Der Sonderermittler

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Der »sprechende« Rucksack

Anfang der sechziger Jahre war in Halle eine junge Studentin spurlos verschwunden. Sie wohnte als einziges Kind bei ihren Eltern in einer kleinen Siedlung am Stadtrand von Halle. Wie immer beim Verschwinden eines Menschen war zunächst die zuständige Kriminalpolizei mit dem Problem befasst. Als nach etwa einer Woche noch immer kein Hinweis auf den Verbleib der jungen Frau bekannt wurde, erfolgte der Einsatz unserer Morduntersuchungskommission.

Nach etwa insgesamt drei Wochen wussten wir fast alles über die junge Frau, über ihr Verhältnis zu ihren Eltern, zum Verhältnis der Eltern untereinander, über ihr studentisches Leben. Wir glaubten zumindest alles zu wissen.

Auffällig war, dass die Eltern ihre Tochter nie in Begleitung eines Mannes oder einer Frau gesehen hatten. Ihre Tochter sei morgens mit dem Fahrrad zur Universität gefahren und irgendwann zurückgekehrt. Sexuelle Interessen oder Interesse an entsprechenden Gesprächen oder Aktivitäten hatten beide Eltern nie wahrgenommen. Auch in der Universität hörten wir Ähnliches, einen Intimpartner konnten wir nicht ausfindig machen. Für eine junge Frau von etwa 20 Jahren war das eine Auffälligkeit.

In ihrem Zimmer waren alle persönlichen Ausweise, auch der Studentenausweis, alle Bekleidung, außer der gerade getragenen, vorhanden. Es fehlte nur ein Rucksack. Dieser hatte zwei braune Lederriemen und konnte mit einer Schnur zusammengezogen werden. Es war ihr Rucksack, und ihre Eltern hatten keine Vorstellung, warum gerade er fehlte, wo doch alles andere vorhanden war.

Wir suchten in der kleinen Siedlung und auf den angrenzenden Wiesen und Gärten. Doch alles war vergeblich. Die junge Frau blieb verschwunden.

Mit Hilfe der Bezirksverwaltung (BV) für Staatssicherheit versuchten wir Hinweise zu erlangen, die auf ein ungesetzliches Verlassen der DDR hinwiesen. Die Eltern haben eine solche Möglichkeit immer ausgeschlossen, da es auch keine Verwandtschaft in der Bundesrepublik gab. Aber auch das MfS konnte keine Hinweise finden.

Vier Wochen später wurde am Saaleufer eine bekleidete Frauenleiche aufgefunden, die einen Rucksack trug. Die Frau war durch den Rückgang des Saalewassers sichtbar geworden. Wir übernahmen sofort die weiteren Untersuchungen. Der Fundort war bereits durch Volkspolizisten gesichert, als wir dort ankamen. Die Leiche war aus dem schlammigen Uferbereich herausgezogen worden und lag etwas höher am Ufer. Es war ein trauriger Anblick, der sich uns bot.

Um überhaupt Näheres sehen zu können, blieb uns nach den erforderlichen Aufnahmen zunächst nur übrig, die Leiche und den Rucksack vom anhaftenden Schlamm zu reinigen. Es gab aber keinen Zweifel, dass wir die verschwundene Studentin vor uns liegen hatten. Ihre Bekleidung stimmte mit den Angaben der Eltern überein, und da war ja auch noch der Rucksack.

Ich ließ durch einen Funkwagen Oberarzt Dr. Simon, Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin der Martin-Luther-Universität Halle zum Fundort bitten. Aber auch er konnte nach der Besichtigung des Kopfes und der Hände sowie der nassen Kleidung nur ersuchen, die Leiche und den Rucksack in sein Institut zu bringen, wo er noch am gleichen Tag die gerichtliche Obduktion vornehmen wolle. Der Rucksack war noch immer am Körper der jungen Frau. Beide Riemen waren korrekt über die Schulter gezogen, und als wir uns fragten, wie das denn nach einer solchen Liegezeit im fließenden Wasser möglich sei, und die Leiche nun wendeten, sahen wir, dass beide Tragriemen vor der Brust mit einem Lederriemen verknotet waren. So erklärte sich, dass der Rucksack am Körper fixiert war. Der Rucksack war, das konnten wir von außen fühlen, ohne ihn zu öffnen, mit Steinen gefüllt. Nach den erforderlichen Fotografien, zunächst Leiche mit Rucksack und dann beides getrennt, transportierte ein Leichenwagen die sterblichen Überreste und den Rucksack in das Institut zu Dr. Simon. Obwohl am Gesicht und den Händen der Leiche keine Verletzungen sichtbar waren, ließ doch der schwere Rucksack eine Anbringung an der Leiche zum Zwecke des Verschwindens denken. Ein Verbrechensverdacht war durchaus berechtigt.

