Alles Materie - oder was?

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2. Ist der Mensch ein Produkt der Evolution?

Die Frage zu stellen, ob der Mensch ein Produkt der Evolution sei, scheint ziemlich überflüssig. Natürlich ist er das, wir haben ja die Ausgrabungen, die es beweisen. Aber die Frage war anders gemeint: Ist der Mensch ausschließlich und in jeder Hinsicht ein Produkt der Evolution, wie sie von den Darwinisten beschrieben wird? Selbst hier scheint vielen die Antwort selbstverständlich, ist es aber in Wahrheit nicht. Wenn nämlich der Mensch emergente, das heißt also neuartige Eigenschaften hat, die ansonsten so in der Natur nicht vorkommen, dann können diese Eigenschaften schwerlich durch die Evolution hervorgebracht worden sein, wie sie von der Biologie verstanden wird. Der Philosoph Thomas Nagel schrieb vor Kurzem ein Buch mit dem Titel „Geist und Kosmos – warum die materialistisch-neo-Darwinische Konzeption der Natur wahrscheinlich falsch ist.“ Dieses Buch hat viel Aufsehen oder sogar wütende Proteste hervorgerufen. Wie kommt ein Philosoph, der zudem bekennender Atheist ist, dazu, den Darwinismus für falsch zu halten, jedenfalls bezogen auf den Menschen?

Aber so einfach ist das nicht, denn Nagel bestreitet keineswegs, dass die Darwinistischen Prinzipien nützlich, ja unumgänglich sind, um das Werden in der Natur zu begreifen. Er bestreitet lediglich, dass diese Prinzipien hinreichend sind, menschliche Vernunft und Freiheit abzuleiten. Er hatte schon früher mit guten Gründen darauf hingewiesen, dass Menschen Eigenschaften aufweisen, die ansonsten in der Natur nicht vorkommen. Diese älteren Schriften haben kein solches Aufsehen erregt, obwohl sie doch im Grunde dieselbe These vertreten, denn wenn ich der Meinung bin, dass Menschen unableitbar emergente Eigenschaften wie Vernunft und Freiheit haben, die naturwissenschaftlich nicht erklärt werden können, dann muss ja doch der Darwinismus insofern unterdimensioniert sein, als dass er auf diese Eigenschaften nicht bezogen werden kann, also nicht imstande ist, sie zu erklären. Aber wie gesagt, all die Jahrzehnte, in denen Nagel dieselbe These vertrat, gab es keinen solchen Aufschrei. Man muss schon explizit sagen, dass der Darwinismus für den Menschen falsch ist, um wahrgenommen oder sogar verachtet zu werden.

Nagel schlägt vor, die Gesetze der Physik durch teleologische Gesetze zu erweitern, d. h. durch Gesetze, die Sinnperspektiven eröffnen. Die Gesetze der Physik, wie wir sie gewöhnlich verstehen, gelten einfach nur. Sie haben, so gesehen, keinen Sinn, sind aber nicht etwa sinnlos, sondern einfach nur sinnfrei, so wie die Planetenbewegungen nicht etwa sinnlos sind, sondern ganz einfach kein Anwendungsbereich von Sinnkategorien. Man kann z. B. nicht fragen „Wozu kreisen die Planeten um die Sonne?“. Hier gibt es einfach kein ‚Wozu‘, sondern nur ein ‚Dass‘.

Doch wenn die Menschen aus der Evolution hervorgegangen sind und wenn sie unhintergehbar in Sinnperspektiven leben, die durch Vernunft und Freiheit aufgespannt werden, dann kann dieser Sinn nicht aus dem Nichts hervorgegangen sein. Die Möglichkeit dazu war also im Universum schon immer vorhanden, und diese reale Möglichkeit verlegt Nagel in die Grundgesetze der Physik. Es ist aber nicht ganz klar, wie man die bekannten physikalischen Gesetze durch teleologische erweitern sollte, ohne ein widersprüchliches Durcheinander zu erzeugen. Das heißt, wir brauchen Nagels Lösungsvorschlag nicht zu übernehmen. Aber sein Gedankengang wäre dennoch zu diskutieren, denn er legt den Finger in eine Wunde des Physikalismus und unserer heutigen Weltauffassung.

