Der Sonderermittler

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Lehrgang an der Kriminalschule Arnsdorf / Dienst in Halle (Saale)

Gerade als ich dachte, ich sei ein richtiger Kriminalist, ich hatte ja schließlich einen Dienstausweis als Kriminalmeister, eine Kriminalmarke sowie eine Pistole, wurde ich zu einem Lehrgang an die Kriminalschule Arnsdorf bei Dresden delegiert, an die »Volkspolizeischule für Kriminalistik«.

Es war ein Drei-Monats-Lehrgang. Wir erhielten lediglich einmal monatlich von Freitagmittag bis Montagmittag Urlaub in die Heimat, allerdings hatten wir Ausgang nach Arnsdorf oder nach Dresden.

Heute kann ich sagen, dass diese drei Monate in meinem fast vierzigjährigen Leben als Kriminalist die angenehmste Zeit waren. Der Unterricht war nicht allzu anstrengend und vor allem gab es keine Überstunden. Es war richtig erholsam.

Die Schule war in zwei mehrstöckigen Gebäuden untergebracht, in einem Gelände mit Wiesen und hohen alten Bäumen. Neben den Gebäuden der Polizeischule gab es noch andere Gebäude, die von einer medizinischen Fachschule belegt waren. Uns wurde eingeschärft, die dortigen Schwesternschülerinnen zu meiden. Diese Anweisung erwies sich sehr bald als ein Schuss in den Ofen: Einer unserer Kriminalisten wusste, dass die Gebäude durch einen Kellergang noch aus Kriegszeiten verbunden waren, und so kam es des Öfteren zu Zusammenkünften mit den Schülerinnen. Wie immer im Leben hatte die Umgehung von Verboten und Unerwünschtem einen direkten Reiz. Dieser Kellergang war das Geheimnis aller Kriminalisten und sicherlich auch der meisten Schwesternschülerinnen.

Am ersten Unterrichtstag lasen wir an der großen Wandtafel einen Spruch, der viel Heiterkeit auslöste, und so heiter und auch unernst verlief dann der Unterricht:

Das Bürgerliche Gesetzbuch, kurz genannt das BGB,

wer damit zu tun bekommt, dem tut es meistens weh;

er ist nämlich verpflichtet in Schadensfällen,

den alten Zustand wiederherzustellen.

Wie verhält es sich aber mit einem Radfahrer, der es eilig hat

und er saust so durch die Straßen seiner Stadt

und achtet seines Weges nicht genau

und fährt doch gegen eine Frau,

die in dem Zustand sich befindet,

der Hoffnung auf ein Kind begründet.

Und vor ihr mit diesem Schreck

geht die Kindeshoffnung weg.

Wie verhält es sich nun laut Gesetz?

Ist der Betreffende verpflichtet in Schadensfällen

den alten Zustand wiederherzustellen?

Natürlich waren wir alle für Wiederherstellung …

Als wir erstmalig Heimurlaub hatten, trafen wir auf dem Bahnhof in Dresden eine unserer Dozentinnen. Sie fuhr im selben Zug, und im Gespräch erfuhren wir, dass sie auch mit dem gleichen Zug wie wir zur Schule zurückfahren musste. Sie versprach Plätze freizuhalten und siehe da, als der Zug in Halle hielt, hatte sie ihr Versprechen gehalten und so plauderten wir bis Dresden. Sie ist mir aber noch aus anderem Grund in Erinnerung: Sie war vom Dienstgrad Major und hieß Marschall. Durch ihren freundlichen, aber doch fordernden Umgang mit uns war sie allgemein sehr beliebt. Später in meinen vielen Dienstjahren habe ich allerdings nichts mehr von Majorin Marschall gehört.

Die drei Lehrgangs-Monate waren schnell vorbei und wir reisten wieder in unsere Dienststellen zurück. Und so kam ich wieder in die Untersuchungsabteilung der Kriminalpolizei Halle und hatte wieder zu kämpfen, um meinen Aktenbestand auf maximal zwanzig zu bekommen.