Im Institut ließ Dr. Simon wieder die Leiche, den Rucksack und vor allem die Riemen, die wir ja am Saaleufer durchschnitten hatten, um die Leiche transportieren zu können, fotografieren. Der Rucksack erbrachte auf der Waage ein Gewicht von 41,2 Kilogramm.

Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass Ertrinken zum Tod der jungen Frau geführt hatte. Am Körper waren keinerlei Verletzungen feststellbar. Ihr Hymen war auch noch intakt. Ein Verbrechensverdacht trat damit in den Hintergrund, obwohl ja auch denkbar war, dass die Frau durch einen Täter, versehen mit dem Rucksack, in die Saale gestoßen worden war und der Rucksack ein Mittel zur Leichenbeseitigung sein konnte. Unser Interesse und auch das Interesse der Ärzte konzentrierte sich nun auf den Rucksack.

Dr. Simon empfahl uns, den liegenden Rucksack an beiden Längsseiten aufzuschneiden, um das Innere näher inspizieren zu können. Die Schnur des Rucksacks war noch zugezogen, der Rucksack somit verschlossen, und wir hatten nur von außen gefühlt, dass Steine im Rucksack vermutet werden konnten.

Nachdem beide Längsseiten mit Schere und Messer durchtrennt waren, konnten wir die Oberseite des Rucksackes aufklappen und das Innere des Rucksackes wurde sichtbar. Wir sahen viele Steine von unterschiedlicher Größe, auch einen halben Mauerstein.

Alle hockten wir um den Rucksack und keiner wusste zunächst, irgendetwas zu sagen. Schon beim Durchschneiden der beiden Längsseiten des Rucksackes und dem Lösen der Schnur waren Steine aus dem Rucksack gepurzelt. Wir sahen nun, dass die Steine unterschiedlich groß waren, dass aber die großen Steine unten im Rucksack lagen und nach oben, also zur Verschlussschnur des Rucksackes hin, erkannten wir immer kleinere Steine. Niemand von uns hatte so etwas schon einmal gesehen, obwohl wir alle schon die unterschiedlichsten Beschwerungen an Verbrechensopfern gesehen hatten. Ich hatte da die wenigsten Erfahrungen. Was hatte das alles zu bedeuten, oder anders gefragt: Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? War es Zufall? Wir versuchten uns in die Gefühlswelt der Toten hineinzudenken.

Dr. Simon brach das Schweigen: »Es muss eine Bedeutung haben, wenn wir unterstellen, sie war kein Verbrechensopfer, sondern eine Selbstmörderin aus irgendeinem noch unbekannten Motiv. Wenn wir unterstellen, sie ist eine Selbstmörderin gewesen, muss es einen Sinn haben, dass wir im Rucksack 41,2 kg Steine von unterschiedlicher Größe gefunden haben, die noch dazu nicht wahllos in den Rucksack gelegt wurden. Die großen Steine liegen unten im Rucksack, wir müssen deshalb annehmen, dass sie zuerst in den Rucksack gelangt waren. Nach oben, in Richtung der Verschnürung des Rucksackes werden die Steine immer kleiner. Wir denken immer noch an Selbstmord, da wir für ein Verbrechen keinen Anhalt haben.

Wenn sie mit dem Entschluss zum Selbstmord unter Mitnahme des Rucksackes von zu Hause an die Saale gelaufen ist, die Entfernung wird ca. fünf Kilometer betragen, wird sie diesen Rucksack als Beschwerung gedacht haben, wenn sie in den Fluss geht. Deshalb wird sie Steine gesammelt haben mit dem Gedanken, in den Fluss zu gehen, wenn der Rucksack mit Steinen gefüllt ist.