Nagel hat – auch in seinen älteren Werken – das Verdienst, ohne Rücksicht auf den Zeitgeist das zu sagen, was ihm vernünftig erscheint, sei es gelegen oder ungelegen. Er denkt zu Ende, was andere nicht zu denken wagen, denn es gibt in Bezug auf die Frage nach der Herkunft des Menschen aus der Evolution nur zwei konsistente Antworten: 1) Entweder ist der Mensch mit allen Eigenschaften das ausschließliche Produkt der Evolution, wie sie von der Biologie beschrieben wird, also ein Tier unter Tieren, oder aber der Mensch hat 2) emergente Eigenschaften, die nicht in ein evolutionäres Schema hineinpassen. In diesem Fall wird der Darwinismus für diese Eigenschaften unzureichend sein, wie Nagel zu Recht betont.

Position 1) läuft darauf hinaus, dass der Mensch nichts Besonderes in der Natur ist. Schon Darwin hat das so gesehen. In seiner Sichtweise ist der Mensch zwar anders als die übrigen Tiere, aber noch längst nicht besser. Das heißt: Der Mensch kann zwar besser denken, aber nicht so virtuos klettern wie die Affen, und er fliegt auch nicht und sieht nicht so gut wie die Geier oder die Adler und er hackt auch nicht in die Bäume wie der Specht. Alle Lebewesen haben sich danach an ihre jeweilige Umwelt angepasst, und weil die Umwelten so verschieden sind, sind auch die Eigenschaften der Lebewesen grundverschieden und ihrer jeweiligen Umgebung bestens angepasst. So gesehen ist also der Mensch nicht mehr als ein Bakterium. Man könnte diese Auffassung eine ‚horizontale Weltanschauung‘ nennen, wenn wir unter ‚Vertikale‘ eine Wertehierarchie verstehen, die nach oben ausgerichtet ist. Im Handeln sind wir so etwas gewöhnt. Alle Menschen haben bestimmte Werte, die ihnen ganz wichtig sind, und andere, die sie auf der hierarchischen Skala weiter unten lokalisieren, sie denken also vertikal. Aber was wir in Bezug auf Handlungszusammenhänge ohne Weiteres als richtig unterstellen, nämlich eine solche vertikale Hierarchie, das bestreiten wir in Bezug auf die Natur. Dort gibt es keine Vertikale, keine Wertunterschiede, sondern alles liegt auf demselben Niveau, jedenfalls, wenn wir den Darwinisten folgen. Der Mensch ist in dieser Sichtweise nicht mehr, wie einstmals, die Krone der Schöpfung, ein Wesen mit einer hervorgehobenen Stellung in der Natur, sondern er rangiert sich gleichbedeutend ein in die Kette der übrigen Lebewesen. Es gibt Einzeller, Quallen, Pumas, Eichhörnchen und Menschen, und ihr Sein ist jeweils dasselbe, nämlich das Sein eines Organismus, der Nahrung braucht und sich fortpflanzt und der sich seiner Umgebung anpasst.

Wir könnten dies eine Art von ‚Demokratisierung‘ nennen. Noch im Mittelalter war jeder von der Sonderstellung des Menschen überzeugt und davon, dass die Natur eine vertikale Gliederung aufweist: Zuerst kommen die Steine, dann die Pflanzen, dann die Tiere und ganz zuoberst schließlich der Mensch als die Krone der Schöpfung. Dieser Hierarchie entsprach eine hierarchische Gliederung in der Ständegesellschaft: Bauern, Bürger, Krieger, Adlige, Klerus und ganz oben der Kaiser oder auch der Papst. Man könnte nun vermuten, dass die Einführung der Demokratie seit der Französischen Revolution dazu geführt hat, auch die Natur ‚demokratischer‘ zu verstehen, und dann hieße dies, dass diejenigen, die wieder eine Werteordnung in die Natur einführen wollen, antidemokratisch sind und dass sie sich auf die Art eines unzeitgemäßen Konservativismus in eine autoritäre Staatsform zurücksehnen. Aber so kurzschlüssig ist das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur nicht. Eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung mag bestimmte Naturauffassungen nahelegen, sie sind dennoch nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert, wie einstmals die Marxisten glaubten. Natur hat ihre Eigenständigkeit, und sie geht nicht darin auf, ein soziales Konstrukt zu sein.