Über meine Dienstjahre in Halle zu schreiben, ohne zu erwähnen, dass es in dieser Stadt eine tausendjährige Tradition des Salzsiedens gab und mit vielen überlieferten Bräuchen wie Fahnenschwenken, Brautgeleit, Fischerstechen, Laternenfest und ein Salzwirkermuseum mit Dutzenden Silbergefäßen wäre unvollständig. In der Stadt gibt es noch heute die älteste Schokoladenfabrik Deutschlands mit den berühmten Hallorenkugeln. Jährlich nahmen viele Tausende am Laternenfest auf der Saale teil, mit hunderten laternengeschmückten Booten, vom Ruderboot bis zum Ausflugsdampfer. Einen tollen Ausblick auf das Spektakel hat man von der Burg Giebichenstein aus, von der man zur Saale hinabsehen kann. Von den Mauern der Burg, so die örtliche Legende, soll sich auch Ludwig der Springer gestürzt haben, als er vor seiner Hinrichtung floh. Seinen Mantel habe er wie einen Fallschirm aufgespannt – allerdings erwähnt die Sage nichts darüber, ob Ludwig sein waghalsiges Manöver überlebt hat. Vielleicht war er ja Vorläufer und Anreger all jener, die sich heute als »Basejumper« mit Fallschirmen von Felsen, Brücken oder Türmen stürzen.

Es soll aber noch ein damals allen Hallensern vertrautes Original erwähnt werden: ein Straßenmusikant namens Zither-Reinhold. Er saß bei jedem Wetter in irgendeiner Ecke des Marktplatzes auf einem alten Kissen und klimperte auf seiner Zither. Er klimperte irgendwas, niemals ein richtiges Lied. Er gehörte zur Stadt wie der Turm auf dem Marktplatz. Niemand wusste, wie er hieß und wo er wohnte. Aber es fiel sofort auf, wenn er nicht klimperte, weil er sich verspätet hatte. Er starb 1964, und die ganze Stadt trauerte um ihn. Sie verlor mit ihm ein wahrhaftiges Faktotum.

Und es gab auch in der Nähe des Stadttheaters eine Gaststätte mit dem ulkigen Namen »Zum Sargdeckel«. An der Decke des Gastraumes hing ein echter Sargdeckel. Er war, so wurde vermutet, als Zahlungsmittel in die Gaststätte gekommen. Im Gastraum standen schwere Holztische und Stühle. In die Tischplatte des Stammtisches wurden die Todesdaten und der Name des verstorbenen Stammgastes eingeschnitzt. Kein Gast, der nicht Stammgast war, setzte sich an diesen Tisch. Das haben ja Stammtische auch heute noch als Privileg. Die Gaststätte fiel nach der Wende ihrem Alter und ihrer Gebrechlichkeit zum Opfer und wurde abgerissen.

Beginn in der MUK / Mord durch Sowjetsoldaten

Eines Tages fragte mich auf dem Korridor eine Kriminalistin: »Hans, hast du Zeit? Kannst Du mir bei den Ermittlungen helfen?« Natürlich hatte ich Zeit, Ruthchen zu helfen. So fuhr ich mit ihr in einem klapprigen F9-Kübelwagen los, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Sie erklärte mir unterwegs sinngemäß, dass wir die Zigeunerin Sonja festnehmen müssten, gegen die ein Haftbefehl zu vollstrecken war. Sie erklärte mir auch, wo Sonja zu finden sei und dass wir vor jeder Handlung erst mit dem Familienvorstand, dem »Zigeunerbaron« sprechen müssten, um keinen Ärger mit der Sonjas Familie zu bekommen. Den trafen wir auch im Winterquartier des Familienclans. Er hörte Ruthchen an und rief irgendetwas in den Raum, und nach einigen Minuten kam die von uns Gesuchte, die er uns als Sonja vorstellte und uns übergab. So fuhren wir mit ihr davon. Ich begleitete Ruthchen noch in die Untersuchungshaftanstalt Halle, wo wir Sonja ablieferten. Für mich war damit der Einsatz beendet.

