An den Rest dieser Nacht hatte Kufalt nur eine verwirrte Erinnerung, von dem Moment an, da er die Kellertreppe zum Café Zentrum hinunterpolterte und mit einem Krach im Lokal landete, bis zu dem Augenblick, da er, Arm in Arm mit Herrn Chefredakteur Freese, auf einem wüsten Fabrikhof stand und wie gebannt in ein graues, öliges, langsam ziehendes Wasser starrte, während Freese geheimnisvoll flüsterte: »Die Trehne entspringt bei Rutendorf, unterhalb des Galgenberges, nimmt in unserer Vaterstadt die Abwässer von sechsunddreißig Lederfabriken mit Gerbereien auf. Berühmt als Verbreiterin des Milzbranderregers … Die Trehne …«
Eine gespensterhafte Nacht. Unwahrscheinlich schon, wie er in die Gaststube polterte, eine ganz kommune Gaststube, ohne jede Luderei und Verworfenheit, wie er sich suchend umsah und in den dicken Schwaden von Zigarrendampf doch nichts erkennen konnte – und eine Stimme schrie aus dem Winkel: »He, Kufalt! Bräutjamm Kufalt!!«
Er folgte der Stimme und fand an einem Ecktisch in trauter Gemeinsamkeit erstens den Freese, zweitens den Dietrich – über Grog hockend, Freese glühend rot, die wüsten Haarzotteln wüst ins schändliche Gesicht, und Dietrich gelblichbleich, mit stumpfen, dummen Mauseaugen.
»Setz dich, Kufalt«, sagte Freese. »Das ist der Dietrich, den ich deinetwegen rausgeschmissen habe.«
»Sehr angenehm«, murmelte Dietrich und machte eine halbe Verbeugung.
»Besoffen!« sagte Freese. »Setz dich, Kufalt. Besoffen wie ein Besenstiel. Wo hast’en deine Braut?«
»Versteh immer Braut«, murmelte Dietrich.
»Halt die Schnauze, du!« rüffelte ihn Freese. »Hier wird nicht angespielt. Hier wird überhaupt nicht gespielt. Was trinkst’en«
»Ein Helles«, sagte Kufalt.
»Minna, ein Helles und einen dreistöckigen Kognak für den Herrn. – Minna, das is’en Bräutjamm, reell, kiek ihn dir an.«
Kufalt sah das dicke Weib mit dem groben, gemeinen, roten Gesicht, das ihm seine Getränke hinstellte, böse an.
»Ach so, Sie sind der junge Mann, der sich mit Harders Hilde verlobt hat? Hab davon gehört, jaja, man hört allerlei …«
»Abschwirren!« befahl Freese, und sie wackelte gehorsam hinter das Büfett.
»Is ’ne Perle, was, die Minna?« fragte Freese, der Kufalt nicht aus den Augen gelassen hatte. »Gefällt sie dir nicht? So werden sie alle, äußerlich oder innerlich oder äußerlich und innerlich, Speck oder kein Speck, so werden sie alle, die Weiber.«
»Ja – hupp«, machte Dietrich.
»Hältste die Schnauze!« brüllte Freese. »Ich engagier dich, ich engagier dich mit fünf Mark Vorschuss auf der Stelle, bloß dass ich dich auf der Stelle wieder rausschmeißen kann!«
Und Freese suchte in seinen Taschen nach Geld.
Er fand nichts. »Gib die zwanzig Mark, die du mir schuldig bist, Kufalt.«
Kufalt sah Dietrich an, der verneinend mit den Augen blinzelte.
»Na, mach schon, Mensch, ich bestell auch ’ne Lage.«
»Geben – Sie – sie – nicht – wieder«, sagte Dietrich mühsam, als buchstabiere er. »Ich – hab – gesagt – wir – arbeiten – zusammen – arbeiten wir zusammen.«
Freese brach in ein brüllendes Gelächter aus. Er lachte, dass es ihn schüttelte.
»Zusammen arbeiten, feste, ihr beiden Bohrer, was? Im selben Loch arbeiten, was?!«
Und er lachte mit zusammengekniffenen Augen, dass das schwammige Fett seiner Backen zitterte.
