Kompetenzorientiert beurteilen (E-Book)

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2.4.1 Lernverständnis

Mit den Kernmerkmalen eines kognitiv- und sozial-konstruktivistischen Lernverständnisses lässt sich Lernen als aktiv konstruierender, auf Vorwissen aufbauender, selbstregulierter und sozialer Prozess beschreiben (Reusser 2016). Für die Planung und Durchführung von Unterricht bedeutet dies, den Schülerinnen und Schülern mit geeigneten Aufgabensets Lernprozesse zu ermöglichen, damit sie neues Wissen aufbauen und dieses flexibel anwenden können. Der Lehrperson kommt beim Bereitstellen der Aufgabensets und bei der Unterstützung der Lernprozesse eine bedeutende Rolle zu.

2.4.2 Lernwirksamer Unterricht und Unterrichtsqualität

Um die Qualität von Unterricht im Hinblick auf die damit ausgelösten Lernprozesse einschätzen zu können, wird zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur des Unterrichts unterschieden. Merkmale der Oberflächenstruktur betreffen direkt beobachtbare Dimensionen wie Methoden, Sozialformen, Materialien und Medien, während die Tiefenstruktur die nicht direkt beobachtbare Qualität des Handelns der Lehrperson und die Qualität der damit ermöglichten Lernprozesse beschreibt. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil die Lehr- und Lernforschung zeigt (zusammenfassend Lipowsky u. Bleck 2019), dass sich lernwirksamer Unterricht nicht über die Oberflächenmerkmale (also die sichtbaren Methoden, Sozialformen, Materialien oder Medien) erklären lässt. Vielmehr kommt es auf die Qualität der Lehr- und Lernprozesse an, die sich nur indirekt über Aussagen, Handlungen und Ergebnisse aus dem Unterricht erschließen lässt.

Abbildung 7

Oberflächen- und Tiefenstruktur des Unterrichts


Die von verschiedenen Autoren beschriebenen Merkmale von Unterrichtsqualität (z. B. Meyer 2011; Helmke 2009) lassen sich vor diesem Hintergrund zu drei in der Tiefenstruktur des Unterrichts angesiedelten, empirisch abgestützten Basisdimensionen lernförderlichen Unterrichts verdichten (Lipowsky u. Bleck 2019):

1. Kognitive Aktivierung

2. Konstruktive Unterstützung

3. Effektive Klassenführung

Kognitive Aktivierung gelingt Lehrpersonen, wenn sie die Lernenden zum vertieften Nachdenken und zur aktiven Auseinandersetzung mit den Unterrichtsgegenständen anregen. Dazu stellen Lehrpersonen kognitiv anspruchsvolle Fragen, geben aktivierende Impulse und wählen geeignete Lernaufgaben aus, um die Schülerinnen und Schüler entsprechend anzuregen.

Konstruktive Unterstützung der Schülerinnen und Schüler in kognitiver und emotionaler Hinsicht verlangt von der Lehrperson eine hohe Sensibilität für Verständnisprobleme der Lernenden und die Fähigkeit, diese Probleme diagnostisch zu erkennen, um Hilfestellungen ableiten zu können (siehe diagnostische Kompetenz, Abschnitt 2.6). Über eine gelingende kognitive und emotionale Unterstützung der Schülerinnen und Schüler bauen Lehrpersonen lernförderliche Beziehungen und damit ein entsprechendes Unterrichtsklima auf. Ein lernförderliches Unterrichtsklima zeichnet sich unter anderem durch gemeinsames Lernen und die individuelle Förderung im Klassenunterricht aus.

Ziel effektiver Klassenführung ist es, die Aufmerksamkeit der Lernenden zu halten und dadurch einen hohen Anteil an echter Lernzeit zu ermöglichen. Dafür sind eine klare Strukturierung des Unterrichts sowie erfolgreiches classroom management und der Einsatz proaktiver Strategien im Umgang mit Störungen notwendig.

2.5 Funktionen der Beurteilung

Diagnosen und Beurteilungen sind Kernelemente des Unterrichts – auf ihrer Grundlage können angemessene Lernangebote geschaffen werden. Je nach Funktion (ob also die Diagnose den Lernprozess begleitet, abschließt oder auf Zukünftiges schließt) wird eine andere Beurteilungsform eingesetzt. Unterschieden werden die formative, summative und die prognostische Beurteilung.

