Der Jahrhundertelefant

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„Was war denn heute beim Mittagessen mit dir los?“, fragt die Mama, als es Abend geworden ist, und der Fritz die Zähne geputzt hat, und die Mama ins Bubenzimmer gekommen ist und die Bettdecke um den Fritz gestopft hat. „Du warst ja ganz in Gedanken versunken.“ „Gar nix“, nuschelt der, obwohl er dabei gleich an den Jakob denken muss. „Dann ist es ja gut“, sagt die Mama und beginnt mit leiser singender Stimme das Hasimandili-Ritual.

Ehe er einschläft, fragt sich der Fritz, ob man lügt, wenn man etwas geheim hält. Lügen haben beide Eltern überhaupt nicht gerne. Wenn der Papa auf eine Lüge draufkommt, wird er ziemlich böse. Aber die Mama, die wird dann traurig. Und das ist viel ärger als der Zorn vom Papa. Ehe dem Fritz die Augen zufallen, hat er sich in dieser Sache entschieden: Geheimnisse haben und Lügen sind zweierlei.

In den folgenden Tagen erfährt der Fritz vom Papa noch allerhand über den Jakob. Zizerlweis, würde die Mia sagen. Wann immer er den Vater für ein paar Minuten allein erwischt, fragt er ihn aus.

„Wieso heißt der Jakob nicht mehr so wie in Indien?“, fragt Fritz.

„Weil der Erzherzog mit dem Namen Puha nichts anzufangen wusste.“

„Und warum hat er ihn ausgerechnet Jakob getauft?“

„Na ja, wahrscheinlich war der heilige Jakob der Lieblingsheilige des Erzherzogs.“

Auch die Sache mit Pandit, diesem Mahout des kleinen Elefanten, kriegt er heraus. Dass nämlich jeder indische Arbeitselefant einen eigenen Menschen hat, der ihn zur Arbeit abrichtet und ihn reitet und ihn pflegt. Das ist der Mahout. Und dass der Elefant und sein Mahout oft ein ganzes Leben lang zusammenbleiben. Und dass der Maharadscha, als er den schönsten kleinen Elefanten für den Erzherzog ausgesucht hatte, den Mahout gleich als Beigabe zum Geschenk mitgegeben hat. Denn der kleine Pandit war schon im Elefantencamp der Pfleger des kleinen Elefanten Puha gewesen.

„Wie alt ist denn der Pandit?“, will Fritz wissen.

„Nun, zum Zeitpunkt, als der Maharadscha dem Erzherzog den Jakob zum Geschenk machte, war Pandit … sagen wir … zehn Jahre alt.“

„Aber Papa, da war der Pandit doch noch ein Bub. Wie kann der Maharadscha denn einfach ein Kind verschenken?“ Da muss der Papa ein bisschen überlegen.

„Na ja, verschenkt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Er wird den kleinen Pandit gefragt haben, ob er mit seinem Elefanten mitkommen möchte. Und der wollte sich von seinem Puha sicher nicht trennen. Wenn ein Mensch mit einem Tier sehr eng verbunden ist, dann will er es immer um sich haben, er will sein Leben mit ihm teilen.“

Das leuchtet dem Fritz ein. Wird so sein wie beim Miamann und seinem Hund. Der Mann der Mia lebt mit seinem Hund und der Mia in einem kleinen Haus am Hang des Leopoldsbergs. Die Mia ist freilich weit mehr in der Kopfsteinpflastergasse als beim Miamann im kleinen Haus. Aber das macht dem Miamann nichts aus, sagt die Mia. Weil er hat ja seinen Hund. Und von dem trennt er sich nie.

So nebenbei erfährt der Fritz auch allerlei über Indien. Genauer gesagt, über Kerala, das vor unendlich langer Zeit entstanden ist. Und zwar so, erzählt der Papa: Da gab es einen Mann, der Land für seine Krieger gesucht hat. Dem haben die Götter gesagt, er soll auf einen Berg steigen und seine Axt ins Meer hinunterwerfen. Wo die Axt ins Wasser fällt, wird Land entstehen. Das hat der Mann getan. Und aus Meer wurde Land, das die Menschen Kerala nannten.

„Das ist aber nicht wirklich so gewesen, Papa, oder? Das ist eine Sage“, hat der Fritz darauf gesagt. Und der Papa hat gelacht und zugegeben, dass es sich um eine Sage handelt. Am Abend, in seinem Bett, nach einem Hasimandili, denkt der Fritz über die Geschichte nach. Und darüber, dass die Mama einmal gesagt hat, dass in jeder Geschichte und in jedem Gedicht etwas Wahres ist. Die Mama muss es wissen.