Kufalt sah ihn an, angstvoll, etwas in ihm erbebte, seine Hand tastete nach dem Bierseidel.
»Also engagierst du uns beide!« fragte plötzlich Dietrich und konnte richtig sprechen. »Können wir jetzt beide arbeiten in deinem Loch, in deinem pleiten ›Boten‹?«
Dietrichs Stimme klang streng und böse.
Freese hatte zu lachen aufgehört, er starrte Dietrich an.
»Du kannst ganz gut zwei Werber brauchen«, beharrte Dietrich.
In Kufalts Schädel drehte es sich. Habe zu viel getrunken, dachte er. Von was reden sie eigentlich? Reden sie von dem, wovon sie reden, oder reden sie nicht davon?
Er horchte wieder auf die beiden.
»1848«, sagte Freese grade feierlich, »war Herr van der Smissen Bürgermeister unserer Stadt. Herr van der Smissen war ein echter Aristokrat, ein aufrechter Herr ohne Scharniere, mit blütenweißer Wäsche …
Der Mob zog vor sein Haus und fing an, alle Arten Kot und Dreck durch die Fensterscheiben des Herrn van der Smissen zu werfen. Der Stadtpolizei gelang es an diesem Tage noch, die Menge zu zerstreuen. Der Herr Bürgermeister, der gar nicht anwesend gewesen war, kam erst am späten Abend von einer Reise zurück. Schweigend ging er, von einem Stadtsoldaten begleitet, durch die verwüsteten Räume …
Im Speisesaal hing an der Schmalwand ein sehr großes Ölgemälde seiner früh verstorbenen Gemahlin, einer geborenen Freiin von Puthammer. Ein besonders widerlicher, stinkender Dreckbatzen hatte das Bild der schönen Frau grade auf dem schneeigen Busen getroffen …
Der Stadtsoldat, ein gewisser Wilms, hat angegeben, der Herr Bürgermeister habe ungefähr fünf Minuten regungslos, aber ohne eine Miene zu verziehen, vor dem geschändeten Porträt gestanden. Dann sei er an einen Schrank gegangen, habe eine Flasche Wein und ein schön geschliffenes Glas geholt und beides vor ihn, den Wilms, hingesetzt, mit der strikten Anweisung, sich die Zeit mit Trinken zu vertreiben. Er, nämlich der Herr van der Smissen, werde unterdes das notwendige Reinigungsgerät zusammensuchen. Darauf sei der Bürgermeister festen Schrittes aus dem Speisesaal gegangen …
Am nächsten Morgen zog man ihn, aufs säuischste beschmutzt, aus der Trehne, die am Bürgermeistergarten vorüberfließt.«
Dietrichs Kopf war längst auf die Brust gesunken, er schnarchte. Die Zigarre im Mundwinkel war erloschen, nachdem sie ein kreisrundes Loch in seine Hemdenbrust gebrannt hatte.
Freese hatte mit der falschen, leiernden Stimme eines Fremdenführers gesprochen, nun, als er fertig war, rief er ganz anders: »Na prost, Kufalt, soweit ist es mit uns noch nicht, was!?«
»Warum erzählen Sie mir das?!« fragte Kufalt erbittert. Er verwünschte sich, dass er hierhergegangen war, er verwünschte sich, dass er nicht wegfinden konnte, er verwünschte sich, dass er weitertrank, er verwünschte sich, dass er überhaupt mit Freese sprach.
»Das ist«, sagte der, »ein Abschnitt aus der Chronik dieser Stadt, an der ich seit vierzig Jahren arbeite. Dieser Abschnitt wird den Namen führen ›Opfer der Trehne‹.«
»Aber ich werde nicht darin stehen, Sie Lump, Sie!« schrie Kufalt, plötzlich todwütend. »Denken Sie, ich kapier nicht, Sie Schwein, dass Sie mich dahin treiben wollen?! Aber ich geh nicht, Ihnen zu Gefallen gehe ich noch lange nicht, wenn Sie auch auf meine Braut Dreckklumpen schmeißen …!«
Er hielt tieferschrocken inne. Es hätte gar nicht des Fingers von Freese bedurft, den er warnend, auf Dietrich deutend, an den Mund legte.