Es wird sich in diesem Kapitel zeigen, dass der Mensch über Eigenschaften verfügt, die sonst nicht in der Natur vorkommen, und dass es sehr künstlich ist, sie in eine rein horizontale Weltauffassung einzuebnen. Glaubt denn irgendein Darwinist im Ernst, dass Bakterien und Menschen auf derselben Stufe stehen? Der Biologe glaubt so etwas nur, solange er sich im Laboratorium befindet. Tritt er in die Welt hinaus, dann denkt er hierarchisch, wie jeder andere Mensch auch. Man könnte also sagen : Hier ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt ungeklärt. Natürlich werden wir im Rahmen einer reduktionistisch vorgehenden Laborwissenschaft keine Werturteile zulassen. Wir werden die reduktionistisch vorgehende Biologie nicht als solche kritisieren, sondern nur den materialistisch-weltanschaulichen Rahmen, innerhalb dessen sie so gerne gesehen wird. Wir kritisieren also die Biologie nicht als solche, denn nur um den Preis der methodologischen Reduktion ist sie eine exakte, intersubjektiv kontrollierbare Wissenschaft. Aber als Menschen können wir nicht umhin, die Tatsache zu ignorieren, dass es eine echte Höherentwicklung gegeben hat und dass damit ein Wertezuwachs verbunden war. Niemand hält sich für eine Qualle oder einen Wurm, geschweige denn für ein Bakterium.

Der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat sich in seinem Buch „Zur Naturgeschichte der Aggression“ die Sache so zurechtgelegt, dass er ein irrationales Wertempfinden von der Objektivität der Wissenschaft unterscheidet. Er sagt: „Wer da als Naturforscher um jeden Preis ‚objektiv‘ bleiben und sich dem Zwange des ‚nur‘ Subjektiven um jeden Preis entziehen will, der versuche einmal – natürlich nur im Experiment des Denkens und der Vorstellung – hintereinander eine Salatpflanze, eine Fliege, einen Frosch, ein Meerschweinchen, eine Katze, einen Hund und schließlich einen Schimpansen vom Leben zum Tode zu befördern.“ Es ist offenkundig, dass uns diese Tötungen immer schwerer fallen. Es gibt also ein qualitatives Wertempfinden, eingebunden in eine ontologische Hierarchie.

Aber was heißt es, wenn wir dieses Wertempfinden ins Irrationale verschieben? Ist es denn nicht so, dass wir durchaus vernünftig über solche Wertfragen diskutieren können, und gibt es nicht eine kompetente Literatur zur ökologischen Ethik, die sich gerade um solche Fragen des intrinsischen Wertes von Lebewesen kümmert? Ist das, was Lorenz vorbringt, nicht etwa auch ein Argument, und wäre nicht der Begriff eines ‚irrationalen Arguments‘ ein Widerspruch in sich? Tatsächlich geht Lorenz davon aus, dass menschliche Vernunft in der wissenschaftlichen Vernunft aufgeht, und dann bleibt ihm eben nur noch das Irrationale für die überlappenden Wertfragen, die in der Biologie als solcher nicht vorkommen.