Schließlich schreibt sie Gedichte. Und Romane. Die Leute sagen, dass sie eine Dichterin ist. Also hat es den Mann mit der Axt auf dem Berg vielleicht doch gegeben?

Kerala – langsam erfährt der Fritz ganz schön viel über dieses Land am Arabischen Meer. Wo es unglaublich heiß ist. Aber nie wirklich trocken, weil es jedes Jahr eine Zeit gibt, in der es unglaublich viel regnet. Monsun, so heißt diese Regenzeit.

Und es gibt eine Menge Wälder, die das ganze Jahr grün sind. Hochwälder auf den Bergen. Und Regenwälder in der Ebene. Und unglaublich viele wilde Tiere gibt es. Tiger, und Leoparden, und viele verschiedene Affenarten. Es gibt auch Schlangen, und Schildkröten, und Krokodile. Und natürlich Elefanten. Wilde, und solche wie die Eltern vom Jakob, die man vor langer Zeit im Dschungel gefangen hat und die für den Maharadscha zu Arbeitselefanten erzogen worden sind.

Manchmal sieht Fritz die Berge von Kerala direkt vor sich. Fast so, als wäre er schon dort gewesen. Und das Elefantencamp. Und den Maharadscha mit seinem Turban voll mit Edelsteinen, wie er auf seinem weißen Elefanten aus seinem Palast reitet …

„Der Jakob muss doch schrecklich traurig gewesen sein beim Abschied. Er hat es doch gut gehabt in Kerala, bei seinen Eltern und den anderen Elefanten im Camp.“

Auch eine Frage, die den Fritz beschäftigt. Eines Abends hat der Papa etwas länger Zeit, um sie zu beantworten.

„Sicher war er traurig“, sagt der Papa. „Aber vielleicht war er auch aufgeregt. Immerhin hatte er ein großes Abenteuer vor sich. Stell dir vor, Feppchen, ein kleiner Elefant, der mit frisch gewaschenen Ohren, begleitet von seinem Freund Pandit, in eine unbekannte Welt reist!“

„Wie ist er denn gereist?“, will Fritz wissen. Da holt der Papa aus.

„In einem funkelnagelneuen, sehr bequemen Holzkäfig. Der wurde auf einen Waggon des Hofzugs vom Erzherzog Leopold geladen. Neben dem Holzkäfig war auch ein Schlafplatz für Pandit gerichtet. So fuhren der Erzherzog und der Jakob und Pandit mit der Eisenbahn durch ganz Indien nach Norden. Von Cochin hinauf bis nach Bombay. Was ein wenig seltsam war, denn so wie Bombay hat auch Cochin einen riesigen Hafen. Wahrscheinlich war es eine Entscheidung des kaiserlichen Hofes, wir werden es nie mit Sicherheit wissen – auf jeden Fall mussten die beiden tagelang durch den Dschungel tingeln. In Bombay angekommen, bestiegen sie ein österreichisches Dampfschiff, das ‚Kaiserin Maria Theresia‘ hieß. Der Käfig vom Jakob wurde mit einem Kran aufs Schiff gehoben und in einem Laderaum festgezurrt, dass er bei hohem Seegang nicht wegrutschen konnte …“

„Oje“, fährt der Fritz dazwischen, „ist der Jakob seekrank geworden?“ Er weiß, dass die Seekrankheit einen ganz elend macht. Er weiß das, weil er mit der Mama in Kroatien auf den Inseln war. Da sind sie oft mit Schiffen gefahren. Und manche Leute haben furchtbar gespieben. Aber er, der Fritz nicht. Weil er aus einer Familie von kroatischen Seefahrern stammt, und von denen wird keiner seekrank.

„Nein, nicht ein bisschen seekrank ist er geworden“, sagt der Papa. „Die See war ruhig. Dann fuhren sie durch den Kanal, der das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbindet. Und auch im Mittelmeer hatten sie Glück. Kein starker Seegang bis Fiume …“

„Was ist das, Papa?“ Alles weiß der kleine Fritz wohl doch noch nicht über die kroatische Küstenheimat seiner mütterlichen Vorfahren.

