Bunty

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Chips ohne fish

Februar 1971. Ich hatte mich in London mit dem Fotografen Charles Wilp verabredet; wir kundschafteten Plätze für Gauloises-Werbemotive aus und besprachen tausendundein Detail. Ein Perfektionist wie Wilp (»alles ist in Afri-Kola«) überließ nichts dem Zufall des Augenblicks. Während meines dreitägigen Aufenthalts war ich auch auf einer Oldtimer-Auktion. Mich hat es nicht überrascht, Bunty dort zu begegnen. Für Britanniens prominentesten Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler ist der Besuch einschlägiger Versteigerungen eine Pflicht.

»Oh, how nice to see you again! Bernard hat in meinem Auftrag den grünen Silver Wraith dort drüben und den schwarzen Bentley R-Type ersteigert. Bernard kennst du doch?«

Ja, ich kenne Bernard.

»Ich habe zwar viel zu viel Geld für die Schlitten ausgegeben, weil der Auktionator wieder mal alles rausgeholt hat … aber es ist verdammt gut angelegt, weißt du, diese wunderschönen Autos werde ich nach Amerika verkaufen …« und es folgt ein langer Exkurs über die interessanten, höchst aufnahmefähigen Rolls-Royce-Märkte in Kalifornien, in Texas, in New Jersey, Oklahoma, Illinois, Louisiana und vor allem in Arizona: »Mein Lieber, da wartet man nur so auf meine Ware!«

Die Auktion ist zu Ende, Bernard ist dabei, ein Auto nach dem anderen irgendwohin zu fahren. Ladies and Gentlemen – das Haus Christie’s übernimmt keine Verantwortung für nicht abgeholte Ware! hat der Auktionator The Right Hon. Patrick Lindsay nach dem letzten Zuschlag verkündet. Patrick ist ein Ass in seinem Job, besitzt selbst einige antike Bentleys und hebt hin und wieder mit einem seiner kleinen Flugzeuge ab – Aufklärungsmaschinen der Royal Air Force aus dem Zweiten Weltkrieg. Patrick ist auf der britischen Oldtimerbühne fast ebenso berüchtigt wie Bunty, und deshalb gehen sie einander auch nach Möglichkeit aus dem Wege.

Meine Zeit drängt, ich muss zur Victoria Station und möchte meinen Zug nach Dover nicht verpassen. »Frank Dale wird dich hinbringen, ich mache dich mit ihm bekannt, und Victoria liegt genau in seiner Richtung! Franks Geschäft ist am Sloane Square, weißt du! Wenn wir aber noch ein Stündchen Zeit haben sollten …«

Aber wirklich nur ein Stündchen, mehr nicht, sage ich zu Bunty, die 20-Uhr-Fähre ist meine letzte Chance! In Oostende möchte ich den Mitternachtszug nach Brüssel erwischen.

»Oh wie wundervoll, dann gehen wir jetzt erst einmal etwas essen … Frank kennt sicher ein gutes Lokal in der Nähe. Ich kann ihn nur gerade nirgendwo entdecken, wo steckt der gute Junge nur …«

Frank Dale wird wohl ebenfalls ein von ihm ersteigertes Auto in Sicherheit bringen, nehme ich an. Also ein Taxi! Es dauert und dauert, ehe eins hält. Natürlich reicht die Zeit nicht mehr für einen Lunch, denn der Verkehr ist dicht, und für die letzten Meter zur Victoria Station benötigen wir eine Ewigkeit. Bunty ist wie immer nicht gut zu Fuß, besteht aber darauf, mich bis an den Zug zu begleiten. Und dann geschieht das Unerwartete: »Mein guter Junge, ich schulde dir ja so viel, du warst neulich in München so spendabel. Ich hätte dich wahnsinnig gern zu einem Lunch eingeladen. Ich bin traurig, es betrübt mich aufs Tiefste, dass dazu nun keine Zeit mehr ist, das musst du mir glauben.«

Die Tränen, die ihm dabei in den Augen stehen, sind sicher nicht solche der Rührung, eher der Zugluft auf dem Bahnsteig. So wie der Dauertropfen an seiner Nase nicht unbedingt ein Zeichen von Erkältung ist.

Ich besteige den Zug; es sind noch etwa fünf oder sieben Minuten bis zur Abfahrt. Buntys Redefluss, so sehr er auch durch viele lange, klangvolle »hmmms« und »ääähs« durchsetzt ist, plätschert ohne Unterlass; heute ist er besonders gesprächig, der Gute. Wahrscheinlich hat er auf der Versteigerung einen Superdeal landen können und schon die Dollars errechnet, die ihm der Weiterverkauf der beiden alten Autos nach Amerika bringen wird.