2.5.1 Formative Beurteilung

Bei der formativen Beurteilung dient eine Überprüfung dazu, das weitere Lernen zu unterstützen und zu steuern. Im angloamerikanischen Kontext spricht man von assessment for learning (Wiliam 2011). Im deutschsprachigen Raum sind entsprechende Ansätze unter den Begriffen «erweiterte Beurteilung», «alternative Beurteilung» oder «fördernde Beurteilung» bekannt. In diesen Konzeptionen werden nicht nur die Diagnosehandlungen der Lehrpersonen beschrieben. Es wird auch dargestellt, wie die Schülerinnen und Schüler dazu angeleitet werden können, ihr Lernen und ihre Kompetenzen selbst zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wiliam und Thompson (2008) beschreiben fünf Strategien als Handlungen der Lehrperson, welche die formative Beurteilung kennzeichnen:

1. Lernziele und Erfolgskriterien klären

2. Mithilfe von Aufgaben, Fragen und Diskussionen Informationen zum Lernstand erheben

3. Die Schülerinnen und Schüler als Zuständige ihres eigenen Lernens aktivieren

4. Die Schülerinnen und Schüler als lehrreiche Ressourcen füreinander aktivieren

5. Lernförderliches Feedback erteilen

Das ganze Potenzial formativer Beurteilung entfaltet sich, wenn der enge Zusammenhang zwischen Lernen und Beurteilen (Black u. Wiliam 2018, 2) beziehungsweise zwischen einem kognitiv- und sozial-konstruktivistischen Lernverständnis (Reusser 2016) und einer entsprechenden Beurteilungskonzeption verstanden wird. Mithilfe der fünf Strategien lässt sich die formative Beurteilung in den Lehr- und Lernprozess integrieren.

Abbildung 8

Exemplarische Zusammenhänge zwischen den fünf Strategien formativer Beurteilung (nach Wiliam u. Thompson 2008) und einem kognitiv- /sozial-konstruktivistischen Lernverständnis (nach Reusser 2016)


Abbildung 8 zeigt beispielhaft Zusammenhänge: Damit die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen selbst regulieren können (c), müssen sie Ziele und Erfolgskriterien kennen und verstehen (1). Zudem sollen sie altersentsprechend angeleitet werden, ihr Lernen und ihr Wissen und Können zu beobachten, um beispielsweise geschickte Strategien oder Fehlvorstellungen zu erkennen (Selbstbeurteilung) (4). Als hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang, wenn die Schülerinnen und Schüler miteinander Lernergebnisse analysieren und einander Tipps und Tricks für die Weiterarbeit geben können (Peerbeurteilung) (3). Der angeleitete Austausch über einen Unterrichtsgegenstand ist ein sozialer Prozess, der das Lernen von und mit den anderen ermöglicht (d): Ko-Konstruktion erleichtert die eigene aktive Auseinandersetzung (a) und kann damit zu einem vertieften Verstehen beitragen. Da der Aufbau von neuem Wissen abhängig ist vom Vorwissen (b), ist es sinnvoll, wenn Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern zu Beginn einer Unterrichtseinheit mit einer Aufgabe oder Frage (1) das Vorwissen sicht- und damit bearbeitbar machen (b). Lernförderliche Feedbacks und Feedbackgespräche (5) mit der Lehrperson sowie gut angeleitetes Peerfeedback (3) ermöglichen den Lernenden, ihr Lernen zu regulieren und zu steuern (c). Erweisen sich die gewählten Maßnahmen als erfolgreich und sehen die Schülerinnen und Schüler die eigenen Fortschritte, nehmen sie sich als selbstwirksam wahr und erfahren, dass sie für ihr eigenes Lernen zuständig sein können (4).