Nach einer Woche schallte lautes Gelächter durch den Korridor, in der die Untersuchungsabteilung ihr Zimmer hatte. Was war geschehen? Sonja hatte in einer Vernehmung bei Ruthchen behauptet, sie sei nicht die Gesuchte. Es war nicht zum Lachen. Der »Zigeunerbaron« hatte uns ein Mädchen mitgegeben, welches nun behauptete, nicht Sonja zu sein. Es konnte nicht geklärt werden, wer nun wer war, und zur Vermeidung weiteren Ärgers musste die junge Frau aus der Haft entlassen werden.

Aber wochenlang lachten alle über Ruthchen und mich. Es beruhigte sich aber wieder, weil es ja jedem anderen Kriminalisten auch hätte passieren können.

Der Tagesablauf war in erster Linie durch unaufhörlich eingehende Untersuchungsarbeit ausgefüllt. Einmal wöchentlich war Zeitungsschau für alle Kriminalisten. Ein vorher bestimmter Kriminalist musste sie abhalten, und da wir keinen Versammlungsraum hatten, ging gegen 7.30 Uhr jeder mit seinem Stuhl in den Korridor, nahm Platz und ließ alles über sich ergehen. Ich weiß nicht mehr, warum diese Zeitungsschau durchgeführt wurde, es kann sein, dass nicht alle eine Zeitung bestellt hatten oder dass Papiermangel der Grund war. Dieser Termin wurde nicht sonderlich ernst genommen, fand aber regelmäßig statt.

Auch Parteiversammlungen wurden natürlich durchgeführt, aber alles in allem war der Tagesablauf durch die kriminalistische Arbeit ausgefüllt und für politische Gespräche war eigentlich keine Zeit. Die meisten Ermittlungen im Gebiet der Stadt Halle wurden zu Fuß oder mit der Straßenbahn erledigt. Nur bei Ermittlungen im Saalkreis stand ein Motorrad zur Verfügung. Alles war durch Sparsamkeit geprägt, die aber nicht besonders durch die Dienstvorgesetzten erzwungen werden musste, es war einfach nichts da. Wir hatten meist zu zweit eine Schreibmaschine. Ich schrieb auf einer uralten englischen »Remington«, und so war bei der Planung der Vorladungen immer mit abzusprechen, wann eine Schreibmaschine frei war. Es hatte auch nicht jeder ein Strafgesetzbuch, aber an das Ausleihen von Schreibmaschine und Gesetzbuch war man schnell gewöhnt. Als wir einmal unseren Schrank abrückten, weil wir das Zimmer renovieren wollten, lasen wir erstaunt auf der Rückseite den großen Stempel »Gestapoleitstelle Halle«. Er ließ sich auch nicht beseitigen, so blieb er halt dran, wurde übermalt und der Schrank wieder mit der Rückseite an die Wand gestellt.

Die Untersuchungsabteilung war etwa zwanzig Frauen und Männer stark, jeder half jedem, nur so war alles zu bewältigen. Es gab aber nicht nur junge Menschen, sondern auch ältere, welche schon den Krieg miterlebt hatten.