»Du bist hungrig, dessen bin ich mir ganz sicher, und ich habe dich nicht zum Lunch einladen können! Aber ich weiß, was sich gehört, du kennst mich gut genug, nicht wahr? Also warte bitte einen kleinen Moment, mein Junge, so lasse ich dich nicht einfach zurück nach Deutschland fahren!« Dreht sich um, humpelt davon, kehrt Sekunden vor dem Abpfiff mit einer Tüte zurück und reicht sie mir herauf: »Endlich kann ich all das wieder gut machen, was ich dir schuldig bin! Und ruf’ mich an, wenn du zu Hause angekommen bist, aber nicht vor fünf Uhr bitte, ich habe dir noch so unendlich viel zu erzählen! Hast du zum Beispiel gewusst, dass Frank den Phantom Two Continental, der vorhin für zwanzigtausend wegging, für nur siebentausendfünfhundert hereingenommen hatte? Soll ich dir verraten, was ich geboten hätte? Keine zwölf! Das war nämlich das Auto der Lady Ashcroft, du weißt schon, die ihre beiden Chauffeure umgebracht hat, alle beide vergiftet! Oder hast du das nicht gewusst? Keine zwölf hätte ich geboten, äääh, hmmm, vielleicht dreizehn. Vergiftet hat sie alle beide, einen nach dem anderen. Das wird sie natürlich niemals zugeben, der Staatsanwalt hatte ja auch keine echten Beweise, aber auf dem Wagen lastet jedenfalls ein Fluch! Hoffentlich widerfährt dem guten Frank kein Unglück, er schuldet mir schließlich noch zwanzig Pfund … Ach, und versuch doch bitte, ob du in dem Geschäft in der Schwanthaler Straße noch einmal zwei Dutzend von diesen Zündkerzen auftreiben kannst. Sie müssen dir Rabatt geben. Nenn’ einfach meinen Namen! Und wenn du anrufst, vergiss nicht, mich auf meine geplante Reise auf der Donau anzusprechen. Ich brauche da deinen fachmännischen Rat, ich bin doch jetzt Besitzer eines Schiffes, äääh – und mein Neffe in der Royal Geographic Society …«

Es ist das erste Mal, dass Bunty mir gegenüber ein Schiff erwähnt. Was für ein Schiff? Hat er es für einen seiner Rolls-Royce-Veteranen in Zahlung genommen?

Auch ich war ja mal Besitzer eines Motorkutters (wenn auch leider ohne Motor) gewesen und interessierte mich daher für dieses Thema. Hätte ich etwas früher erfahren, dass Bunty und ich eine weitere Passion teilen, wäre ich bereit gewesen, meinen Aufenthalt zu verlängern, um mir sein Schiff anzusehen. Ich musste meine Neugier nun erst einmal im Zaume halten und beschloss, Bunty per Brief umgehend nach Einzelheiten zu fragen, zumal er ja vorzuhaben schien, sich damit auf Europas Binnenwasserstraßen zu begeben. Für heute war es zu spät, und erfahrungsgemäß hätte Bunty sehr weit ausgeholt, um mir die Schiffsgeschichte zu erzählen. Denn dieses Schiff war ja auch keineswegs sein erstes, wie ich später in Erfahrung brachte.

Noch bevor ich all das, was Bunty von der Bahnsteigkante zu mir hoch fistelt, zu sortieren vermag, setzt sich der Zug in Bewegung – »don’t forget those spark plugs, and ask for a decent discount!«, höre ich Bunty noch rufen; ich schließe das Abteilfenster, winke ihm noch einmal zu und widme mich dem lauwarmen, kräftig gesalzenen Inhalt der Papiertüte. Fish and chips sollen es sein, leider without fish. Pappige, muffige Pommes. An Bord der Fähre habe ich zum Glück Zeit und Gelegenheit, etwas ausgiebiger zu dinieren. Ich leere dazu eine halbe Flasche St. Emilion – drei Gläser auf das Wohl des Schiffseigners Bunty. Und freue mich auf ein baldiges Wiedersehen mit dem schrulligen Gentleman von Rock Cottage, dem alten Geizkragen, den wir alle so sehr mögen. Warum nur? Wegen seines Charmes? Wegen seiner Witzigkeit und seiner Begabung, lustige Geschichten zu erzählen, wegen seiner mit so viel Liebenswürdigkeit dargebotenen Unverschämtheiten, seiner gern provozierten Situationskomik, seiner Kunst, sich zu verstellen und immer wieder so überzeugend den Ahnungslosen zu spielen?