Grundsätzlich geht es bei der formativen Beurteilung um drei Schritte (Wiliam u. Thompson 2008, 63):

1. Feststellen, wohin die Lernenden gehen wollen beziehungsweise was die Ziele sind

2. Feststellen, wo die Lernenden in ihrem Lernen stehen

3. Feststellen, was es braucht, damit die Lernenden die Ziele erreichen

In Abbildung 9 sind die fünf Strategien der formativen Beurteilung in Bezug auf die drei Schritte im Lehr- und Lernprozess und die beteiligten Akteure dargestellt: Erstens verständigen sich Lehrperson und Lernende sowie die Lernenden untereinander über die aufzubauenden Kompetenzen und Lernziele. Dabei klären sie miteinander, welche Kriterien erfolgreiche Ergebnisse auszeichnen. Weiter geht es darum zu erkennen, wo die Lernenden aktuell stehen. Die Lehrperson ermöglicht dies mit entsprechenden Aufgaben, Fragen und Diskussionen. Aufgrund dieser Erkenntnisse kann die Lehrperson Feedback geben, häufig direkt im Gespräch mit einzelnen Lernenden. Nicht nur die Lehrperson erkennt, wo die Lernenden stehen, auch die Schülerinnen und Schüler selbst sollen erkennen, was sie verstanden oder noch nicht verstanden haben, um ihr weiteres Lernen zu steuern. Im dritten Schritt werden aus den Erkenntnissen Maßnahmen für die Weiterarbeit abgeleitet. Diese Maßnahmen können sich auf einzelne Kinder beziehen oder eine Anpassung des Lernangebots zur Folge haben (Wiliam u. Thompson 2008, 63–64). Die analytisch getrennten Schritte «Feststellen des Lernstandes» und «Maßnahmen im Hinblick auf die Zielerreichung ableiten», gehen im Rahmen von individueller Unterstützung oder von Feedbackgesprächen häufig fließend ineinander über.

Abbildung 9

Fünf Strategien sowie drei Schritte der formativen Beurteilung (nach Wiliam u. Thompson 2008, 63)


Wohin gehen die Lernenden?Wo stehen die Lernenden aktuell?Wie kommen sie dorthin?
Lehrperson1. Lernziele und Erfolgskriterien klären2. Mithilfe von Aufgaben, Fragen und Diskussionen Informationen zum Lernstand erheben5. Lernförderliches Feedback erteilen
PeersLernziele und Erfolgskriterien verstehen und (mit-)teilen4. Die Schülerinnen und Schüler als lehrreiche Ressourcen füreinander aktivieren
LernendeLernziele und Erfolgskriterien verstehen3. Die Schülerinnen und Schüler als Zuständige ihres eigenen Lernens aktivieren

Die fünf Strategien der formativen Beurteilung lassen sich als Gesamtkonzept einer förderlichen Lern- und Beurteilungskultur miteinander verbinden und können flexibel eingesetzt werden. In einem solchen Unterricht lernen die Schülerinnen und Schüler von- und miteinander und erleben, wie aus Fehlern gelernt werden kann. Sie kennen ihre Interessen, können Ziele setzen und diese verfolgen. Die Lernenden wissen um ihre Stärken und kennen Strategien, um Schwierigkeiten anzugehen. Außerdem erleben die Schülerinnen und Schüler Lehrpersonen, die versuchen, sie zu verstehen und auf ihren Lernwegen zu unterstützen. Die Lehrpersonen gewinnen viele Informationen über das Wissen und Können ihrer Schülerinnen und Schüler und verstehen sie vor diesem Hintergrund in ihren ganz unterschiedlichen Lern- und Lebenssituationen.

 

Zahlreiche Forschungsergebnisse (z. B. Schütze, Souvignier u. Hasselhorn 2018) weisen darauf hin, dass formatives Beurteilen die Leistungen von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen kann. Die Wirksamkeit der formativen Beurteilung ist jedoch von der Art und Weise ihrer Umsetzung abhängig. Um eine lernwirksame Umsetzung zu erleichtern, werden diese fünf Strategien in den weiteren Ausführungen zum kompetenzfördernden Unterrichten und Beurteilen näher erläutert und mit Umsetzungsbeispielen illustriert:

1. Lernziele und Erfolgskriterien klären (siehe Abschnitt 4.5)

2. Mithilfe von Aufgaben, Fragen und Diskussionen Informationen zum Lernstand erheben (siehe Abschnitt 6.3.5)

3. Die Schülerinnen und Schüler als Zuständige ihres eigenen Lernens aktivieren (siehe Abschnitt 5.1)

4. Die Schülerinnen und Schüler als lehrreiche Ressourcen füreinander aktivieren (siehe Abschnitt 5.2)

5. Lernförderliches Feedback erteilen (siehe Abschnitt 8.1)

Die fünf Strategien ermöglichen die Umsetzung eines umfassenden Verständnisses formativer Beurteilung, durch das Lernprozesse wirkungsvoll unterstützt werden können. Im Folgenden wird von diesem erweiterten Verständnis formativer Beurteilung ausgegangen. Dieser Hinweis ist wichtig, weil der Begriff «formative Beurteilung» in der Unterrichtspraxis oft verkürzt für unbenotete Lernkontrollen verwendet wird. Auch die deutschsprachige Fachliteratur reduzierte formative Beurteilung bisher häufig auf eine in den laufenden Lernprozess integrierte Form der Leistungsfeststellung und Diagnose (vgl. Bastian 2007, 109). Im Lehrplan 21 wird formative Beurteilung wie folgt beschrieben: Formative Beurteilung berücksichtigt fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenzen. Sie stützt sich auf unterschiedliche Informationsquellen, beispielsweise Prüfungsaufgaben und Lernkontrollen, Portfolios, beobachtbare Handlungen und Verhaltensweisen. Formative Beurteilung wird mit der Selbstbeurteilung der Lernenden in Beziehung gesetzt. Sie orientiert sich am Entwicklungs- und Lernstand der Lernenden und setzt diesen in Bezug zu den Kompetenzstufen des Lehrplans (individuelle und lehrplanorientierte Bezugsnorm). Eine so verstandene formative Beurteilung, welche die Qualität von Prozessen und Lernstrategien mitberücksichtigt, trägt zur Entwicklung einer realistischen, auf die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten ausgerichteten Selbsteinschätzung bei (D-EDK 2016, 30).

2.5.2 Summative Beurteilung

Bei der summativen Funktion der Beurteilung geht es darum, eine (vorläufige) Bilanz zu den angestrebten Kompetenzen zu ziehen. Die Überprüfung kann in Form einer Lernkontrolle (einer schriftlichen oder mündlichen Befragung), mit der abschließenden Beobachtung und Beurteilung eines entstandenen Produkts oder einer Handlung erfolgen. Die Beurteilung der Kompetenzen wird entlang transparenter Kriterien vorgenommen. Auf dieser Grundlage kann die Leistung auch in Form einer Note (Ziffer oder Prädikat) bewertet werden. Solche summativen Beurteilungen können Ausgangspunkt für die weitere Unterrichts- und Lernplanung sein. Sie können zudem als Grundlage genutzt werden, um eine summative Beurteilung und Bewertung über die Kompetenzentwicklung im Verlauf eines Semesters oder Jahres vorzunehmen und im Zeugnis auszuweisen (siehe dazu Abschnitte 7.4 und 8.5).

