Alraune. Phantastischer Roman

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Viertes Kapitel,
das Kunde gibt, wie sie Alraunes Mutter fanden

Frank Braun sass auf der Veste. Oben auf Ehrenbreitstein. Sass schon zwei Monate dort und hatte noch drei zu sitzen. Den ganzen Sommer hindurch. Und das alles, weil er ein Loch in die Luft geschossen hatte und sein Gegner auch.

Er langweilte sich.

Er sass oben auf der Brüstung des Brunnens, der weit hinabsah von dem steilen Fels in den Rhein. Liess die Beine baumeln, schaute ins Blaue und gähnte. Und genau dasselbe taten die drei Genossen, die mit ihm dasassen; keiner sprach ein Wort.

Sie trugen gelbe Drillichjacken, die sie den Soldaten abgehandelt hatten. Von ihren Burschen hatten sie sich riesige schwarze Ziffern auf den Rücken malen lassen, die sollten die Nummern ihrer Zellen bedeuten. Zwei, Vierzehn und Sechs waren da. Frank Braun aber trug die Nummer Sieben.

Dann kam ein Trupp Fremder hinauf, Engländer und Engländerinnen, die ein Sergeant von der Wache führte. Er zeigte ihnen die armen Gefangenen mit den grossen Nummern, die so trübselig dasassen: da regte sich ihr Mitleid. Und mit Ach's und Oh's fragten sie den Sergeanten, ob man den elenden Menschen nichts geben dürfe? Das sei streng verboten, sagte der, und er dürfe so etwas nicht sehen. Aber in seines Herzens grosser Güte drehte er sich um und erklärte den Herren die Gegend. Dort liege Coblenz, sagte er, und da hinten Neuwied. Und dort, unten am Rhein –

Derweilen kamen die Damen heran. Die armen Gefangenen streckten die Hand nach hinten, hielten sie gerade unter die dicke Nummer; dahinein tropften die Geldstücke, fielen Zigaretten und Tabak. Manchmal auch eine Visitenkarte mit einer Adresse.

Das war das Spiel, das Frank Braun erfunden und eingeführt hatte hier oben.

»Es ist eigentlich entwürdigend,« meinte Nr. Vierzehn. Das war der Rittmeister Baron Flechtheim.

»Du bist ein Idiot.« sagte Frank Braun. »Entwürdigend ist nur, dass wir uns so vornehm dünken, dass wir alles den Unteroffizieren geben und nichts behalten. Wenn wenigstens die verdammten englischen Zigaretten nicht so parfümiert wären.« – Er besah sich den Raub. »Da! Schon wieder ein Pfundstück dabei! Der Sergeant wird sich freuen. – Herrgott, ich könnt's gut selber gebrauchen heute!«

»Wie viel hast du gestern verloren?« fragte Nr. Drei.

Frank Braun lachte. »Pah – meinen ganzen Wechsel, der am Morgen ankam. Und dazu ein paar Ehrenscheine auf einige Blaue. Hol der Henker das Bac!«

Nr. Sechs war ein blutjunger Fähnrich, ein Bübchen, das aussah wie Milch und Blut. Das seufzte tief: »Ich hab auch alles verjeut.«

»Na, und du meinst, uns geht es anders?« schnauzte ihn Nr. Vierzehn an. »Und zu denken, dass die drei Halunken sich jetzt mit unserm Geld in Paris amüsieren! – Wie lange denkst du, dass sie bleiben werden?«

Dr. Klaverjahn, Marinearzt, Festungsstubengefangener Nr. Zwei, sagte: »Ich schätze drei Tage. Länger können sie nicht gut wegbleiben, ohne dass man es merkt. Und länger reichen die auch mit dem Gelde nicht!«

Die – das waren Nr. Vier, Nr. Fünf und Nr. Zwölf. Sie hatten in der letzten Nacht tüchtig gewonnen und waren gleich am Morgen den Berg hinuntergeklettert, um mit dem Frühzuge nach Paris zu fahren. Sich – ein bisschen auszuspannen, wie man das auf der Festung nannte.

»Was wollen wir anfangen, diesen Sonntagnachmittag?« fragte Nr. Vierzehn.

»Streng deinen blöden Schädel einmal selber an!« rief Frank Braun dem Rittmeister zu. Er sprang von der Mauer hinab, ging durch den Kasernenhof in den Offiziersgarten. Er war missgestimmt genug, pfiff laut vor sich hin.