»Call me Bunty«

Meine erste Begegnung mit Bunty hatte sich unter ähnlichen Umständen zugetragen, wie sie mir später auch von anderen Besuchern geschildert wurden, etwa von meinem Freund Albert Leonhard. Mit dem Unterschied, dass sie Rock Cottage erstens bei Tageslicht und zweitens mit dem Auto aufsuchten. Ich traf bei Dunkelheit und als Fußgänger dort ein.

Ich hätte am Flughafen Manchester einen Leihwagen nehmen können, doch ich zog es vor, das Abenteuer auf mich zu nehmen, England auch mal als Omnibus-Fahrgast kennen zu lernen. Kann sein, dass ich darüber eine Geschichte schreiben wollte; so genau erinnere mich daran nicht mehr. Wohl aber an viele Einzelheiten meiner Visite in Rock Cottage.

Mein Flieger war mit einer Stunde Verspätung gestartet und gelandet; dumm genug. Es ist ein nasskalter Herbstabend, wie er typisch englischer nicht sein könnte. Zum Fürchten, Frösteln, Fluchen. Ich stehe an einer Bushaltestelle irgendwo auf dem Lande, der grüne Überlandbus hat mich an der Station Basford Hall meinem Schicksal überlassen, und das kehrt sich momentan in mehrfacher Hinsicht gegen mich.

Denn es ist nicht nur nass und kalt und windig und dunkel, sondern ich habe auch Hunger und Durst und einen Kamerakoffer in der Hand und kann niemand nach dem Weg fragen, weil jeder normal veranlagte Engländer jetzt zu Hause ist und seine Füße vor dem elektrisch beleuchteten Kamin ausstreckt, und weil, soweit ich es bei der Finsternis zu erkennen vermag, Basford Hall weder ein Dorf noch irgend eine andere Art von Ansiedlung zu sein scheint, sondern nur ein geografischer, ansonsten aber wohl unbedeutender Orientierungspunkt auf der Regionalkarte der Grafschaft Staffordshire.

Was habe ich hier bloß zu suchen. Ich hätte die Nacht über am Flughafen bleiben können, in einem Hotel, und am nächsten Morgen – oder zumindest zu einer Zeit, in der selbst im englischen November eine Andeutung von Tageslicht zu erwarten ist – den Weg nach Basford Hall antreten können, um das Rock Cottage eines gewissen Mr. Scott-Moncrieff zu finden.

Es war der letzte Bus, und dort, wo er mich abgesetzt hat, steht weder eines der roten Telefonhäuschen, von dem aus eine Miss Operator mich mit Churnetside 300 hätte verbinden können, jener Nummer, die auf der Zeitungsannonce stand, noch gibt es hier eine Tankstelle, ein Pub, überhaupt irgend etwas. Ich hatte vorgehabt, diesen Teil Britanniens noch bei Tageslicht zu erreichen und mich zum Rock Cottage durchzufragen, um Mr. Scott-Moncrieff meine Aufwartung zu machen. Als Journalist aus Deutschland, der neugierig geworden war – auf eine Begegnung mit dem angeblich größten Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler der Welt. Wieso hatte der sein Domizil eigentlich ausgerechnet hier im Niemandsland, warum nicht in London, Birmingham, Liverpool, Manchester …?

 

Vierzig bis fünfzig second-hand Rolls-Royce, angefangen vom Silver Ghost 1912 bis zum jüngsten Silver Wraith: Was für eine Story! Meine Hasselblad kann es kaum erwarten, »klackschalupp« zu machen (Blende elf, ’ne Fünfundzwanzigstel, auf Ilford FP4 und mit Stativ natürlich). Aber im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich dem Herrn, dem ich mein Kommen per Brief angekündigt habe, jemals begegnen werde. Viel wahrscheinlicher ist, dass mich innerhalb der nächsten Stunde wilde englische Tiere verschlingen werden, zum Beispiel die berühmten Hunde von Baskerville, oder dass ich in einen tiefen Graben aus der Zeit der römischen Besetzung Britanniens stürze. Und erst im August hat es diesen Postraub im Lande gegeben, bei dem die Täter mit 2,63 Millionen Pfund unerkannt fliehen konnten. Wie gefährlich es sich doch in England lebt! Ronald Biggs und seine Kumpane hatten den Postzug von Glasgow nach London durch manipulierte Signale an einer einsamen Stelle zum Stehen gebracht, den Lokführer bewusstlos geschlagen und waren mit der Lokomotive und dem Geldwaggon weiter bis zur Bridego Bridge gefahren, um dort die Behälter mit den Banknoten in ein bereitstehendes Fluchtfahrzeug zu laden.