Denn jetzt stand plötzlich deutlich vor Kufalts Augen das schöne, großfenstrige Bürgermeisterhaus unter den Lindenbäumen, an dem er so oft vorbeigetrabt war. Er meinte, die zerbrochenen Scheiben zu sehen, den Sternenfall der Glassplitter ins Gras, den düsteren Speisesaal, von einer einzigen Kerze erhellt – und eine lange schmale Hand mit dicken blauen Adern und rundlichen gelben Altersflecken hebt den Leuchter, in dem die Kerze steckt. Aus dem Schatten der Wand tritt strahlend das Gesicht der schönen jungen Frau, ihr schlanker, weißer Hals, die herrlichen Schultern, und nun … und nun …
»Sehen Sie es …?!« schreit Freese. »Sehen Sie es …?!«
Es ist ein anderes Gesicht, komm doch mit, komm doch nur ein einziges Mal mit, bittet, bettelt ein Mund.
Oh, verloren, verpasst, vergeudet. Oh, alles falsch getan. Zerronnen, vertan, vorüber die Frist …
Keine Hand hält einen Leuchter mehr, es ist sehr dunkel, eine Dunkelheit, die sich nur allmählich aufhellt …
»Na, ein Nickerchen gemacht?« fragt Freese. »Sie haben geschrien im Schlaf. Der da pennt fester.«
Und er zeigt auf Dietrich.
»Ich gehe«, sagt Kufalt, taumelnd vor Müdigkeit.
»Warte, ich komm mit«, sagt Freese. »So findest du doch nie nach Haus.«
Er sah zweifelnd auf den Schläfer Dietrich. »Wer’ ich der Minna sagen, kann ihn zu sich ins Bett nehmen«, murmelte er.
Plötzlich fing er an zu grinsen. »Warte noch einen Augenblick, Kufalt, sollst mal sehen, was ich mit ihm tue.«
Kufalt wollte fort. Er hielt sich an seiner Stuhllehne, tastete mit der anderen Hand nach dem nächsten Tisch, erreichte ihn nicht, versuchte es von Neuem.
Schon tauchte Freese wieder auf, eine Pappe, durch die er eine Schnur gezogen hatte, in der Hand. Er blinzelte Kufalt listig und aufmunternd zu, als verspräche er ihm einen glänzenden Witz, und ging an Dietrich heran.
Er setzte ihn grade.
»Sitz ordentlich, versoffenes Schwein«, schrie er. »Grade sollst du sitzen!«
Dietrich riss die Augen auf, sie fielen sofort wieder zu, er röchelte einmal und schlief weiter. Aber schon hatte Freese ihm das Schild um den Hals gehängt. »Da, kannst du noch lesen?«
Mit Kohle in Druckbuchstaben hingeschmiert, stand es da deutlich: »Mädchenschänder« …
Alles wurde erst schwarz vor Kufalts Augen, dann rot. Er hatte das Gefühl, als stürze seine Hand förmlich auf ein Bierseidel zu, das sie schon in der Luft herumwirbelte … Er hörte noch deutlich die Stimme der dicken Minna kreischen: »Achtung, Freese, er schmeißt …!« Er hörte Freese hämisch kichern …
Und dann machte es: »Gluckgluck! Gluckgluck! Gluckgluck!«
Arm in Arm mit Freese stand er am Ufer der Trehne, grau und neblig war der Morgen heraufgedämmert, grau und ölig gluckste das Wasser gegen die Bohlen des Fabrikhofes, und er hörte Freese sagen: »Die Trehne entspringt bei Rutendorf, unterhalb des Galgenberges, nimmt in unserer Vaterstadt die Abwässer von sechsunddreißig Lederfabriken mit Gerbereien auf. Berühmt als Verbreiterin des Milzbranderregers … Die Trehne …«
Aber alles war nur verwirrte, gespensterhafte Erinnerung, als er am Nachmittag erwachte.