 

Wir haben also den folgenden Sachverhalt: Die Biologie erklärt die Entwicklung der Lebewesen rein kausal, ohne alle Wertung, d. h. rein horizontal. Als Menschen können wir uns aber so nicht verstehen. Unabhängig davon, welche Moral wir vertreten, unterstellen wir doch immer eine gewisse Hierarchie von Werten, die uns mehr oder weniger wichtig sind. Wir denken also vertikal, und in diese Vertikale beziehen wir auch den Rest der Natur mit ein. Menschen sind die geborenen Metaphysiker. Sie lassen sich nicht einsperren in das Gehäuse der Wissenschaft, so nützlich sie im Übrigen sein möge, und deshalb ist die wissenschaftliche Vernunft nur Teil der Vernunft als Ganzer, und wir haben sehr wohl die Möglichkeit, im Rahmen einer solchen umfassenden Vernunft Wertfragen rational zu klären. Nicht zuletzt hierin zeigt sich, dass Vernunft nicht enggeführt werden darf. Sie transzendiert den innerwissenschaftlichen Bereich. Aber damit zeigt es sich, dass Thomas Nagel recht hatte, wenn er bestimmte Eigenschaften des Menschen aus dem evolutionären Schema herausnahm. Aber dann müssen wir uns mit dem anderen Horn des Dilemmas 2 beschäftigen: Wie macht es die Natur, Phänomene hervorzubringen, die ontologisch mehr sind als das, was die evolutionären Mechanismen nach Darwin hergeben? Wie ist echte Emergenz möglich? Was bedeutet das Entstehen von Neuem in der Evolution?

Solche Fragen sind nicht rein akademisch, so als handele es sich um Probleme, die die klugen Professoren in ihren Seminaren abhandeln, weil sie nichts anderes zu tun haben. Wenn wir die Meinung der meisten Biologen übernehmen, wonach die Evolutionstheorie die Eigenschaften aller Lebewesen unter Einschluss des Menschen erklärt, dann ist der Atheismus unausweichlich, denn die Erklärungsgründe der Evolutionstheorie beziehen sich nur auf materielle Prozesse. Hier kommt nichts Metaphysisches ins Spiel. Das erklärt auch, weshalb so viele Biologen Materialisten sind, was für die Physiker nicht gilt. Die Physik erklärt die Natur mit Hilfe von mathematischen Formeln, die eine gewisse Schönheit und Eleganz aufweisen. Das hat viele Physiker dazu veranlasst, diese Formeln als Ausdruck eines göttlichen Intellekts aufzufassen, aber in der lebendigen Natur geht es drunter und drüber und die Darwinschen Prinzipien sind nicht etwa elegant, sondern sie beschreiben einen tödlichen Krieg aller gegen alle.

Wenn dieser Krieg Erklärungsgrund aller Lebensphänomene unter Einschluss des Menschen ist, dann sind atheistische Schlussfolgerungen unvermeidlich. Von daher ist ein gläubiger Mensch in dieser Frage gehalten, Position zu beziehen. Wenn er nicht mindestens zeigen kann, dass die Evolutionstheorie für gewisse herausragende Eigenschaften des Menschen falsch ist, dann hat er verloren. Die Frage nach der Emergenz, nach dem Entstehen des Neuen, ist ein „articulus stantis et cadentis ecclesiae“. Hier entscheidet sich schlichtweg alles!

Der Begriff der ‚Emergenz‘ kommt in zwei Versionen vor, in einer schwachen und in einer starken. Die schwache Version ist so schwach, dass es sich schon fast nicht mehr lohnt. Sie bezieht sich auf holistische Systemeigenschaften, die die Teile eines Systems nicht aufweisen. Man drückt das auch manchmal mit dem Satz aus „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Diejenigen, die diesen Satz im Munde führen, halten ihn für besonders tiefgründig, aber er ist in Wahrheit ziemlich trivial. Es gibt nämlich kaum ein System, das nicht Eigenschaften aufwiese, die seinen Teilen abgehen, so dass es so gesehen überhaupt nur Ganzheiten in der Welt gibt. Die Alten haben das mit dem Satz „omne ens unum“ ausgedrückt: Alles, was existiert, bildet eine Einheit, sonst könnte es gar nicht existieren.

So haben z. B. einzelne Wassermoleküle keine Oberflächenspannung, wohl aber sehr viele Moleküle. Oder ein einzelnes Luftmolekül hat keine Temperatur und keinen Druck, wohl aber eine statistische Gesamtheit derartiger Moleküle. Man sieht an solchen Beispielen, dass sich schwache Emergenz und reduktionistische Wissenschaft sehr gut vertragen, denn die Oberflächenspannung von Wasser oder der Druck und die Temperatur von Gasen können wir ganz leicht physikalisch berechnen.