„Fiume ist eine uralte Stadt, die am adriatischen Meer liegt und heute Rijeka heißt.“

Rijeka, den Namen kennt Fritz von seiner Reise mit der Mama. „Warum heißt sie jetzt anders?“

„Weil sie infolge von Kriegen einmal zu diesem, dann wieder zu jenem Land gehört hat.“

Schon holt der Fritz tief Luft für eine nächste Frage, da fährt der Papa rasch fort: „Als das Schiff des Erzherzogs im Hafen von Fiume ankam, gehörte die Stadt zum Reich des Habsburger-Kaisers. Der Hafen war sehr groß und wichtig für das Kaiserreich. Deshalb führte von ihm eine Bahnlinie nach Budapest, der Hauptstadt Ungarns, das ebenfalls zum Kaiserreich gehörte. Und weil der Erzherzog mit der Bahn über Budapest nach Wien fahren wollte, verließ er in Fiume das Dampfschiff, ließ den Jakob in seinem Käfig auf einen Waggon seines Hofzugs hieven, sah zu, dass man den kleinen Pandit nicht vergaß, reiste bis nach Budapest, besuchte dort den Direktor des Budapester Zoos, der ein guter Freund von ihm war, und schenkte dem Zoo den Elefanten Jakob, was den Direktor sehr erfreute, weil der Zoo zwar ein Elefantenhaus, aber zu dieser Zeit keinen Elefanten besaß.“

Das war ein sehr langer Satz mit viel Neuem, das Fritz erst verdauen muss, ehe er eine weitere Frage stellen kann. Diese Pause nützt der Papa. „Genug für heute, Feppchen, Fortsetzung folgt“, sagt er und verschwindet im Herrenzimmer.

Allerhand, was der Fritz in diesen Tagen und Wochen erfährt. Kein Märchenbuch kann mithalten mit dem, was der Papa über fremde Länder und vergangene Zeiten so nebenbei erwähnt, wenn er Neues vom Jakob berichtet. Freilich, der Papa ist mordsmäßig gescheit. Das sagt auch der Otto, der behauptet, dass der Papa mehr über Geschichte und Geographie weiß als seine Lehrer im Gymnasium. Der Otto ist übrigens auch nicht blöd. Der weiß schon ziemlich viel, ist aber auch sechs Jahre älter als der Fritz. Der Otto hat zwar schlechte Noten, aber nur weil er ein Lausbub ist. Sogar die Lehrer im Schottengymnasium sagen, dass der Otto gescheit ist. Er weiß mehr als die meisten Buben in seiner Klasse.

Aber über den Elefanten Jakob weiß er nix! Manchmal würde Fritz dem Bruder gerne unter die Nase reiben, dass es einen Elefanten gibt, der dem Papa Briefe schreibt. Aber dann wäre der Jakob ja kein Geheimnis mehr. Um ein Haar hätte er sein Geheimnis übrigens verraten. Und zwar ausgerechnet der Mia.

„Warum verschmierst denn dein Tischerl, ich krieg’ ja die rote Farb’ kaum weg“, schimpft sie und reibt an den dicken Strichen, die Fritz darauf gemalt hat. Drei Striche sind es. Einer für jede Woche, die seit dem Brief vom Jakob vergangen ist. Nur noch einer bis zum nächsten Brief … Fritz sieht die Striche unter Mias Reibbürste verschwinden, wartet, bis die Mia ihrerseits verschwindet, holt Ottos Taschenmesser aus dessen Schreibtischlade und säbelt drei tiefe Linien in sein Kindertischerl.

 

Die entdeckt die Mia, als es Abend wird. „Mein Gott, Bub, was ist denn in dich gefahren? Das krieg’ ich jetzt nimmer weg“, jammert sie. „Das musst du schon der Mama beichten …“ Fritz schüttelt heftig den Kopf. „Dann muss ich es ihr sagen“, droht die Mia. Oje. Sehr schlecht. Die Mama wird so lange fragen, bis er die Wahrheit sagen muss. Schluss mit Geheimnis. „Bitte, Mia, sag’s nicht der Mama, es ist … ein Geheimnis“, fleht er. Die Mia ist auch eine von denen, die mit dem Herzen hören und mit ihren wunderschönen Schwarzkirschenaugen in Kinderseelen hineinsehen kann. „Ist es ein helles Geheimnis oder ein dunkles?“, fragt sie den Fritz. „Ein ganz helles“, sagt der Bub – und seufzt erleichtert auf, als die Mia sagt: „Na gut, dann kannst du es behalten.“

Und dann ist es Ende Mai geworden. Im Garten beginnen die Rosen zu blühen, der Flieder ist fast hinüber. Wenn er abblüht, der Flieder, riecht er besonders stark und süß. Der Fritz beugt sich weit aus dem Fenster, schnuppert in den Abend und lauscht. Der Otto ist irgendwo in Döbling mit dem Fahrrad unterwegs, aus der Küche hört man Teller klappern, sonst ist es still. Bald müsste man Papas Schritte in der Einfahrt hören. Heute ist ja der Tag, an dem ein Brief vom Jakob gekommen sein könnte. Hat der Papa in Aussicht gestellt. Weshalb der Fritz ohne Widerrede die Abendwäsche und das Zähneputzen hinter sich bringt und sich ohne Ermahnung mit einem Bilderbuch in sein Bett verzieht. Was wiederum die Mia erstaunt.