Nicht der Spielverlust war's – das war ihm öfter passiert und drückte ihn durchaus nicht. Aber dieser klägliche Aufenthalt hier oben, dieses unerträgliche Einerlei. Gewiss, die Festungsbestimmungen waren leicht genug und es war dazu keine dabei, die die Herrn Gefangenen nicht in jeder Stunde verletzten. Sie hatten ihr eigenes Kasino hier oben, in dem ein Klavier stand und ein Harmonium; zwei Dutzend Zeitungen hielten sie. Hatten jeder seinen eigenen Burschen und als Zelle einen mächtigen Raum, einen Saal fast, für den sie dem Staate eine tägliche Miete von einem Pfennig zahlten. Sie liessen sich ihr Essen aus dem besten Gasthofe der Stadt kommen und ihr Weinkeller war in allerschönster Ordnung. Nur eines war zu tadeln: man konnte seine Zimmertüre nicht von innen verschliessen. Das war der einzige Punkt, in dem die Kommandantur ungeheuer streng war: seitdem einmal ein Selbstmord vorgekommen, wurde jeder Versuch, einen Riegel innen anzubringen, im Keime erstickt. »Sie sind ausgemachte Trottel dort unten,« dachte Frank Braun. »Als ob man sich nicht geradesogut ohne Riegel selbstmorden könnte!«

Dieser fehlende Riegel quälte ihn jeden Tag, verdarb ihm alle Freude am Dasein. Denn so war es unmöglich, allein zu sein auf der Festung. Er hatte mit Seilen und mit Ketten die Türe festgemacht, hatte sein Bett davor gestellt und alle andern Möbel. Es nutzte nichts: nach einem mehrstündigen Kampf war alles zertrümmert und zerschlagen und stand doch die ganze Gesellschaft triumphierend in seinem Zimmer.

O diese Gesellschaft! – Jeder einzelne war ein harmloser, netter, gutmütiger Kerl. Jeder einzelne einer, mit dem man – allein – wohl einmal eine halbe Stunde plaudern konnte. – Aber zusammen, zusammen waren sie unerträglich. Es war der »Komment«, der sie alle niederschlug, diese wilde Mischung von Offiziers- und Studentenkomment, aufgeputzt durch einige besondere Narrheiten der Festung. Man sang, man trank und man jeute, einen Tag, eine Nacht um die andere. Und dazwischen: ein paar Mädel, die man heraufschleppte, und ein paar Spritztouren, die man hinunter machte – –, das waren die Heldentaten.

Und man sprach auch von nichts anderm mehr.

Die, die am längsten oben waren, waren die schlimmsten, ganz verkommen in diesem ewigen Rundlauf. Dr. Bermüller, der seinen Schwager erschossen hatte und nun schon seit zwei Jahren hier oben sass, und sein Nachbar, der Dragonerleutnant Graf von Vallendar, der noch ein halbes Jahr länger die gute Luft hier oben genoss. Und die, die neu kamen, taten es in kaum einer Woche schon den andern gleich; wer am rohesten war und am wildesten – der stand hoch im Ansehn.

Frank Braun stand im Ansehn. Er hatte gleich am zweiten Tag das Klavier abgeschlossen, weil er des Rittmeisters grässliches ›Frühlingslied‹ nicht länger anhören wollte, hatte den Schlüssel in die Tasche genommen und dann hinuntergeworfen vom Festungswall. Er hatte auch seinen Pistolenkasten mitgebracht und schoss nun den lieben langen Tag. Und saufen konnte er und fluchen, so gut wie einer hier oben.

Eigentlich hatte er sich gefreut auf diese Sommermonate auf der Veste. Er hatte einen grossen Stoss Bücher mitgeschleppt; neue Federn und blankes Papier. Er glaubte hier arbeiten zu können, freute sich auf den Zwang in der Einsamkeit.

Aber er hatte kein Buch aufmachen können, hatte nicht einmal einen Brief geschrieben. War hineingezogen in diesen wilden kindischen Strudel, der ihn ekelte, und den er doch so gründlich mitmachte, Tag um Tag. Er hasste seine Kameraden, jeden einzelnen unter ihnen –

Sein Bursche kam in den Garten, salutierte: »Herr Doktor, ein Brief.«

Ein Brief? Am Sonntagnachmittag? Er nahm ihn dem Soldaten aus der Hand. Es war ein Eilbrief, der ihm nachgeschickt war hierher. Er erkannte die dünnen Züge seines Onkels. Von dem? Was wollte der plötzlich von ihm? Und er wog den Brief in der Hand – ah, er hatte gute Lust, ihn zurückgehen zu lassen: Annahme verweigert. Was ging ihn dieser alte Professor an?!