Er hatte geträumt, er hatte sicher alles nur geträumt – aber jedenfalls fing das neue Jahr mit solch bösem Traum an.
Der Dezember mit seinem leichten klaren Frost war gegangen, und der Januar war an seiner Stelle mit Regen und Schlackerwetter gekommen. Seufzend holte Kufalt aus dem Kleiderschrank statt des schönen schwarzen Ulsters den gelben sackartigen Gummimantel.
Der Dezember war der größte Erfolgsmonat in Kufalts Leben gewesen. Der Januar setzte ein mit einer Serie widrigster Misserfolge. Weitab lagen noch die Inventurausverkäufe, erst am einundzwanzigsten Januar begannen sie – und kein Mensch wollte abonnieren.
Kufalt stand da und redete, wenn man ihn überhaupt reden ließ, heißt das. Man hörte zu, aber dann sagte man, er wisse doch, wie knapp das Geld jetzt nach dem Fest sei, oder man erklärte auch geradezu, der »Freund« sei eben doch besser als der »Bote«. Der »Bote« brächte ja nicht ein Viertel der Familienanzeigen des »Freunds«, und die müsste man doch mindestens haben.
An manchen Tagen gab es sechs, sieben, ach, es gab zehn, zwölf Misserfolge nacheinander, und mit den Misserfolgen kam die Mutlosigkeit. Da stand dann Kufalt geschlagene zehn Minuten vor so einem Mietskasten mit zwölf Parteien und traute sich nicht rein, er ging die Straße rauf, und er ging sie wieder runter, der Nieselregen durchkältete ihn bis auf die Knochen. Am schlauesten war es, nach Haus zu gehen, sich an den warmen Ofen zu setzen und zu dösen …
Aber da war der leere Quittungsblock, und Herr Kraft erwartete um vier seine sechs Neuabonnements, und der hatte so eine hundsgemeine Art zu sagen: »So, heute nur zwei? – Heute nur zwei. – Heute nur zwei!«
Und dabei nuschelte er mit seinen Papieren.
»Übrigens haben von Ihren Neuabonnenten aus dem Dezember siebenunddreißig den ›Boten‹ wieder abbestellt. Da hat Werbung eigentlich wenig Sinn …«
»Ist das etwa meine Schuld?« fragte Kufalt gereizt.
»Kein Mensch hat ein Wort von Schuld gesagt«, antwortete Kraft gleichmütig und nuschelte weiter mit seinen Papieren, »Sie sind nervös, Kufalt.«
Wenn nun aber auch ungewiss blieb, was eigentlich in der Silvesternacht wirklich vorgefallen war, Freese jedenfalls war die Freundlichkeit selbst. Ja, er wurde noch freundlicher.
»Friert Sie?« konnte er fragen. »Ja, stellen Sie sich man ran an meinen getreuen Knecht Fridolin, dem habe ich heute was eingekachelt! Ich hab übrigens auch ’ne Arbeit für Sie!«
Er kramte rum.
»Da ist so ’n Waschzettel vom Kino. Ich hab mir den Mist nicht angesehen. Streichen Sie zwanzig Zeilen und den dicksten Schmus raus. – Hier ist ein Fuffziger.«
Und als Kufalt protestieren wollte: »Nee, nee, Kufalt, umsonst ist nur der Tod, und auch der nur für die Verstorbenen. Stecken Sie den Fuffziger ruhig ein: Einst wird kommen der Tag …«
Unverändert … unverändert mit seinen Anspielungen, seiner Versoffenheit, der rauen Schale um den fraglichen Kern.
Unverändert blieb auch Vater Harder in seiner Bewunderung der Kufaltschen Qualitäten, aber verändert, sehr verändert war Hilde. Kein freiwilliger Kuss mehr, kaum ein Ja, kaum ein Nein, nichts mehr von Gedichten, kein gemeinschaftlicher Singsang.
Es war halb zehn. Frau Harder gab das Abschiedssignal, gute Nacht wurde gesagt, das Brautpaar war allein, und nun musste er anstandshalber mindestens noch eine halbe Stunde bleiben.