„Hast was angestellt?“, fragt sie.

„Iiiich?“ Wenn der Fritz das „i“ ganz, ganz langzieht, fangt die Mia meistens an, nach Missetaten zu forschen. Heute forscht sie nicht, heut’ muss sie heimlich lachen. Und geht. Warum? Wer weiß …

Da! Papas Schritte auf der Stiege. „Guten Abend, Herr Doktor.“ Das ist die Juli.

Türengeklapper. Am Ende geht der Papa gleich zur Mama? Nein, die Parketten krachen, er kommt näher. Die Tür geht auf, da steht er, schmunzelt und klopft auf sein Sakko. Ja! Der Brief ist da! Deutlich sichtbar ragt er aus der Rocktasche. Fritz holt tief Luft und atmet laut aus. Vor Erleichterung.

„Ist er lang, der Brief, Papa?“

Der Vater holt den Brief aus der Tasche, entrollt ihn und zählt die Blätter.

„Sehr lang. Fünf Seiten“, sagt er und setzt sich auf Ottos Bett, das dem von Fritz gegenübersteht. Der Otto hätte zwar schon gern sein eigenes Zimmer, die Wohnung der Eltern ist nämlich groß, ein ganzes Stockwerk groß, und ein eigenes Zimmer für Otto ginge sich locker aus, aber die Eltern finden, das sei nicht notwendig.

„Also“, sagt der Fritz. Er sitzt quer auf seinem Bett, die Füße baumeln über den Bettrand, das Nachthemd ist ordentlich über die Knie gezogen, Fritz ist bereit.

„Also was?“, fragt der Papa und schmunzelt.

„Lies! Bitte!“ Irgendwie hat Fritz das Gefühl, dass der Papa das Lesen absichtlich hinauszögert. Das machen die Erwachsenen manchmal, wenn die Kinder besonders ungeduldig auf etwas warten. Den Erwachsenen scheint es Spaß zu machen. Weihnachten zum Beispiel. Da raschelt es hinter der verschlossenen Tür, ja ja, das Christkind ist da, aber man muss warten, vielleicht zündet es grade die Kerzen am Christbaum an, man muss warten, bis es fortgeflogen ist, weil die Kinder es ja nicht sehen sollen, wegen der Überraschung … Das kann endlos dauern. Aber dann geht die Tür auf und neben dem Christbaum stehen Papa und Mama …

„Lies schon, Papa! Bitte!“

Der Vater holt die Brille aus der Rocktasche, hält sie gegen das Licht, um zu sehen, ob sie nicht trübe ist, was sie nie ist, weil die Brillen des Vaters immer sauber sind, dann setzt er sie auf die Nase, streicht den Brief glatt, räuspert sich und beginnt endlich langsam, als hätte er Mühe, die Schrift zu entziffern, vorzulesen.


Budapester Zoo, im Mai 1930

Lieber Ernst, bester Freund,

die Neuen sind da! Ein riesiger Bulle und eine sehr hübsche junge Dame. Er heißt Burgos, sie heißt … Leana. Ich werde Dir im Detail berichten, was sich an diesem denkwürdigen Tag ihrer Ankunft zugetragen hat. Also das war so:

Ich war gerade damit beschäftigt, am kleinen Teich in meinem Gehege zu plantschen – du weißt ja, wie ich es gerne mache: Rüssel eintauchen, Wasser aufsagen, Rüssel in die Höhe, Wasser auf meinen Kopf und meinen Rücken spritzen –, als ich aus der Ferne einen gewaltigen Trompetenstoß hörte. So einen lauten habe ich nicht mehr gehört, seit ich aus Cochin fort bin. Augenblicklich hörte ich auf zu plantschen und verzog mich unter die Baumgruppe im Gehege.

