Fliegen lassen

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GELEBTER

KAFKA

»Man wird dir Zynismus vorwerfen, wenn die Aktion nicht weitergeht: Wenn du nicht gleich weitere Rettungen planst und nicht das Fensterprodukt präsentierst, das keine Fliegen mehr tötet. Die Fliegenrettungsaktion darf nur als Scharnier hin zu sinnvollen Produkten und einem echten Umdenken bei euch verstanden werden. Literarisch ausgedrückt: Das alles ist gelebter Kafka. Flippi verwandelt als Gregor Samsa seine Funktion vom Töten zum Retten. Und ihr als Erfinderfirma stellt den üblichen Markt auf den Kopf und führt den Diskurs zwischen Mensch und Insekt in eine neue Dimension. Das Ergebnis ist ein Umdenken in der Kundschaft.«

»Das Fensterprodukt ist viel zu teuer. Ich schätze, es würde knapp 200 Euro kosten. Ein heutiges Fliegenprodukt kostet fünf Franken. Das geht alles überhaupt nicht auf. Ich sehe die Sinnhaftigkeit in euren Überlegungen, aber in die Fensterbranche kann ich nicht einsteigen.«

Wir vereinbaren Stillschweigen über diese freundliche Art der Insektenbekämpfung, vielleicht ist das ja etwas für die Zukunft.

»Wir brauchen trotzdem ein überzeugendes Kommunikationskonzept«, sagt Patrik. »Die Medien könnten die Rettungsaktion sonst als billige Werbeaktion abwerten.«

»Wir benötigen einen Pressesprecher! Ich habe auch schon eine sehr gute Besetzung. Meine beste Studienfreundin! Sie ist kommunikativ stark, spricht sechs Sprachen fließend und möchte sich gerade beruflich verändern. Und wir brauchen einen Biologen! Einen Insektenspezialisten, der sich kompetent mit allen Fragen der Fliegenrettung auseinandersetzen kann. Auch hier habe ich schon die ideale Besetzung: Daniel Bucher aus Herisau. Ich kenne ihn seit Jahren. Aber es gibt da einen wunden Punkt: Die Aktion nächstes Jahr macht nur Sinn, wenn wir noch in diesem Jahr die Zusage von mindestens einem Kunden erhalten. Wenn wir also einen Auftrag zur Lieferung von Flippi im nächsten Frühjahr erhalten.«

»Das ist uns klar. Aber wir können nicht erst ein paar Wochen warten, bis Herr Paul den ersten Auftrag hat. Wir müssen unmittelbar starten, es gibt sehr viel zu tun.«

Zehn Tage später treffe ich mit Verstärkung im Atelier ein. Ohne meine Pressesprecherin, ich konnte sie nicht überzeugen, ihr ist die Rettungsaktion zu verrückt. Aber immerhin sind Herr Paul und Herr Bucher mitgekommen. Auch ihnen sieht man deutlich ihr Unbehagen an, mit Kunst hatten sie bisher nichts am Hut. Sie sind sich nicht sicher, ob Frank, Patrik und ich es wirklich ernst meinen. Und falls ja, ob sie dann vielleicht als fremdgesteuerte Akteure in einer skurrilen Kunstaktion fungieren.

Patrik holt eine kleine Kamera.

»Ich hoffe, es ist für euch in Ordnung, dass ich alles filme. Die Dokumentation gehört zu jedem Prozess dazu. Da muss man sich erst dran gewöhnen, aber später merkt man es gar nicht mehr.«


DÜRFEN WIR MIT TIEREN SO UMGEHEN?

WAS SAGT DIE ETHIK?

Ich beginne die Diskussion, richtig geheuer ist auch mir die Filmerei nicht.

»In den letzten Tagen haben mich intensiv die Fragen gequält, ob wir als Unternehmen überhaupt so mit Tieren umgehen dürfen und ob wir Fliegen für unseren ökonomischen Erfolg instrumentalisieren dürfen. Wie können wir eine ökologische und ethische Berechtigung für unser Tun erlangen?«

Über eine halbe Stunde diskutieren Frank, Patrik und ich, bevor Frank unsere Gedanken zusammenfasst:

»Wir brauchen ein nachhaltiges Konzept, das sich positiv auf die Natur auswirkt und langfristig angelegt ist. Nach der Rettungsaktion müssen unbedingt weitere Aktionen folgen. Außerdem müssen wir einen Geldbetrag pro verkaufter Fliegenscheibe festlegen, der von Reckhaus für Naturschutzprojekte abgeführt wird.«