Einer dieser Älteren ist mir noch in besonderer Erinnerung. Er war Oberleutnant und bei allen als Bastler an alten Autos und Motorrädern bekannt. Wenn man mit ihm den so genannten Kriminaldauerdienst, also die Nachtschicht, zu verrichten hatte, meldete er sich bei seinem Mitstreiter, wenn sich die Stadt beruhigte hatte, so meist nach Mitternacht, unter Bekanntgabe einer Telefonnummer ab. »Ich fahre in die Bereitschaft, ruf an, wenn du mich brauchst«; und da der Dauerdienst den alten klapprigen F9-Kübelwagen hatte, fuhr er weg und kam früh gegen 7.00 Uhr wieder, da ja die Nachtschicht übergeben werden musste. Alle wussten, dass er an einem Auto bastelte. Es wurden auch Kontrollanrufe getätigt, aber alles lief problemlos.

 

Eines Tages war er mit dem Auto, einem alten, nun durch ihn aufgemotzten F9 fertig und so kam er fortan mit diesem Wagen von seinem Wohnort zum Präsidium gefahren. Eines Tages, es muss etwa 1955 oder 1956 gewesen sein, wurde zu einer außerordentlichen Parteiversammlung aufgerufen, welche am gleichen Tag durchgeführt werden sollte. Niemand wusste, worum es gehen sollte, alles war sehr geheimnisvoll. Im Raum waren Zivilisten, die niemand kannte. Es wurde gemunkelt und vermutet, dass sie von der Stadtleitung sein könnten. Was die Stadtleitung aber mit der Kriminalpolizei zu tun haben sollte, wussten wir nicht und so war überall Unruhe und Rätselraten im Raum.

Bei der Eröffnung der Parteiversammlung wurde bekannt, dass gegen den Autobastler, also Oberleutnant S., wegen nichtsozialistischen Verhaltens sowie des Versuchs der Restaurierung des Kapitalismus ein Parteiverfahren durchgeführt wird, mit dem Ziel, ihn aus der Partei auszuschließen und aus den Reihen der Volkspolizei auszustoßen. Alle waren verwundert, niemand wusste, was mit dem Vorwurf gemeint sein könnte. Das wurde erst in der Diskussion klar, die eigentlich keine war, weil vorbestimmte Redner nur immer den Vorwurf wiederholten.

Der Teilnehmerkreis dieser Versammlung umfasste auch andere Abteilungen des VPKA, und so waren es fünfzig bis sechzig Anwesende. Nachdem der Ausschluss aus der Partei und der Ausstoß aus der Volkspolizei gefordert waren, meldete sich »Glöckchen« zu Wort. »Glöckchen« war bei uns in der Untersuchungsabteilung tätig. Alle wussten, dass er zwölf Jahre Haft und Konzentrationslager hinter sich hatte. Er war in der Zeit des Faschismus als Mitarbeiter der Halleschen Zeitung Die Freiheit im Untergrund tätig, und »Glöckchen« war sein Deckname. Er begann mit den Worten: »Nachdem nun lange genug Holz auf dem Rücken des Genossen S. gehackt wurde, will ich euch etwas erzählen, was offensichtlich auch bei der Stadtleitung nicht bekannt ist«: Und mit einer Tonart, die ich als drohend empfand, fuhr er fort: »Euch, die ihr im Krieg wart, will ich nicht fragen, was ihr im Krieg gemacht habt. Aber, was er gemacht hat, das will ich euch jetzt erzählen.«

Im Saal war es ganz still. »Oberleutnant S. war als 18-Jähriger in die faschistische Wehrmacht eingezogen worden und hatte, als in der Sowjetunion noch gesiegt wurde, wenige Tage Heimaturlaub bekommen. In seinem Heimatdorf sah er eine Kolonne weiblicher Häftlinge zur Arbeit in einen Tagebau schlurfen. Er beschloss, eines dieser Mädchen zu befreien. Er schaffte das auch und seine Eltern versteckten das Mädchen bis zum Kriegsende. Welche Strafen seitens der Nazis für seine Eltern und für ihn zu erwarten waren, wisst ihr alle selbst.« Und er wiederholte: »Was ihr Alten im Krieg gemacht habt, das will ich euch nicht fragen, aber was er gemacht hat, habe ich euch jetzt noch nicht zu Ende erzählt. Nach dem Krieg und nach der Heimkehr aus der Gefangenschaft fand er dieses Mädchen noch bei seinen Eltern vor, heiratete sie, hat mit ihr drei Kinder. Wenn ihr ihn nun immer noch aus der Partei ausschließen wollt, könnt ihr gleich abstimmen. Ich stimme dagegen und wenn ich der einzige bin.« Es wurde nicht abgestimmt, auch der bereits gestellte Antrag nicht aufgehoben. Die Versammlung löste sich plötzlich ohne Schlusswort auf.

