Rüpel und Rebell

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Zeitgenossen

Diderots Biographen glauben, dass Diderot in »Rameaus Neffe« ein Selbstporträt versteckt habe. Dabei nehmen sie an, dass nicht der Neffe, sondern sein Kontrahent, der das Gespräch referiert, der »Philosoph«, die Meinungen Diderots vertrete. Diderots äußere Erscheinung jedoch würde ganz der des Neffen ähneln. Verwandte Züge hat Diderot auch in einem Bericht von Madame Vandeul, seiner Tochter, der er aus der frühen Jugend erzählte, in der er sich zum Bürgerschreck und Frauenliebling stilisiert:

»Und so gefiel ich auch, sogar den Frauen und Mädchen in meiner Provinz. Sie mochten lieber mich, schlampig, ohne Hut, manchmal ohne Schuhe, nur mit einer Jacke und barfuß, mich, den Sohn eines Schmieds, als diesen kleinen, gutgekleideten, immer schön gepuderten, frisierten und wie aus dem Ei gepellten Monsieur, den Sohn der Frau Amtmännin. (…) An meinen Knopf löchern sahen sie, wie weit ich mit meinen Studien gediehen war, und ein Junge, der sein Gemüt in einem offenen, geradlinigen Wort offenbarte und besser einen Faustschlag versetzen als eine Reverenz machen konnte, gefiel ihnen besser als ein dummer, feiger, falscher und verweichlichter kleiner Kriecher.«

Nachlässiges Äußeres, herausforderndes Benehmen, Studium des Menschen und Wahrheitsliebe machen den Stolz auch des nun gereiften Verfassers von »Rameaus Neffe« aus. Bei Urteilen über Porträts, die von ihm gemalt wurden, nimmt Diderot stets den Neffen zum Maßstab für das charakterliche Profil, das er abgeben möchte. Im »Salon 1767« empört er sich über Michel van Loos Porträt, weil der dargestellte »Luxus der Kleidung … den armen Literaten ruinieren wird.« Er nehme auf dem Gemälde »die Haltung eines Staatssekretärs, nicht aber eines Philosophen« ein. Diderot zählt sich also zeitlebens selbst zu den ungezogenen Denkern, und gerade deshalb muss er diese im Neffen verhöhnen – und sich selbst mit ihnen. Hohn und Spott, die ihn wie jenen auszeichnen, sind die Kardinaltugenden des kritischen Denkers.

Erscheinung und Auftritt des Neffen waren aber ohnehin an vielen philosophes, die in Paris ihr Glück versuchten, zu beobachten. Nur durch eine hervorragende Figur aber blieb die Erscheinung im Gedächtnis: durch Rousseau. Diderot hat sich mit zunehmendem Alter konventioneller benommen, vorsichtiger, besonnener. Rousseau blieb, wo immer er erschien, ein optisches Ärgernis, in Genf, Paris, London, Neuchâtel. Er provozierte Freunde, Gönner, Retter und floh von einem zum andern. Voltaire nannte ihn den am schlechtesten erzogenen Menschen, den er kenne. 1768 nahm er sich das Ärgernis Rousseau im »Lettre à Docteur Jean-Jacques Pansophe« vor. Seit er davon erfahren hatte, dass Rousseau seine Kinder ins Waisenhaus brachte, galt er, der die Liebe ohne Folgen genießen wollte, Voltaire nur noch als »le chien de Diogène«.

Robert Spaemann nennt in seinem Buch über Rousseau den Philosophen eine »exemplarische Existenz«, das »Schöpferischwerden des Ressentiments«. Rousseau ist die ins Leben getretene Negation des Bestehenden, die Infragestellung aller Normen. Die »Bekenntnisse« und der Dialog »Rousseau richtet über Jean-Jacques« sind Verteidigungsschriften, die die Lebensform des Außenseiters aus einer höheren Notwendigkeit heraus rechtfertigen. Die Nähe dieser Schriften zu den Reden des Neffen ist unübersehbar.