Man kontrastiert gerne Ganzheiten mit Aggregaten. Bei Aggregaten soll alles wirklich nur die Summe seiner Teile sein. In diesem Sinn würde man z. B. einen Sandhaufen für ein Aggregat halten. Es hat sich aber – zur Überraschung der Physiker – gezeigt, dass an Sandhaufen Lawinen nach ganz bestimmten Gesetzen abgehen, d. h., selbst hier zeigen sich Systemeigenschaften, die man nicht erwarten würde und die den Teilen abgehen. Also selbst bei einem Sandhaufen ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Wir können deshalb den Begriff der ‚schwachen Emergenz‘ auf sich beruhen lassen und wenden uns der starken Form zu, denn wenn sogar ein Sandhaufen eine Ganzheit im schwachen Sinn ist, dann grenzt schwache Emergenz praktisch nichts mehr aus. Dann ist alles eine ‚Ganzheit‘ in diesem trivialen Sinn, was uns nicht weiter beschäftigen soll.

Starke Emergenz liegt hingegen vor, wenn wir die Eigenschaften einer (nun echten) Ganzheit nicht aus den Teilen und den in ihnen herrschenden Gesetzen herleiten können und wenn wir nicht imstande sind, diese Eigenschaften vorherzusagen, auch wenn wir die Vorgeschichte eines Systems komplett begriffen haben. Starke Emergenz liegt also vor, wenn radikal Neues entsteht. Wäre der Darwinistische Standpunkt 1) wahr, dann würde es nichts radikal Neues in der Natur geben. Auch der Mensch wäre dann nichts, was aus den gängigen Modellen des Darwinismus herausfiele. Der Mensch, ein Tier unter anderen.

Nun haben wir aber gesehen, dass es sich dennoch so verhält, dass wir Menschen stark emergente Eigenschaften aufweisen. Man wundert sich übrigens, dass es immer noch so viele Wissenschaftsgläubige gibt, die annehmen, der Mensch handle ebenfalls ausschließlich nach den Prinzipien, die der Darwinismus vorgibt. Man braucht doch nur in ein Krankenhaus zu gehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen: In der Natur werden kranke Tiere als Erste gefressen. Die Tatsache, dass die Natur gnadenlos mit den Schwachen umgeht, ist der Motor der natürlichen Evolution. Diesen Motor der Evolution haben wir Menschen außer Kraft gesetzt. Alles, was den Menschen zu einem moralischen Wesen macht, widerspricht den evolutionären Mechanismen. Krankenhäuser, Altenheime, Behindertenheime, Irrenhäuser, all diese Art, menschlich mit den Schwachen umzugehen, kostet sehr viel Energie, die wir anderswo besser gebrauchen könnten, wenn es uns nur darum ginge, die Evolution voranzubringen.

Man sollte nicht bestreiten, dass der Mensch immer noch ein Tier ist, und deshalb erhellt die Soziobiologie wichtige Zusammenhänge, wenn sie den Menschen als eine genetisch programmierte Überlebensmaschine darstellt. Aber geht der Mensch darin auf, eine solche Überlebensmaschine zu sein? Gerade seine höheren Eigenschaften, wie Moralität und Verantwortlichkeit, sind in einem Darwinistischen Schema nicht unterzukriegen. Man muss es ganz hart sagen, und die Reduktionisten sollten sich dies einmal vor Augen führen: Wenn wir uns verhielten wie reine Naturwesen, dann würden wir die Toten nicht etwa begraben, sondern essen, und der Kannibalismus wäre eine sinnvolle Angelegenheit. Das ist es nämlich, was die Natur macht. Die Natur recycelt alles, selbst die Toten, die vom Geier oder von den Würmern gefressen werden.