»Herr Bucher, haben Fliegen Vorteile?«, frage ich. »Gibt es Orte, die von Fliegen profitieren? Frank, Patrik und ich haben uns überlegt, die geretteten Fliegen in Naturschutzgebieten auszusetzen, damit diese nicht in die Städte zurückfliegen und wiederum von den Menschen bekämpft werden.«

Fast stotternd führt der Biologe aus, dass auch Fliegen ökologisch wertvoll sind, er aber auf diese Frage nicht vorbereitet sei. Zum nächsten Treffen werde er uns gern einige Informationen mitbringen.

»Lasst uns zum Reiseziel kommen«, gehe ich zum nächsten Thema über. »Dürfen wir Fliegen überhaupt nach Mallorca einführen? Was passiert, wenn unsere Fliegenretter am Zoll festgehalten werden?«

»Wir brauchen ein zweites Ziel«, sagt Patrik. »Ich schlage Teneriffa vor.«

»Herr Paul, darf ich Sie bitten, bezüglich der Einfuhr von Fliegen mit den spanischen Behörden auf den Flughäfen Kontakt aufzunehmen?«

»Gerne, Herr Reckhaus«, antwortet Paul trocken.

»Lasst uns doch schon über nationale Reiseziele reden, wenn die Fliegen nicht nach Spanien eingeführt werden dürfen«, sagt Frank. Auch Deutschland wäre für die Künstler in Ordnung, wichtig ist ihnen nur, dass die Fliegen im Flugzeug reisen und einen eigenen Sitzplatz haben.

»Daniel, hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie die Reiseboxen aussehen können?«, fragt Patrik. »Die Fliegen müssen sich mehrere Tage darin wohlfühlen. Wichtig ist auch, dass die Boxen auf die Sitzplätze im Flugzeug passen. Ich gebe dir nachher eine Zeichnung mit, die die genauen Maße eines Flugsitzes zeigen.«

»Sind Fluggesellschaften überhaupt bereit, Insekten wie einen normalen Passagier zu transportieren?«, fragt Herr Bucher.

»Ich gehe davon aus, dass Lufthansa oder AirBerlin die Fliegen aufgrund des hoffentlich großen Medieninteresses für unser Projekt sehr gerne transportieren. Wir brauchen einen strategischen Fluglinienpartner. Herr Paul, das wäre ebenfalls eine super Aufgabe für Sie. Könnten Sie bitte mit beiden Gesellschaften erste Gespräche führen?«

Herr Paul nickt kurz und macht sich Notizen.

»Die Fliegen brauchen am Flughafen einen VIP-Service«, fordert Frank. »Und was passiert eigentlich mit den Fliegen, wenn sie zurückkommen?«

»Wir eröffnen einfach das erste Fliegenhotel Deutschlands«, sage ich. »Eine Wellnessoase, vielleicht ein Stall in einem alten Bauernhof, mit perfekten klimatischen Bedingungen und einer Webcam.«


D
Seit Jahren reden wir über DOWNSIZING. Die Diskussion geht für mich am Thema vorbei.Es reicht nicht aus, das Alte lediglich zurückzufahren, effizienter, schlanker und ressourcenschonender zu gestalten. Was wir brauchen, ist schnelles, exponentielles Wachstum mit Neuem. Und damit wir dieses Neue überhaupt finden, etwas Neues, das von Grund auf nachhaltig ist, müssen wir unser ganzes unternehmerisches Potenzial und Geschick in die Waagschale werfen.Externalisierte, sinnentleerte Märkte zurückdrängen und stattdessen neue, nachhaltigkeitsorientierte Märkte aufbauen – da müssen wir jetzt ran. Bei einem ökologischen Fußabdruck von über 2,5 Erden gibt es viel zu tun! (M)


»Eine sehr gute Idee, so könnte es gehen«, sagt Patrik.

»Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wo und wann wir die Aktionen planen«, sagt Frank. »Ich bin für Großstädte wie Berlin, Hamburg und München, damit wir möglichst viele Menschen erreichen.«

»Ja, das finde ich gut«, sage ich. »Wenn wir dann pro Monat – also April, Mai, Juni, Juli und August – je eine Aktion in einer Stadt machen, dann ist Flippi die gesamte Saison lang Thema.«

»Wir müssen noch über die Medien sprechen«, fordert Patrik. »Wir sind skeptisch, ob die Medien unsere Geschichte so schnell aufgreifen. Unsere Erfahrung zeigt, dass Printmedien – wenn überhaupt – erst mit einer Zeitverzögerung reagieren. Bevor sie schreiben, recherchieren die Journalisten erst einmal im Netz und prüfen die Geschichte auf ihre Glaubwürdigkeit.«

»Entscheidend für uns ist daher, dass wir eine eigene Internetseite aufbauen und uns an den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter beteiligen«, äußert sich Frank. »Am besten stellen wir unsere Geschichte bereits jetzt online.«

»Das geht mir viel zu weit«, sage ich. »Unsere Aktion ist noch zu jung und zu fragil. Ich möchte nicht Dinge in der Öffentlichkeit ankündigen und dann nicht genau so machen. Das ist unseriös.«

»Bezüglich der Medien können wir uns aber schon einmal kritische Fragen überlegen, die sicher kommen werden. Wir machen dir eine Liste dazu.«

Nach fünf Stunden verabreden wir ein nächstes Treffen in vier Wochen. Kaum zurück im Büro ist die Mail von Frank und Patrik auch schon da:

Herr Reckhaus, sind Sie ausgeflippt? Oder leiden Sie unter einem krassen Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom?

Ist die Aktion eine Verlegenheitslösung, weil Sie nicht auf eine bessere Idee gekommen sind?

Worum geht es Ihnen? Ums Geld? Ums Tier? Ums Image?

Der CO2-Ausstoß ist bei Flugzeugen extrem hoch, wie viel Lebensraum für Insekten wird dabei zerstört?

Wie kann man diesen Aufwand rechtfertigen, wenn in Afrika Kinder verhungern und diese dort, gerade mit der Stubenfliege, echte Probleme haben?

Insgesamt 30 Fragen haben die Zwillingsbrüder formuliert. Wir alle wissen: Das ist nur die Spitze des Eisberges, auf den wir zusteuern.

September Wir treffen uns wieder im Atelier. Herr Paul hat kurzfristig per Mail abgesagt. Ich fühle mich irgendwie freier und eröffne das Treffen philosophisch:

»Unsere Aktion wird als absurd wahrgenommen werden. Ich habe deswegen das Wort absurd im Duden nachgeschlagen. Absurd steht für sinnlos und widersinnig. Diese Deutung gefällt mir nicht. Es geht ja bei unserer Idee nicht um sinnlose Dinge. Es geht darum, Dinge umzudrehen, ins Gegenteil zu verkehren. Das schafft Bewusstsein, besonders für die eigene, nächste Umgebung. Das ist ein äußerst sinnvoller Beitrag.«

 


ES IST NICHT MÖGLICH,

FLIEGEN ZU RETTEN

Herr Bucher berichtet zuerst, wie Fliegen gerettet werden können.

»Fliegen sind ein wichtiges Glied der Nahrungskette«, führt der Experte aus. »Das bedeutet, dass die Tiere überall Feinde haben. Überall. Es gibt in der Natur keine Wellnessoase für Fliegen, zu der wir sie bringen könnten. Es ist gar nicht möglich, Fliegen zu retten.«

Schockiert schauen Frank, Patrik und ich den Insektenversteher an. Er setzt seine Ausführungen emotionslos fort.

»Aber es gibt einen Ausweg. Wenn ihr den Fliegen etwas Gutes tun wollt, müsst ihr sie einsperren. Ihr könnt doch die Idee des Wellnesshotels weiterspinnen.«

Ich brauche eine Kaffeepause. Was für ein Irrsinn. Einsperren, um zu retten! Nachdem wir den frappanten Umkehrschluss ein wenig verdaut haben, sprechen wir über das geplante Wellnesshotel für Fliegen.