Jean-Jacques ist eine ebenso zwiespältige Figur wie Rameaus Neffe, faszinierend und abstoßend, brüskierend und Mitleid heischend. Von der visuellen Erscheinung des wirklichen Rousseau, der die Garderobe stets wechselte, berichtet Melchior Grimm mehrfach in den »Correspondances littéraires«, so etwa 1770, als Rousseau nach Paris zurückkehrte: »mit dem armenischen Gewand hat er seine Bärbeißigkeit abgelegt und ist wieder höflich und überfreundlich geworden.« Aus Furcht, ein anderer könne sein Bild verzeichnen, unternahm es Rousseau, in den »Confessions« ein authentisches Selbstbildnis herzustellen. Darin datiert er die Wende seines Schicksals auf eine Inspiration, die ihm seine Auserwähltheit zeigte: Bei seiner Wanderung von Paris nach Vincennes, wo er den inhaftierten Diderot besuchen wollte, sei ihm die Idee zum »Discours sur les sciences et les arts« gekommen, der seine Lauf bahn als Schriftsteller begründete. Eine Verwandlung geht mit ihm vor sich, und diese beginnt mit einem Kleidertausch: Das bürgerliche Gewand wird durch das des Kynikers ersetzt: »Ich begann die Umwandlung meiner Lebensweise an meiner Tracht, ich tat alles Gold und meine weißen Strümpfe und meinen Degen von mir, trug fortan eine runde Perücke und verkaufte meine Uhr, indem ich mir mit unglaublichem Jubel sagte: dem Himmel sei Dank, fortan brauche ich nicht mehr zu wissen, welche Stunde es ist.«

Diderot und Rousseau, viele Jahre eng befreundet und noch mehr Jahre tief verfeindet, haben also gemeinsam an der Formung des Lebens- und Anschauungsmodells »Intellektueller« gearbeitet. Beide schufen ähnliche Figuren, Diderot durch den Text über einen Dritten, Rousseau durch Texte, die er durch eigene Auftritte bewahrheitete. Rousseau könnte es denn auch gewesen sein, der Diderot Modell stand, als er die auf fällige Figur des Neffen entwarf, vielleicht sogar, um Rousseau einen Spiegel vorzuhalten. Diderot begann mit der Niederschrift 1762, fünf Jahre nach dem endgültigen Bruch mit Rousseau im Jahr 1757. Seine Bemühungen, sich die Freundschaft des Egomanen zu erhalten, sind wohlbekannt, sein Ärger über dessen Taubheit ebenfalls.

Zahlreich sind die Anspielungen auf Rousseau. Diderot führt den Neffen als passionierten Schachspieler ein, eine Leidenschaft, von der auch der Verfasser der »Discours« besessen war. Jean-François beeindruckt durch eine laute Stimme wie Jean-Jacques; die Taktik, sein Selbstporträt durch Neid, Eifersucht, Verfolgungswahn selbst zu schwärzen, um es dann wieder aufzuhellen durch Selbstmitleid – dies Stilmittel verwendet Rousseau, ähnlich wie der Neffe, im Gespräch so gut wie in den »Bekenntnissen«. Vor allem aber gehören sämtliche Themen, in denen sich Rameaus Neffe ergeht, ins Repertoire Rousseaus: die Musik, das Verhältnis von Genie und Moral, von Tugend und Laster, Kultur und Natur. Und nicht zuletzt: Der übelredende Neffe lässt sich über die gesamte intellektuelle Elite Frankreichs aus, angefangen bei seinem Onkel Jean-Philippe Rameau bis zu Voltaire, Buffon, Montesquieu, d’Alembert; nur eine Figur des geistigen Lebens bleibt ungenannt: Rousseau, die Figur, die zur Zeit der Entstehung des Textes die berühmteste war.

Ein Indiz dafür, dass Diderot ein literarisches Porträt seines Freundes gab, vermag ein kurzer Blick auf die sehr ausführlich referierte Musiktheorie zu geben, die in »Rameaus Neffe« entwickelt wird und die vollständig jener von Rousseau entspricht. Erste Erfolge erhoffte sich Rousseau nicht als Schriftsteller, sondern als Komponist: Er setzte sich daher mit Jean-Philippe Rameau, dem führenden Komponisten Frankreichs, in Verbindung, und seine Werbung um den berühmten Musiker war intensiv. Noch bevor er mit den »Discours« Aufsehen erregte, versuchte er zum Beispiel, die Notenschrift zu revolutionieren, indem er sie durch ein Zahlensystem ersetzte. Diese Vorschläge sandte er dem ihm wenig geneigten Rameau.