Sie kann aber sicherlich den Gedanken an den Selbstmord auch mehrmals verdrängt haben. Sei es aus Angst vor dem Tod oder dem kalten Wasser des Flusses. Sie kann diesen Gedanken immer wieder verdrängt haben und stets wieder ihren Todeswunsch im Sinn gehabt haben, aber auch andauernd wieder ihre Angst vor dem Tod oder dem kalten Wasser in den Hintergrund gedrängt haben, mit dem festen Entschluss, ich gehe in den Fluss, wenn der Rucksack gefüllt ist. Wegen dieser Gedanken kann sie ihren Tod vom Füllstand des Rucksackes abhängig gemacht haben und deshalb immer kleinere Steine gesammelt und oben in den Rucksack gelegt haben.«

Diese Deutung überraschte mich. Ich hatte noch nie eine solche Interpretation der Fakten erlebt. Einmal hatte ich einen Film gesehen, wo aus der Deutung einer Zeichnung eines ermordeten Kindes die von ihm abgebildeten Igel als das Lockmittel ihres Mörders »Schokoladentrüffel« gedeutet worden waren. Der Film mit Gert Fröbe heißt Es geschah am helllichten Tag.

Ich sagte ihm sofort, dass ich diese Deutung schlüssig fand. Auch der anwesende Staatsanwalt und der Assistenzarzt Dr. Bunk äußerten sofort Zustimmung. Wir besprachen noch mehrere Minuten diese Theorie und suchten nach anderen Varianten. Aber wir fanden keine andere Hypothese.

Damit hatten wir die Vermisstensache als sehr wahrscheinlichen Suizid erkannt. Wir wussten aber nicht, warum ein junger Mensch ohne einen bisher von uns erkennbaren Grund aus dem Leben geschieden war. Deshalb beschlossen wir sofort, nochmals Ermittlungen in diese Richtung aufzunehmen. Jetzt gleich nach der Diskussion, buchstäblich noch an der Leiche der jungen Frau stehend.

Nun hatten wir einen schweren Gang vor uns. Wir mussten die Eltern vom Auffinden ihres toten Kindes verständigen. Das waren immer sehr ergreifende, emotionsgeladene Gespräche, welche oft über Stunden verliefen. Wie sollten die Eltern begreifen, warum das alles geschehen war? Auf dieses Warum hatten auch wir keine Antwort. Obwohl wir schon mehrmals solche Gespräche mit Angehörigen in einem Selbsttötungsfall geführt hatten, waren wir auch diesmal wieder erschüttert von der Tatsache, dass etwas geschehen war, das keiner begreifen und verstehen konnte.

Hauptmann Grothe und ich gingen, wenn es unsere berufliche Situation ermöglichte, immer gemeinsam mit dieser Nachricht zu den Angehörigen. Nie hat er mich als Vorgesetzter allein in eine solche schwierige Situation geschickt, wie er es durchaus auch gekonnt hätte. Wir untersuchten gemeinsam und gingen auch die schwierigen Schritte gemeinschaftlich.

 

Nach langer Zeit unter Tränen und Fragen, die wir nicht beantworten konnten, sicherten wir den Eltern zu, ihre Tochter zu einer Verabschiedung vor der Beisetzung herrichten zu lassen und sie dann zu ihr zu begleiten. Eine persönliche Identifizierung der Leiche war aufgrund der Übereinstimmung der Bekleidung und des Rucksackes nicht nötig. Wir sicherten aber zu, sie auch beim Abschied von ihrem Kind zu begleiten und sie auch in dieser schweren Stunde nicht allein zu lassen. Dieses Versprechen gaben wir Angehörigen immer. Wir wussten, wie furchtbar es war, sich von Angehörigen zu verabschieden, egal ob sie durch Unfall, Suizid, natürlichen Tod oder Verbrechen zu Tode gekommen waren. Unsere Teilnahme an Verabschiedungen war ein Teil unseres schwierigen Berufes. Aber wir wussten auch, wie dankbar die Angehörigen waren, wenn wir sie in dieser schweren Stunde nicht allein ließen.