»Die Kunden bringen uns die Fliegen in die Filiale des Flippi-Händlers«, sagt Patrik. »Wir nehmen sie entgegen und müssen sie in eine Box einsperren. Abends bringen wir sie dann in eine größere Unterkunft, in der alle Fliegen sind, die wir in den vorangegangenen Tagen gerettet haben. Das Fliegenhotel müsste mobil sein und mehrere Wochen halten. Ich sehe eine große, hölzerne Box, die wir mit einem Kastenwagen transportieren.«

»In der tourfreien Zeit können wir dann die Box in eine Scheune stellen«, meint Frank weiter. »Im Wagen sind die Fliegen doch sehr der Sonne und starken Temperaturschwankungen ausgesetzt. Eine Scheune bietet ihnen besseren Schutz. Das ist dann unser Fliegenresort.«

Unser Sachverständiger erinnert uns daran, dass sich die geretteten Fliegen paaren werden und ein Weibchen im Laufe ihres Lebens unter optimalen Bedingungen bis zu 2000 Eier legen kann.

»Das ist ja wunderbar«, sagt Patrik.

»Das wird mir zu viel«, sage ich. »Herr Bucher, wie lange leben Fliegen?«

»In der Regel vier Wochen.«


E
Sich als Unternehmer ETHISCH korrekt zu verhalten, hat für mich bislang bedeutet: seinen Handelspartnern keine relevanten Informationen vorzuenthalten. Ihnen offen zu sagen, ob die eigenen Produkte zum Sortiment passen und ihnen gegebenenfalls davon abzuraten, weil Konkurrenten sie besser, preiswerter oder schneller liefern können. Kurz: ehrlich, transparent und verlässlich zu sein.Seit 2011 ist für mich eine neue Dimension hinzugekommen. Es geht um die simple und gleichzeitig doch so essenzielle Frage: Darf ich Insekten töten? Und welche Konsequenzen ergeben sich, wenn die Antwort lautet: Nein, nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn es nicht anders geht.Was wir brauchen, ist einfache, ethische Logik, mit der jeder für sich sein alltägliches Tun hinterfragen kann. Aus den Antworten erwachsen die richtigen Dinge dann von selbst. (V)


»Dann öffnen wir vier Wochen nach Tourende bei einem großen Abschlusshappening die Rettungsbox und lassen alle Fliegen fliegen, die noch leben«, sage ich.

»Was machen wir mit den Fliegen in Spanien?«, fragt Frank. »Es werden ja mehrere Retter mit ihren Fliegen an den Strand fliegen.«

Schnell einigen wir uns darauf, dass wir in Spanien ein weiteres Fliegenhotel errichten müssen, das wir dann zum Abschluss nach Deutschland zurückholen.

»Wir haben noch viel zu tun. Aber: Entscheidend ist der Verkauf. Wenn Herr Paul bis Mitte November keinen Kunden hat, brechen wir ab.«

Oktober »Nichts«, sagt Herr Paul. »Einfach nichts. Ich bin in den letzten drei Monaten 20 Zielkunden angegangen. 19 haben sofort am Telefon abgewunken. Und der eine, der mir immerhin einen Termin angeboten hat, hat mir dann beim persönlichen Treffen gesagt, dass die Aktion zu verrückt sei. Auch er möchte mit der Aktion nichts zu tun haben.«

Ich erzähle, dass ich nicht erfolgreicher war. Während Herr Paul neue Kunden angeht, betreue ich die bestehenden. Viele kenne ich schon seit Jahren, wie den Chefeinkäufer eines großen Drogeriemarktes, dessen Handelsmarke wir produzieren. Für ihn ist unsere Rettungsidee die originellste, die er in den letzten 20 Jahren gehört hat. Aber das Risiko, dass die Medien negativ darüber berichteten, ist ihm viel zu hoch.

»Daran haben wir nicht gedacht«, sage ich. »Eine kritische Berichterstattung könnte auch den Handel treffen. Der deswegen natürlich nicht mitmachen möchte.«

Es wird still im Atelier. Patrik bricht das Schweigen.

»Hans, es ist deine Entscheidung, ob es weitergeht.«

»Wir werden nicht warten, bis wir einen Kunden finden«, sage ich entschlossen. »Ich will Fliegen retten! Wir brauchen ein Konzept, das unabhängig vom Handel funktioniert.«

»Wie soll das gehen, Herr Reckhaus?«, fragt Herr Paul überrascht.

»Der Handel hatte für uns zwei Funktionen in diesem Projekt: Ort und Aufmerksamkeit. Diese zwei Funktionen müssen wir ersetzen.«

»Wir können mit Lokalradios zusammenarbeiten«, sagt Herr Paul. »Für die ist das eine coole Geschichte.«

»Ja, das ist eine gute Idee. Die Fliegenrettung kann dann in einen Radiowettbewerb eingebunden werden, bei dem die Zuhörer die Fliegen zur Sendestation bringen«, sagt Frank.