Häufig werden formative und summative Beurteilung als unvereinbare Gegensätze verstanden, besonders wenn die summative Funktion der Beurteilung eng mit Laufbahnfragen und Selektionsentscheidungen gekoppelt wird. Aus dieser Optik wird zur strikten Trennung dieser beiden Funktionen geraten, weil beispielsweise Fehler zum Lernprozess gehören (Jürgens u. Sacher 2008, 50) und in der formativen Funktion bearbeitet werden, sich bei einer summativen Beurteilung jedoch negativ auf die Bilanz auswirken können. Andere Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass es verschiedene Abstufungen und Zwischenformen von formativen und summativen Beurteilungen gibt. Eine Möglichkeit bestehe beispielsweise darin, aus den zahlreichen lernbegleitenden, formativen Beurteilungen am Ende eine abschließende, summative Beurteilung abzuleiten (Easley u. Mitchell 2004, 148). Die beiden Positionen machen deutlich, dass Lehrpersonen sich möglicher Probleme im Umgang mit formativer und summativer Beurteilung bewusst sein sollten. Lernpsychologisch gesehen, ist es ein großer Unterschied, ob in der formativen Funktion einer Beobachtung und Beurteilung Fehler gesucht werden, um diese zu analysieren und daraus zu lernen, oder ob die Lernenden in einer summativen Überprüfung zeigen sollen, dass sie über die geforderten Kompetenzen verfügen (und möglichst keine Fehler machen). Luthiger (2014) stellt in seiner Studie zur Wahrnehmung von Lern- und Leistungssituationen fest, dass diese von (Sekundar-)Schülerinnen und Schülern getrennt wahrgenommen werden. Die Lernenden stehen permanent vor der Aufgabe, Unterrichtssituationen deuten zu müssen. Lehrpersonen sollten daher das Konzept der Situationslogik kennen, um zu verstehen, dass bestimmtes Verhalten aus der «inneren Logik der Situation entsteht» (Luthiger 2014, 331–332). Auch wenn «eine dichotome Unterscheidung von Unterrichtssituationen in Lern- und Leistungssituationen» (a. a. O., 332) und damit auch die strikte Trennung von formativer und summativer Beurteilung zu kurz greift, sollten Lehrpersonen «Sensibilität für den potenziellen Charakter einer Unterrichtssituation als Lern- oder Leistungssituation» (a. a. O., 333) entwickeln. Zudem müssten die summative und prognostische Funktion von Beurteilungen unterschieden werden. Sich zu vergewissern und zu beurteilen, welche Kompetenzen im Rahmen einer Unterrichtseinheit oder über ein Semester aufgebaut worden sind, gehört zu einem Lernprozess. Werden jedoch einzelne summative Überprüfungen direkt zur prognostischen Beurteilung herangezogen, erhalten diese eine zu große selektive Bedeutung (siehe dazu auch Kapitel 8 und Abschnitt 9.2).

2.5.3 Prognostische Beurteilung

Soll für Schülerinnen und Schüler eine geeignete Laufbahn empfohlen werden, kommt die prognostische Funktion der Beurteilung in den Blick. Es wird die Wahrscheinlichkeit eines Lernerfolgs in einer künftigen Schule, einer künftigen Schulart, einer nächstfolgenden Klasse oder einem Anforderungsniveau prognostiziert (Vögeli-Mantovani 1999, 56–57). Ziel ist es, eine möglichst optimale Passung zwischen dem Kompetenzprofil von Lernenden und dem Anforderungsprofil der zukünftigen Schule zu finden.

In der prognostischen Funktion der Beurteilung wird die Allokationsfunktion in der Schule umgesetzt (siehe Abschnitt 2.1.2). Da jedoch in höheren Bildungsgängen nur eine beschränkte Anzahl Plätze zur Verfügung steht, können nicht alle aufgenommen werden, denen das Potenzial zugeschrieben wird. Die Auslese für die beschränkten Plätze[7] erfolgt aufgrund der bisher erbrachten Leistungen und anhand geregelter Aufnahmeverfahren. Dies gilt nicht nur für die Aufnahme ans Gymnasium, sondern auch für Verfahren bei Niveauzuweisungen innerhalb der Sekundarstufe.

Mit der Ausgestaltung des Bildungswesens wird definiert, wann und wie innerhalb des Bildungssystems Zuweisungen vorgenommen werden. Je restriktiver dabei die Plätze in einem begehrten Schultyp vergeben werden, desto eher führt dies zu einem Konkurrenzdenken unter den Lernenden.

Insbesondere zwischen der prognostischen Funktion der Beurteilung (Allokation/Selektion) und der formativen Funktion der Beurteilung (Förderung) erleben Lehrpersonen Konflikte. Während bei der Selektion die gesellschaftlichen Anforderungen im Zentrum stehen, fokussiert die Förderung auf das Individuum und dessen Entwicklung (vgl. Jürgens u. Lissmann 2015, 70–71). Mit Blick auf die Gesellschaft muss die Lehrperson eine leistungsgerechte Selektion vornehmen, mit Blick auf das Individuum möglichst geeignete Fördermaßnahmen identifizieren und umsetzen. Diese beiden Anforderungen nehmen Lehrpersonen teilweise als widersprüchliche Handlungslogiken wahr (Streckeisen, Hänzi u. Hungerbühler 2007), zum Beispiel wenn eine Schülerin nicht wunschgemäß selektioniert wird, ihre Motivation für weitere Förderbemühungen jedoch aufrechterhalten werden soll (siehe dazu Abschnitt 9.2).