Nach einer Weile sah ich sie kommen. Ein eindrucksvoller Geleitzug, etliche Wärter mit langen Stangen, die beiden Neuen im Gänsemarsch, vorne er, hinter ihm sie. So zogen sie ins Elefantenhaus ein. Und sahen sich erst einmal um. Die Dame war zunächst scheu. Sie sah nur kurz in meine Richtung und gleich wieder weg. Aber der Große kam schnurstracks auf mich zu und herrschte mich an. „Eines ist klar: Von nun an läuft es hier so, wie ich es will. Mein Name ist Burgos.“ Dann schwenkte er seinen Rüssel in Richtung Dame. „Und das ist meine Schwester Leana.“ Dann sah er mich von oben herab an – ja, von oben herab. Obwohl ich jetzt schon ziemlich groß bin, ist er nämlich viel größer als ich und wahrscheinlich älter, ich schätzte ihn auf vierzig Jahre. „Und wer“, dröhnte er schließlich, „wer bist du, du Wicht?“

Das fand ich ziemlich unhöflich. Du kennst mich, lieber Ernst, ein Wicht war ich nicht einmal mehr, als Du in mein Leben tratst. Aber bitte, Höflichkeit ist nicht jedermanns Sache. Ich blieb jedenfalls artig.

„Ich heiße Jakob. Mein Name in meiner Heimat Cochin war Puha. Aber der Erzherzog, der mich dem Zoo schenkte, taufte mich Jakob. Und euch werden sie sicher auch umtaufen. So sind die Menschen, sie wollen alles bestimmen.“ Der Große sah mich herablassend an. „Cochin, sagst du? Also Südindien. Eine gewöhnliche Gegend. Und diese Hitze! Meine Schwester und ich kommen aus Kaschmir. Das liegt im Norden von Indien, hat ein viel besseres Klima, ist überhaupt die vornehmste Gegend für indische Elefanten.“

Kurz gesagt, lieber Ernst, Burgos erschien mir ein echter Angeber zu sein. Außerdem passte er wie ein Haftelmacher auf, dass ich seiner Schwester nicht zu nahekam.

Sobald ich in ihre Richtung wollte, versperrte er mir den Weg. Keine Manieren! Und fressen kann der Kerl, also ich habe auch einen gesunden Appetit, aber an Burgos komme ich nicht heran.

Immerhin, bald bekam er einen Dämpfer. Die Direktion tat, was ich dem Großen vorhergesagt hatte: Sie tauften die Neuen um. Aus Burgos wurde ein David. Und seine Schwester sollte Sissi heißen. Die Namen wurden mit der Beschreibung – Indischer Elefant, soundso alt, Herkunftsgebiet Kaschmir – auf Schilder neben dem meinen ans Elefantentor geheftet. David und Sissi. Aber das „Sissi“ verursachte einen Skandal:

Eine Besucherin des Zoos las die Tafel, begann sich furchtbar aufzuregen und mit ihrem Sonnenschirm in der Luft zu fuchteln und schrie: „Unerhört! Man kann doch einen Elefanten nicht nach unserer unvergessenen Kaiserin benennen!“ Ich hatte keine Ahnung, was die Frau meinte, die Neuen auch nicht, die arme Leana – Sissi wich ängstlich in den hintersten Winkel des Geheges zurück. Erklärt hat uns das Ganze sc hließlich der liebe Jaromir. Er darf sich, anders als alle anderen Affen im Zoo, frei bewegen. Weil er gezähmt und der Liebling des Direktors sei, heißt es unter Fachleuten. Also schwang sich der Jaromir übers Gitter des Geheges auf unsere Schattenbäume und erklärte uns, dass eine Kaiserin von Österreich Sissi geheißen hat.

Die ist vor ziemlich vielen Jahren von einem Feind des Kaiserreichs umgebracht worden. In Ungarn, wo sie viel Zeit verbracht hat und zur Königin gekrönt worden ist, werde sie immer noch wie eine Heilige verehrt.

Skandal um Sissi also. Eine Elefantin darf nicht heißen wie die verblichene Kaiserin! Der Direktor entschuldigte sich bei der Besucherin mit dem Sonnenschirm und erklärte, die Elefantendame würde fortan Ana heißen … Typisch Mensch, finde ich. Irgendwie würdelos. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie diese tote Kaiserin gedacht hat, als sie noch am Leben war. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es sie gefreut hätte, wenn eine hübsche Elefantendame nach ihr benannt worden wäre.

Zügig liest der Papa. So zügig, dass Fritz gar nicht dazu kommt, dazwischen Fragen zu stellen. Er wird sie nachher stellen. Wenn der Papa mit dem Brief fertig ist. Vier Seiten hat er schon gelesen, gleich kommt die fünfte dran und ausgerechnet da kommt die Mia zur Tür herein: „Herr Doktor, die gnädige Frau wartet mit dem Abendessen, ob Sie vielleicht zu Tisch kommen könnten?“

„Nein, Mia, nein, das geht jetzt nicht“, kreischt der Fritz.