Weil wir aber die Toten begraben, die Kranken heilen und die Schwachen schützen, sind wir keine reinen Naturwesen, und es gibt folglich starke Emergenz, etwa im Sinn von Moralität. Natur bringt also radikal Neues hervor, und der Mensch ist mit seinen unableitbaren Eigenschaften etwas radikal Neues. Es stellt sich allerdings weiter die Frage, ob es nicht auch andere starke Emergenzen in der Natur gibt. Sind wir analogielose Ausnahmeerscheinungen in der Natur? Das wäre einigermaßen erstaunlich. Daher spricht vieles dafür, dass z. B. auch das Entstehen des Lebens ein Fall von starker Emergenz war.

Die Fachleute nehmen an, dass dieses Entstehen des Lebens abhängig war von einer unglaublichen Serie von Zufällen. Hätte einer dieser Zufallsprozesse nicht stattgefunden, dann hätte sich das Leben auf der Erde niemals entwickeln können. Nun ist aber der Zufall die Negation von Gesetzlichkeit. Wir nennen das ‚zufällig‘, was sich nicht unter ein Naturgesetz subsumieren lässt. Da wir aber den Begriff der ‚Erklärung‘ an den des Naturgesetzes gebunden haben, ist der Zufall das Unerklärliche in der Natur, und wenn beim Entstehen des Lebens eine große Menge von Zufällen eine entscheidende Rolle gespielt hat, dann hieße das, dass das Entstehen des Lebens auf ewig unerklärlich bleiben muss.

Im Labor versucht man natürlich, dieses Entstehen nachzuvollziehen, und man hat auch schon einige Übergänge simulieren können. Aber selbst wenn es uns gelänge, alle Übergänge technisch nachzuvollziehen, wäre keinesfalls das Entstehen des Lebens erklärt, denn eine Simulation ist noch längst keine Erklärung. Niemand würde die Reproduktion eines van-Gogh-Gemäldes für eine Erklärung dieses Kunstwerks halten. Wenn es uns gelänge, meinetwegen über 50 Etappen, aus anorganischem Material eine Zelle hervorgehen zu lassen (in Wahrheit werden es mindestens 10 000 Etappen sein), selbst wenn wir also künstliches Leben erzeugen könnten, würde das nur möglich sein, weil wir eine große Serie von Umweltbedingungen im Labor nachgeahmt hätten, die wir jedoch nicht erklären, sondern einfach nur voraussetzen. Wir hätten die Zufallsereignisse, die für das Leben notwendig waren, reproduziert, aber nur so, wie wir einen van Gogh reproduzieren, ohne deshalb im Akt der Reproduktion zu verstehen, was der Künstler eigentlich gewollt hat. Es spricht also vieles dafür, dass starke Emergenz kein einmaliges Phänomen ist. Vermutlich schafft die Natur ständig Neues, aber es fällt uns eben nur in besonderen Fällen auf, wie beim Entstehen des Lebens oder beim Entstehen des Menschen. Allerdings ist für viele Eltern die Geburt ihres Kindes ein Wunder, etwas spektakulär Neues, Erstaunliches. Vielleicht ist dieses Gefühl nicht einfach nur ein romantisch-nostalgischer Blick zurück, so wie wir gerne unsere Kindheit verklären, sondern wenn ein Kind geboren wird, erfahren wir spontan die fundamentale Eigenschaft der Natur, Neues hervorzubringen, denn jedes Leben, das entsteht, ist ein Neuanfang. Die Philosophin Hanna Arendt führte den Begriff der ‚Natalität‘ in die philosophische Diskussion ein. Alle Welt spricht von ‚Mortalität‘, weil der Mensch ein sterbliches Wesen ist. Aber weniger wird beachtet, dass jeder Mensch ein unerhörter Neuanfang ist, ein jeweils besonderer Fall von ‚Natalität‘.

Aber wenn das so ist, möchten wir gerne wissen, was es mit der starken Emergenz auf sich hat, denn zunächst einmal ist das Wort ‚Emergenz‘ nur ein Etikett auf einer Flasche, deren Inhalt wir nicht kennen. Wir haben ja starke Emergenz negativ bestimmt als dasjenige, was wir nicht erklären können, weder synchron noch diachron, d. h. weder in Bezug auf das gleichzeitige Verhältnis zweier Komplexitätsebenen noch in Bezug auf das prozessuale Entstehen des Neuen.

