­chen wei­ßen Na­cken, das zwi­schen Haar­an­satz und dem ro­ten Krä­gel­chen des Jum­pers leuch­tet, wenn er hin­sieht und be­denkt, was er ihr al­les tat, und viel­leicht, viel­leicht noch tun wird, dann über­kommt es ihn, den Mund auf­zu­tun, das Herz auf­zu­tun, zu spre­chen: »Du, Hil­de …«

Sie stickt.

»Hör mal zu, Hil­de …«

Er kommt ganz dicht an sie her­an.

Sie rückt ein we­nig auf dem Sofa. »Ja?«

Sie stickt da­bei wei­ter, sieht nicht auf.

Er macht noch einen An­satz: »Bist du mir böse, Hil­de?«

»Ich …? Wie­so?«

Nein, nichts. Aber doch ist es nicht ihre Küh­le, ihre Ab­wei­sung, die ihm die Lip­pen ver­schlie­ßen – das spürt er nun doch, dass nur be­lei­dig­ter Stolz hin­ter die­ser Ab­wei­sung steckt –, es ist et­was an­de­res.

Jene Nacht und der wei­ße Papp­kar­ton mit der Druck­schrift – die ha­ben ge­spukt.

Soll ich beich­ten, und sie hat mir nichts zu sa­gen? Be­lei­dig­ter Stolz, ja­wohl, aber auch ich habe ein Recht …

Doch et­was spä­ter: Habe ich es denn nicht ge­wusst? Kind ohne Va­ter, hat es von der ers­ten Mi­nu­te an ge­hei­ßen. Na­tür­lich ist sie im Recht, aber sie könn­te doch …

Nein, nichts, nichts wie Qua­cke­lei. Al­les zer­rinnt. Es ge­schieht nichts. Er wan­dert wei­ter auf und ab mit sei­ner Zi­ga­ret­te. Eine lan­ge Zeit ver­rinnt, und er fragt schließ­lich: »Sind die Kopf­kis­sen ei­gent­lich schon ge­säumt, Hil­de?«

»Noch nicht«, ant­wor­tet Hil­de.

Nein, nichts ge­schieht – oder kann man das Ge­sche­hen nen­nen, dass er sich ir­gend­ei­nes Ta­ges nach der Wol­len­we­ber­stra­ße 37 auf den Weg macht, die drei Trep­pen hin­auf­klet­tert und nach Herrn Diet­rich fragt …?

Ja­wohl, Herr Diet­rich ist zu Haus, und Ku­falt wird ohne jede Förm­lich­keit in sein Zim­mer ge­las­sen.

Herr Diet­rich liegt an­ge­klei­det, aber ohne Schlips und Kra­gen auf ei­ner Chai­se­longue und schläft mit weit of­fe­nem Mun­de. Es ist ge­gen zwölf Uhr mit­tags.

»Herr Diet­rich«, sagt Ku­falt von der Tür her.

»Hal­lo, Ku­falt«, sagt Diet­rich hell­wach und setzt sich mit ei­nem Ruck auf. »Trin­ken Sie ’nen Ko­gnak mit mir.«

»Ich woll­te Ih­nen nur die zwan­zig Mark zu­rück­brin­gen«, sagt Ku­falt und legt den brau­nen Schein auf den So­fa­tisch.

»Aber das hät­te doch kei­ne sol­che Eile ge­habt! – Quit­tung ist wohl un­nö­tig …?« Herr Diet­rich hat den Schein zu ei­nem Röll­chen ge­dreht und in sei­ne Wes­ten­ta­sche ge­steckt. »Also set­zen Sie sich. Gott, Mensch, se­hen Sie ver­fro­ren aus. Ge­hen Sie bei dem Wet­ter auch wer­ben? Wo ge­hen Sie denn jetzt wer­ben?«

»Im Nor­den«, sagt Ku­falt. »So die Ar­bei­ter­stra­ßen von den Le­der­fa­bri­ken.«

Diet­rich pfeift durch die Zäh­ne. »Faul, was? Ober­faul, wie? Ich an Ih­rer Stel­le blie­be zu Haus und war­te­te auf die In­ven­tur. Sie ver­run­ge­nie­ren1 ja mehr Zeug, als der Kram ein­bringt.«

»Ach, so ’n Gum­mi­man­tel hält was ab.«

»Aber die Ho­sen!« ruft Diet­rich. »Und die Schu­he! Doch jetzt müs­sen Sie erst mal Ihren Ko­gnak ha­ben. Oder wol­len Sie lie­ber einen Grog? Es geht ganz schnell, mei­ne Wir­tin hat Gas.«

»Nein«, sagt Ku­falt und tut, als wenn er sich schüt­tel­te. »Von Grog habe ich erst mal ge­nug. Ich mein im­mer, ich rie­che noch Ihre Grogs aus der Nacht.«

Und Ku­falt kommt sich wie ein sehr klu­ger Di­plo­mat vor.