»Flippi wird prominent«, freut sich Patrik, »alle reden über Flippi. Flippi ist aber nirgends zu kaufen!«

An diesem Nachmittag kommen keine weiteren guten Ideen. Wir erkennen, dass eine kundenunabhängige Fliegenrettung eine Sonderaufgabe ist, die nur Frank und Patrik lösen können. Die beiden versprechen, in zwei Wochen ein neues Konzept zur größten Fliegenrettungsaktion der Welt vorzulegen.

November Frank und Patrik präsentieren Herrn Paul, Herrn Bucher und mir gleich mehrere handelsunabhängige Rettungswerke, samt akribischen Kostenaufstellungen. Die wertvollen Insekten sollen nun mit ihren glücklichen Rettern nur innerhalb Deutschlands umherschwirren. Das würde Kosten sparen. Allerdings weiterhin mit dem Flugzeug, auch wenn die geplante Partnerschaft mit einer Airline nicht zustande gekommen ist. Weder Lufthansa noch AirBerlin haben unsere telefonischen Anfragen ernst genommen. Sie glauben an einen Scherz. Außerdem haben sich die behördlichen Abklärungen mit dem Export und Import von Fliegen in den letzten Wochen als schwierig erwiesen.


SICH LOSLÖSEN

VON DER ÖKONOMIE

MACHT FREI

Wir einigen uns auf die alte Idee mit den Lokalradios, und ich gebe aufgrund des schwindenden Geldes noch einmal die Richtung vor:

»Von den budgetierten 100 000 Franken haben wir bereits 30 000 für die Arbeitsstunden von Frank, Patrik und Herrn Bucher ausgegeben. Es bleiben also 70 000 Franken oder – umgerechnet beim derzeitigen Kurs – 50 000 Euro. Das ist nicht viel für eine Aktion, die uns beim Konsumenten national so weit bekannt machen soll, dass der Handel Flippi kauft. Je weniger Geld wir haben, desto konsequenter müssen wir uns auf unsere Ziele ausrichten. Ohne den Handel können wir uns ab sofort tatsächlich auf die Fliegenrettung konzentrieren. Wir können sie genau so gestalten, wie wir sie als richtig empfinden. Es geht mit dem bestehenden Budget nicht darum, dass wir ökonomiegetrieben versuchen, möglichst bekannt zu werden. Nein, jetzt machen wir es richtig! Es geht darum, dass wir mit den vorhandenen Mitteln möglichst viele Fliegen retten. Die Loslösung von der Ökonomie macht uns frei, wir können uns auf das Wesentliche konzentrieren. Denn was nutzt uns die öffentliche Aufmerksamkeit, wenn wir nur wenige Fliegen retten? Dann könnte man die Sache auch als nur kleine Idee auslegen und uns als amateurhaft beschreiben.«

»Großartig«, sagt Patrik. »Du kannst mit uns rechnen. Wir geben Rabatt.«

Wir fangen an zu rechnen: Internetauftritt speziell nur für die Aktion 20 000 Euro, Flippimobil für die Fliegenrettung 10 000 und weitere Kosten für die Personen, die alles realisieren.

»Und wie soll das mit dem Timing laufen?«, fragt Herr Paul.

»Um nur mit einer Aktion möglichst viele Fliegen zu retten, müssen wir sie im Sommer machen«, antworte ich. »Wenn dann Flippi bekannt wird, ist es zu spät für eine Listung im Handel. Die Kunden müssen ja erst kontaktiert und überzeugt werden. Bis die dann Platz in ihren Regalen für Flippi geschaffen haben, ist es Herbst und damit die Fliegensaison vorbei. Da haben wir ein eindeutiges Problem. Wir werden im nächsten Jahr keine Returns generieren können. Aber ich will weitermachen.«

Frank, Patrik und ich vereinbaren, dass wir uns bei nächster Gelegenheit bei der Werbeagentur Alltag treffen, die sie als Kommunikationspartner empfehlen.

Direkt nach der Sitzung entlasse ich Herrn Paul.

