Der Klang der Stille

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Mit dem Chor auf Reisen zu gehen, genoss ich ebenfalls sehr. Wir sangen in Italien, Österreich und Ungarn – damals noch zur Zeit des Eisernen Vorhangs. Da es ein Austauschprogramm mit dem Kinderchor der Budapester Kodály-Schule gab, wohnte ich bei der Familie des dortigen Konzertmeisters. Das waren aufregende und schöne Zeiten.

Dass man beim Musizieren aufeinander hören muss, lernte ich aber nicht nur im Rahmen des Chorsingens, sondern auch später in noch intensiverer Form im Gymnasium bei der Kammermusik. Mein Vater nahm mir damals das Versprechen ab, nie mit dem Klavierspielen aufzuhören. Heute ist es mir manchmal zu viel, aber als ich mit den Wiener Symphonikern Kammermusik spielte oder zum Beispiel Renée Fleming bei einem Rezital begleitete, merkte ich in den zwei Monaten davor, wenn ich wieder zu üben begann, wie wichtig es ist, sein eigenes Instrument weiter zu beherrschen und auch damit auf die Bühne zu gehen und die Nerven zu bewahren. Es ist einfach schön, selbst ein Instrument zu spielen! Es ist schön, für seine eigenen Töne verantwortlich zu sein und auch einmal nicht von anderen abhängig zu sein. Das, was ich mir vorstelle, direkt mit meinen eigenen Händen zum Klingen zu bringen, ist etwas ganz Besonderes für mich. Durch das Dirigieren habe ich jetzt auch wieder mehr Spaß am Üben gefunden. In Zeiten, in denen ich sechs Stunden am Tag üben musste, war es manchmal nur ein mechanischer Vorgang. Wie oft habe ich dabei auch an andere Sachen gedacht! Als ich in Wien anfing, mit den Symphonikern Kammermusik zu machen, musste ich beim Üben einen effizienteren Weg finden, da ich keine Zeit hatte, immer das ganze Werk durchzuspielen. Ich musste mich auf jene Passagen konzentrieren, die ich nicht perfekt konnte. Wie bei der Arbeit mit dem Orchester darf man sich nicht verzetteln. Man muss gezielt die Stellen proben, wo es wehtut. Für mein Klavierspiel ist dieses Wissen jetzt sehr hilfreich. Ich denke, auch als Kind wäre ein effizienteres Üben von Vorteil und vor allem auch zeitsparend gewesen – das müsste mehr gelehrt werden!

Von meinem Vater lernte ich die erste Musiktheorie. Er erklärte mir jeden Tag zehn Minuten unter anderem die Intervalle oder den Quintenzirkel. Er war von meinem absoluten Gehör fasziniert und manchmal übte er auch mit mir Klavier. In dieser Zeit begann ich meinen Vater wiederzufinden.

In der Schule nahm ich immer wieder an musikalischen Wettbewerben teil und es war mir ein Rätsel, warum ich nie unter den Gewinnern war. Die Erklärung meines Geigenlehrers war, dass ich zwar einen unglaublichen Ausdrucks- und Interpretationswillen hatte, aber in technischer Hinsicht noch dahinter zurückblieb. Ebenfalls zu denken gab mir eine Lehrerin, die auf mich aufmerksam wurde, als ich bei einem Jugendmusikwettbewerb eine Kollegin am Cello begleitete. Sie fasste mich wirklich hart an, aber nahm mich ernst, obwohl ich ja nur der Begleiter war. Ich musste anfangen zu lernen, dass musikalischer Ausdruck nur mit einer wirklich soliden Technik realisiert werden kann.