Es sind laut Conan Doyle aber auch schon geringerer Beträge wegen schlimme Verbrechen in dieser Region begangen worden …

Ich könnte so lange warten, bis ein Auto vorbei kommt, es anzuhalten versuchen und den Fahrer nach dem Weg fragen. Den größten Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler der Welt müsste hier doch jeder kennen. Die Zeitschrift, der ich die Geschichte verkaufen möchte, heißt »twen« und wird, obwohl ihr Name etwas anderes vermuten lässt, von Leuten über dreißig, teils über vierzig gemacht. Denen das Thema Rolls-Royce, als ich es erwähnte, auf Anhieb gefiel. Echte Twens wären wohl eher auf flotte Alfa Romeos oder auf eine witzige Geschichte über die Ente von Citroën abgefahren.

Ich möchte jedoch nicht einfach am Straßenrand stehen bleiben und mich bis zum Morgengrauen krankenhausreif frieren. Eine kleine Grippe tut es ja auch, wenn es denn schon etwas Unangenehmes sein soll.

Apropos Churnetside: Wie Basford Hall, hatte ich eine Ortschaft dieses Namens auf der Karte ebenso wenig entdecken können. Aber selbst wenn ich erführe, dass es ein Dorf dieses Namens gibt, im Unterschied zum ganz gewiss nicht existierenden Basford Hall, würde mir es jetzt ebenso wenig nützen – und selbst ein tröstlicher Hinweis wie zum Beispiel »3¼ miles« auf weiß lackiertem Gusseisen, würde ich ihn denn entdecken, bedeutete eine kalte, nasse Stunde Fußmarsch. Mindestens.

Nach so viel Selbstbemitleidung darf ich immerhin feststellen, dass es zu regnen aufgehört und der Wind Bewegung in die Wolkenschichten gebracht hat, was ich vor allem deshalb mit Erleichterung zur Kenntnis nehme, weil von einer himmlischen Ecke her so etwas wie Mondlicht diesen Teil der Grafschaft Staffordshire zu erhellen beginnt. Erhellen ist übertrieben, doch zuminderst vermag ich den Verlauf der Landstraße zu erkennen, an der man mich abgesetzt hat. In kurzen Intervallen fetzen Wolken vor meiner Lichtquelle vorüber.

Ich setze meine Füße in Bewegung, und zwar in eine Richtung, von der ich nur hoffen kann, dass sie mich meinem Ziel näher bringt. Und tatsächlich: Schon nach wenigen Schritten komme ich an eine Abzweigung mit einem Straßenschild, das erkennen lässt, dass die unbefestigte Straße zu meiner Linken zum Rock Cottage führt. Eine Art Waldweg, mit ausgefahrenen Spuren von Ackerschleppern und vielleicht auch Landrovern. Ob sich auch Rolls-Royce-Reifen markiert haben, kann ich nicht erkennen – erstens ist es dazu zu finster, zweitens hätte der Regen sie ohnehin verschlammt, und drittens bin ich auf dem Gebiet der Reifenspurenkunde ziemlich unbewandert.

Eine Angabe der Entfernung hat sich der Schildermaler erspart. Eine Meile? Fünf Meilen? Zehn?

Ein kofferschleppender Jüngling aus Deutschland, frierend und hungrig, im nassen Trenchcoat und mit für Waldwege untauglichen Schuhen, der ausgezogen ist, um einen spleenigen Autohändler zu interviewen, tappst durch den westenglischen Forst und hat keine Ahnung, was ihn erwartet. Ein arroganter Nobleman mit ebensolchem Butler? Ein betrunkener Raufbold, der vor dem Kamin eingeschlafen ist? Eine ängstliche Mrs. Scott-Moncrieff, die nachts keinem Fremden die Tür aufmacht, während ihr Herr Gemahl auf Geschäftsreise in Australien weilt? Eine Antwort auf meine Besuchsankündigung habe ich nicht abgewartet, bin acht Tage später einfach losgefahren.

Wo werde ich überhaupt nächtigen? Ich kann doch nicht erwarten, dass Mr. Scott-Moncrieff für einen ihm völlig unbekannten, möglicherweise sogar unwillkommenen Besucher ein Gästebett bereit hält.