1 Offizielle Zahlen des Umweltbundesamt (UBA)


STUFE 3

STARKEN IMPULS SETZEN, DER DIE WEICHEN RICHTUNG ZUKUNFT STELLT

2012

Januar Die Agentur Alltag hat ihr Büro in der ersten Etage eines schlichten grauen Wohnhauses an einer Ausfallstraße in St. Gallen. Frank und Patrik sitzen bereits in dem 30 Quadratmeter großen Besprechungsraum, als mich Agenturinhaber Marcus Gossolt begrüßt. Schwarzer Pullover, Ohrring und Nickelbrille, unrasiert. Er sei auch Künstler, erzählt der Inhaber und stellt seine Agentur vor. Ich denke nur: Auch das noch! Wir haben doch schon genug Kunst in unserer Geschichte!

Mit wenigen Worten führt Gossolt aus, dass die Dynamik der Aktion super, die Verknüpfung mit Flippi jedoch nicht möglich sei:

»Flippi kommt so apothekenhaft daher. Das Design ist überhaupt nicht cool. Es muss so geil sein, dass die Leute die Fliegenscheibe verschenken wollen. Kurz: Bevor man an die Verknüpfung mit der Aktion denken kann, sollte man das gesamte Design hinterfragen.«

Ungefragt holt Frank eine aufwendig präparierte Originalfaltschachtel von Flippi hervor. Das Produkt hat nun zwei Vorderseiten. Die eine ist schwarz angemalt und auf dem ebenfalls schwarzen Kreis in der Mitte steht mit weißen Buchstaben: Ich töte. Die andere ist unverändert rot mit einem grünen Dach, auf dem steht: Ich rette. Im Nachhinein ein großer Moment. Die Riklins waren in allem so weit voraus.

Alle schmunzeln, auch Gossolt scheint in die riklinsche Verpackungsgestaltung nicht eingeweiht zu sein und erklärt, dass man beim nächsten Treffen unbedingt auch über das Scharnier zum Unternehmen sprechen müsste. Ich verstehe nicht ganz, was er meint, bin aber froh, dass ich fürs Erste so schnell hier wieder herauskomme.

Februar Zusammen mit Frank und Patrik sitze ich wieder bei Alltag und Agenturinhaber Marcus Gossolt kommt gleich zu Sache:

»Herr Reckhaus, wofür steht Reckhaus?«

Möchte er einen großen Auftrag haben?, ist mein spontaner Gedanke. Ich dachte, wir machen weiter mit Flippi. Warum sollen wir über unsere Corporate Identity sprechen? Gleichzeitig spüre ich, dass er recht hat.

»Das Existenzielle für die Kommunikationsverbindung ist Ihre grundsätzliche Entscheidung, den Zynismus als Assoziationsfeld zu Ihrem Produkt und Unternehmen zuzulassen«, führt der Agenturchef aus. »Im Internet-Zeitalter wird diese Aktion dokumentiert und nicht vergessen. Sie wird immer mit Ihrem Unternehmen in Verbindung gebracht. Deswegen müssen wir dringend eine Verbindung zum Unternehmen schaffen!«

Gossolt präsentiert sein Angebot und wartet zusammen mit Frank und Patrik auf ein Statement, ein Go. Ich kann nicht. Ich kann einer so kleinen Agentur diesen Auftrag nicht geben. Da ich weiter schweige, erzählt Patrik spontan eine kleine Anekdote:

»Gestern kam im Radio ein Bericht über einen Werbefilm, in dem sich jemand auf einen Ameisenhaufen gesetzt hat. Daraufhin haben sich Leute beim Tierschutzverband beschwert. Der Verband hat geantwortet, dass er nichts gegen die Werbung machen kann, weil die gequälten schwarzen Ameisen nicht unter Artenschutz stehen. Nur die roten Ameisen sind geschützt. Ist es nicht absurd, dass der Tierschutz sagt, die einen Ameisen dürfen getötet werden, die anderen nicht? Eigentlich müsste das Ziel unserer Aktion sein, dass das Fliegenschutzrecht geändert wird!«

 


WENN DER

LEITSTERN KIPPT

»Das wäre cool, wenn am Schluss der Aktion tatsächlich eine Änderung des …«, Gossolt stockt und sagt dann mit breitem Grinsen: »Nein, viel besser: Irgendwann kippt der Leitstern Ihres Unternehmens, Herr Reckhaus. Sie werden zum Fliegenschützer!«

Ich quäle mich und denke: Wie soll ich meine Absage formulieren? Kann ich überhaupt absagen, wenn Frank und Patrik die Agentur als ideal für uns empfinden? Die Aktion ist Kunst, die von den beiden realisiert wird. Wenn sie dabei mit Alltag zusammenarbeiten wollen, ist es für mich in Ordnung. Wenn es aber um die Überarbeitung von Flippi und unserer Corporate Identity geht, hat es nichts mit Kunst zu tun. Mein Kopf dröhnt: Worum geht es hier eigentlich? Bitte, lasst uns Klarheit schaffen, ist mein einziger Wunsch, die Dinge ordnen. Zum Erstaunen aller stehe ich auf und gehe wortlos zu einer Tafel, die an der Wand hängt.