Ja, das war das letzte, was er von ihm sah, als er mit ihm nach Lendenich fuhr – nach jenem Fest bei den Gontrams. Als er ihm einzureden versuchte, er müsse ein Alraunwesen schaffen. Damals – vor zwei Jahren.

Ah, wie weit lag das nun schon zurück!

Er war auf eine andere Universität gegangen, hatte zur rechten Zeit seine Examina gemacht. Sass nun in einem lothringischen Loch – war tätig als Referendar. War tätig –? Bah, er setzte das Leben fort, das er geführt hatte auf der hohen Schule. War gern gesehen bei den Frauen und bei allen denen, die ein lockeres Leben liebten und wilde Sitten. Und war sehr ungern gesehen bei seinen Vorgesetzten. O ja, er arbeitete auch wohl hie und da – so für sich. Aber es war sicher stets etwas, was seine Vorgesetzten groben Unfug nannten.

Wenn er eben konnte, drückte er sich, fuhr nach Paris. War besser zu Hause auf der Butte Sacrée, als im Gericht. Und er wusste nicht recht, wohin das alles führen sollte.

Das war ja gewiss, dass er nie ein Jurist sein würde, Rechtsanwalt oder Richter oder sonst ein Beamter. Aber was sollte er sonst machen? Er lebte dahin, in den Tag hinein, machte immer neue Schulden –

Immer noch hielt er den Brief in der Hand, begierig ihn aufzureissen, und doch voller Lust, ihn so zurückzugeben, wie er war. Als eine späte Antwort auf den andern Brief, den ihm der Onkel schrieb vor zwei Jahren.

Das war kurz nach jener Nacht gewesen. Mit fünf andern Studenten war er zur Mitternacht durchs Dorf geritten, zurück von einem Ausflug in die sieben Berge. Und er hatte alle eingeladen, aus einer plötzlichen Laune heraus, zum Nachtmahle im Hause ten Brinken.

Sie rissen die Schelle ab, schrien laut, hämmerten gegen das schmiedeeiserne Tor. Machten einen Heidenlärm, dass das Dorf zusammenlief. Der Geheimrat war verreist, aber der Diener liess sie ein auf des Neffen Befehl. Sie brachten die Gäule zum Stalle und Frank Braun liess die Dienerschaft wecken. Liess ein grosses Essen herrichten und holte selbst die besten Weine aus des Oheims Keller. Und sie schmausten und tranken und sangen, tobten herum durch Haus und Garten, lärmten, heulten und zerschlugen, was vor ihre Fäuste kam. Früh erst am Morgen ritten sie heim, johlend und gröhlend, hingen auf ihren Gäulen, wie wilde Cowboys die einen und die andern wie alte Mehlsäcke.

 

»Die jungen Herrn benahmen sich wie die Schweine,« berichtete Aloys dem Herrn Geheimrat.

Doch das war es nicht, was diesen so erboste, kein Wort hätte er darüber verloren. Aber auf dem Büfett lagen seltene Äpfel, taufrische Nektarinen, Birnen und Pfirsiche aus seinen Treibhäusern. Edle Früchte, mit unsäglicher Mühe gezogen. Erstlinge von neuen Bäumen, lagen auf Watte dort auf goldenen Tellern zum Nachreifen. Aber die Studenten hatten keinerlei Pietät vor des Professors Liebe, waren respektlos darüber hergefallen. Hatten sie angebissen, dann, da sie halb unreif noch waren, wieder liegen lassen. Das war es.

Er schrieb seinem Neffen einen erbitterten Brief, ersuchte ihn, nie wieder sein Haus zu betreten.

Und Frank Braun wieder war tief verletzt über den Grund dieses Schreibens, den er als jämmerliche Kleinlichkeit empfand.

– Ah, hätte ihn der Brief, den er nun in der Hand hielt, dort erreicht, wohin er gesandt war, in Metz, oder gar auf dem Montmartre – er würde keine Sekunde gezögert haben, ihn zurückgehen zu lassen.

Hier aber – hier – in dieser grässlichen Langeweile der Festung?

Er entschloss sich. »Auf alle Fälle ist's eine Abwechslung,« murmelte er. Öffnete den Brief.

Der Onkel teilte ihm mit, dass er, nach reiflicher Überlegung, gewillt sei, der Anregung, die er, sein Neffe, ihm damals gegeben, Folge zu leisten. Er habe nun auch schon einen geeigneten Vaterkandidaten: die Revision des Raubmörders Noerrissen sei zurückgewiesen und es sei nicht anzunehmen, dass das Begnadigungsgesuch mehr Erfolg habe. Nun suche er nach einer Mutter. Er habe schon einige Versuche nach dieser Richtung hin gemacht, diese seien aber leider durchaus negativ verlaufen; es scheine doch nicht ganz so leicht, hier das Richtige zu finden. Aber die Zeit dränge und er frage nun seinen Neffen, ob er bereit sei, ihn in dieser Angelegenheit zu unterstützen.