Der vielfache Gebrauch des Begriffes ‚Emergenz‘ ist ein erstaunliches Phänomen. Dieser Begriff klingt wissenschaftlich und erklärt doch eigentlich gar nichts. Es gibt allerdings viele solcher Begriffe. Später werden wir den Begriff der ‚Kausalität‘ näher darstellen. Man spricht auch gerne von ‚Selbstorganisation‘ oder von ‚Information‘ und vielem anderen, was gut und wissenschaftlich klingt. Blickt man jedoch näher hin, dann zeigt es sich, dass solche Begriffe ganz verschieden gebraucht werden, so dass sie keinen gemeinsamen Inhalt haben. Es sind wissenschaftliche Etiketten, aber was in der Flasche drin ist, wissen wir nicht. So ist auch der Begriff der ‚Emergenz‘ ein Platzhalter für das, was wir nicht verstanden haben.

Nehmen wir an, das Gesagte wäre richtig und die Natur wäre ein System, das imstande ist, radikal Neues im Sinne starker Emergenz hervorzubringen, dann wüssten wir gerne, wie sie das wohl macht. Hier scheint es wiederum nur zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder die Natur hat 1) einfach nur die prinzipielle, nicht weiter erklärbare Fähigkeit, Neues zu produzieren, oder wir müssen 2) nach einer metaphysischen Erklärung suchen, die dann aber theistisch ausfallen wird. Wenn Gott existiert, dann wird verständlich, weshalb seine Schöpferkraft imstande ist, Neues hervorzubringen.

 

Sich für 1) zu entscheiden, muss nicht irrational sein. Wir müssen sehr vieles einfach akzeptieren, ohne es erklären zu können. Z. B. nehmen wir die Existenz der Naturgesetze gewöhnlich an, ohne sie für erklärenswürdig zu halten. Die Naturgesetze gelten einfach. Oder wir akzeptieren ohne weitere Nachfrage, dass diese Gesetze sich in eleganten, schönen mathematischen Formeln ausdrücken lassen, die verhältnismäßig einfach sind. Solche Eigenschaften der Natur sind uns weiter nicht erklärungsbedürftig. Aber wenn das so ist, warum sollten wir dann nicht eine weitere Eigenschaft hinzufügen, die Eigenschaft der Natur nämlich, radikal Neues hervorzubringen? Eine solche materialistische Position lässt sich vertreten, aber es gibt zu ihr eine gewichtige Alternative.

Wenn wir 2) annehmen, dass Gott existiert, dann wird plötzlich alles erklärbar, was der Materialist fraglos und ohne weiter nachzudenken hinnimmt. Wenn nämlich Gott existiert, dann wird verständlich, weshalb die Natur geordnet ist. Dann wird verständlich, dass wir sie mit der Hilfe weniger und einfacher Gleichungen beschreiben können, und dann wird vor allem verständlich, warum die Natur radikal Neues hervorbringt. Der Theist kann alles erklären, was der Atheist nur einfach als factum brutum hinnehmen muss. Manche machen aus diesem strategischen Vorteil des Glaubens einen Gottesbeweis, aber es ist nicht ganz klar, ob die Phänomene das wirklich hergeben. Daher wird man sich schwerlich einigen können, ob 1) oder 2) vorzuziehen sei. Vermutlich steht es hier 1:1, wie so oft. Aber dann enthält dieses weltanschauliche Patt dennoch eine wichtige Lehre.

Die Materialisten stellen es gerne so dar, als habe der Theist die Beweislast, während der Atheist nur das behauptet, was sowieso jeder glaubt. Die Argumentation lautet dann in etwa: Jeder Mensch mit gesunden Sinnen ist umgeben von materiellen, zeiträumlich bestimmten Gegenständen, von denen auch jeder Mensch unterstellt, dass sie real sind. Hingegen nimmt der Theist so merkwürdige Wesen an wie Gott, die Götter, Engel, Teufel und alles Mögliche, was wir nicht sehen können. Also hat der die Beweislast, der derart exotische Existenzannahmen macht, während der Materialist nur das sagt, was jeder sagt und für wahr hält und was sich von selbst versteht. Der gläubige Mensch ist der Exot, der Atheist ist völlig normal.