Die Eltern waren fassungslos über die Erkenntnis, dass ihre Tochter freiwillig aus dem Leben gegangen war. Sie hatten keine Erklärung. Als wir in den folgenden Tagen, in der Zeit vor der Verabschiedung von ihrer Tochter, im studentischen Kreis wieder nach einem Hinweis auf ein Motiv forschten, begegnete uns nur Fassungslosigkeit. Keiner konnte einen Hinweis geben. Leider blieb es so bis zur Beisetzung, und auch danach kam nirgendwo eine Vermutung für den Grund des Geschehens auf. Das Geheimnis ihres Todes blieb ihr Geheimnis.

In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Kriminalist habe ich nie wieder von einem vergleichbaren Phänomen gehört, gelesen oder gesehen. Vielleicht ist hier die uralte Erkenntnis, alles geschieht irgendwann und irgendwo zum ersten Mal, bestätigt worden.

Doch gelegentlich erleben wir, dass es zwischen Himmel und Erde Geschehnisse gibt, von denen wir nichts oder nur wenig wissen und keine Möglichkeit haben, dabei unsere kriminalistischen Erkenntnisse zu optimieren.

Mord im Hotel Radeburg

Ich möchte eine weitere Morduntersuchung schildern, nicht nur wegen der Schwierigkeit bei der Aufklärung, sondern vorrangig deshalb, weil im Gefolge der Mordaufklärung eine Idee geboren wurde, welche noch heute in der Arbeit der Kriminalpolizei fest verankert und nicht mehr wegzudenken ist.

Am 5. November 1964 wurden wir, die gesamte MUK der Bezirksbehörde Halle, befehlsgemäß nach Radeburg bei Dresden in Marsch gesetzt. Es war erstmalig, dass wir außerhalb der Grenzen des Bezirks Halle eingesetzt wurden.

Der unmittelbare Einsatzort war ein Hotel in Radeburg. Wir wurden vom Leiter der MUK Dresden vor Ort empfangen, begrüßt und mit der Lage vertraut gemacht. Die Eigentümer und Betreiber dieses Hotels waren, nachdem sie zunächst mehrere Tage als vermisst galten, es dann aber konkrete Anhaltspunkte in großer Zahl für ein an ihnen begangenes Tötungsverbrechen gab, nach tagelangen Suchmaßnahmen ermordet aufgefunden worden.

Das Hotel verfügte nicht nur über viele Zimmer, sondern auch über eine Bar, eine Gaststätte und einen Tanzsaal. Das gesamte Gebäude war unterkellert. Hier lagen große Mengen Lebensmittel, Spirituosen und Rauchwaren. Die Eigentümer Elsa und Paul T. hatten eine eigene Wohnung im Hotel.

Der Leiter der MUK Dresden, Hauptmann Wolf, führte uns durch alle Räumlichkeiten. In der Wohnung der Opfer war ersichtlich, dass beide offensichtlich im Schlaf überrascht und auch getötet wurden. Das Bettzeug und auch die Bettvorleger waren massiv mit Blut behaftet. Vor der Wohnungstür endeten die deutlich erkennbaren, mit Blut gezeichneten Schleifspuren. Der Täter hatte beide Leichen in ein unbekanntes Versteck gebracht.

Die Durchsuchung aller Räumlichkeiten führte zunächst nicht zum Auffinden der Leichen. Aber dann waren die Einsatzkräfte auf eine unscheinbare Brettertür, etwa halb so groß wie eine normale Tür gestoßen, die an der rechten Seite der Treppe, die in den Keller führte, angebracht war. Von der Wohnung oben im Gebäude bis an die Brettertür waren keine Blutspuren vorhanden. Diese Tür war der Zugang zu einem Hausbrunnen, wie er früher in vielen Gebäuden vorhanden war. Tief unten, etwa sechs bis acht Meter tief, war Wasser zu sehen, wenn mit einer Lampe hineingeleuchtet wurde. So konnte aus dem Brunnen mit einem Eimer Wasser nach oben gezogen werden. Eine Spindel war nicht vorhanden.