In der Schule gab es einen sehr guten Klavierlehrer: Boris Mersson. Er war in der Nachkriegszeit in der Schweiz eine wichtige Koryphäe der Musik: ein sehr guter Pianist, Komponist, Dirigent, Jazzmusiker und Kammermusiker. Er hatte sein eigenes Trio und war überhaupt ein Mann mit großer musikalischer Bandbreite. Ohne Frage war die Begegnung mit ihm einer der wichtigsten Bausteine meiner musikalischen Entwicklung. Er hatte eine Pianisten-Klasse am Gymnasium, in die ich aufgenommen wurde. Dort arbeitete er sehr systematisch mit uns. Ich lernte durch ihn, was es heißt, sechs Stunden am Tag zu üben. Da ich damals schon daran dachte, Dirigent zu werden, war er sicher der beste Lehrer für mich. Er war gleichermaßen ausgebildeter Komponist, Pianist, aber auch Dirigent. Die Dirigentenlaufbahn kam für ihn nicht wirklich in Frage, obwohl er Meisterkurse bei Herbert von Karajan und Hermann Scherchen besucht hatte. Für ihn bedeutete Dirigieren nicht viel mehr als »Führen«.

Aber dadurch hatte er eine musikalische Weitsicht, die mir ein »normaler« Klavierlehrer wohl nie hätte vermitteln können. Bei ihm lernte ich auch die musikalischen Standards und Klaviertechniken, lernte Disziplin und Aufmerksamkeit und natürlich das ganze Repertoire von Bach bis Bartók. Viel wurde auch über Musik gesprochen, wofür ich speziell auch dann dankbar war, wenn ich wieder einmal nicht genug geübt hatte. Ein wichtiges Element seines Unterrichts war Bachs Wohltemperiertes Klavier. Er wollte immer, dass ich die Bach-Busoni-Ausgabe spiele, die heutzutage eher verpönt ist, aber – durch Busonis Analysen – pianistisch und musikalisch gesehen ein großes Wissen über Musikgeschichte vermittelt, denn hier schwingen auch Beethoven, Brahms und das spätromantische Erbe mit. Er fand es interessant, sich der musikgeschichtlichen Tradition bewusst zu werden. Der Urtext einer Komposition ist wichtig, aber es gibt auch ein Danach. Zum Beispiel erhebt sich bei Boris Godunow die Frage, warum heutzutage fast immer nur die Urfassung gespielt wird und nicht wieder einmal die Version von Rimski-Korsakow. Natürlich hat sie mit dem ursprünglichem Mussorgski wenig zu tun, aber sie ist lebendige Musikgeschichte. Diese Fassung hat Generationen von Menschen Boris Godunov und Mussorgski nahegebracht, ist großartig instrumentiert und stammt nicht von irgendeinem Musikwissenschaftler, sondern ebenfalls von einem großen Komponisten.

Bei Boris Mersson blieb ich bis zu meinem Klavierdiplom. Später nahm ich dann bei Karl Engel Unterricht, aber das war leider nur eine sehr kurze Begegnung, weil ich bereits ein halbes Jahr später meine erste Stelle in Ulm antrat.