Er steht auf, er brennt sich eine Zigarette an, er geht auf und ab.
»Wie es stürmt«, sagt er, bleibt stehen und lauscht nach dem Fenster.
»Ja«, sagt sie und stickt weiter, ohne Aufsehen, an dem Monogramm.
»Man möchte am liebsten hierbleiben, die Nacht«, sagt er und lacht ein bisschen verlegen.
Sie sagt nichts.
Er wartet einen Augenblick, dann nimmt er seine Wanderung wieder auf. Er zergrübelt sein Hirn, endlich fragt er: »Hat der Junge heute besser gegessen, Hilde?«
»Nein«, sagt sie und stickt weiter.
Weiter auf und ab gehen, weiter grübeln, und der Regulator macht Ping-Pang, Ping-Pang, und schließlich wieder eine spärliche Frage, ein dürftiges Nein oder Ja.
Aber – die Lampe brennt so düster –, wenn er auf den geneigten dunklen Scheitel starrt, auf das Stückchen weißen Nacken, das zwischen Haaransatz und dem roten Krägelchen des Jumpers leuchtet, wenn er hinsieht und bedenkt, was er ihr alles tat, und vielleicht, vielleicht noch tun wird, dann überkommt es ihn, den Mund aufzutun, das Herz aufzutun, zu sprechen: »Du, Hilde …«
Sie stickt.
»Hör mal zu, Hilde …«
Er kommt ganz dicht an sie heran.
Sie rückt ein wenig auf dem Sofa. »Ja?«
Sie stickt dabei weiter, sieht nicht auf.
Er macht noch einen Ansatz: »Bist du mir böse, Hilde?«
»Ich …? Wieso?«
Nein, nichts. Aber doch ist es nicht ihre Kühle, ihre Abweisung, die ihm die Lippen verschließen – das spürt er nun doch, dass nur beleidigter Stolz hinter dieser Abweisung steckt –, es ist etwas anderes.
Jene Nacht und der weiße Pappkarton mit der Druckschrift – die haben gespukt.
Soll ich beichten, und sie hat mir nichts zu sagen? Beleidigter Stolz, jawohl, aber auch ich habe ein Recht …
Doch etwas später: Habe ich es denn nicht gewusst? Kind ohne Vater, hat es von der ersten Minute an geheißen. Natürlich ist sie im Recht, aber sie könnte doch …
Nein, nichts, nichts wie Quackelei. Alles zerrinnt. Es geschieht nichts. Er wandert weiter auf und ab mit seiner Zigarette. Eine lange Zeit verrinnt, und er fragt schließlich: »Sind die Kopfkissen eigentlich schon gesäumt, Hilde?«
»Noch nicht«, antwortet Hilde.
Nein, nichts geschieht – oder kann man das Geschehen nennen, dass er sich irgendeines Tages nach der Wollenweberstraße 37 auf den Weg macht, die drei Treppen hinaufklettert und nach Herrn Dietrich fragt …?
Jawohl, Herr Dietrich ist zu Haus, und Kufalt wird ohne jede Förmlichkeit in sein Zimmer gelassen.
Herr Dietrich liegt angekleidet, aber ohne Schlips und Kragen auf einer Chaiselongue und schläft mit weit offenem Munde. Es ist gegen zwölf Uhr mittags.
»Herr Dietrich«, sagt Kufalt von der Tür her.
»Hallo, Kufalt«, sagt Dietrich hellwach und setzt sich mit einem Ruck auf. »Trinken Sie ’nen Kognak mit mir.«
»Ich wollte Ihnen nur die zwanzig Mark zurückbringen«, sagt Kufalt und legt den braunen Schein auf den Sofatisch.