Frank Braun starrte den Burschen an: »Ist der Briefträger noch da?« fragte er.

»Zu Befehl, Herr Doktor,« meldete der Soldat.

»Sag ihm, er solle warten. Da, gib ihm ein Trinkgeld!« Er suchte in seinen Taschen, schliesslich fand er noch ein Markstück. Den Brief in der Hand, eilte er zurück, dem Gefangenenhause zu.

Doch kaum war er auf dem Kasernenhofe angelangt, als ihm die Frau des Feldwebels mit einem Depeschenboten entgegenkam. »Ein Telegramm für Sie!« rief die Frau.

Es war von Dr. Petersen, dem Assistenzarzt des Geheimrats. Es lautete:

»Exzellenz befinden sich seit vorgestern in Berlin, Hotel de Rome. Erwarten umgehend Nachricht, ob Sie eintreffen, lassen herzlich grüssen.«

Exzellenz? Also der Onkel war Exzellenz geworden. Und darum war er in Berlin. – In Berlin – ah, das war schade. Er wäre lieber nach Paris gefahren, dort hätte er gewiss viel leichter etwas gefunden und etwas Besseres wohl auch –

Einerlei, nun war es einmal Berlin. Zum mindesten war es eine Unterbrechung in dieser Öde. Er überlegte einen Augenblick. Er musste fort, heute abend noch. Aber – er hatte keinen Pfennig Geld. Und die Kameraden hatten ja auch nichts.

Er sah die Frau an. »Sie, Frau Feldwebel –« begann er. Aber nein, das ging nicht. Und er schloss: »Geben Sie dem Mann ein Trinkgeld. Schreiben Sie's mir auf die Rechnung.«

Er ging in sein Zimmer, liess den Handkoffer packen, befahl dem Burschen ihn gleich zum Bahnhofe zu bringen und dort zu warten. Dann ging er hinunter.

In der Türe stand der Feldwebel, der Aufseher des Gefangenenhauses, händeringend, fast aufgelöst. »Sie wollen auch fort, Herr Doktor?« jammerte er. – »Und die drei Herren sind schon weg – nach Paris – ins Ausland! Herrgott, das kann ja kein gutes Ende nehmen! Ich falle herein, ich allein – ich trag die Verantwortung.«

»Na, es wird nicht so schlimm sein,« antwortete Frank Braun. »Ich reise ja nur auf ein paar Tage, und die andern Herren werden dann auch wohl zurück sein.«

Der Feldwebel klagte weiter: »Es ist ja nicht wegen mir. Ich sag gewiss nichts! Aber die andern sind alle so neidisch auf mich. Und heut hat gar der Sergeant Becker die Wache, der –«

»Der wird's Maul halten!« entgegnete ihm Frank Braun. »Der hat erst eben über dreissig Mark von uns bekommen – mildtätige Gaben der Engländerinnen. – Übrigens geh ich nach Coblenz zur Kommandantur, Urlaub zu erbitten. – Sind Sie nun zufrieden?«

Aber der Gefangenenaufseher war gar nicht zufrieden: »Was? Zur Kommandantur? – Aber Herr Doktor? Sie haben ja keinen Urlaub von hier oben fortzugehen, hinunter zur Stadt. Und Sie wollen gar zur Kommandantur?«

Frank Braun lachte: »Jawohl, gerade dahin! – Ich muss nämlich den Kommandanten um Reisegeld anpumpen.«

Der Feldwebel sagte kein Wort mehr, stand da, rührte sich nicht, völlig versteinert, mit weit offenem Munde.

»Gib mir zehn Pfennige, Schorsch,« rief Frank Braun seinem Burschen zu, »fürs Brückengeld.«

Er nahm das Geldstück und ging mit schnellen Schritten über den Hof. In den Offiziersgarten und von dort auf das Glacis. Schwang sich auf die Mauer, fasste an der andern Seite den Ast einer mächtigen Esche und kletterte hinab an ihrem Stamm. Stieg, durch das dichte Unterholz, den mächtigen Fels hinab.

In zwanzig Minuten schon war er unten. Das war der Weg, den sie gewöhnlich einschlugen auf ihren nächtlichen Streifzügen.