2.6 Diagnostische Kompetenz

Als diagnostische Kompetenz gilt die Fähigkeit von Lehrpersonen, lern- und leistungsrelevante Merkmale von Schülerinnen und Schülern zutreffend zu beurteilen, sowie die Fähigkeit, die Anforderungen von Aufgaben richtig einzuschätzen. Diagnostische Kompetenz ist daher für die Planung und Gestaltung kompetenzorientierten Unterrichts und für die Lernbegleitung der Schülerinnen und Schüler von zentraler Bedeutung. Eingeführt wurde der Begriff «pädagogische Diagnostik» von Ingenkamp und ist in Deutschland verbreitet (Ingenkamp u. Lissmann 2008). In der deutschsprachigen Schweiz wird der Begriff «Diagnose» für schulische Beobachtungs- und Beurteilungsprozesse wenig gebraucht; im Grundlagenpapier zum Lehrplan 21 beispielsweise taucht er gar nicht auf. Hingegen werden die Begriffe Diagnostik oder Förderdiagnostik im heil- und sonderpädagogischen Kontext verwendet. In den Beschreibungen der aufzubauenden Professionskompetenzen an Pädagogischen Hochschulen tauchen beide Begriffe «Beurteilung» und «Diagnose» auf.[8] Während früher die Frage nach der Beurteilung und Bewertung von Lernergebnissen im Vordergrund stand, richtet sich der Blick nun stärker auf die Nutzung der Diagnostik für die Unterrichtsgestaltung, die Steuerung des Lehr-Lern-Prozesses und die Unterrichtsentwicklung (Schrader 2013). Um Diagnosen und Beurteilungen für diese Funktionen nutzen zu können, werden Unterschiede zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand sowie Erfolgsfaktoren und Entwicklungspotenziale identifiziert. Es wird nach möglichen Ursache-Wirkungs-Beziehungen gesucht, die bei einer Veränderung zu einer grundsätzlichen Verbesserung des Lernens beziehungsweise der Entwicklung führen könnten. Dafür werden alle zur Verfügung stehenden Informationen auf ihre Relevanz für die Fragestellung geprüft. Bei Bedarf werden weitere sachdienliche Informationen gewonnen (Jürgens u. Lissmann 2015, 27), um informierte (evidenzbasierte) Entscheide zu treffen und Beurteilungen vorzunehmen. Aufgrund dieser Entscheide werden weiterführende Maßnahmen abgeleitet. Im Unterricht spricht man von «Mikroadaptation», wenn es sich um kurzfristige Abstimmungen und Unterstützungsmaßnahmen direkt im Unterricht handelt, und von «Makroadaptation», wenn es um längerfristige Anpassungen des Lernangebots geht (Schrader 2013). Die Diagnose- und Beurteilungskompetenz einer Lehrperson zeigt sich einerseits in der Qualität, wie sie relevante Daten erhebt, und andererseits, wie angemessen sie diese gewonnenen Informationen einschätzt und beurteilt (Herppich et al. 2017, 92). Diagnostisch kompetente Lehrpersonen verfügen daher über methodisches und prozedurales Wissen zum Erheben von Daten, haben konzeptionelles Wissen über Beobachtungs- und Beurteilungsfehler und sind in der Lage, genaue Urteile zu fällen (Helmke 2003). Obwohl die große Bedeutung diagnostischer Kompetenz für lernwirksamen Unterricht unbestritten ist, wurde diese empirisch noch relativ wenig untersucht (Praetorius u. Südkamp 2017, 16). Dies liegt unter anderem daran, dass Diagnosen und Beurteilungen auf komplexen Prozessen beruhen und anspruchsvoll zu erforschen sind. Am besten untersucht ist die Diagnosegenauigkeit von Lehrpersonen im Vergleich zu standardisierten Tests. Mit der Rangordnungskomponente wird untersucht, wie gut (akkurat) es den Lehrpersonen gelingt, die Rangreihe der Schülerleistungen richtig zu bestimmen. Mit der Differenzierungskomponente wird bestimmt, ob die Lehrpersonen die Unterschiedlichkeit der Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler in ihrer gesamten Bandbreite wahrnehmen. Mit der Niveaukomponente wird überprüft, ob es Lehrpersonen gelingt, das Leistungsniveau ihrer Klasse richtig einzuschätzen (Karing u. Artelt 2013). Die Befunde von Studien zur Akkuratheit von Urteilen von Lehrpersonen weisen darauf hin, dass es ihnen relativ gut gelingt, Einschätzungen zur Rangreihenfolge vorzunehmen. Es zeigt sich jedoch eine immense Spannbreite von sehr guten Diagnosen bis zu Lehrpersonen, «deren Urteile so gut wie keine Übereinstimmungen mit den tatsächlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler aufweisen» (a. a. O., 168). Weiter zeigen Studien, dass die empirisch feststellbare diagnostische Kompetenz von der geforderten Einschätzungsgenauigkeit abhängig ist. So können beispielsweise Sekundarlehrpersonen ein akkurates Urteil abgeben, wenn sie global einzuschätzen haben, wer ein guter oder schwacher Leser ist. Müssen sie jedoch einschätzen, wie gut ihre Schülerinnen und Schüler bei einem vorliegenden Lesetext mit dazugehörenden Multiple-Choice-Fragen abschneiden, gelingt die akkurate Beurteilung weniger gut. Die auf eine konkrete Aufgabenstellung bezogene Einschätzung der Kompetenzen ist anspruchsvoller, da neben dem Wissen um die Fähigkeiten der einzelnen Lernenden auch fachdidaktisches Wissen notwendig ist, um die Schwierigkeit der Aufgabenstellung einzuschätzen (Karing u. Artelt 2013).