In der dritten Klasse des Gymnasiums arbeitete ich während der Sommerferien im Rahmen eines dreiwöchigen Musiklagers mit Jugendlichen aus aller Welt an Kammermusikstücken, für die ich ein halbes Jahr geübt hatte. Jeden Abend gab es ein »Hauskonzert«. So lernte man auch, vor den viel Besseren zu spielen. Ich wusste, dass ich jeden Tag besser wurde, aber in dieser Zeit war ich mir schon sehr sicher, dass ich dirigieren wollte. Mein Vater sagte jedoch, dass man erst einmal gut Klavier spielen müsse, um Dirigent zu werden. Damals gab es auch einen großen Kampf zwischen meinen Eltern und mir, weil ich zu dieser Zeit die Schule abbrechen wollte, um mich ganz auf die Musik zu konzentrieren. In dieser Situation erwies sich die Leitung des Gymnasiums als sehr konziliant und gewährte mir einen Hospitantenstatus. Das hieß konkret, ich könnte die Schule weiter besuchen, müsste aber nur einen Teil der Fächer belegen. In der übrigen Zeit könnte ich auf der Musiketage üben. Ich traf mit meinen Eltern eine Abmachung: Sollte ich in einem Jahr keine wesentlichen Fortschritte machen, würde ich die Schule wieder voll aufnehmen. Im selben Jahr trat ich auch als Jungstudent ins Konservatorium ein und bereitete mich auf ein Klavierlehrerdiplom vor, das ich dann – zu meiner eigenen Überraschung – sogar mit Auszeichnung bestand. Ich war zwar durch Krisen und Selbstzweifel gegangen – aber ich schaffte es! Dieses Diplom gab mir die Sicherheit eines Berufes und auch das beruhte auf einer Vereinbarung mit meinen Eltern, denn wer garantierte denn, dass ich als Dirigent erfolgreich sein würde? Als schriftliche Arbeiten schrieb ich in der Musiktheorie über die Beethoven-Streichquartette und in der Pädagogik über »Zen in der Kunst des Musizierens«. Inspiration hierfür war das Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« und ich dachte mir, dass man diese Philosophie auch aufs Musizieren übertragen könnte. Mit sechzehn Jahren hatten mich spirituelle Dinge vermehrt zu interessieren begonnen. Meine Mutter entwickelte zusehends ihre Begabung als Medium, das heißt, sie hatte beispielsweise beim Zeichnen die Fähigkeit, sich von spirituellen Kräften als Channel führen zu lassen. Sie sagte dann: ES zeichnet. Das war sehr spannend für mich. Ich probierte damals mit Kollegen auch verschiedene Meditationstechniken aus und in dieser Zeit bekam ich eben auch das Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« geschenkt. Zunächst dachte ich: »Was habe ich mit Bogenschießen zu tun?« Aber es geht ja in diesem Werk nicht allein ums Bogenschießen. Es geht vor allen Dingen um Geistesschulung, um die Praxis des Zen und auch um das ES. Darüber machte ich mir meine jugendlichen Gedanken, die ich in diese schriftliche Arbeit einfließen ließ. Es war meine erste Beschäftigung mit dem Spirituellen, das mich heute noch begleitet, sei es im Rahmen von Meditation oder Yoga. Vieles davon finde ich heute auch in der Stille der Natur.

Meine Familie ist ursprünglich katholisch, aber die Religion wurde nicht praktiziert. Als Jugendlicher ging ich allein in die Kirche, nicht nur aus religiösen Motiven, sondern weil ich mich als Teil des kulturellen westeuropäischen Erbes fühlte, und dazu gehört auch die katholische Bildung. Mit diesen religiösen Inhalten habe ich mittlerweile gebrochen, aber für meine Entwicklung war das eine wichtige Zeit. Ich bin nicht religiös, aber spirituell, denn ich glaube, dass es etwas gibt, das mehr ist als das, was wir wissen – Musik ist das beste Beispiel dafür! Aber ich denke, dass Religion nicht die Antwort ist.

Noch während des Konservatoriums durfte ich bei meinem Vater bei den Festspielen in Aix-en-Provence Don Giovanni korrepetieren. Er hatte mir damals verschiedene Wege aufgezeigt, wie man Dirigieren erlernen kann, und gemeint, es sei heute zwar die Regel, ein Dirigierstudium zu machen, aber er empfehle es mir nicht. Er selbst war ja auch den klassischen Kapellmeisterweg gegangen, arbeitete als Korrepetitor mit Sängern und sprang, wenn sich die Gelegenheit ergab, als Dirigent ein. Er meinte, Dirigieren sei ein praktischer Beruf. Ein Geiger hat seine Geige, ein Pianist sein Klavier, aber ein Dirigent bekommt während des Studiums nur jedes halbe Jahr ein Orchester zur Verfügung gestellt und dirigiert mehrere Jahre immer nur zwei Pianisten oder ein Streichquartett. Er empfahl mir den Weg über die Praxis. Es fiel mir nicht schwer, ihm zu glauben, weil ich die Oper damals ohnehin mehr liebte als Konzerte. Er meinte, wenn ich sechs Wochen lang in allen möglichen Don Giovanni-Proben, also in Stellproben, technischen Proben, Statistenproben gespielt hätte und danach die Musik immer noch lieben würde, dann wäre ich vielleicht in diesem Beruf am richtigen Platz. Bei dieser Produktion lernte ich tatsächlich sehr viel und durfte sogar einmal bei einer Bühnenprobe ein bisschen dirigieren. Es war auch sehr interessant, die verschiedenen Abläufe in einem Probenprozess an der Oper zu beobachten: Wie man mit der Spannung der Sänger umgeht, was man sagt und, vor allem, was man nicht sagt. Es war keine besondere Produktion und sie wurde auch kein Erfolg, aber für mich war es eine spannende Zeit. Im Jahr darauf machten wir gemeinsam auch die Wiederaufnahme. Der Regisseur verbesserte vieles und einige Sänger wurden ausgetauscht. Da verstand ich zum ersten Mal, was es bedeutet, an einem Stück weiterzuarbeiten und es weiterzuentwickeln.