In den »Bekenntnissen« charakterisiert sich Rousseau in der Rolle des verkommenen Genies. Hohe Herrn, etwa den Marschall des Königs, empfängt er in seinem armseligen Haus in Mont-Louis immerhin mit einiger Beklommenheit: »und zwar nicht, weil ich gezwungen war, ihn zwischen meine schmutzigen Schüsseln und zerbrochenen Töpfe zum Sitzen einzuladen, sondern weil mein verfaulter Fußboden in Stücke zerfiel und ich befürchtete, die Last seines Gefolges möchte ihn vollends zum Einsturz bringen.« Rousseaus Selbstporträt geht noch über Diderots Modell von Rameaus Neffen hinaus. Der bekennende Rousseau genießt alle Varianten von Hochmut und Empfindlichkeit, die ihn, wie jenen Jean-François Rameau, zum Ungeheuer, Elenden, Bösewicht, Spitzbuben, Schurken und verdorbenen Menschen machten. Die mit »meinen neuen Grundsätzen völlig übereinstimmende Rauheit«, so rechtfertigt er selbst seinen provokanten Auftritt in schäbigen Kleidern, »veredelte sich jedoch in meiner Seele und nahm in ihr die Unerschrockenheit der Tugend an.«

Anders allerdings als der Neffe betrachtet Rousseau sein Auftreten als Mission; er bereitete damit noch entschiedener das Selbstbewusstsein vor, das den Intellektuellen auszeichnet. Seine Abneigung gegen den menschlichen Umgang legt er als Berufung aus: »Mein Teil war es, den Menschen mit leidlichem Nachdruck und leidlichem Mut zwar harte, aber nützliche Wahrheiten zu sagen.« Das missionarische Verantwortungsbewusstsein drängt zur Weltverbesserung, denn »die in der Welt in diesen Dingen anerkannten Anstandsregeln scheinen vom Geist der Lüge und des Verrats eingegeben zu sein.« Der gedankenlosen Mitwelt musste als Misanthropie erscheinen, was Rousseau selbst für göttliche Eingebung hielt und als menschheitsgeschichtlichen Auftrag entgegengenommen hatte.

Pariser Verwandtschaft

Rameaus Neffe, dieser Charakter, der die Gesellschaft der Lethargie entreißen will, ist nicht einfach ein Rüpel, sondern ein gebildeter Rüpel, er ist nicht nur eitel, sondern kreativ, nicht nur zynisch, sondern schöpferisch, kurz: Er stellt sich nicht als Sonderling, sondern als Künstler und Philosoph vor. Das »empörte Selbstbewusstsein«, das er repräsentiert, umgreift und begreift alle Bereiche von Kultur, Kunst, Politik und Wissenschaft, soweit sie allgemein und gesellschaftlich von Belang sind. Nicht zu urteilen über ein augenblickliches Verhalten, ist des Neffen Absicht; er zielt auf den Streit, den Diskurs, seine Frechheit regt die Diskussion an, der Spott die Kritik.

 

Paris war bevölkert von solchen Figuren, die durch die Cafés streunten, Anschluss an die aristokratische Gesellschaft suchten, Pamphlete schrieben und sich gegenseitig bekriegten. Charles Palissot spricht in seinen »Petites lettres sur de grands philosophes« von »insectes philosophiques«, von Philosopheninsekten, die Paris heimgesucht hätten. Die Menge derer, die von der Kritik zu leben hofften, nannte man »aventuriers«. Das Abenteuer dieser »hommes de lettres« ist das Schreiben, und zwar nicht von großen Werken, sondern von polemischen Schriften, die widerlegen wollen und widerlegbar sind, angreifen und angegriffen werden können. Die intellektuellen Aventuriers tun, was sie von Diogenes oder Menippos gelernt haben, der, wie Werner von Koppenfels in seinem Buch »Der andere Blick« erkennt, »die philosophische Wahrheitssuche mit einem gleichsam journalistischen Sinn für Aktualität zu vereinen« wusste. Das Feuilleton ist denn auch die Gattung dieser Leute, die Tagesthemen verhandeln; und erst die Zeitung hat diesen Typus, diese Melange aus denkendem Stadtstreicher und zynischem Menschenkenner, hervorgebracht. Diderot selbst prägte den Begriff für das Genre, das er und seinesgleichen von nun an belieferten. Die Feinde der »Encyclopédie«, die in verschiedenen Zeitschriften gegen ihn und seine Freunde polemisierten, bezeichnete er verächtlich als »feuillistes«. Die Presse hat aus dem redenden einen schreibenden Diogenes gemacht.