„Sachte, mein Sohn“, mahnt der Papa, rollt die Seiten zusammen und steckt sie in seine Rocktasche. „Wenn die Mama bittet, geht man. Schließlich hat man sie ja lieb.“

Darauf kann der Fritz nun wirklich nichts erwidern.

Auf einem Haufen ungelöster Jakob-Fragen bleibt Fritz sitzen, und lange wird er auf Antworten warten müssen. Denn der Papa scheint jetzt öfter und länger in der Redaktion zu sein als sonst. Es ist schwer, ihm erfolgreich aufzulauern. Und wenn man ihn einmal erwischt, wird er mit Sicherheit sagen: „Heute nicht, Feppchen, ein andermal.“ An den Sonntagabenden, die normalerweise der Familie gehören, kommen jetzt öfters Gäste. Weiß der Himmel, worüber sie so angeregt sprechen. Über Politik, sagt der Otto, der manchmal dabei sein darf.

„Was heißt über Politik?“, will der Fritz wissen.

„Das verstehst du noch nicht“, sagt der oberg’scheite Bruder. „Wenn du in die Schule gehst, werde ich’s dir erklären.“

Im heurigen Herbst wird es so weit sein, da kommt das Feppchen in die Schule. Aber davor liegt noch die wunderbare, endlose Sommerfrische. Mit Sack und Pack fährt man aufs Land. In die Prein. Oder ins Kühtai. Manchmal sogar mit der Mama nach Kroatien. Da kommt sie nämlich her, die Mama. Es ist ihr Herzensland, hat Fritz einmal den Papa sagen gehört.

Die Familie reist grundsätzlich mit der Eisenbahn. Nicht nur, weil man gerne mit ihr fährt. Man könnte gar nicht anders, denn der Papa besitzt kein Auto. Diesmal könnte das Bahnfahren übrigens noch aufregender werden, als es eh immer ist. Weil nämlich just jetzt, zu Ferienbeginn, in Österreich eine Heuschreckenplage herrscht. Die Viecher fressen alles kahl, sie stören sogar den Zugverkehr. Ziemlich spannend das alles, da kann eins schon auf den Jakob vergessen.

Obwohl – ganz vergisst Fritz ihn nie. Vor allem vor dem Einschlafen, da denkt er eigentlich immer an den Jakob. Wie’s ihm wohl geht mit dem groben David und der scheuen Ana? Und ob der Jaromir schon an einem neuen Brief für den Papa schreibt? Und ob der Jakob die Ana vielleicht einmal heiraten könnte? Das wär’ etwas! Da könnte er, der Fritz mit dem Papa ja in dieses … Budapest fahren und in den Zoo gehen und den Jakob auf seiner Hochzeit überraschen …

Untertags freilich kommt ihm der Jakob nicht in den Sinn. Zu aufregend sind die Ferientage. Man spielt Räuber und Gendarm. Man sekkiert die kleine dicke Cousine, ein höchst willkommenes Opfer. Man probt mit den anderen Kindern ein Theaterstück, das die Mama eigens für sie geschrieben hat. Und wenn der Papa aus Wien anreist, hat man schon so viel erlebt, das man ihm erzählen muss, und man hat so viel vor, auf das man sich freut, dass man gar nicht daran denkt, ihn zu fragen, ob ein neuer Brief vom Jakob gekommen ist.

Und schon ist man wieder in Wien zurück. Und in einer Woche wird der Fritz zum ersten Mal in die erste Klasse Volksschule in der Vormosergasse gehen. Und knapp vor diesem ersten Schultag machen der Fritz und seine Freundin Monika, das Nachbarskind, mit deren Kindermädel Erna einen Ausflug in den Schönbrunner Tiergarten.

Der Fritz ist schon ein paar Mal in Schönbrunn gewesen. Hat mit der Mama das gelbe Schloss der Kaiserin Maria Theresia und den dazugehörigen Tiergarten mit dem hübschen gelben Pavillon mittendrin besucht. Auf der ganzen Welt gebe es keinen älteren Zoo als diesen, zweihundert Jahre sei er alt, hat die Mama erzählt. Und eines der ersten Wildtiere, die aus weiter Ferne nach Schönbrunn kamen, sei ein Elefant gewesen.