Er ging den Rhein entlang bis zur Schiffbrücke, dann hinüber nach Coblenz. Er kam zur Kommandantur, erfuhr, wo der General wohnte, und eilte dorthin. Er gab seine Karte ab und liess sagen, dass er in sehr dringlicher Angelegenheit komme.

Der Herr General empfing ihn, hielt seine Karte in der Hand.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

Frank Braun sagte: »Gestatten Exzellenz, ich bin Festungstubengefangener.«

Der alte General musterte ihn ziemlich ungnädig, sichtlich verstimmt über die Störung.

»Nun, was wollen Sie? – Wie kommen Sie übrigens hinunter in die Stadt? Haben Sie Urlaub?«

»Jawohl, Exzellenz,« sagte Frank Braun. »Kirchenurlaub.«

Er log, aber er wusste gut: der General wollte nur eine Antwort haben. »Ich komme, um Exzellenz zu bitten, mir drei Tage Urlaub zu geben nach Berlin. Mein Onkel liegt im Sterben.«

Der Kommandant fuhr auf: »Was geht mich Ihr Onkel an? Ist vollkommen ausgeschlossen! Sie sitzen da oben nicht zu Ihrem Vergnügen, sondern weil Sie Staatsgesetze übertreten haben, verstehen Sie? Da könnte jeder kommen mit sterbenden Onkeln und Tanten! Wenn es nicht wenigstens die Eltern sind, verweigere ich einen solchen Urlaub grundsätzlich.«

»Ich danke gehorsamst, Exzellenz,« erwiderte er. »Ich werde meinem Onkel, Seiner Exzellenz, dem Wirklichen Geheimen Rat Professor ten Brinken sofort drahten, dass es seinem einzigen Neffen leider nicht erlaubt wurde, an sein Sterbebett zu eilen, um ihm die müden Augen zudrücken zu können.«

Er verbeugte sich, machte eine Wendung zur Türe hin. Aber der General hielt ihn zurück, wie er erwartet hatte. »Wer ist Ihr Herr Onkel?« fragte er zögernd.

Frank Braun wiederholte den Namen und die schönen Titel, nahm dann das Telegramm aus der Tasche und reichte es hinüber. »Mein armer Onkel versuchte in Berlin eine letzte Rettung, leider ist die Operation sehr unglücklich verlaufen.«

»Hm!« machte der Kommandant. »Fahren Sie, junger Mann, fahren Sie sofort. Vielleicht ist doch noch Hilfe möglich.«

Frank Braun machte eine Jammermiene, sagte: »Das steht nur bei Gott. Wenn mein Gebet da etwas nützen könnte – –« Er unterbrach einen schönen Seufzer und fuhr fort: »Ich danke gehorsamst, Exzellenz. – Ich habe noch eine Bitte.«

Der Kommandant gab ihm das Telegramm zurück. »Welche?« fragte er.

Und Frank Braun platzte heraus: »Ich habe kein Reisegeld. Ich möchte Exzellenz bitten, mir dreihundert Mark zu leihen.«

Der General sah ihn an, misstrauisch genug: »Kein Geld – hm – so – also kein Geld? – Aber gestern war doch der Erste? Wechsel nicht eingetroffen – was?«

»Wechsel prompt eingetroffen, Exzellenz,« erwiderte er rasch. »Aber: ebenso prompt in der Nacht verjeut!«

Da lachte der alte Kommandant. »Ja, Ja, das ist zur Sühne Ihres Verbrechens, Sie Missetäter! Also dreihundert Mark brauchen Sie?«

»Jawohl, Exzellenz! Mein Onkel wird sich gewiss sehr freuen, wenn ich ihm mitteilen darf, dass Exzellenz mir aus der Patsche geholfen haben.«

Der General wandte sich, ging zum Arnheim, öffnete ihn und entnahm drei Scheine einer kleinen Kasse. Er reichte seinem Gefangenen Feder und Papier und liess sich einen Schuldschein ausstellen; dann gab er ihm das Geld. Frank Braun nahm es mit einer leichten Verbeugung. »Danke gehorsamst, Exzellenz.«

»Keinen Dank!« sagte der Kommandant. »Reisen Sie glücklich und kommen Sie pünktlich zurück. Und dann – empfehlen Sie mich ergebenst Seiner Exzellenz.»

Noch einmal: »Danke gehorsamst, Exzellenz.« Dann eine letzte Verbeugung und er war draussen. Er sprang die sechs Stufen der Vordertreppe mit einem Satz hinab, musste sich fest zusammennehmen, dass er nicht einen lauten Juchzer ausstiess.