 

Weiter weisen Studien nach, dass sich eine akkurate Diagnose nicht automatisch positiv auf die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler auswirkt. So zeigt eine Lesestudie, dass sich die Lesekompetenz der Lernenden bei einer guten aufgabenspezifischen Diagnostik der Lehrperson nur dann verbesserte, wenn sie gleichzeitig differenzierende Maßnahmen einsetzte (a. a. O.).

Die Lernwirksamkeit diagnostischer Kompetenz ist damit verknüpft mit der Qualität der abgeleiteten Maßnahmen, die wiederum von der pädagogisch-didaktischen Kompetenz einer Lehrperson abhängen. Zwar laufen im Unterricht die Prozesse des Diagnostizierens, Beurteilens und Ableitens von Maßnahmen häufig schnell nacheinander ab. Dennoch lohnt es sich, diese Prozesse analytisch zu trennen. Es kann nämlich sein, dass eine Lehrperson den Lernstand einer Schülerin zwar richtig beurteilt, aber ungeeignete Maßnahmen ableitet (Praetorius et al. 2017, 98).

Das ideale Zusammenspiel und die enge Verknüpfung diagnostischer und pädagogisch-didaktischer Kompetenz wird als «adaptive Lehrkompetenz» bezeichnet. Es geht darum, eine «möglichst optimale Passung zwischen den zur Verfügung gestellten Lernangeboten und den Nutzungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler herzustellen» (Brühwiler 2017, 123–124). Damit die Lernangebote den Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler entsprechen, ist diagnostische Kompetenz also schon beim Bereitstellen von Lernangeboten von «zentraler Bedeutung» (Kaiser u. Möller 2017, 55). Es braucht zudem fachdidaktisches Wissen und Können, um beispielsweise die Schwierigkeit von Aufgaben richtig einschätzen zu können (Schrader 2013).

Diagnostik bezieht sich jedoch nicht nur auf den Lernstand, sondern auf die ganze Situation der Schülerinnen und Schüler (Bohl 2009, 48–49). Bei einer Diagnose geht es also nicht nur darum, die erfassten Daten in einem Kompetenzbereich zu berücksichtigen, sondern zum Beispiel auch darum, die individuelle Entwicklung, die Lern- und Arbeitsweisen, besonderen Interessen, möglichen Konzentrationsschwächen oder Schulangst zu erkennen, sowie darum, gesundheitliche oder körperliche Voraussetzungen einzuschätzen oder über die familiäre Situation und die soziale Einbettung in der Klasse Bescheid zu wissen.