Die geographische Enge des Raumes, auf dem sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das intellektuelle Leben Frankreichs abspielte – zu allen Zeiten nimmt Frankreichs Geschichte ihren Ausgang von den wenigen Quadratkilometern um die Île de la Cité –, macht es wahrscheinlich, dass Diderots unveröffentlichte Satire »Le neveu de Rameau« in Paris unter Freunden und in Salons kursierte. Rousseau könnte davon gehört haben. Rousseaus »Bekenntnisse« machen aus Diderots Bozzetto des Neffen eine Statue, die von nun an den Typus »moderner Intellektueller« repräsentiert. An jenem Rousseau, den die Nachwelt kennt, haben Rousseau und Diderot gearbeitet.

Nachleben

Hat sich diese Figur seit dem Entwurf von Diderot und Rousseau weiterentwickelt? Wie alt ist sie geworden, wie lang hat sie gelebt, lebt sie noch?

»Die Blechtrommel«, Günter Grass’ Roman von 1951, versammelt im Düsseldorfer »Zwiebelkeller« all jene Eitlen, die es in der prosperierenden Bundesrepublik der Nachkriegsjahre für eine Ehre hielten, als Intellektuelle zu gelten: »Die Gäste: Geschäftsleute, Ärzte, Anwälte, Künstler, auch Bühnenkünstler, Journalisten, Leute vom Film, bekannte Sportler, auch höhere Beamte der Landesregierung und Stadtverwaltung, kurz, alle, die sich heutzutage Intellektuelle nennen, saßen (…) auf rupfenbespannten Kissen und unterhielten sich, solange Schmuh [der Gastwirt, »ein guter Schütze, womöglich auch ein guter Mensch«] noch nicht den Shawl mit den goldgelben Zwiebeln trug, gedämpft, eher mühsam, beinahe bedrückt.« Die Besucher des Zwiebelkellers hätte man im 19. Jahrhundert nicht mit dem Titel »Intellektueller« ausgezeichnet. Eher entsprachen sie Leuten, gegen die sich der intellektuelle Affront richtete. Wie schon in der französischen Aristokratie, so war auch im Bürgertum der Nachkriegszeit der mürrische Protest gegen den bürgerlichen Alltag Mode geworden; selbst wer für den reibungslosen Fortgang dieses Alltags zu bürgen hatte, wollte zumindest am Feierabend ein wenig als Rebell anerkannt sein.

Die fortschrittlichen Ideen des 18. Jahrhunderts sind Grundlagen unseres Denkens geworden: Gleichheit, Toleranz, Meinungsfreiheit. Diese »Haltung« übten und üben die Bürger in ihrer »Genieepoche«, der Jugend, ein. Jahrzehnte nach der Studentenbewegung, diesen letzten öffentlichen Flegeljahren, wurde die Imitatio des Intellektuellen zu einem Massenphänomen. Die Mission des politischen Intellektuellen war teilweise erfüllt, teilweise gescheitert, die Kleidung aber als modisches Kürzel des aufständischen Geistes wurde zum kollektiven Stil. Den Clochard bewunderte der Reisende der sechziger Jahre auf den Pariser Straßen als poetisches Relikt der antibürgerlichen Provokation. Die Ideen des Rebellen zwar waren vergessen oder alltäglich geworden, sein Kleid jedoch trug der Clochard und ließ sich darin bestaunen. Nicht zufällig gefiel Jean Gabin in der Rolle des Stadtstreichers in dem Film »Archimède, le clochard«, weil dieser Heruntergekommene schlau genug ist, den Ordnungshütern ein Schnippchen zu schlagen und ihre Vorschriften zu seinem Vorteil zu nutzen. Man muss sich den Intellektuellen, diesen Modeschöpfer einer Gesellschaft ohne Statussymbole, in einigen Exemplaren vorstellen, um zu bemerken und sich bewusst zu machen, wie viele seiner Art heute auf den Straßen der Citys den Diogenes, den Jean-Jacques, den Henri Murger, Erich Mühsam und Wolf Biermann spielen.

Heute teilt sich der Stundenplan der City auf in diogenische Phasen, die dem Freizeitbürger gehören, und in solche, in denen sich zu ihm der Geschäftstüchtige im gut sitzenden Herrenanzug gesellt – das ist die Zeit vor und nach der Arbeit und die Stunde der Mittagspause. Die Outdoorkleidung des Stadtbesuchers hätte Diogenes gefallen, sogar die wetterfesten Stoffe und die Thermojacke hätte er in seinem Griechenland, das auch kalte Tage kannte, brauchen können. Fleece- oder Soft-Shell-Jacken, Zipp-off-Hosen, Baggys und Schlupfbund-Bermudas, die die Schönheit des männlichen Beins, T-Shirts, die die Hässlichkeit des männlichen Bauches entblößen, wären ganz nach seinem Geschmack gewesen, sie sind formlos wie sein zerschlissener Mantel, und auch die Sneakers, so breitgetreten, dass ein Gang entsteht, dem alle Ziererei fremd ist. Cargohosen gar, in denen sich viel unterbringen lässt, entsprechen der Ubiquität des streunenden Philosophen, der omnia sua secum portat. In den achtziger Jahren war, wie heute der Rucksack, die Umhängetasche – unverzichtbares Attribut des Diogenes – Mode geworden auch bei Männern, die darin den survival kit für ihren Stadtausflug verstauten.