Würde es sich so verhalten, dann wäre die Beweislast in der Tat zu Ungunsten des Theisten verteilt, aber diese Argumentation ist tendenziös, und sie unterschlägt einen wichtigen Sachverhalt: Der Materialist stützt sich ja für seine Zwecke auf die Naturwissenschaft. Naturwissenschaft katalogisiert aber nicht einfach nur die zeiträumlichen Gegenstände. Sie entwickelt Theorien und deutet Natur in deren Licht. Dabei treten metaphysikverdächtige Eigenschaften des Kosmos zutage wie die Ordnung der Natur. Man sollte sich darüber wundern, dass die physikalischen Gesetze mit einer solchen unglaublichen Präzision im gesamten Weltall gültig sind oder dass es sie überhaupt gibt oder dass die Evolution ständig qualitativ Neues hervorbringt.

Bin ich ein Materialist, kann ich keine von diesen Eigenschaften erklären, und das sind ja nicht die einzigen. Auch die berühmte Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ wird der Materialist achselzuckend so beantworten, dass der Kosmos eben rein faktisch schon immer existiert habe. Er könnte auch nicht existieren, aber es gibt ihn halt, weil es ihn gibt. Wir müssen also, wenn wir Materialisten sein wollen, ganz schön viel glauben, ohne es erklären zu können. Umgekehrt ist es eine Zumutung, die Existenz eines guten Gottes anzunehmen angesichts des Elends in der Welt. Die Existenz Gottes ist nichts, was sich von selbst versteht, so dass auch der Theist seine Weltanschauung nicht einfach nur zum Nulltarif erhält.

Was wir aber festhalten sollten, ist dieses: Die Beweislast für oder gegen den Theismus ist zumindest gleich verteilt. Auf jeden Fall ist es unter keinen Umständen klar, dass man den Materialismus aus rationalen Gründen vorziehen sollte. Das kann vielleicht noch abschließend am Beispiel Thomas Nagels verdeutlicht werden, der nun schon öfters erwähnt wurde.

Nagel lehnt starke Emergenz ab. Er ist ein Atheist und sieht wohl, dass es eine Zumutung wäre, der Natur so einfach mir nichts, dir nichts, die unerklärliche Fähigkeit zuzusprechen, radikal Neues hervorzubringen. Nagel hält das für irrational. Er muss also annehmen, dass der Kosmos von vornherein auf den Menschen hin ausgerichtet war. Aus diesem Grund ergänzt er, wie gesagt, die physikalischen Gesetze mit seinen teleologischen Gesetzen. Das hieße, dass der Mensch in der Evolution entstehen musste. Kraft der so erweiterten Naturgesetze war der Kosmos von vornherein auf den Menschen hin ausgerichtet. Der Mensch war also gewollt. Man sollte sich aber fragen, ob das noch eine materialistische Position sein kann. Diese teleologischen Gesetze der Natur verweisen in Wahrheit auf einen überweltlichen Ordner, der von vornherein die Absicht hatte, den Menschen mit all seinen Fähigkeiten entstehen zu lassen. Wenn es schon eine Zumutung ist, die schönen, symmetrischen, aber sinnfreien Gesetze der Physik für etwas rein Faktisches, letztlich Zufälliges zu halten, dann ist es nicht nur eine Zumutung, sondern eine regelrechte Absurdität, zu glauben, dass Naturgesetze, die den Menschen zum Ziel haben, einfach nur faktisch gelten, ohne von jemandem gesetzt worden zu sein. Teleologie führt rasch zur Theologie. Wir sehen hier, was wir noch öfters sehen werden: Es ist gar nicht so leicht, Atheist zu sein. Man muss eben sehr viel glauben, um an nichts mehr zu glauben.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?