Die in den Waldweg gegrabenen Traktorspuren führen tatsächlich an mein Ziel. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist; meine Armbanduhr hat keine Leuchtziffern. Dass ich mich Rock Cottage nähere, lassen die Silhouetten von drei oder vier überdimensionalen Autokarosserien erkennen, in einer Größe, die mir im durchbrochenen Mondlicht gigantisch scheint. Sie sind ohne Scheiben, hohl, sehr kubisch. Sie passen nicht in mein Bild vom Mythos Rolls-Royce. Wie Leichenwagen sehen sie aus, die darauf warten, selbst beerdigt zu werden.

In einiger Entfernung hinter diesem makabren Monument ist ein Lichtschimmer auszumachen. Gern würde ich meine Schritte jetzt beschleunigen, bleibe aber erst einmal in knöcheltiefem Schlamm mit Kuhfladenbeimischung stecken, muss mich dann durch eine Brennesselkultur hindurcharbeiten, stolpere über am Boden liegende, im Gras eingewachsene Gegenstände unterschiedlichen Materials. Ich glaube, es sind Zylinderköpfe, Hinterachsen, Lenkräder …

Umrisse eines Hauses werden erkennbar. Eines Hauses? Es ist ein Spukschloss, mit zwei kleinen Turmspitzen und riesigen Kaminschloten an den Giebeln. Immerhin: Eines der Fenster im Erdgeschoss ist erleuchtet.

Rock Cottage! Ich hab’s geschafft!

Es gibt ein eisernes Gartentor, das offen steht, flankiert von weiteren Automobilruinen davor und dahinter, und direkt vor der Eingangstür einen mit dicken Feldsteinen eingefassten, jedoch außer Betrieb befindlichen Goldfischteich mit einer allegorischen Figur an Steuerbord, die in der Halbfinsternis so aussieht, als hocke da ein Kind, ein armes frierendes englisches. Und in den leeren Teich stürze ich beinahe hinein, weil ich so sehr auf das Licht fixiert bin, das aus dem Fenster scheint, und weil die letzten Meter (nein: Yards natürlich) zum Teich weitgehend verstellt sind. Mit weiteren Autos oder Teilen davon. Sie scheinen etwas kleiner zu sein als die hohlfenstrigen Leichenwagen oder was ich dafür hielt.

Ich finde dennoch den Weg zur Eingangstür. Ich klopfe, laut und kräftig. Und erwarte ein »come in, please« oder das Erscheinen eines Menschen, ganz gleich, ob freundlich oder unfreundlich, erstaunt oder erschrocken, misstrauisch oder herzlich, männlich oder weiblich …

Stattdessen vernehme ich eine schwache Stimme, beinahe tonlos, und nur zu verstehen, weil ich das Ohr direkt an die Türspalte lege. Ich stelle meinen Fotokoffer auf den Boden und lausche, bevor ich den Türgriff zu drehen versuche, der Botschaft, die dem fremden Gast zuteil wird:

»Halten Sie sich um Himmels willen von der Türe fern! You risk your life! Rodney hätte das Gesims schon letztes Jahr reparieren sollen, jeden Tag fallen ein paar Steine herunter … Gehen Sie links zum Eingang am Giebel, durch das Pfauengehege, in die Küche … Sie werden’s schon finden …«

Der Käfig mit den Pfauen – zu sehen sind sie nicht – ist dann meine letzte Prüfung, die mir auferlegt ist, um den Zutritt zum Rock Cottage zu erlangen. Am Maschendraht bleibe ich mit dem Mantel hängen, ich kann deutlich hören, wie ein Dreiangel im Gewebe entsteht. Doesn’t matter, jetzt. Pfauen sehe ich nicht. Die sollen Fremden gegenüber ja aggressiv werden können.

Die Tür zur Küche ist unverschlossen. Die zum dahinter liegenden Raum ebenfalls. Es ist der, aus dem das Licht durchs Fenster fiel.

Der zweite Teil des Abenteuers kann beginnen: Der meiner Begegnung mit David Scott-Moncrieff.

Nur ein einziges Mal habe ich ihn so nennen dürfen, nämlich als ich mich vorstelle und sage: »Good evening, Mr. Scott-Moncrieff, my name is …« – und schon lässt mich der Hausherr wissen, dass er mit Bunty angesprochen zu werden wünsche, ein für allemal.

Allright then, Mister Bunty!