 

Das nächste Projekt meines Vaters war Der Rosenkavalier am Théâtre du Châtelet in Paris. Er brauchte noch einen zweiten Pianisten und der damalige Direktor, Stéphane Lissner, schlug ihm vor, mich zu nehmen. Rosenkavalier zählt zu den schwierigsten Werken überhaupt, aber ich hatte ein ganzes Jahr lang Zeit und übte wie verrückt, fast noch mehr als meine Diplomstücke, weil mir das so wichtig war. Da mein Vater damals den Rosenkavalier zwanzig Jahre nicht mehr dirigiert hatte, meinte er, wir sollten uns vor der ersten Probe einmal zusammensetzen. Er würde es schlagen, um die Noten einzurichten, und ich solle dazu spielen. Ich war ja damals wirklich noch sehr unerfahren, aber trotzdem sprach mir mein Vater ein ganz großes Lob aus: »Woher hast du das? Wie kannst du so gut einem Schlag folgen?« Für mich war das eigentlich selbstverständlich, aber heute weiß ich, dass sogar gute Korrepetitoren nicht unbedingt einem Dirigenten ohne Weiteres folgen können. Diese Zeit mit meinem Vater war eine der glücklichsten in meinem bisherigen Leben. Rosenkavalier wurde eine wunderbare Produktion mit Felicity Lott als Feldmarschallin und Kurt Rydl als Ochs. Regie führte Adolf Dresen.

Bald danach, 1994, suchte man im Châtelet noch einen Pianisten für Siegfried und Götterdämmerung mit dem Dirigenten Jeffrey Tate. Es wurde mein erster Ring am Klavier und eine wunderbare Gelegenheit, diese Stücke zu spielen und so genau kennenzulernen, denn Jeffrey Tate war, unabhängig von seinen dirigentischen Fähigkeiten, selbst einer der besten Korrepetitoren und Studienleiter, die es je gab. Er hatte mit Karajan gearbeitet und auch den Boulez-Ring in Bayreuth als Studienleiter betreut. Von ihm lernte ich die Genauigkeit, mit der er mit Sängern probte. Zunächst arbeitete er am Text, was mir heute auch sehr wichtig ist, dann an der Intonation, am Rhythmus und auch an der Bedeutung. Von seinem unglaublichen Hintergrundwissen profitierten wir alle sehr. Bei seiner Così fan tutte-Produktion in Aix-en-Provence wurde ich dann sein erster Assistent und spielte auch Cembalo. Erneut lernte ich da von ihm sehr viel über Probenarbeit. Er erzählte mir unter anderem, dass er einst bei der Karajan-Plattenproduktion der Zauberflöte nur eine halbe Stunde Zeit gehabt hatte, aus den drei sehr unterschiedlichen Sängerinnen, die sich zum ersten Mal begegneten, das Ensemble der drei Damen zu formen. Daran denke ich jetzt immer, wenn ich Così fan tutte mache: Ich arbeite an den Ensembles, an der Balance, an der Artikulation. Wer singt staccato? Wer singt legato? Wie bekommt man etwas deutlich heraus, wie intoniert man, wie harmonisiert man das? Er hatte immer einen ästhetisch-klassizistischen Anspruch bei Mozart, alles war immer sehr ausgewogen. Das kann man mögen oder nicht – aber ich habe ihm sehr viel zu verdanken.