Der Diogenes des 21. Jahrhunderts braucht mehr als etwas Sonne und einen Mantel, er braucht auch Informationen, Gespräche mit Freunden und, da ihn nicht mehr, wie den Neffen Rameaus, ein Mäzen nährt, Zugang zu einem sofort abrufbaren Bankkonto – das alles trägt er mit sich herum, sobald er über die digitale Ausrüstung verfügt. Kein Stammcafé muss mehr für ihn die Zeitung abonnieren, neueste Nachrichten bezieht er vom Smartphone, seine Freunde trifft er telefonisch allerorten. Obgleich dieser neue Aufklärer von Informationen abhängig bleibt, darf er sich so unabhängig fühlen wie der zynische Philosoph, der omnia sua auf ein Minimum reduziert hat. Neben dem PC verstaut er in der Umhängetasche eine Wasserflasche, die er so gern vorzeigt wie Diogenes seinen Becher. Trinkend sitzt er auf den Treppen der Innenstadt und schaut, in gut zynischer Tradition, auf seine Mitbürger herab, allerdings sind nun auch sie so leger gekleidet wie Diogenes oder Rameaus Neffe. Die Omnipräsenz des menschlichen Körpers in der Stadt, als Fett unter den Falten bügelfreier Stoffe, als nackte Haut, folgt dem Wahrheitsappell des Diogenes, der in allem auf die Natürlichkeit unserer Abkunft verwies. Die zynische Wahrheitsliebe allerdings hat in der City ihre Grenze in der Hygiene. Pissen sollte Diogenes hier auf keinen Fall, seinen Kaugummi ausspucken und Bier auf die Platten gießen darf er wohl. Erlaubt ist, was sich putzen lässt und nicht krank macht.

Diogenes’ Wirkung reicht, auch was Aussehen und Benehmen betrifft, bis in die Gegenwart. Die Besucher der City sind seine verspätete Jüngerschaft – Diogenes en masse! Diderot, Rousseau, Goethe haben seinen Stil dem modernen Europa übermittelt, sie haben eine Provokation einstudiert, die schließlich zum Alltagsgebaren der Bürger werden sollte.

Der Vergleich zwischen Antike und Gegenwart mag sich spaßig ausnehmen, willkürlich ist er nicht. Was Diogenes wollte und die Enzyklopädisten zum Programm entwickelten, Gleichheit, Freiheit, Natürlichkeit, gesundes Leben, ist zum allgemeinen Ziel und Stil geworden; die Aufklärung hat jeden erreicht, und jeder trägt ihr Kleid. Der Freizeitbürger imitiert gelassen das Schauspiel, das seit Diogenes und Diderot zur Aufklärung gehört. Die philosophes haben es immer wieder aufgeführt, um es allen einzustudieren – und auf den Straßen zeigt sich, dass es, ästhetisch wie politisch, ein triumphaler Erfolg geworden ist.

Übersetzung ins Deutsche
Goethe, der Neffe des Neffen

Wie kam es, dass Goethe das Manuskript des Dialogs mit Begeisterung las und übersetzte? Hatte er in Rameaus Neffen den Umriss der Figur erahnt, die Hegel zu interpretieren verstand: die Verkörperung des »zerrissenen Bewusstseins«? Hegels Deutung trägt dem Schöpfer dieser Figur, Diderot, in Frankreich immerhin den zweifelhaften Ruhm ein, deutschen Geistes zu sein. »Diderot«, so schreibt sein Biograph Pierre Lepape, »ragt in allen Teilen über den Rationalismus der französischen Aufklärung hinaus (…). Er war metaphysisch, wie man es in Paris, London oder Ferney nicht mehr war, wohl aber in Jena, Weimar oder Königsberg.« Lepape lässt mit den philosophes eine neue Epoche beginnen, von der an bis zu Sartre und Derrida ein geistiger Austausch zwischen Deutschland und Frankreich florierte.