Bunty. Keines meiner Bilder, das ich mir von ihm gemacht hatte, trifft auch nur im Entferntesten auf den alten Herrn zu, der mich jetzt auf Rock Cottage Willkommen heißt. Er ist herzlich, als seien wir alte Bekannte. Ja, meinen Brief habe er erhalten und mit meinem für heute angekündigten Besuch fest gerechnet. Die Deutschen seien zuverlässige Menschen, und wenn sie sagen, am Mittwoch kämen sie, dann kämen sie auch wirklich am Mittwoch, und nicht am Freitag. Oh, er habe keine schlechte Meinung von den Deutschen, except the Nazis of course and a few stupid bandits of that kind, und ob ich nicht Platz nehmen möge.

Bunty – ohne Mister, please – hat sich zur Begrüßung seines erwarteten Gastes nicht aus dem ledernen Ohrensessel erhoben, denn er ist zur Zeit Invalide. Sein linker Fuß ist in Gips, wie ich erkennen kann, und ruht auf einem kleinen Polsterhocker. Der dazugehörige Körper steckt in einem karierten Anzug schwer definierbarer Farbe, die Hose ragt ihm fast bis unter die Achseln und wird von leuchtend roten Hosenträgern in dieser Position fixiert. Die gestreifte Clubkrawatte lässt zwischen einer Ansammlung von Flecken unterschiedlichster Art und Größe kräftige blaue und grüne Elemente erkennen. Immerhin befindet sich eine silberne Nadel mit einer Perle in halber Höhe zwischen Bauch und Kragen. Und oberhalb des Kragens befindet sich das Interessanteste am Landlord of Rock Cottage: sein von platinfarbenen Haarbüscheln besetzter Kopf mit Knubbelohren, Knubbelnase, Knubbelkinn und zwischen Gebirgen von Falten verborgenen Blinzelaugen.

Es gibt Äpfel, die so aussehen, nämlich wenn man sie zwei Monate nach Weihnachten noch immer nicht zu Bratobst verschmort hat. Mit roten Bäckchen zwar, aber verschrumpelt und von Furchen und Narben durchzogen und mit ein paar Flecken und weichen Stellen drin. Bei Buntys wasserblauen Augen muss der Vergleich schon wieder aufhören. Sie glänzen und zwinkern listig-lustig eher in vorweihnachtlicher Erwartung und blicken mich treuherzig und zugleich bohrend an – Santa Claus! –, während unter dem zerzausten Schnauzbart, irgendwo zwischen Knubbelnase und Knubbelkinn, eine schwache Stimme ertönt, deren Melodie und Farbe gar nichts weihnachtsmännisches hat, sondern britischer nicht sein kann, auch lassen Artikulation und Prononcierung des Gesprochenen nur einen Schluss zu: Cambridge! Nicht etwa Oxford, Eton, Harrow …

Bunty spricht und spricht – leise zwar, aber gut vernehmbar, und er flicht seine Sätze zu lustigen Girlanden und Mäandern, die nirgendwo anfangen und nirgendwo enden, immer wieder Unterbrechungen und Einschübe erfahren, lauter Neben-Mäander und kleine Rokokozöpfchen bekommen, verbunden durch Brücken oder auch nur Stricke, in denen er sich zuweilen selbst verfängt – ich muss sehr aufpassen, dass ich dem inhaltsreichen Monolog zu folgen vermag, zumal Buntys dritte Zähne so manches Wort eher ungern, zumindest undeutlich freigeben. Der Living Room, in welchem wir uns befinden, ist vollgestopft mit Stapeln von Zeitungen und Büchern, Schachteln und antikem Kleinmobiliar; die Türen der Glasschränke an den Wänden stehen offen, und auch aus ihnen quellen Bücher, Schriftstücke, Kataloge, Landkarten, Magazine. Jeder freie Wandzentimeter ist mit Bildern, Fotografien, Regalen voller Nippes und Zinnkrügen und Keramik-Kitsch sowie großen, alten Kühlerfiguren bestückt. Natürlich sind die meisten Figuren Rolls-Royce-Emilies. Aber es befindet sich unter den knienden und hockenden und schwebenden Engeln auch ein majestätischer Mercedesstern auf schwarzem Sockel. Mit dem es, wie mit dem dazugehörigen Auto, eine ganz besondere Bewandtnis hat. Das erfahre ich aber erst sehr viel später.