Nach meinem Studium wusste ich zwar, dass ich als Repetitor arbeiten konnte, aber was dann? Sollte ich vielleicht doch Konzertpianist werden? In meiner Kindheit hatte ich verschiedene Phasen: Es gab die Phase mit dem Wunsch, Pianist zu werden. Als Sängerknabe wäre ich sehr gerne Opernsänger geworden. Es gab vielleicht auch eine kurze Regiephase als Jugendlicher, in der ich mir meine eigenen Theatermodelle baute und die großen Mozart- und Wagneropern inszenierte. Das habe ich mir damals vielleicht zu einfach vorgestellt – heute habe ich großen Respekt vor dem Beruf des Regisseurs. Aber nach der Zauberflöte meines Vaters oder spätestens nach der Walküre in Seattle wusste ich: Ich wollte dirigieren!

Die Galeerenjahre

Eines Tages rief mich eine ältere Gesangslehrerin aus Zürich, eine Frau Gerhard, an. Mit etwas gebrechlicher Stimme ließ sie mich wissen, dass sie für ihre Gesangsschüler für einige Stunden einen Begleiter bräuchte, es gäbe auch ein wenig Geld dafür. Obwohl ich zu dieser Zeit eigentlich mein Diplom vorbereiten musste, sagte ich zu. Frau Gerhard wurde zu meinem Schutzengel, weil sie immer wieder darauf bestand, ich müsse dirigieren. Auf ihre Anregung hin schrieb ich an alle in Frage kommenden Agenturen. Die meisten antworteten natürlich nicht, doch dann kam eine Nachricht von einer Stuttgarter Agentur, sie hätten meine Bewerbung an das Stadttheater Ulm weitergeleitet, wo auch Karajan begonnen hatte, und das Vorspiel sei nächste Woche. Das war natürlich eine tolle Sache. Ich war erst neunzehn und kam bei diesem Vorspiel auch gut an. Da ich aber schon als Korrepetitor für den Ring in Paris zugesagt hatte, stand ich allerdings für den Beginn der kommenden Saison nicht zur Verfügung. Daher wurde die Entscheidung vertagt, ich musste noch einmal mit konkreten schweren Opernszenen kommen und auch mit Sängern arbeiten. Ich übte bis dahin fleißig und wurde so tatsächlich ab Herbst 1994 Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung am Stadttheater Ulm.

Wegen meiner Verpflichtung in Paris konnte ich weder die Eröffnungspremiere vom Rosenkavalier noch Wiener Blut korrepetieren, und so war Funny Girl mein erstes Stück – ausgerechnet ein Musical! Aber beim Üben bemerkte ich, wie viel Spaß mir diese Musik machte. Außerdem ist man gleich mit allen Abteilungen des Theaters beschäftigt: mit Sängern, Schauspielern und dem Ballett. Das Schöne im deutschen Stadttheater ist, dass man irgendwann immer seine Chance bekommt. Nach zwei Monaten übernahm ich zwei Vorstellungen als Dirigent. Es gibt das ungeschriebene Gesetz an deutschen Bühnen, dass man auf jeden Fall eine zweite Vorstellung bekommt, um sich zu verbessern, denn beim ersten Mal kann ja immer etwas schiefgehen. Sollte auch die zweite Vorstellung nicht wunschgemäß klappen, bleibt man am Klavier. Das war natürlich alles sehr aufregend, ich durfte Bühnenproben und eine Bühnenorchesterprobe leiten und das erste Mal ein professionelles Orchester dirigieren.