Und nicht erst heute, wo ich nun weit über das 80. Lebensjahr bin, schäme ich mich dafür, dass ich mit für den Ausschluss dieses mutigen Mannes aus der Volkspolizei gestimmt hätte. Ich war, wie viele der anderen Kriminalisten, politisch zu unerfahren und wohl auch zu ängstlich, dem Antrag zu widersprechen, und noch immer bin ich sicher, dass wenn »Glöckchen« an diesem Tag gefehlt hätte, alle für den erhobenen Antrag gestimmt hätten.

Nach dieser Versammlung wurde nicht mehr öffentlich darüber gesprochen, und wenn, dann nur mit den engsten Freunden. Heute kann jeder sich fragen, was diese Versammlung zum Ziel hatte. Ging es um exemplarische Erziehung wegen des Autos, was er sich aufgebaut hatte und was nun als Rückkehr zum Kapitalismus verurteilt wurde? Sollte allen anderen die eventuell vorhandene Hoffnung auf ein Auto als parteifeindliche Handlung begreiflich werden oder war es Ausdruck der allgemeinen Linie der SED im Kampf gegen kapitalistische Anwandlungen zum Privatbesitz von irgendwelchen Gegenständen? Oder war es eine Warnung an alle anderen oder einfach nur eine überzogene Parteimaßnahme? Es fand keinerlei öffentliche Diskussion statt.

Und der Bastler, Oberleutnant S., wusste wohl auch nicht so richtig, was das alles sollte. Ich möchte auch heute noch annehmen, dass es eine Protesthaltung war, was er in den nächsten Wochen und Monaten tat. Ich glaubte damals und glaube es auch noch heute, dass die Bastelei an diesem alten Auto ihm einfach so eine Art Bedürfnis war. Ihn als Parteifeind einzuschätzen, war auch aus heutiger Sicht einfach Unsinn. Er begann nämlich wieder mit seinen nächtlichen Bastelausflügen in die VP-Bereitschaft. Und es funktionierte problemlos wie vor dieser Versammlung.

Als er irgendwann gefragt wurde, was er nun dort mache, kam die Antwort: »Ich baue einen Panzer«. Das rief nur allgemeines Unverständnis hervor. So fuhr er wieder monatelang zu seinem Panzer. Und so war es wirklich nicht verwunderlich, dass so mancher, wenn die Rede auf den Panzer kam, einen Finger an die Stirn führte. Wir alle glaubten nicht an den Bau eines Panzers, wir stritten aber auch nicht mit ihm herum.

Nach mehreren Monaten zeigte er von sich aus, ohne dass wir ihn provoziert hatten, ein Bild von einem Panzer. Das Bild hatte die Größe einer Postkarte und zeigte wirklich einen richtigen Panzer, mit Laufketten, einem Turm mit Kanone, eben einen richtigen Panzer. Er sah aus wie ein T-34, den wir ja alle irgendwo schon einmal gesehen hatten. Da aber außer dem Panzer nichts weiter abgebildet war, konnten wir uns keine Vorstellung von der Größe des Fahrzeugs machen. Die Meinungen gingen auseinander. Manche führten wieder den Finger an die Stirn und andere versuchten durch ein Fachgespräch weitere technische Dinge zu erfragen. Seine Antwort war aber immer: »Ich werde ihn mitbringen. Ich muss nur noch einen Lkw auftreiben, dann könnt ihr ihn anfassen«. Solche Gespräche endeten aber meist mit einem wehleidigen Lächeln.