»Lasst uns mit der Zeitschiene anfangen«, sage ich und male mit Kreide einen langen, horizontalen, weißen Strich.

»Wir müssen festlegen, wann genau wir die Aktion machen wollen. Erst dann wissen wir, ob wir Zeit haben, an Flippi ranzugehen.« Eine gute Stunde sprechen wir über die geografische und zeitliche Anhäufung von Fliegen und über die geeignete Größe des Aktionsortes. Wann Ferien sind und der/die eine oder andere verreist sind. Schließlich entscheiden wir, die Insekten Anfang September in Konstanz zu retten. Eine Stadt, die für Frank und Patrik gut erreichbar ist und bis in die Schweiz ausstrahlt. Zudem legen wir fest, dass wir bis Mai fertig sein müssen mit Kommunikationskonzept und Namen, damit wir genügend Zeit haben, Zeitungen und Radio zu kontaktieren.

Gossolt lässt nicht locker und fragt:

»Was ist mit der Verbindung zum Unternehmen?«

Ich schreibe die drei Geschäftsbereiche an die Tafel: recozit, Handelsmarken und Flippi Neu. Anschließend setze ich Reckhaus als Titel über die drei Sparten.

»Die Lösung steht an der Tafel!«, sagt Gossolt trocken und grinst. »Sie, Herr Reckhaus! Sie sind die beste Verkörperung und die beste Verlinkung. Damit bekommt auch die Aktion das Gesicht, das wir brauchen.«

Ich bin sprachlos. Nach dreieinhalb Stunden beende ich die Sitzung und verspreche, mich bald zu melden.


Zwei Wochen später geht der Austausch mit Frank und Patrik weiter. Ohne ihr Wissen hatte ich mich in der Zwischenzeit mit Marco Casile und Othmar Geser von Festland getroffen, eine große und etablierte Werbeagentur in St. Gallen. Ich kenne die beiden von einem früheren Projekt und wollte unbedingt ihre Meinung hören.


F
Doch was ist nun der Wert einer Stubenfliege? Ohne das graue Fluginsekt mit den vier Längsstreifen auf dem Rücken wären in aller erster Linie unsere Obst- und Gemüseregale nicht so gut gefüllt. Genauso wie die Biene ist sie wichtig für die Bestäubung von Pflanzen – allen voran Brokkoli, Brombeere, Buchweizen, Erdbeere, Himbeere, Karotten, Knollensellerie, Kürbis, Lauch, Mango, Orangen, Petersilie und Zwiebeln. Ihre Vorliebe für Müll und Kot befreit uns von Material, das keiner mehr braucht. Die Biochirurgie setzt Fliegenlarven ein, um nekrotische Wunden zu säubern (Madentherapie). Und letztlich ist die Fliege selbst ein wichtiger Teil der Nahrungskette. Besonders Singvögel, Eidechsen, Igel und Frösche lassen sich den Snack schmecken.


»Es gibt Neuigkeiten«, starte ich unser Gespräch. »Ich war bei Festland, ihr kennt die Agentur ja auch.«

Ich sehe, dass sie skeptisch sind, doch bevor sie etwas sagen können, rede ich einfach weiter:

»Sie bestätigen viele Punkte von Alltag – und deswegen können wir jetzt drei Dinge entscheiden. Erstens: Der Name Flippi und die Aufmachung des Produktes sind gestorben. Ich bin bereit, das Produkt Reckhaus oder Dr. Reckhaus zu nennen. Unter dieser Marke werden wir neben der Fliegenscheibe weitere Produkte lancieren. Außerdem hat mir Festland den Zahn gezogen, dass wir mit unserer Außendarstellung so weitermachen können. Wir müssen unsere Unternehmensseite komplett auffrischen: Name und Aufmachung des Produkts, Unternehmenslogo und Unternehmensauftritt sowie den gesamten Reckhaus-Internetauftritt. Zweitens: Das Problem der Verlinkung zwischen Aktion und Produkt haben wir mit dem Namen gelöst. Drittens: Die Festland-Chefs sind der Ansicht, dass wir das Potenzial der Idee viel zu wenig nutzen. Wir müssten aktiv in die sozialen Netzwerke steigen und unsere Geschichte von Anfang an groß erzählen. Warum mit nur wenigen Menschen in einem Ort Fliegen retten, wenn wir das auch mit ganz vielen deutschlandweit machen können?«