Goethe vermochte die welthistorische Bedeutung von Diderots Figur zu erkennen, weil er selbst ein Neffe Rameaus war, offensichtlich in seiner Jugend, geheim und verborgen und nur in seltenen Momenten eingestanden auch noch im Alter. Am Ende seiner Karriere wurde er zwar nicht, wie es sich der Neffe wünschte, Mönch, wohl aber Minister. Seine scheinbare Abkehr von der Familie der Kyniker besiegelte er mit »Dichtung und Wahrheit«, der Autobiographie, die in die Jugendzeit zurückblickt, in jene Zeit, da er selbst Rüpel und Rebell war.

Er begann mit der Niederschrift dieser Autobiographie 1808, wenige Jahre nach der Übersetzung von »Rameaus Neffe«. »Dichtung und Wahrheit« allerdings ist, eben weil der Wandel zum Geheimrat schon vollzogen war, in Stil und Haltung ein Anti-Rousseau: eine Bilanzierung des vergangenen Lebens, kein Bekenntnis. Es bedarf der sprachlichen Disziplin des Geheimrats, um den revolutionären Geist des 18. Jahrhunderts, von dem auch er in seiner Jugend angesteckt gewesen war, zu beschreiben, zu reflektieren und in die Schranken zu weisen. Den Übermut des jungen Goethe betrachtet der alte wie ein Erzieher mit wohlwollender Missbilligung. Dieser Pädagoge scheut, anders als Diderot, die Langeweile der sich distanzierenden Reflexion nicht, wenn er über die »genialisch-leidenschaftlich durchgesetzten Übungen« seiner Jugend und die seiner Jugendfreunde spricht: »Durch ein geistreiches Zusammensein an den heitersten Tagen aufgeregt, gewöhnte man sich, (…) zu zersplittern, was sonst zusammengehalten hatte (…). Ein einzelner einfacher Vorfall, ein glücklich naives, ja ein albernes Wort, ein Mißverstand, eine Paradoxie, eine geistreiche Bemerkung, persönliche Eigenheiten oder Angewohnheiten, (…) alles ward in Form des Dialogs, der Katechisation, einer bewegten Handlung, eines Schauspiels dargestellt« – man denke, wie Rousseau eine solche Jugend beschrieben hätte! Goethe jedoch, der auf seine Jugend zurückblickt, macht daraus die Kopfzeile eines Zeugnisses über das Gesamtverhalten eines etwas schwierigen Schülers.

Die scharfe Zäsur zwischen Jugend und Alter, zwischen dem jungen Genie und dem weisen Geheimrat, an die sich die Nachwelt hielt, hat Goethe selbst gezogen und zum Verständnis seiner Person vorgeschlagen. Im Elternhaus, so gesteht der Geheimrat ein, habe er sich, als sei er ein Neffe Rameaus, darin geübt, durch Widerspruch aufzufallen: »denn ich hatte die gottlose Art alles zu bestreiten, aber nur insofern hartnäckig, daß derjenige der Recht behielt auf alle Fälle lächerlich wurde.« In seiner Jugend findet sich eine Truppe zusammen, Jakob Michael Reinhold Lenz, Johann Bernhard Basedow, Johann Kaspar Lavater, Johann Heinrich Merck, Vorbild zu Mephisto, dem Zyniker par excellence; sie führen die Komödie des Intellektuellen auf. Merck zum Beispiel ließ einen »grillenkranken Zug (…) in sich walten (…). Verständig, ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es ihm in dem andern einfallen, (…) irgendetwas zu tun, was einen andern kränkte, verletzte, ja was ihm schädlich ward.« In der Schweiz erregten die jungen Revolutionäre genügend Aufsehen und schadeten, als sie Lavater besuchten, dessen Ansehen: »Auf Lavatern jedoch erstreckten sich die unangenehmsten Folgen, daß er junge Leute von dieser Frechheit (…) begünstigt, deren wildes, unbändiges, unchristliches ja heidnisches Naturell einen solchen Skandal in einer gesitteten, wohlgeregelten Gegend anrichte.« Dieses jugendliche Unwesen, das in die deutsche Literaturgeschichte als »Sturm und Drang« einging, entstand im Geist und nach dem Vorbild der französischen philosophes.