Mein Vater half mir damals sehr, denn er hatte mich als Korrepetitor zwar sehr gelobt, aber an meinen Dirigierfähigkeiten hatte er noch große Zweifel. Die Grundlagen hatte ich zwar im Fach Orchesterdirigieren am Konservatorium gelernt und auch in der Dirigentenklasse hatte ich Klavier gespielt und zugeschaut, aber das war keine wirkliche Ausbildung. Mein Vater kam eine Woche vor meinem Debüt nach Ulm und ließ mich das Stück durchschlagen. Danach fragte er mich etwas verblüfft, wo ich denn das gelernt hätte. Er gab mir noch ein paar Ratschläge und kam auch zur ersten Vorstellung. Ich war hochgradig nervös, aber der Vorteil beim Musical ist, dass im Orchester der Drummer immer das Tempo hält. Egal was schiefgeht, man hat etwas, woran man sich festhalten kann. In der ersten Vorstellung passierte es dann auch nach 25 Minuten: ein Kapitalschmiss. Der Posaunist hatte mich nicht verstanden und nicht eingesetzt. Ich dachte, jetzt ist es aus, aber ich machte weiter. Später lernt man, dass es in einer solchen Situation meistens nicht aus ist, denn auch bei den Größten kann immer etwas schiefgehen. In der Pause waren alle sehr positiv, fanden den Schmiss nicht weiter schlimm, sondern hatten bemerkt, dass da ein Zwanzigjähriger mit den Sängern atmet, Freude an der Musik hat und diese auch weitergibt. Die zweite Vorstellung lief dann einwandfrei – ganz ohne Schmiss. Danach bekam ich von der zweiten Kapellmeisterin, die sich bereits bei meinem Vorspiel in Ulm für mich eingesetzt hatte, gleich die nächste Chance. Julia Jones dirigierte Wiener Blut, eine Operette, in der zwar alle Melodien von Strauß sind, aber das Stück als Ganzes stammt nicht von Strauß. Sie war der Meinung, ich sollte auch ein paar Vorstellungen übernehmen. Alle sagten, das sei schwerer zu dirigieren als Die Fledermaus, denn die Übergänge sind sehr oft ungeschickt geschrieben. Ich hatte auch großen Respekt davor, denn immerhin war es, wie mein Vater mir erzählte, Kleibers großes Erfolgsstück in Zürich, aber ich hatte große Lust auf diese Musik – allein schon wegen des Kaiserwalzers, der als Balletteinlage eingefügt war. Über die Weihnachtstage lernte ich fleißig. Die Ulmer spielten zwar viel Operette, aber einen Wienerischen »Nachschlag« musste man schon über eine gewisse Gestik vermitteln, was sich bei der Vorstellung dann auch bezahlt machte.

In dieser Saison dirigierte ich dann auch meine erste Oper: Don Giovanni. Rein technisch gesehen viel leichter als Wiener Blut, aber gestaltungsmäßig natürlich eine andere Kategorie. Wenn man in der Provinz eine Vorstellung übernimmt, kann man nicht viel anders machen als der für die Produktion verantwortliche Dirigent. Wenn ein Vorgänger ein Tempo vielleicht zu langsam genommen hat und alle darunter gelitten haben, kann man das zur Freude aller Beteiligten ändern, man kann auch die Dynamik ändern, muss es aber deutlich zeigen. Die Musiker waren sehr nett zu mir; wenn etwas unklar war, ließ mich das der Konzertmeister wissen, und die Hornistin sprach des Öfteren über das Thema Klang mit mir. Ein Orchester ist der beste Lehrer für einen jungen Dirigenten. Dazu war Ulm ein kleines Theater mit einer wunderbar kreativen Stimmung. In der Praxis lernt man etwa Dinge wie, dass man schnelle Läufe mitunter langsam spielen muss oder langsame Tempi eher fließend, wie man eine ganze Szene am Laufen hält oder wie man eine Szene, die nicht stimmig ist, durch das gewählte Tempo positiv beeinflussen kann. In einem kleinen Theater fix engagiert zu sein, bedeutet auch, dass sich niemand ein Blatt vor den Mund nimmt. Manche Kollegen sind nett, manche weniger, aber auch damit muss man lernen umzugehen. Jede neue Produktion, sei es Carmen oder Traviata, wird an einem so kleinen Haus wie eine Uraufführung erarbeitet, weil sie oft viele Jahre nicht auf dem Spielplan stand. Außerdem machen diese kleinen Theater alle Formen der Bühnenkunst: Oper, Operette, Schauspiel, Ballett, Musical, Kinderproduktionen, Kammeroper und Barockoper. Man lernt dadurch, welche Anforderungen das Theater abseits der Musik an den Dirigenten stellt: Dass man das Tempo für die Tänzer halten muss, wie man eine Schleife beim Musical dirigiert, in der die Musik sich so lange wiederholt, bis der Umbau oder Dialog fertig ist, oder dass man den Schlussakkord so lange halten muss, bis der Vorhang ganz gefallen ist. Ebenso wie man nach Dialogen mit der Musik einsetzt, dass man auf Scheinwerfer warten muss und dass es eben nicht nur darum geht, einfach die Musik zusammenzuhalten, sondern die ganze Vorstellung. Natürlich gab es in Ulm keine Sänger vom Niveau eines großen Hauses, sondern eher ältere Routiniers oder auch ganz junge Talente. Mit ihnen muss man behutsam umgehen. Jeder braucht individuelle Unterstützung, man muss vorsichtig sein mit seinen Kommentaren und Äußerungen. Bevor man Orchesterpsychologie lernt, muss man an einem Opernhaus Sängerpsychologie lernen, denn diese ist noch viel diffiziler. Schnell gehen da die Emotionen hoch und Tränen fließen. Als junger Dirigent will man sich einerseits merklich einbringen und hat einen starken Gestaltungswunsch, andererseits muss man sich auch zurücknehmen und auf die anderen achten, von denen man ja gleichzeitig auch viel lernen kann.