Eines Tages kam ich vor Dienstbeginn über den Hallmarkt in Richtung des Präsidiums (unser Dienstgebäude hieß Präsidium, nicht VPKA) und sah vor dem Haupteingang etwas fünfzig bis hundert Menschen stehen. Sie bildeten eine richtige Traube und standen um einen kleinen Panzer herum. Alle diskutierten, manch einer rief: »Das gibt es doch gar nicht!« Aber es war Tatsache, der Panzer war zwar kleiner als der T-34. Ich drängelte mich nach vorn und sah nun unseren Panzerbauer, Oberleutnant S., dort stehen und irgendetwas erklären. Um ihn herum mehrere junge Männer in drillichfarbenen Kombinationen, und ich begriff, dass das sein Panzer war. Es war irgendwie verrückt, diesen kleinen T-34 zu sehen, es war aber unstrittig ein Panzer. Der Panzerbauer sah mich dann in der Menge und warf mir einen triumphierenden Blick zu. In unserem Dienstzimmer wurde an diesem Tag nicht gearbeitet, sondern nur diskutiert. Er ging in den Zimmern herum und genoss seinen Triumph.

Diese Geschichte ereignete sich 1958. In diesem Jahr fand in Halle eine Pionierparade statt und der Panzer fuhr im Demonstrationszug der Pioniere mit, auf seinen eigenen Ketten, und die Jungs von S. waren die Besatzung – einer war der Fahrer, die anderen beiden mussten laufen.

1961 wurde ich auf die Offiziersschule des MdI nach Aschersleben delegiert. Nach dem hektischen Dienst war das geregelte Leben in einer kasernierten Schule doch sehr erholsam, obwohl uns im Unterricht nichts geschenkt wurde. Warum auch sollte uns der Dienstplan, der uns quer durch die Kriminalistik führte, etwas schenken? Wir hatten alle schon mehrere Jahre Diensterfahrung in den unterschiedlichen Bereichen der Kriminalpolizei gesammelt, waren aber nicht zu alt. Die meisten waren in meinem Alter.

Ich hatte noch eine besondere Vergünstigung, um welche mich alle beneideten: Ich war immer noch Torwart in der Handballmannschaft von Dynamo Halle und wurde des Öfteren mit dem Mannschaftsbus abgeholt und wiedergebracht. So hatte ich mehr Freizeit als die anderen Studenten. Mit dem Eintritt in die Kriminalpolizei war ich seinerzeit auch zu Dynamo Halle gewechselt.

Wenige Wochen nur vor Beendigung des Lehrganges wurde mir angeboten, in die Morduntersuchungskommission der Bezirksbehörde Halle der Deutschen Volkspolizei zu wechseln. Ich war sehr erfreut über dieses Angebot. Damals war die Arbeit in einer Morduntersuchungskommission (MUK) von hohem Ansehen begleitet und die Arbeit in der MUK die Sehnsucht vieler Kriminalisten. Natürlich wusste ich nicht, was auf mich zukäme. Aber ich hatte das Angebot, den Traum aller Kriminalisten zu verwirklichen. Selbstverständlich sagte ich zu und begann am 1. März 1962 meinen Dienst in der MUK.