»So, dass wäre gelungen.« – Er rief einen Wagen an, fuhr hinüber nach Ehrenbreitenstein zum Bahnhofe.

Er blätterte im Fahrplan, fand, dass er noch drei Stunden zu warten hatte. Er rief den Burschen, der mit dem Koffer wartete, befahl ihm, schleunigst hinaufzulaufen und den Fähnrich von Plessen herunterzuschicken zum »Roten Hahnen«.

»Aber bring den richtigen, Schorsch!« schärfte er dem Soldaten ein. »Den jungen Herrn, der erst unlängst kam, den, der die Nummer Sechs auf dem Rücken trägt. – Da, warte noch! Dein Groschen hat Zinsen getragen.« Er warf ihm ein Zehnmarkstück zu.

Er ging in das Weinhaus, überlegte lange und bestellte ein ausgesuchtes Nachtmahl. Sass am Fenster, blickte hinab auf die Sonntagsbürger, die am Rhein wandelten.

Endlich kam der Fähnrich. »Na, was ist los?«

»Setz dich,« sagte Frank Braun. »Halt's Maul. Frag nicht. Iss und trink und sei froh.« Er gab ihm einen Hundertmarkschein. »So, die Zeche wirst du zahlen. Der Rest ist für dich. – Und sag denen droben, ich sei nach Berlin gefahren – mit Urlaub! – Aber ich würde ihn wohl überschreiten, käme erst Ende der Woche zurück.«

Der blonde Fähnrich starrte ihn an, voll ehrlicher Bewunderung. »Sag nur – wie hast du denn das angefangen?«

»Mein Geheimnis,« sagte Frank Braun. »Aber es würde euch auch nichts nützen, wenn ich's euch verriete. Auf den Bluff fällt auch die gutmütigste Exzellenz nur einmal herein. Prosit!«

– Der Fähnrich brachte ihn zum Zuge, hob ihm den Koffer hinein, winkte dann mit dem Hut und dem Taschentuch. Frank Braun trat zurück vom Fenster, vergass in demselben Augenblick den kleinen Fähnrich und all seine Mitgefangenen und die ganze Festung. Er sprach mit dem Schaffner, streckte sich lang aus in seinem Halbcoupé. Machte die Augen zu, schlief.

Der Schaffner musste ihn tüchtig schütteln, bis er aufwachte. »Wo sind wir denn?« fragte er schlaftrunken.

»Gleich Bahnhof Freidrichstrasse.«

Er suchte seine Sachen zusammen, stieg aus, fuhr zum Hotel. Liess sich ein Zimmer geben, badete, wechselte die Kleider. Ging dann hinunter zum Frühstückszimmer.

In der Tür schon kam ihm Dr. Petersen entgegen.

»Ah, Sie sind da, lieber Herr Doktor!« rief er. »Wie sich Exzellenz freuen werden!«

Exzellenz! Wieder: Exzellenz! Diese drei »E's« taten ihm ordentlich weh in den Ohren. »Wie geht es denn meinem Onkel?« fragte er. »Besser?«

»Besser?« wiederholte der Arzt. »Wieso besser? Exzellenz sind doch nicht krank!«

»So, so,« sagte Frank Braun. »Nicht krank?! Schade, ich dachte, der Onkel läge im Sterben.«

Dr. Petersen sah ihn verwundert an: »Ich verstehe Sie gar nicht –«

Er unterbrach ihn: »Ist auch nicht nötig. Es tut mir nur leid, dass der Geheimrat nicht im Serben liegt. Das wäre doch sehr nett! Da würde ich ihn doch beerben, nicht wahr? Vorausgesetzt, dass er mich nicht enterbt hat. – Was auch möglich ist – sogar höchst wahrscheinlich.« Er sah den verblüfften Arzt vor sich stehn, weidete sich einen Augenblick an seiner Verlegenheit. Dann fuhr er fort: »Aber sagen Sie mir doch, Doktor, seit wann ist denn mein Onkel eigentlich Exzellenz?«

»Seit vier Tagen, bei Gelegenheit –«

Er unterbrach ihn: »Seit vier Tagen also! Und wie viele Jahre sind Sie jetzt bei ihm als – als – rechte Hand?«

 

»Nun, das mögen nun wohl zehn Jahre sein,« erwiderte Dr. Petersen.