Bei der Durchsuchung des Gebäudes hatte man zwar die Tür geöffnet und hineingeleuchtet, aber nur die Wasseroberfläche gesehen. Da die Durchsuchung des Hotels keine Anhalte bot, wo beide Leichen sein konnten, wurde mit Einsatzkräften der Feuerwehr der Brunnenschacht unterhalb der Wasserfläche untersucht. Es hatte sich herausgestellt, dass etwa einen halben Meter unter der Wasseroberfläche ein Holzgitter vorhanden war. Dort fanden sich schließlich die beiden Leichen, deren Bergung dann eine komplizierte Aktion erforderlich machte. Die Leichen hatten das Holzgitter zertrümmert und die Holzteile hatten sich dabei in die Körper gebohrt.

Nach mehreren Stunden schwerster Arbeit hatte die Feuerwehr endlich die Leichen geborgen. Bei der sofort erfolgten Besichtigung wurde erkannt, dass beide Opfer offensichtlich mit einem hammerähnlichen Werkzeug durch viele Schläge auf den Kopf getötet worden waren.

So schwierig die Bergung der Leichen war, so wichtig war dieser Brunnen als Hinweisgeber auf den unbekannten Mörder: Er musste mit den Örtlichkeiten des Hotels sehr vertraut sein. Ein zufällig handelnder Mörder hätte diesen Brunnen nicht gekannt.

Aber hier begannen auch schon die Schwierigkeiten der Aufklärung. Jeder Kellner oder jeder Lieferant von Lebensmitteln oder Getränken, die im Keller lagerten, konnte Kenntnis vom Brunnen haben. In zweiter Reihe natürlich jede Kontaktperson des Personals oder der Zulieferer. Die Vorbesitzer schieden aus biologischen Gründen aus. Natürlich war denkbar, dass auch mancher Besucher des Hotels oder der Gaststätte irgendwie Kenntnis über den Brunnen erlangt haben könnte.

Hauptmann Wolf, der MUK-Leiter aus Dresden, bat uns, gemeinsam mit ihm und seinem Techniker jeden Raum des Hauses, jeden Einrichtungsgegenstand zu besichtigen, um daktyloskopische Spuren (Finger- oder Handabdrücke) zu finden.

Und wir hatten Glück: In der Bar und am Tresen in der Gaststätte fanden wir mehrere Tassen mit in Blut gegriffenen Fingerabdrücken. Diese waren teilweise verwischt, aber viele waren ganz klar. Wir vermuteten, dass der Täter seine Handschuhe ausgezogen haben könnte, um in die Tassen zu greifen. Wie wir später erfuhren, handelte es sich dabei um die Tassen, in denen die Kellner Trinkgelder sammelten. Wie viele derartige in Blut gegriffene Spuren wir fanden, weiß ich nicht mehr. Es waren mehrere in ausgezeichneter Qualität dabei.

Nun musste nur noch der Spurenverursacher gefunden werden. Wir führten Befragungen der Einwohner in der Stadt durch. Dabei erhielten wir einen Hinweis einer Versicherungsvermittlerin, wonach ein gewisser Klaus S. nach dem Mord eine größere Summe bei ihr eingezahlt hatte.

Er war der Spurenverursacher. Natürlich bestritt er die Tat, seine Ehefrau gab ihm ein Alibi, das sie jedoch später widerrief. Auch zu den vielen Flaschen mit Spirituosen und den großen Mengen an Zigaretten und Zigarren konnte er keine glaubhaften Angaben machen. Aber er war zweifelsfrei der Spurenverursacher. Wir fanden bei der Hausdurchsuchung in seiner Wohnung auch gewaschene, aber immer noch mit Blut befleckte Männerkleidung.

Wir übergaben unsere Beweismittel der Staatsanwaltschaft und nach einem Indizienprozess wurde er zum Tode verurteilt und am 14. Dezember 1965 hingerichtet.

Bereits am 18. Dezember 1964 waren der Leiter der MUK Dresden, Hauptmann Wolf, sein Kriminaltechniker Major Schaarschmidt, der Leiter der MUK Halle, Hauptmann Grothe und ich durch den Befehl des Ministers des Innern 27/64 mit Geldprämien ausgezeichnet worden.