Das Leben in der MUK war ungleich schwieriger als die Tätigkeit im Präsidium. Die MUK bestand damals aus dem Leiter, mir als Sachbearbeiter, einem Kriminaltechniker und einem Kraftfahrer. Uns stand ein Pkw zur Verfügung, für welchen wir monatlich 3.000 Kilometer Benzindeputat hatten. Das zwang uns oftmals irgendwo weitab von unseren Familien zu übernachten, um nicht kostbare Kilometer für die Heimfahrt zu vergeuden. Durch Ermittlungsarbeit z.B. in Zeitz oder auch in Quedlinburg waren wir oft am Rande des Limits. Dieses ließ sich aber umgehen, indem ich mit einem so genannten Fahrauftrag zum Chef Operativ der Bezirksbehörde, einem alten Kriminalisten, ging, der auf das Formular schrieb »MUK unbegrenzt«. Das Ärgerlichste aber war, dass nur der Kraftfahrer ein Telefon in der Wohnung hatte und wir oftmals eine Woche von der Familie getrennt waren, ohne uns verständigen zu können. So hatten wir auch bei Alarmen, wenn wir uns in der Wohnung befanden, keine Vorwarnzeit. Der Kraftfahrer sammelte uns einfach ein.

Meist hatten wir Totschlagsdelikte, Körperverletzungen mit Todesfolge oder auch so genannte autoerotische Unfälle, aber auch Kindestötungen unmittelbar nach der Geburt zu untersuchen. Geplante Tötungsdelikte, also echte Morde, waren selten. Aber alles war sehr zeitaufwendig. Finanziell war unser Leben auch sehr schwierig. Ich hatte knapp 700 Mark Gehalt, das Bewegungsgeld war auch knapp und wurde erst später zurückgezahlt. Aber wir waren mit Begeisterung Morduntersucher und konnten alle Delikte klären.

Ein Tötungsdelikt ist mir in besonderer Erinnerung. In Dölau, am Rande von Halle, hatte ein »Überflieger« – so nannten wir sowjetische Soldaten, welche ihr Objekt verließen, um irgendwo Alkohol zu trinken – einen deutschen Zivilisten, der am Arm seiner Freundin in der kleinen Siedlung spazieren ging, erstochen. DDR-Bürger, die das sahen, hatten einen der beiden sowjetischen Soldaten eingefangen und an einen Baum gebunden. Das war aber der falsche, wie uns die Kommandantur später erklärte. Der Täter, der schon wieder in der Kaserne war, war natürlich leicht zu ermitteln. Wir hatten alles an die Kommandantur übergeben und hatten so mit dem eigentlichen Delikt nichts mehr zu tun.

Diese Tat hat natürlich in der Bevölkerung viel Aufregung hervorgerufen, zumal das Opfer aus einer fortschrittlichen Familie kam. Die Stimmung gegen die sowjetischen Soldaten war sehr erregt, viele schrien: »Das habt ihr nun von eurer Freundschaft zu den Russen« und Ähnliches. Die Beerdigung war entsprechend politisch aufgeladen. Die Sportmannschaft und die Feuerwehr von Dölau, auch die Bevölkerung hatten für die Sargträger Spalier gebildet. Alles war sehr emotional und kurz vor der Explosion. Außer uniformierten VP-Angehörigen waren natürlich auch wir anwesend, da wir ja die Eltern und die Freundin des Opfers kannten. Glücklicherweise kam es nicht zu Ausschreitungen. Aber nur wenige Tage nach der Beisetzung erhielt ich den Befehl, bei den Eltern den Kondolenzbesuch eines Generals des sowjetischen Oberkommandos vorzubereiten. Beide Eltern und auch die Freundin des Opfers waren einverstanden und hatten mir versprochen, ihre Emotionen zu zügeln und den General nicht zu beleidigen. So fuhr ich dann mit dem General und dem Dolmetscher der Kommandantur zu den Eltern. Nach wenigen Minuten verloren die Eltern die Kontrolle. Sie wurden dem General gegenüber, der sich wortreich für das Verbrechen entschuldigte, recht bösartig, und ich war froh, dass der Dolmetscher nicht mehr übersetzte, sondern einfach schwieg. Ich brach dann den Kondolenzbesuch ab und war froh, als ich wieder im Auto saß. Der General schwieg erschüttert, ich auch.