»Das klingt alles schön und gut. Aber wie willst du die Leute erreichen?«, fragt Frank fast schon aggressiv.

Ich erzähle von der Idee der Festland-Manager, einen Filmwettbewerb zu lancieren: Die Retter drehen Filme, wie sie zu Hause Fliegen fangen, und stellen diese ins Netz.

»Könnt ihr euch das vorstellen? Festland meint, wir könnten eine Community mit 50 000 Menschen und mehr aufbauen. Damit kann ich zum Handel gehen und sagen, schaut her, 50 000 Anhänger – alles potenzielle Kunden. Also: Ich möchte, dass wir uns von der Sichtweise auf nur einen Event befreien. Wir brauchen eine Überarbeitung unseres Konzeptes.«

»Wir fangen also von vorne an?«, fragt Frank.

Ich muss mich bewegen und stehe auf. Frank schüttelt nur den Kopf.

»Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir machen die lokale Aktion, die national ausstrahlt. Oder wir gehen einen Schritt weiter, holen Festland mit ins Boot und bauen die sozialen Netzwerke auf. Das kostet mich wahrscheinlich doppelt so viel, also nicht 100 000 Franken, sondern 200 000. Festland würde gerne nächste Woche mit uns ein Brainstorming machen.«


IM KLEINEN

BEGINNEN

»Wir sind keine Spezialisten für Top-down«, sagt Frank. »Unsere Arbeit beginnt immer im Kleinen. So werden die Leute dann selbst Teil der Geschichte. Das ist die Kraft der Kunst. Wenn wir aber groß einfahren: Hans, wie willst du das kontrollieren? Wie generierst du Sinnhaftigkeit?«

»Ich habe unsere Aktion nie infrage gestellt«, sage ich »Die Aktion ist unsere Identität. Aber nur mal so als Spinnerei: Wir machen die Aktion, geben Tipps zum Fliegenretten auf dem Blog und dann entstehen ganz viele Rettungsaktionen. Wir haben das einmal vorgelebt, und die Leute sind so begeistert, dass Nachbarn, ganze Straßen und kleine Ortsviertel zusammenkommen und selbst Fliegenrettungspartys machen.«

»Was wäre der Anreiz?«, fragt Frank.

»Wenn du dich mit hundert Leuten zusammenfindest und gleichzeitig Fliegen fängst und das mit Fotos beweisen kannst …«, sagt Patrik.

»… dann zahlt die Reckhaus AG das Dorffest«, ergänzt Frank.

»Das ist ein bisschen wie Spiel ohne Grenzen«, füge ich hinzu. »Die Dörfer fangen an, gegeneinander zu spielen. Die Idee hatten wir doch schon einmal …«

»Ja, aber wir mussten uns dagegen entscheiden, weil Daniel uns darauf hingewiesen hat, dass Fliegen so leicht zu züchten sind. Die Leute können Fliegenlarven kaufen und einfach mit der Zucht beginnen«, verwirft Frank unsere Gedanken von Dorf gegen Dorf.

Patrik beginnt, etwas auf ein noch leeres Flipchart zu schreiben. Er geht in die Knie, schreibt von links nach rechts die Jahre 2012 bis 2015 hin und erklärt, dass unsere Aktion zu Ende ist, wenn die Fliege im Wellnessurlaub sei. Danach müsse es aber weitergehen mit den Rettungsaktionen.

»Zum Beispiel hier«, er zieht einen Strich bei 2013. »Immer, wenn sich mehr als hundert Menschen zusammenfinden und Fliegen retten, gibt es ein Dorffest, das die Reckhaus AG bezahlt. Wie kannst du das finanzieren? Mit deinem Produkt, das sich verkauft. Vom Erlös steckst du soundso viel Prozent in den Tierschutz und soundso viel Prozent in die Volksfeste!«

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