Im Befehl hieß es:

»Die Aufklärung dieses Verbrechens ist von besonderer Bedeutung, da durch vorbildliche Anwendung aller kriminalistischen und kriminaltechnischen Mittel und Methoden und durch vorbildliche Einbeziehung der Werktätigen eine solche wissenschaftliche Beweisführung erfolgte, dass auch ohne Geständnis des Täters eine einwandfreie Überführung erfolgen konnte.«

Aus diesem Einsatz heraus wurde bei uns die Idee geboren, eine nicht-strukturmäßige erweiterte Morduntersuchungskommission zu schaffen, um bei komplizierten Morduntersuchungen sofort und ohne Zeitverzug eine gewisse Anzahl befähigter Kriminalisten mit ihrer Technik zum Einsatz bringen zu können. Diese Idee setzte sich durch, wurde durch die dienstlichen Leiter bestätigt und wird noch heute in bestimmten Bundesländern in der Praxis angewendet.

Wir haben im Bezirk Halle eine solche Organisationsstruktur geschaffen, die es ermöglichte, auf Befehl des Leiters der Kriminalpolizei sofort 20 Kriminalisten als erweiterte MUK unter Leitung des MUK-Leiters zum Einsatz zu bringen.

Unfall mit Todesfolge beim Seitensprung

Einmal in 1962, ich war erst wenige Monate bei der MUK und kannte die meisten Angehörigen der Abteilung Kriminalpolizei in der Bezirksbehörde nur vom Sehen, war ich gerade in unserem Dienstzimmer angekommen, als die Sekretärin des K-Leiters mit hochrotem Gesicht hereingestürzt kam: »Helmut, Hans, sofort zum K-Leiter!« Es musste etwas ganz Ungewöhnliches geschehen sein, so hatte ich sie noch niemals gesehen.

»Hauptmann Grothe, Sie fahren sofort nach Sangerhausen. Die Produktion steht, übernehmen Sie alles und bringen Sie die Produktion wieder in Gang.« So fuhren wir dann nach Sangerhausen. Kriminalmeister Dehn am Steuer, Oberleutnant Hecht als Kriminaltechniker und wir zwei. Unterwegs rätselten wir, was denn wohl geschehen sein könnte, das unsere Anwesenheit so wichtig machte, uns, die MUK, die ja sonst mit der Produktion nichts zu tun hatte. Es war Herbst und das Wetter entsprechend kalt und regnerisch. Wir wussten aber, dass der K-Leiter in Sangerhausen sicherlich etwas zu erzählen hatte. So parkten wir vor dem VPKA in Sangerhausen und gingen zu ihm.

Sangerhausen war damals eine kleine Bergarbeiterstadt mit etwa 23.000 Einwohnern. Die ganze Stadt lebte mit dem Bergwerk zur Gewinnung von Kupferschiefer. Es war wie in meiner Heimatstadt mit der Waggonfabrik.

»Ich brühe erst mal einen Kaffee und dann erzähle ich euch alles. Ihr braucht keine Eile zu haben, es ist alles schon geklärt.« Und dann begann er: »Heute früh ist gegen 6.00 Uhr beim Schichtwechsel auf dem Schacht der diensthabende Untertageingenieur Müller nicht zur Arbeit erschienen, und da die Nachtschicht schon in der Waschanlage war und die Frühschicht nicht ohne Müller einfahren durfte, hat der Verantwortliche vom Leitstand die Produktion angehalten und bei Frau Müller angerufen und nach ihrem Mann gefragt. Diese hatte erstaunt geantwortet, er müsse doch auf dem Schacht sein, er wäre die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen. Und so wurde ein Mann zur Garage des fehlenden Ingenieurs Müller geschickt, um nachzusehen, ob eventuell etwas mit dem Auto sei. Dieser war zurückgekommen und hatte berichtet, dass der Wagen in der Garage stehe, dass das Tor verschlossen sei und der Schlüssel innen steckte. Bei dieser Schilderung sah er nicht sonderlich glücklich aus: »Es ist das erste Mal seit Kriegsende, dass der Schacht ruht.«

Der Leitstand hatte nun mehrere Männer mit dem Befehl zur Garage geschickt, diese aufzubrechen. Als wir erstaunt guckten, weil er von einem Befehl sprach, sagte er: »Ein Bergwerk ist wie eine große militärische Einrichtung, alles verläuft freundlich, aber nur mit Befehl.«

Die Männer haben die Garagentür aufgebrochen und auf dem Fahrersitz den fehlenden Ingenieur Müller sitzen sehen. Er war offensichtlich tot. Auf dem Beifahrersitz saß eine halbnackte Frau. Diese atmete, war aber nicht ansprechbar. Der Motor des Pkw lief nicht. Die Situation entsprach der einer Vergiftung durch Auspuffgase, was dann auch von der Obduktion bestätigt wurde.