 

Mehrere Wochen später erhielt ich vom K-Leiter (Leiter der Kriminalpolizei) den Auftrag, an der Gerichtsverhandlung gegen die beiden sowjetischen Soldaten teilzunehmen. Die Kommandantur hatte eingeladen. Auch die Eltern des Opfers waren eingeladen, lehnten aber eine Teilnahme ab. Der Leiter der MUK und ich fuhren also zur Kommandantur, trafen dort den uns bekannten Dolmetscher und fuhren mit ihm zur sowjetischen Kaserne.

In einem großen Saal fand die Verhandlung vor dem obersten Militärtribunal der sowjetischen Streitkräfte statt. Im Saal saßen mehre hundert Soldaten und Offiziere. Der Täter wurde zum Tode verurteilt und der andere »Überflieger« zu fünf Jahren Aufenthalt in einem Straflager. Die Urteile wurden mit lautem Beifall quittiert. Sicher sollten sie auch zur Erziehung der anwesenden Soldaten beitragen.

Wir fuhren erschüttert nach Hause und dachten beide nicht daran, dass dies noch nicht der letzte Akt in diesem bösen Delikt war. Wieder einige Monate später wurde ich zum Chef der Bezirksbehörde Halle befohlen. Der MUK-Leiter war im Urlaub. Schweigend hielt der General mehrere Seiten Papier in der Hand und gab sie mir. Es war ein handschriftliches Schreiben in kyrillischer Schrift und eine gestempelte Übersetzung in deutscher Sprache. Ich las und war zutiefst erschüttert. Die Mutter des zum Tode verurteilten sowjetischen Soldaten hatte an den Obersten Sowjet geschrieben und gebeten, das Todesurteil gegen ihren Sohn nicht zu vollstrecken. Sie bat mehrmals um das Leben ihres Sohnes und schrieb, dass durch die Vollstreckung die deutsche Mutter ihren Sohn auch nicht wiedererhalten könne. Ich sah die Tränen in den Augen des Generals, mir ging es ebenso. Wir schwiegen einige Minuten. Dann meinte der General zu mir: »Fahren Sie zu der Familie des Opfers und fragen dort nach der Meinung der Eltern und der Freundin des Erstochenen. Egal wie die Meinung der drei ist, fertigen Sie dort ein Protokoll und lassen es unterschreiben.«

Mir war nicht wohl zumute. Ich war in einer schwierigen Situation, welche ich noch nie erlebt hatte. Ich fuhr ohne Anmeldung zu den Eltern und bat sie, auch die Freundin des Opfers zu holen. Ich erklärte allen das Schreiben der russischen Mutter des zum Tode verurteilten Soldaten. Wir weinten alle.

Dann sprach die Mutter unter Tränen, dass die russische Mutter ihren Sohn auch unter Schmerzen geboren habe, ihn erzogen habe und nie gewollte habe, dass ihr Sohn einen Menschen im Frieden tötet. Und fügte unter Schluchzen und Tränen hinzu, dass die Vollstreckung des Urteils ihren Jungen auch nicht wiederbringen könne. Ich war mehrere Stunden bei der Familie. Tief erschüttert fertigte ich ein handschriftliches Protokoll, worin die deutsche Mutter den Obersten Sowjet bat, das Urteil nicht zu vollstrecken, da das ihren Sohn auch nicht wieder zum Leben erwecken könne …

Dann fuhr ich zu meinem General und wurde auch sofort vorgelassen. Schweigend las er mein Protokoll und legte es auf seinen Schreibtisch. Dann musste ich ausführlich über mein Gespräch bei der Familie berichten. Er war vom Standpunkt der deutschen Mutter tief berührt und sagte, dass er es so erhofft habe, aber auch Verständnis für einen anderen Ausgang meines Gesprächs mit der Mutter gehabt hätte. Dann wurde ich mit Dank entlassen. Ich habe nie wieder etwas von dieser traurigen Geschichte gehört.