 

An diese Besuche kann sich Fritz vor allem erinnern, weil es am Ende immer ein Krac herl gab. Mit der Erna gibt’s kein Kracherl. Die Erna ist auch nicht geduldig. „Komm weiter, Fritz, die Monika will zum Affenkäfig“, nervt sie und zerrt an seiner Hand. Aber der Fritz rührt sich nicht vom Fleck. Wie angewachsen steht er vor dem Elefantengehege und fixiert den großen Bullen, der mit seinem Rüssel einen dürren Baumstamm herumschubst. Ganz leise, so dass ihn niemand, schon gar nicht die Erna hören kann, flüstert er dem Elefanten zu:

„Elefant, ich bin der Fritz. Woher kommst du? Aus Indien? Kannst du mich verstehen?“ So leise flüstert er, dass sich sein Mund beim Flüstern kaum bewegt.

Wenn das elefantische Verstehen so funktioniert wie zwischen dem Jakob und dem Papa, dann muss der Riese jetzt seinen Kopf dem Fritz zuwenden. Mit mindestens einem von seinen kleinen, listigen Augen muss er dem Fritz zuzwinkern. Er könnte auch den Baumstamm in Ruhe lassen, seinen Rüssel heben und dem Fritz zutrompeten, damit Fritz weiß, dass der Elefant ihn gehört hat.

Aber all das tut er nicht. Er wachelt zwar mit seinen riesengroßen Ohren, der Dicke, aber von dem kleinen Buben jenseits des Gitters nimmt er keine Notiz.

Als Fritz von Schönbrunn nach Hause kommt, ist es später Nachmittag. Um diese Zeit trinken die Eltern im Herrenzimmer Tee. Das tun sie immer, ehe der Papa wieder in die Redaktion fährt, und dabei werden sie gar nicht gern gestört. Durch die geschlossene Tür hört man sie plaudern, oft auch lachen. „Die Stund’ vo’ die Herrschaften“, nennt das Julie, die Köchin.

Fritz schleicht zwischen Salon und Speiszimmer hin und her. Da kann er am besten hören, wenn der Papa ins Vorzimmer kommt, um seinen Hut vom Haken zu nehmen und die Wohnung zu verlassen.

Wie ein Kugelblitz schießt er aus dem Speiszimmer, als der Papa aus dem Herrenzimmer tritt.

„Ich muss dir was sagen, Papa“, ruft er ihm entgegen. „Ich war heute in Schönbrunn beim Elefanten. Ich wollte mit ihm reden. Aber der ist blöd! Der hat mich nicht verstanden!“

„Hm“, macht der Papa und streicht Fritz über den Kopf. Er ist mit den Gedanken nicht bei der Sache, das merkt der Fritz, also grapscht er nach der Hand des Vaters und ruckelt daran.

„Papa, ich habe es mit Elefantisch versucht, aber der Schönbrunner Elefant hat mich überhaupt nicht verstanden.“

Der Papa bleibt nicht stehen, aber er löst seine Hand nicht aus der des Fritz, im Gegenteil, er drückt sie sanft.

„Feppchen“, sagt er, „solche Dinge gehen nicht über Nacht. Die brauchen Geduld. Ich bin viele Male vor dem Gehege von Jakob gestanden, ehe wir ins Gespräch gekommen sind.“

„Aber du könntest mir doch das Elefantisch beibringen, Papa. Bitte! Da ginge es schneller. Ich bin nämlich ungeduldig, sagt die Mia.“

Jetzt lächelt der Papa. Das gewisse Lächeln, das nur dem Fritz gehört. Das immer auch mit „Aug’ in Aug’“ einhergeht, wobei der Papa sich herunterbeugen muss, um geradeaus in die Augen seines Buben sehen zu können.

„Weißt du“, sagt der Papa, „man kann so viele Dinge lernen. Wenn man wirklich will, kann man fast alles lernen. Aber manche Dinge sind nicht erlernbar, die fliegen einem zu.“

„Welche?“, will der Fritz wissen.

„Zum Beispiel Elefantisch verstehen.“

„Und wie fliegen die einem zu?“

„Mit Hilfe der Phantasie.“

„Wie geht das, Papa?“

An diesem späten Nachmittag im Haus der Kopfsteinpflastergasse hat der Papa keine Zeit mehr, um die Sache mit der Phantasie zu erklären. Ärgerlich, denkt Fritz.

Warum passiert es immer wieder, dass du eine Frage stellst und die Erwachsenen plötzlich keine Zeit für eine Antwort haben, weil sie dringend davon müssen. Vielleicht, weil sie keine Antwort wissen?