»Und zehn Jahre lang haben Sie nun zu ihm ›Geheimrat‹ gesagt und ihn mit Sie angeredet. Nun aber, in den vier Tagen, ist er so völlig schon Exzellenz für Sie, dass Sie selbst ihn nicht einmal anders denken können, als in dritter Person Pluralis.«

»Erlauben Sie, Herr Doktor,« sagte der Assistenzarzt, eingeschüchtert und betreten – »erlauben Sie – wie meinen Sie das eigentlich?«

Aber Frank Braun nahm ihn unter den Arm, führte ihn zum Frühstückstisch. »Oh, ich meine, Doktor, dass Sie eben ein Mann von Welt sind! Einer, der Formen hat und Manieren. Einer, der einen angeborenen Instinkt hat für wirkliche Bildung. – So mein ich's. – Und nun, Doktor, wollen wir frühstücken, und Sie erzählen mir, was Sie ausgerichtet haben inzwischen.«

Befriedigt setzte sich Dr. Petersen nieder, durchaus ausgesöhnt, beglückt beinahe. Dieser junge Referendar, den er noch als kleinen Schulbuben gekannt hatte, war ja freilich ein Windhund, war ein rechter Durchgänger. – Aber er war doch immer der Neffe – von Exzellenz.

Der Assistenzarzt mochte ein Sechsunddreissiger sein, er war mittelgross. Und Frank Braun dachte, dass alles »mittel« sei an diesem Menschen. Nicht gross und nicht klein war seine Nase, nicht hässlich und nicht hübsch sein Gesicht. Er war nicht mehr jung und noch nicht alt, seine Haarfarbe hielt genau die Mitte zwischen dunkel und hell. Nicht dumm und nicht klug war er, nicht gerade langweilig und doch nicht unterhaltend; seine Kleidung war nicht elegant und doch auch nicht ordinär. So der gute Durchschnitt war er, in allem: das war der rechte Mann, den der Geheimrat brauchte. Ein tüchtiger Arbeiter, gescheit genug, um alles zu begreifen und alles zu leisten, was man von ihm verlangte, und doch nicht so intelligent, um darüber hinauszugehen, klar hineinzublicken in das bunte Spiel, das sein Herr spielte.

»Wieviel Gehalt bekommen Sie eigentlich bei meinem Onkel?« fragte ihn Frank Braun.

»Oh, nicht gerade sehr glänzend – aber doch recht reichlich,« war die Antwort. »Ich kann schon zufrieden sein. Zu Neujahr habe ich wieder vierhundert Mark Zulage erhalten.« Er bemerkte mit einer gewissen Bewunderung, dass der Herr Neffe sein Frühstück mit Obst begann, einen Apfel ass und eine Handvoll Kirschen.

»Was für Zigarren rauchen Sie?« inquirierte der Referendar.

»Was ich rauche? – So eine Mittelsorte, nicht zu stark –« Er unterbrach sich. »Aber warum fragen Sie das eigentlich, Herr Doktor?«

»Nur so,« sagte Frank Braun. »Es interessierte mich eben. – Aber nun erzählen Sie mir, was Sie eigentlich schon getan haben in dieser Sache. Hat Ihnen der Geheimrat seine Pläne mitgeteilt?«

»Gewiss,« nickte Dr. Petersen stolz, »ich bin der einzige, der darum weiss – ausser Ihnen natürlich. Der Versuch ist von allerhöchster wissenschaftlicher Bedeutung.«

Der Referendar räusperte sich. »Hm – meinen Sie?«

»Ganz zweifelsohne,« bekräftigte der Arzt. »Und es ist geradezu genial, wie Seine Exzellenz es herausklügelten, jede Möglichkeit einer eventuellen Anfeindung von vornherein zu ersticken. Sie wissen ja, wie vorsichtig man sein muss, wie wir Ärzte immer wieder von einem törichten Laienpublikum angegriffen werden, wegen so vieler, doch so absolut notwendiger Versuche. Da ist die Vivisektion – Gott, die Leute werden ja krank, wenn sie nur das Wort hören. Alle unsere Experimente mit Krankheitserregern, Impfungen und so weiter, sind der Laienpresse schon ein Dorn im Auge, obwohl wir doch fast nur mit Tieren arbeiten. Nun erst, wo es sich um künstliche Befruchtung handelt und wo Menschen in Frage kommen! – Da fanden Exzellenz das einzig Mögliche: einen hingerichteten Mörder und eine eigens für diesen Zweck bezahlte Dirne. Sagen Sie selbst: für ein solches Material wird auch der humanitätsduseligste Pastor sich nicht gerne einsetzen wollen.«

»Ja, es ist grossartig,« bestätigte ihm Frank Braun. »Sie haben wirklich recht, wenn Sie die Kapazität Ihres Herrn Chefs so anerkennen.«