Als die Männer sich bemühten, den Wagen rückwärts aus der Garage zu schieben, um Hilfe leisten zu können, und nach einem Krankenwagen gelaufen waren, kam Frau Müller zum Ereignisort und hatte mit weiblichem Scharfblick die Situation sofort erfasst. Sie rannte, ohne sich an der Garage aufzuhalten, weinend und schreiend in die Stadt.

Lächelnd sagte der K-Leiter weiter: »So kam die Kripo zum Einsatz, es gab ja schließlich einen Toten. Die halbnackte Frau war mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie hieß Brandt und war auch verheiratet. Meine Kriminalisten hatten anschließend in unserer kleinen Stadt nicht viel Mühe herauszufinden, dass Ingenieur Müller und die halbnackte Frau Brandt ein Verhältnis hatten. Das war in der Stadt offenbar bekannt und wie immer, wussten nur die betrogenen Ehepartner nichts davon.

 

Meine Kriminalisten haben ermittelt, dass Frau Müller schreiend durch die Stadt gelaufen war und mehrmals gerufen habe: »Was hat die, was ich nicht habe?«, und dass die Stadt sich darüber erheiterte, da ja der Tod von Ingenieur Müller zunächst nicht bekannt war.«

»Ihr seht, ihr habt nichts mehr zu tun, das Problem ist geklärt«, fuhr er fort, »ich zeige euch, wenn ihr wollt, die Garage und wir können auch auf den Leitstand gehen. Die Produktion läuft ja bereits wieder.«

So verbrachten wir einen geruhsamen Tag in Sangerhausen. Hauptmann Grothe rief den K-Leiter in Halle an, und der war über die Ingangsetzung der Produktion mehr erfreut, als über den geklärten Unfall mit Todesfolge. Dann fuhren wir nach Halle zurück und hörten einige Tage später vom K-Leiter aus Sangerhausen, dass die halbe Stadt über Frau Müller lachte und die andere Hälfte den Tod ihres Mannes bedauerte. Es war wie immer im Leben, die einen freuen sich, die anderen klagen.

Wir hatten nun nichts mehr mit diesem Unfall zu tun. Die Wochen und Monate vergingen, alle bereiteten sich auf das Weihnachtsfest vor. Zu dieser Zeit wurde in der DDR jede Gelegenheit genutzt, eine Feier auszurichten. Ob in den Betrieben oder den Arbeitskollektiven und in den Geschäften, überall wurde ausgiebig gefeiert. In den Betrieben gab es Volkstanzgruppen, es gab Zirkel der schreibenden Arbeiter und Fotozirkel der Werktätigen. Das Leben bestand nicht nur aus Arbeit, sondern auch aus Freude am Leben. Der Krieg war eine Weile vorbei, alle hatten Arbeit und konnten gut leben. Es waren die Jahre des Aufschwungs der DDR.

Auch wir in Halle bereiteten uns auf die Weihnachtsfeier vor, wir hatten keinen Einsatz, und so feierten wir denn im damals üblichen Rahmen. Am ersten Arbeitstag nach Weihnachten rief uns der K-Leiter aus Sangerhausen an und berichtete von der Weihnachtsfeier im dortigen VPKA. Er unterbrach sich mehrmals mit leisem Gelächter. Der Saal sei reichlich weihnachtlich geschmückt gewesen, die Volkstanzgruppe hätte getanzt, an den Wänden hätten Bilder des Fotozirkels gehangen und er sei eine herrliche Feier gewesen. Der Zirkel der schreibenden Arbeiter habe in Versform die vergangenen Monate und Ereignisse in Sangerhausen vorgetragen. Er lachte wieder. Besonderen Beifall habe der letzte Vers des Vortrages erhalten:

Doch Sangerhausens höchster Knüller

war der Ritt mit dem Herrn Müller,

den die liebe Frau von Brandt

nur mit Mühe überstand.