 

»Ich verspüre ein wenig Hunger, mein junger Freund, und Sie sicher auch. Meine gute Averil ist heute mittag nach London gefahren und wird erst morgen zurückkommen. Oh, übrigens, haben Sie von dem dreisten Postraub gehört? Mehr als zwei Millionen Pfund haben sie abladen können. Mein Gott, so viel Geld, nicht wahr? Averil ist eine so liebe Frau, Gott beschütze sie unterwegs vor Unglück. Aber so lange sie nicht da ist, müssen wir uns selbst versorgen, wenn wir nicht Hungers sterben wollen. Seien Sie doch so gut, mein junger Freund, und gehen Sie in die Küche und sehen Sie nach, ob Sie dort etwas Essbares finden. Und machen Sie uns einen Tee.«

Das englische »you« kann man bekanntlich als Du oder Sie interpretieren, und so kommt es sehr auf das Drumherum an, auf die Art, mit der man angesprochen wird (beim Vornamen ja sowieso), um daraus ein Du oder ein Sie nach deutschem Verständnis abzuleiten.

Ich entscheide mich ohne lange zu überlegen, dass Buntys »you« als »Du« zu verstehen sei.

Und während Bunty pausenlos weiter spricht, leise, aber melodisch, beinahe singend, am Satzanfang stets etwas piepsend, dann die Stimme absenkend bis auf ein Dezibel-Minimum, erhebe ich mich weisungsgemäß aus meinem Sessel, gehe in die Küche, finde sogar einen Lichtschalter, aber so gut wie nichts, was sich verzehren ließe. Averil, Buntys Ehefrau, hat ihren Mann offenbar auf Diät gesetzt. Dabei hat der Gute wirklich nichts zuzusetzen. Poor old man … Und bei seiner gegenwärtigen Immobilität ist er, wie es scheint, hilflos genug, sich nicht einmal ein Spiegelei in die Pfanne zu hauen. Abgesehen davon, dass dies womöglich unter seiner Würde wäre: Bunty am Küchenherd, über eine Bratpfanne gebeugt, ein Ei in der Hand … schwer vorzustellen! Also suche ich weiter. »In der Kammer nebenan wirst du eine runde Blechdose finden, die bringst du bitte mal her, mein teurer Freund,« tönt es aus dem Living Room.

Ich sehe sie. Aber sie enthält Schuhputzzeug. »Dann muss es eine andere runde Dose sein. Mit Keksen drin, noch von Weihnachten.«

Die Keksdose, die er meint und die ich auch tatsächlich entdecke, ist eckig, nicht rund. Auf dem Deckel steht »The Genuine Joseph Lucas Acetylene Gas Motor Car Headlamp Repair Kit No. 5«. Die Kekse darin scheinen noch essbar zu sein, zumindest zeigen sie keine Spur von Schimmel oder so. Ich bringe sie ins Wohnzimmer, und wir beginnen zu knabbern. Das heißt, Bunty hat die Dose auf seinen Knien, ich muss wegen jedes einzelnen Zugriffs aufstehen und hineinlangen. Sie schmecken ein wenig nach jenem Azetylengaslampenreparatursatz, den die Schachtel einst enthielt. So werde ich wohl nicht mehr satt heute.

»Now we should have some tea … kannst du Tee kochen, mein guter Freund? Deutsche können doch alles, nicht wahr, also mach uns einen Tee. Nur keine Beutel, bitte, mein Lieber! Solltest du solche finden, vergiss sie auf der Stelle, hörst du! Es ist die böseste Erfindung nach hydraulischen Ventilstößel; Mabel hat sie angeschleppt. Der Teufel soll die Putzfrau holen. Du wirst schon irgendwo richtigen Tee finden, denke ich.«

Wenn ich Glück habe, bekomme ich jetzt wenigstens etwas Heißes zu trinken! Ich wühle in der Scott-Moncrieff’schen Küche also nach real tea, erhitze Wasser auf einem Gasherd aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der rußschwarze Wasserkessel könnte noch einmal hundert Jahre älter sein. Aus Bergen von nicht abgewaschenem Geschirr – beste Ware, alles Royal Spode – ziehe ich vorsichtig zwei Tassen hervor, spüle sie aus, und unter einem Stapel alter Zeitungen auf dem Küchentisch finde ich auch eine gefüllte Tee- sowie eine Zuckerdose. Es kann losgehen.