»Aber das hätte doch keine solche Eile gehabt! – Quittung ist wohl unnötig …?« Herr Dietrich hat den Schein zu einem Röllchen gedreht und in seine Westentasche gesteckt. »Also setzen Sie sich. Gott, Mensch, sehen Sie verfroren aus. Gehen Sie bei dem Wetter auch werben? Wo gehen Sie denn jetzt werben?«
»Im Norden«, sagt Kufalt. »So die Arbeiterstraßen von den Lederfabriken.«
Dietrich pfeift durch die Zähne. »Faul, was? Oberfaul, wie? Ich an Ihrer Stelle bliebe zu Haus und wartete auf die Inventur. Sie verrungenieren1 ja mehr Zeug, als der Kram einbringt.«
»Ach, so ’n Gummimantel hält was ab.«
»Aber die Hosen!« ruft Dietrich. »Und die Schuhe! Doch jetzt müssen Sie erst mal Ihren Kognak haben. Oder wollen Sie lieber einen Grog? Es geht ganz schnell, meine Wirtin hat Gas.«
»Nein«, sagt Kufalt und tut, als wenn er sich schüttelte. »Von Grog habe ich erst mal genug. Ich mein immer, ich rieche noch Ihre Grogs aus der Nacht.«
Und Kufalt kommt sich wie ein sehr kluger Diplomat vor.
»Also prost«, sagt Dietrich. »Dass unsere Kinder lange Hälse kriegen. Noch einen? Richtig! So wie Sie verfroren sind.«
»Sind Sie eigentlich damals gut nach Haus gekommen?« bohrt Kufalt beharrlich weiter.
»Wann – damals?«
»In der Silvesternacht doch, Herr Dietrich, aus dem Café Zentrum.«
»Ach, haben Sie davon gehört?« lacht Dietrich. »Ja, den Abend war ich hinüber.«
»Ich war auch da, Herr Dietrich«, sagt Kufalt mit sanftem Nachdruck. »Wir beide haben uns sogar unterhalten.«
»Sie waren auch da!« wundert sich Dietrich. »Kiek einer an! Ja, den Abend war ich völlig plem.«
Kufalt überlegt fieberhaft. Ist das nun Frechheit von dem, oder weiß er wirklich nichts? Er muss doch zum mindesten beim Aufwachen das Schild gefunden haben. Oder hat es die Minna abgemacht?
Und als hätte er dem anderen ein Stichwort gegeben, sagt der: »Ja, wenn Sie aber auch da waren, lieber Kufalt, dann finde ich es nicht nett, dass Sie mich da so hilflos haben sitzenlassen.«
»Wie haben sitzenlassen …?«
»So molum. Hätte mich mein Freund, der Fleischer Kutzbach, nicht gefunden, ich hätte ja wahrhaftig bei der Minna im Bett schlafen können!«
Zu schlau. Viel zu schlau. Kufalt gab es auf. »Na, ich muss wohl wieder los. Hab heute noch niemanden auf meinem Block.«
»Aber trinken Sie doch noch einen! Wie sehen Sie denn aus?! So blaugefroren können Sie doch nicht zur Kundschaft. – Also, Sie wollen wirklich …? Na, denn schnell noch einen im Stehen. Prost! … Übrigens«, sagte er plötzlich ernst – zwei Finger verschwanden in der Westentasche und brachten das braune Röllchen zum Vorschein. »Übrigens – können Sie das wirklich entbehren?«
»Aber ja«, sagte Kufalt verwirrt. »Ich habe doch ganz gut verdient.«
»Denn wenn nicht …«, sagte Herr Dietrich. »Ich stehe Ihnen jedenfalls immer gerne zur Verfügung. Vergessen Sie nie, ich habe stets das tiefste Mitleid mit Ihrem schweren – aussichtslosen Schicksal.«
Plötzlich strahlt Herr Dietrich über das ganze Gesicht.
»Also, es hat mich sehr gefreut, Herr Kufalt. Wenn Ihnen mal wieder so ist – ich freue mich immer, wenn Sie zu mir kommen.«
Händedruck. Adieu.
Nein, nichts ist geklärt. Nichts ist geschehen. Es lauert wie eine dunkle Wolke, es kann losbrechen von allen Seiten: Hilde, Harder, Freese, Stark, Dietrich, Bruhn, Batzke …?
Und dann bricht es von einer ganz anderen Seite her los.
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