Nun lachten auch wir. Er erzählte noch, dass Frau Brandt nach der Scheidung aus Sangerhausen wegziehen werde. Heute kann ich sagen, dass dieser tödliche Unfall und seine Begleitumstände der einzige Todesfall war in meinen vielen Dienstjahren war, der nicht nur betrauert und beweint wurde.

Eine Besonderheit im damaligen Bezirk Halle war der Saalkreis. Er umschloss die Stadt Halle, umfasste etwa 60 Dörfer und kleine Städte, erstreckte sich über 618 Qua­dratkilometer. Darin wohnten 1960 etwa 89.000 Menschen. Es gab bedeutende industrielle Anlagen, wie beispielsweise die Drahtseilwerke Rothenburg, die Zuckerfabrik Löbejün, die Maschinen- und Apparatewerke Landsberg und den Kalischacht in Teutschenthal. Dieser Saalkreis und seine Einwohner waren in der Zeit, als ich im Volkspolizei-Kreisamt Halle tätig war, mehrmals wegen kleinerer Delikte Gegenstand kriminalpolizeilicher Ermittlungen, und so kannte ich den Saalkreis ganz gut.

Es war ein überwiegend ländlicher Kreis. Wir fuhren, wenn nötig, mit einem Motorrad dorthin, einen Pkw gab es für die Ermittlungen auf dem Lande nicht. Er war auch nicht nötig, denn vom Motorrad konnte man die Natur besser bewundern als im Pkw.

Damals war in den Dörfern der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei (ABV) der Vertreter der Staatsmacht. Er hatte meist ein, manchmal aber auch zwei bis drei Dörfer zu betreuen. Er knatterte mit seinem Dienstmoped durch die Dörfer, hielt überall Sprechstunden ab, und es gab kaum jemanden, der seinen ABV nicht persönlich kannte. Er kannte alle Bewohner »seiner« Dörfer, wusste fast alles über die Menschen und hatte schon wegen seiner Nähe zu den Einwohnern viele Kontakte, meist wohnte er selbst ebenfalls im Dorf.

Der ABV war aber nicht nur ein Vertreter der Staatsmacht, sondern er war, wie von einem berühmten Fußballer gesagt wurde, »einer von uns«. Es war nicht ungewöhnlich, dass der ABV auf dem Land Hühner hatte oder Gänse und Kaninchen fütterte. Und es war auch normal, dass wir lange vor Weihnachten wussten, welcher ABV uns zum Weihnachtsfest eine Gans oder ein Kaninchen verkaufen würde; natürlich küchenfertig. Und es war ganz normal, dass der ABV bei einem Schlachtfest sein Koppelzeug mit der Pistole an die Tür des Waschhauses hing und mitwerkelte.

Normal war es auch, dass die Bauern, sie waren ja nun Angehörige der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), am Wochenende mit dem Bus nach Halle ins Theater fuhren. In den Dörfern verschloss kaum einer seine Tür. Ein Hund gehörte einfach zum Hof und wurde nicht zur Abschreckung von Fremden benötigt. Ich will nicht sagen, dass wir damals auf dem Weg ins Paradies waren, es gab auch Probleme, aber wir hatten auf dem Land und auch in der Stadt Halle ein völlig anderes Leben als jetzt in der Gegenwart.

Bei Demonstrationen zum 1. Mai oder aus Anlass der Gründung der DDR am 7. Oktober gab es keine gewalttätigen Auseinandersetzungen. Keiner kannte einen Wasserwerfer oder einen »schwarzen Block«. An solche Dinge war nicht zu denken. Das Wort »Bulle« für einen Polizisten war völlig unbekannt und Beschimpfungen gegenüber Polizisten, wie sie heute üblich sind, waren unbekannt und ich habe sie persönlich nie erlebt. Überhaupt stand der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht so aggressiv wie heute der Polizei gegenüber. Meist hatten wir ein freundliches, aber bestimmtes Auskommen miteinander, und ein rasender Mopedfahrer zügelte sich schon, wenn der ABV mit dem Zeigefinger drohte. Heute kann man dazu wohl nur noch sagen: Es war einmal vor langer, langer Zeit …