»Wenn Averil morgen aus London zurückkehrt, wird sie in Leek Station machen und Einkäufe mitbringen. Es ist fast nichts im Hause. Ich vergaß, Hazel um ein paar Besorgungen zu bitten. Hazel musst du kennenlernen! Wir müssen den Tee jetzt schwarz nehmen, Milch ist seit gestern nicht mehr da, sorry, my dear, Mabel ist so unzuverlässig! In Portugal habe ich einmal, äääh, mmmh, also das muss um 1954 gewesen sein, also da gab es einen schwarzen Tee, warte mal, äääh, wie hieß er doch, den hatten sie aus Mexiko importiert, nein aus Guatemala natürlich, dort gilt er als Rauschmittel, einfach wundervoll …« und so geht es pausenlos in Girlanden und Mäandern weiter. Ich komme nicht zu Wort, kann meine Fragen nicht loswerden, muss statt dessen den mit so viel Liebenswürdigkeit vorgetragenen Wünschen des alten Herrn Folge leisten: »Die Heizsonne bitte etwas mehr zu meinem kranken Fuß bitte, ja so ist es schön. Geh’ bitte in die Küche und mach’ das Licht wieder aus, sei so gut! Wir müssen sparen in diesen schlechten Zeiten, die Regierung besteht nur aus Halunken und die Strompreise sind inzwischen geradezu astronomisch! Oh, hätten wir nur euren Kanzler Adenauer, aber der soll ja zurückgetreten sein, wie ich hörte … Und jetzt schau doch mal, ob du die Portweinflasche findest dahinten, nein, nein nicht dort, mehr links muss Averil den Port wohl versteckt haben, oder doch rechts, und irgendwo wirst du sicher auch Gläser entdecken, die wird sie doch nicht ebenfalls versteckt haben. So etwas bringt höchstens Mabel fertig, the stupid cleaner girl. Oder hast du bei deinem Abflug eine zollfreie Flasche im Duty Free gekauft? Alle meine Freunde aus dem Ausland bringen immer eine Flasche aus dem Duty Free mit, wenn sie mich besuchen kommen!«

Daran habe ich nicht gedacht. Mein Gastgeschenk für Bunty ist ein Buch über die Frauenkirche in München, auf Englisch. Es interessiert ihn sehr, er blättert es durch. »Ich liebe München. Auch wenn man mich dort 1933 für einen persönlichen Freund Hitlers gehalten hat, was mir fürchterlich unangenehm war, aber ich hatte keine Chance, diesen Irrtum aufzuklären. Und Architekturgeschichte ist meine Leidenschaft! Während meiner vielen Reisen habe ich auch Notre Dame in Paris und die Kathedrale von Reims, den Stephansdom in Wien und den äääh, ich meine, es war wohl doch das Münster in Straßburg …« und so weiter …

Während wir uns nach dem letzten Keks und meinem etwas zu stark geratenen Tee einen Port »Tawny Rich« genehmigen, komme ich endlich dazu, meine ersten Fragen los zu werden: Bunty, stimmt es, dass du das größte Sortiment der Welt an gebrauchten Rolls-Royce anzubieten hast? Wo befinden sich die Autos alle? Darf ich sie morgen sehen und einige von ihnen fotografieren?

Bunty geht auf keine meiner Fragen ein. »Ich muss dir erst einmal die Geschichte von dem komischen Argentinier erzählen, der letzte Woche hier war, um einen Silver Dawn zu kaufen. Aber erst noch einen kleinen Port, bitte. Ich nehme an, du möchtest lieber keinen mehr? Aber wenn schon, dann bedien dich nur … Also: der gute Mann kam aus Buenos Aires, oder aus Bahia Blanca, was weiß ich. Er war jedenfalls ein Emigrant, ein gebürtiger Rumäne, das bemerkte ich sofort. Ich kenne ganz Rumänien, und auf der Donau, wo sie durch Rumänien fließt, war ich mit dem Schnellboot unterwegs, 1941/42. Und mit einem Lincoln natürlich. Oh, was für eine wundervolle Zeit, mein Lieber, wir haben so viel Wodka gehabt, wie wir nur wollten. Wir mussten uns lediglich vor den Deutschen in Acht nehmen.« Die Geschichte ist sicher reich an Pointen, aber ich kann ihrem Verlauf nicht ganz folgen, weil sich meine Gedanken um meine Story drehen, die ich schreiben möchte. Außerdem hört Buntys Story um den rumänischen Argentinier abrupt und offenbar kurz vor einer wichtigen Aussage auf, weil ihrem Erzähler Stimme und Faden abhanden gekommen sind und sein Kopf ganz sachte auf die Brust sinkt. Das Mäander hat sich irgendwo verhakt, und Bunty ist dabei, einzuschlafen, das geleerte Portweinglas in der Hand. Jetzt könnte ich mir ja auch noch einen zweiten genehmigen … aber schon zuckt der Schnauzer, Bunty hebt den Kopf und gähnt, stellt das Glas neben sich, zieht seine knallroten Hosenträger unter dem Jackett zurecht, reibt sich das Knubbelkinn und guckt mich an.