Dr. Petersen berichtete dann, dass Seine Exzellenz mit seiner Hilfe in Köln verschiedentlich Versuche gemacht hätten, die geeignete Frauensperson herbeizuschaffen, leider ohne jeden Erfolg. Es habe sich herausgestellt, dass in den Bevölkerungsklassen, aus denen diese Geschöpfe hervorzugehen pflegten, ganz absonderliche Begriffe über die künstliche Befruchtung bestehen müssten. Es sei ihnen beiden beinahe unmöglich gewesen, den Weibern überhaupt nur beizubringen, um was es sich eigentlich handle, geschweige denn, die eine oder die andere zu bewegen, auf den Handel einzugehen. Obwohl Seine Exzellenz das Äusserste aufgeboten hätten an Beredsamkeit, obwohl auch er immer wieder ihnen vor Augen gehalten habe, dass einmal gar nichts Gefährliches dabei sei, dass zweitens sie doch ein recht schönes Stück Geld verdienen würden und dass sie drittens der medizinischen Wissenschaft einen sehr grossen Dienst erweisen würden.

Eine habe gar laut geschrien: die ganze Wissenschaft könne ihr – Und sie habe einen sehr hässlichen Ausdruck gebraucht.

»Pfui!« sagte Frank Braun. »Wie konnte sie nur!«

Und da habe es sich dann ja sehr gut getroffen, dass Seine Exzellenz bei Gelegenheit des internationalen Gynäkologenkongresses nach Berlin hätten fahren müssen. Hier, in der Weltstadt, würde man ja zweifellos eine weit grössere Auswahl haben, auch sei anzunehmen, dass die Begriffe der in Frage kommenden Personen nicht ganz so beschränkt seien, wie in der Provinz. Dass man auch in diesen Kreisen weniger abergläubische Furcht vor dem Neuen und dafür mehr praktischen Sinn für den materiellen Vorteil und mehr ideelles Interesse für die Wissenschaft habe.

»Besonders letzteres!« unterstrich Frank Braun.

Und Dr. Petersen pflichtete ihm bei. Es sei ja unglaublich gewesen, auf welch veraltete Anschauungen sie da in Köln gestossen seien! Jedes Meerschwein, jede Äffin sei ja unendlich viel einsichtsvoller und vernünftiger, als diese Weibsstücke. Er habe ordentlich verzweifelt an dem überragenden Intellekt der Menschheit. Aber er hoffe, dass sein erschütterter Glaube hier wieder gefestigt würde.

»Ohne jeden Zweifel!« ermutigte ihn der Referendar. »Das wäre ja auch eine wahre Schande, wenn sich Berliner Dirnen ausstechen lassen würden von Äffinnen und Meerschweinen! – Übrigens, wann wird denn mein Onkel kommen? – Ist er schon aufgestanden?«

»Aber längst!« erklärte der Assistenzarzt eifrig. »Exzellenz sind bereits fort, haben gegen zehn Uhr eine Audienz im Ministerium.«

»Na, und dann?« fragte Frank Braun.

»Ja, ich weiss nicht, wie lange das dauern wird,« meinte Dr. Petersen. »Auf jeden Fall haben mich Exzellenz gebeten, ihn gegen zwei Uhr in der Kongresssitzung zu erwarten. Gegen fünf haben Exzellenz dann wieder eine wichtige Zusammenkunft hier im Hotel mit einigen Berliner Kollegen und um sieben sind Exzellenz zum Essen beim Rektor geladen. Vielleicht, Herr Doktor, könnten Sie zwischendurch –«

Frank Braun überlegte. Im Grunde war es ihm ganz lieb, dass sein Onkel den ganzen Tag beschäftigt war, da brauchte er sich nicht um ihn zu bekümmern. »Wollen Sie meinem Onkel ausrichten,« sagte er, »dass wir uns um elf Uhr heute nacht hier unten im Hotel treffen wollen.«

»Um elf Uhr?« Der Assistenzarzt machte ein etwas bedenkliches Gesicht. »Ist das nicht etwas reichlich spät? Seine Exzellenz pflegen um diese Zeit schon zu Bett zu sein. Und gar nach einem so anstrengenden Tag.«

»Seine Exzellenz werden sich eben heute noch ein bisschen länger anstrengen müssen. Richten Sie das aus, Doktor,« entschied Frank Braun. »Die Stunde ist durchaus nicht zu spät für unsere Zwecke, eher zu früh – bestimmen wir also lieber zwölf Uhr. Wenn der arme Onkel so sehr abgespannt ist, kann er sich ja vorher ein bisschen ausruhen. – Und nun addio, Doktor – auf heute nacht.« Er stand auf, nickte kurz und ging weg.

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