»Also prost«, sagt Diet­rich. »Dass un­se­re Kin­der lan­ge Häl­se krie­gen. Noch einen? Rich­tig! So wie Sie ver­fro­ren sind.«

»Sind Sie ei­gent­lich da­mals gut nach Haus ge­kom­men?« bohrt Ku­falt be­harr­lich wei­ter.

»Wann – da­mals?«

»In der Sil­ves­ter­nacht doch, Herr Diet­rich, aus dem Café Zen­trum.«

»Ach, ha­ben Sie da­von ge­hört?« lacht Diet­rich. »Ja, den Abend war ich hin­über.«

»Ich war auch da, Herr Diet­rich«, sagt Ku­falt mit sanf­tem Nach­druck. »Wir bei­de ha­ben uns so­gar un­ter­hal­ten.«

»Sie wa­ren auch da!« wun­dert sich Diet­rich. »Kiek ei­ner an! Ja, den Abend war ich völ­lig plem.«

Ku­falt über­legt fie­ber­haft. Ist das nun Frech­heit von dem, oder weiß er wirk­lich nichts? Er muss doch zum min­des­ten beim Auf­wa­chen das Schild ge­fun­den ha­ben. Oder hat es die Min­na ab­ge­macht?

Und als hät­te er dem an­de­ren ein Stich­wort ge­ge­ben, sagt der: »Ja, wenn Sie aber auch da wa­ren, lie­ber Ku­falt, dann fin­de ich es nicht nett, dass Sie mich da so hilf­los ha­ben sit­zen­las­sen.«

»Wie ha­ben sit­zen­las­sen …?«

»So mo­lum. Hät­te mich mein Freund, der Flei­scher Kutz­bach, nicht ge­fun­den, ich hät­te ja wahr­haf­tig bei der Min­na im Bett schla­fen kön­nen!«

Zu schlau. Viel zu schlau. Ku­falt gab es auf. »Na, ich muss wohl wie­der los. Hab heu­te noch nie­man­den auf mei­nem Block.«

»Aber trin­ken Sie doch noch einen! Wie se­hen Sie denn aus?! So blau­ge­fro­ren kön­nen Sie doch nicht zur Kund­schaft. – Also, Sie wol­len wirk­lich …? Na, denn schnell noch einen im Ste­hen. Prost! … Üb­ri­gens«, sag­te er plötz­lich ernst – zwei Fin­ger ver­schwan­den in der Wes­ten­ta­sche und brach­ten das brau­ne Röll­chen zum Vor­schein. »Üb­ri­gens – kön­nen Sie das wirk­lich ent­beh­ren?«

»Aber ja«, sag­te Ku­falt ver­wirrt. »Ich habe doch ganz gut ver­dient.«

»Denn wenn nicht …«, sag­te Herr Diet­rich. »Ich ste­he Ih­nen je­den­falls im­mer ger­ne zur Ver­fü­gung. Ver­ges­sen Sie nie, ich habe stets das tiefs­te Mit­leid mit Ihrem schwe­ren – aus­sichts­lo­sen Schick­sal.«

Plötz­lich strahlt Herr Diet­rich über das gan­ze Ge­sicht.

»Also, es hat mich sehr ge­freut, Herr Ku­falt. Wenn Ih­nen mal wie­der so ist – ich freue mich im­mer, wenn Sie zu mir kom­men.«

Hän­de­druck. Adieu.

Nein, nichts ist ge­klärt. Nichts ist ge­sche­hen. Es lau­ert wie eine dunkle Wol­ke, es kann los­bre­chen von al­len Sei­ten: Hil­de, Har­der, Free­se, Stark, Diet­rich, Bruhn, Batz­ke …?

Und dann bricht es von ei­ner ganz an­de­ren Sei­te her los.

1 rui­nie­ren (Ber­li­ne­risch) <<<