 

Die Hauptrolle in diesem Jugendtheater übernimmt Basedow. Durch schmutzige Kleidung und unappetitliche Gesten kostete er die kynische Lust aus, eklig zu sein. »Schon daß er ununterbrochen schlechten Tabak rauchte, fiel äußerst lästig, um so mehr als er einen unreinlich bereiteten, schnell Feuer fangenden, aber häßlich dunstenden Schwamm [faulendes Holz zum Anzünden], nach ausgerauchter Pfeife, sogleich wieder aufschlug, und jedesmal mit den ersten Zügen die Luft unerträglich verpestete. Ich nannte dieses Präparat Basedowschen Stinkschwamm, und wollte ihn unter diesem Titel in der Naturgeschichte eingeführt wissen; woran er großen Spaß hatte, mir die widerliche Bereitung, recht zum Ekel, umständlich auseinandersetzte, und mit großer Schadenfreude sich an meinem Abscheu behagte.« Durch ihn lernt Goethe ein weiteres Vergnügen des intellektuellen Lebens kennen, endlose nächtliche Diskussionen. Er bringt »immer einen Teil der Nacht mit Basedow zu«, und zwar »in einem dichtverschlossenen, von Tabaks- und Schwammdampf erfüllten Zimmer« – die bei Intellektuellen so beliebte Berliner Kneipe kündigt sich hier schon von Ferne an.

Goethe erfasst in »Dichtung und Wahrheit« die Anfänge der Popularisierung dieses kulturrevolutionären Stils, den bis heute die Jugend der Erwachsenenwelt entgegensetzt: Die Ablehnung solch ungehörigen Verhaltens sei in Anerkennung umgeschlagen, sobald die Zeitgenossen dieses als »genialisch« einzuschätzen gelernt hätten. »Nun aber schien auf einmal eine andere Welt aufzugehn, man verlangte Genie vom Arzt, vom Feldherrn, vom Staatsmann (…). Das Wort Genie ward eine allgemeine Losung.« Rameaus Neffe spielte Genie, und auch in Deutschland fehlte es nicht an Versuchen, als Genie aufzutreten: »Wenn einer zu Fuße, ohne recht zu wissen warum und wohin, in die Welt lief, so hieß dies eine Geniereise, und wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen unternahm, ein Geniestreich.«

Das »Geniereisle«, wie man den jugendlichen Ausflug im Schwäbischen ironisch nennt, und der Geniestreich sind von nun an Jugendsünden, über die sich hinweglächeln lässt; schließlich werden sie sogar Teil des bürgerlichen Erziehungsprogramms. Eine stürmische Jugend samt einigen Frechheiten gegen Alter und Sitte garantiert seither die freie Entfaltung der Persönlichkeit. »Dichtung und Wahrheit«, trotz aller Distanzierung gegenüber Aufstand und Anmaßung ein erstes Gemälde der Jugendkultur, exterritorialisiert den Angriff auf die gute Sitte: Aus der Aggression der philosophes, die in der Mitte der Gesellschaft, in ihren wichtigsten politischen Zentren stattfand, werden Flegeljahre, Erlebnisse einer poetisch gestimmten Jugend, die nach kurzem in die Gesellschaft zurückkehren wird.

In manchen seiner Dichtungen jedoch setzt der spätere, längst arrivierte Goethe den Ton seiner rebellischen Jugend fort, im »Buch des Unmuts« im »West-östlichen Divan«, im »Reisejournal« aus Neapel und Venedig oder, wie im folgenden, in den »Venezianischen Epigrammen«. In diesen Dichtungen zeigt sich ein anderer Goethe, einer, der sich, wie Diogenes, gut mit Hunden versteht und ihre charakterliche Verwandtschaft mit dem Menschen durchschaut:

Wundern kann es dich nicht daß Menschen die Hunde so lieben,

Denn ein erbärmlicher Schuft ist wie der Mensch so der Hund.

Diesen Schuft sollte man besser nicht genauer kennenlernen, denn er ist niedrig und spottlustig wie der Zyniker Diogenes:

Dich betrügt der Regente, der Pfaffe, der Lehrer der Sitten

Und dies Kleeblatt wie tief betest du Pöbel es an

Leider läßt sich noch kaum was rechtes denken und sagen

Das nicht grimmig den Staat, Götter und Sitten verletzt.