Zur Kompetenz von Lehrpersonen gehört auch, dass sie zwischen verschiedenen diagnostischen Ebenen unterscheiden können. Karst (2017) unterscheidet drei idealtypische Unterrichtssituationen beziehungsweise Ebenen, in denen Lehrpersonen diagnostische Anforderungen zu bewältigen und entsprechende Diagnosen zu stellen haben (klassenbezogene, schülerglobale und schülerspezifische Ebene). Bei Langfeldt (2006, 199), der eine etwas andere Systematik entwirft, scheint darüber hinaus eine weitere Ebene auf: Die institutionelle Ebene. Er meint damit, dass Lehrpersonen abschließende Bewertungen von Kompetenzen vornehmen müssen. Diese Bewertungen bilden die Grundlage für amtliche Zeugnisse, Selektionsentscheide oder die Vergabe von Berechtigungen (Schrader 2013, 144), die auf einer institutionellen Ebene angesiedelt sind. Werden die Ebenen von Karst (2017) und Langfeldt (2006) miteinander kombiniert, so resultieren vier Ebenen, auf denen sich die diagnostische Kompetenz von Lehrpersonen zeigt:

1. klassenbezogene Ebene

2. schülerglobale Ebene

3. schülerspezifische Ebene

4. institutionelle Ebene

Die klassenbezogene Ebene (1) bezieht sich auf Entscheidungen zu Beginn beziehungsweise bei der Planung einer Unterrichtseinheit und zielt auf das Bereitstellen eines adäquaten Lernangebots für die ganze Klasse.

Die schülerglobale Ebene (2) bezieht sich ebenfalls auf die Makroebene des Unterrichts und kann häufig planerisch vorweggenommen werden. Sie beinhaltet zum Beispiel binnendifferenzierende Angebote, die das individuelle Flexibilisieren und Konsolidieren im Kompetenzbereich ermöglichen. Im Laufe einer Unterrichtseinheit zeigt sich beispielsweise, dass einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern spezifische Vorkenntnisse fehlen, andere verfügen schon über eine große Sicherheit und können anspruchsvollere Anwendungs- oder Transferaufgaben bewältigen. Die in einer solchen Situation notwendigen differenzierenden Angebote kann die Lehrperson unterrichtsvorbereitend aufgrund spontaner Beobachtungen oder einer gezielt eingesetzten Lernstandsanalyse bereitstellen beziehungsweise aus Lehrmitteln auswählen. Erfahrene Lehrpersonen können oft schon bei der Unterrichtsplanung binnendifferenzierende Angebote entwickeln.

Die schülerspezifische Ebene (3) bezieht sich auf das Erheben und die Diagnose der spezifischen Kompetenzen einzelner Schülerinnen und Schüler. Die Lernenden bauen ihr Wissen und Können in der Auseinandersetzung mit den bearbeiteten Aufgaben auf. Lehrpersonen können mit der Beobachtung der damit einhergehenden Lernprozesse oder über Ergebnisse und Produkte den individuellen Kompetenzstand ihrer Schülerinnen und Schüler ermitteln und beurteilen. Dabei handelt es sich wohl um die bekannteste diagnostische Situation; sie wird auch unter den Begriffen Beurteilung, Schülerbeurteilung oder Leistungsbeurteilung diskutiert (Karst 2017).

Auf der institutionellen Ebene (4) haben Lehrpersonen in der Qualifikationsfunktion bilanzierende Beurteilungen in Zeugnissen abzubilden, und in der Allokationsfunktion sind sie verpflichtet, adäquate Laufbahnempfehlungen zu machen. Daher analysieren sie die bisher erhobenen Informationen bilanzierend und ergänzen diese bei Bedarf durch zusätzlich zu erhebende Informationen. Alle Informationen verdichten sie schließlich in den Zeugnissen in Form von Noten als Kurzcodes oder nutzen diese, um Laufbahnempfehlungen abzugeben beziehungsweise Selektionsentscheide zu treffen.