Nein! Mit der Mia könnte es vielleicht so sein. Oder mit der Tante Miez, der Mutter von der Monika. Oder mit der Tante Ida, der Frau von Mamas Bruder Petar, die jetzt ganz allein mit ihrer kleinen Tochter in der riesigen Stadtwohnung mit den vielen alten Bildern lebt, seit der Onkel Petar ausgezogen ist. Mit denen vielleicht schon. Aber doch nicht beim Papa, der drückt sich nie um Antworten. Und die Mama auch nicht. Die Mama … die Mama wird man fragen!

„Was genau ist Phantasie?“, fragt der Fritz, als die Mama an sein Bett kommt, um Gute Nacht zu sagen. Seit der Fritz in die Schule geht, entfällt das Hasimandili. Ohne dass jemand gesagt hätte, das müsse jetzt so sein. Es entfällt einfach. Nur wenn der Fritz ausdrücklich danach verlangt, sagt die Mama ihren Vers und tut den nach wie vor hochgeschätzten Hopser.

Heute hat der Bub anderes im Sinn. Die Mama ist schon dabei, die Decke rund um ihn festzustopfen, als der Fritz sie fragt: „Was genau ist Phantasie?“

Die Mama hört mit dem Deckenstopfen auf. Sie richtet sich gerade und sieht durchs Fenster, hinaus in den abendlichen Garten, ehe sie sich auf Fritzchens Bettkante niederlässt. Es dauert eine Weile, ehe sie zu reden beginnt.

„Phantasie ist eine Gabe. Sie ist ein Geschenk. Ich denke, dass jeder Mensch dieses Geschenk vom lieben Gott mit auf den Weg bekommt. Bei manchen wird sie nur nie wach.“

„Aber was ist sie, Mama, wie geht sie, die Phantasie?“

Die Mama könnte jetzt lächeln. Erwachsene lächeln oft über Fragen ihrer Kinder. Aber die Mama lächelt nicht, sie schaut nachdenklich drein, sie denkt ehrlich nach über die Frage ihres Buben.

„Phantasie geht nicht wie Häkeln, oder Fußballspielen, oder Turmspringen“, sagt sie schließlich. „Phantasie entsteht in dir.“

„Aber wie?“

Da braucht die Mama wieder eine Weile, um die Antwort zu finden. Ihre Hände liegen still auf Fritzchens Bettdecke, ihre Augen wandern Richtung Garten, kehren schließlich zu ihrem Buben zurück und sehen in die seinen.

„Stell dir vor, Feppchen, du siehst etwas vor dir, das gar nicht wirklich da ist … Einen Drachen zum Beispiel … In Gedanken malst du ihn an. Orange, oder giftgrün, oder beides. Dann lässt du ihn Feuer speien, lässt ihm Flügel wachsen. Und dann machst du aus den Bildern, die du vor dir siehst, eine Geschichte. Zum Beispiel könntest du auf den Rücken des Drachen steigen und ins Morgenland fliegen, mit deinem Drachen auf einer gelben Düne mitten in der Wüste landen, deinen Feldstecher hervorholen und sehen, ob die Karawane der Beduinen schon zu sehen ist …“ Die Mama wird still, denkt ein wenig nach und sagt schließlich: „Du siehst etwas vor dir, das nicht ist. Du erlebst etwas, das nicht um dich, sondern in deinen Gedanken ist. Damit hast du etwas erschaffen, das nicht da war, ehe du es gedacht hast.“

Der Fritz schaut ins Narrenkastl. Seine Hand sucht die der Mama. Er wiegt seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück. „Kompliziert, die Phantasie …“, sagt er. Pause. Er denkt nach.

„Entstehen so die Märchen?“, fragt er schließlich. Da lächelte die Mama und nickt.

Wieder eine Pause. Dann, fast ein wenig kämpferisch: „Aber warum wird sie bei manchen Menschen nicht wach, die Phantasie?“

Da muss die Mama wieder nachdenken, ehe sie eine Antwort gibt.

„Ich denke, irgendwann, irgendwie erwacht sie in jedem Menschen. Es kommt nur darauf an, ob der Mensch sie zulässt, und ob er etwas aus ihr macht.“

Die Sache mit der Phantasie beschäftigt den Fritz weiterhin. Zum Beispiel hat er sich gefragt, ob die Phantasie mit dem Lügen verwandt sein könnte. Immerhin erfindet er manchmal etwas, das von den Erwachsenen beinhart als Lügen bezeichnet wird. Aber nein, Phantasie und Lügen müssen zweierlei sein. Wenn es da nämlich eine Verwandtschaft gäbe, fände die Mama die Phantasie überhaupt nicht toll. Über diese Dinge denkt er meistens nach, ehe er einschläft.

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