Nur wenn man ein geheimes und lebenslängliches Auf begehren Goethes gegen eine Gesellschaft annimmt, mit der er sich gut arrangierte, kann man die Emphase verstehen, mit der er an die Übersetzung von Diderots Werk ging. Der Neffe ist Geist von Goethes Geist. Hinter dem französischen Intellektuellen konnte sich Goethe verstecken, um über Trotz und Frechheit hinwegzutäuschen, die in ihm rumorten. Der Stil, den der junge Goethe an sich und seinen Freunden beobachtete, der Geist der Aufklärung und zynischen Gesellschaftskritik, brach auch in Weimar aus jenem Goethe hervor, der den gesellschaftlichen Komment perfekt beherrschte und der deshalb nicht selten sein Auf begehren im Gedicht versteckte.

Einen »kleinen Anfall von (…) leidenschaftlich wildem Humor« konstatiert der Laientheologe und Kirchenlieddichter Johann Daniel Falk (1768–1828), den Goethe selbst nicht mochte, auch noch beim Geheimrat, diesem »anmutigen Genius«, der zugleich Weimarer Beamter ist. In den Momenten des Unmuts wurden »die Kunst, das Leben, die Höfe, der Parnass, die Dichter, die Politik, die Rezensenten, die Philosophie, die Katheder, kurz alles, was irgend mit dem höhern Leben in Bezug stand oder wenigstens einen solchen Bezug in Worten und Werken geltend machte, (…) von ihm in dieser brummischen Tonleiter durchgespielt«. Allen sei es, so fährt Falk fort, eine Freude gewesen, »den Allseitigen zu hören, wie er auch einmal recht einseitig und tüchtig beschränkt wurde, so daß er die Welt ordentlich an einem Zipfel faßte und sie hin- und herzauste und schüttelte, statt daß er sie sonst, um nichts zu verschütten, gleichsam an allen vier Zipfeln trug. Er war dann rein toll und liebenswürdig.«

Falks Aussagen werden bei der Charakterisierung Goethes übersehen, weil er Goethe selten sah, wohl aber auch, weil er ihn kritisch sah. Falks Aussagen mögen relativ sein, dies aber gilt auch für die von Eckermann oder Riemer. Falk zeigt Goethe immer in Gesellschaft, Eckermann sitzt ihm gegenüber, Falk schildert den launigen Gastgeber, Eckermann den auf Eindruck bedachten Nachlassverwalter. Eher klagend erwähnt aber auch Kanzler Friedrich von Müller, den Goethe viel um sich hatte, dessen beißende Reden und den Zynismus: »Überhaupt war er«, so berichtet er in den »Unterhaltungen mit Goethe« 1824 von einem spätmittäglichen Treffen, »in jener (…) bitter-humoristischen Stimmung und sophistischen Widerspruchart, die ich so ungern manchmal bemerke.« Zwei kurze Tage danach zeigt sich Müller erleichtert, da diesmal in Goethes Verhalten »keine Piken, keine Ironie, nichts Leidenschaftliches oder Abstoßendes« zu finden war. Manchmal überwindet Müller seine Abneigung gegen Goethes Zynismus und erkennt die intellektuelle Munterkeit als »Kraftfülle«, derer er sich »durch geistige Blitze und Donnerschläge zu entledigen« sucht. Die gesellschaftliche Situation jedenfalls, von der Falk und Müller berichten, erinnert an die Auftritte von Rameaus Neffen in Paris, und ähnlich müssen auch die Reden Rousseaus und der Enzyklopädisten in den Salons der Louise d’Epinay und der Julie de Lespinasse geklungen haben. Zwar sind die ironischen Töne bei Eckermann, der dem Bürger mit Goethe das ins Leben getretene Bildungsideal entworfen hat, meist unterdrückt. Aber selbst bei diesem Verehrer eines Goethe, der »strebend sich bemüht«, fehlen Hinweise auf dessen versteckten intellektuellen Zynismus nicht. Anlässlich einer französischen Faust-Übersetzung soll Goethe J. J. Ampère, den Rezensenten dieser Übersetzung, gerühmt haben als einen, »der den abwechselnden Gang meiner irdischen Lauf bahn und meiner Seelenzustände im Tiefsten studiert und sogar die Fähigkeit gehabt, das zu sehen, was … nur zwischen den Zeilen zu lesen war«. So habe Ampère »auch den Hohn und die Ironie des Mephistopheles als Teile meines eigenen Wesens bezeichnet«. Ob Goethe nun dem Porträt von Falk entsprach oder nicht: Die Figur des intellektuellen Aufrührers war aus Frankreich, wo »eine solche Fülle von Geist in Cours gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweitenmale finde«, auch in seinen Kopf und in die Köpfe der deutschen Gesellschaft eingewandert.

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