Im zweiten Jahr in Ulm verließ der erste Kapellmeister das Haus. Auch Julia Jones wechselte nach Darmstadt und es blieben außer unserem Generalmusikdirektor James Allen Gähres nur noch der Studienleiter, der zum Zweiten Kapellmeister aufrückte, und ich, da der andere Korrepetitor nicht dirigieren wollte. Dadurch kamen plötzlich viele wunderbare Aufgaben auf mich zu: Eugen Onegin, Der Bettelstudent, Così fan tutte, West Side Story, Die verkaufte Braut, Werther und Der fliegender Holländer. Es bewarben sich viele Dirigenten um den Posten des Ersten Kapellmeisters, aber im Orchester und auch von Seiten des Generalmusikdirektors hieß es immer wieder: »Warum bewirbst du dich nicht?« Ich war erst einundzwanzig und hatte Bedenken, ließ mich dann aber doch dazu überreden und nach meinem Vordirigat mit der Verkauften Braut fiel dann die Entscheidung tatsächlich für mich.

 

Bald kam dann meine erste Premiere mit Humperdincks Hänsel und Gretel. Das hieß für mich, zum ersten Mal Orchesterproben mit dem Opernorchester zu haben, denn bisher hatte ich nur das Kammerorchester in Ulm dirigiert, das ein Laienorchester war. Plötzlich hatte ich auch Verantwortung für die Sänger und war nicht mehr nur der »Nachdirigierer«. Ich trat dabei in jedes denkbare Fettnäpfchen. Man hatte mich schon vorgewarnt, dass dies ein schweres Stück sei, aber ich hatte keine Ahnung, wie schwer es tatsächlich ist. Durch die große Anspannung und weil ich es immer noch besser machen und perfekt vorbereitet sein wollte, verlor ich etwas von der spontanen Musikalität, die ich beim Dirigieren den Orchestermusikern bisher hatte vermitteln können. Hänsel und Gretel ist für ein Wagnerorchester geschrieben, aber mit leichten Stimmen zu besetzen. Das muss man akustisch perfekt im Griff haben. Anstatt nur etwas Kosmetik zu betreiben und die Lautstärke des Orchesters zu reduzieren, muss man das Stück aus seinem Geist heraus verstehen. Man darf vor allem nicht in die Wagnerfalle tappen, denn es muss wie ein Singspiel musiziert werden – eher wie Mozart oder Mahlers Des Knaben Wunderhorn. Ich nahm viel zu langsame Tempi, weil es sich für mich so nach Wagner anhörte, und die Musiker, die mich eigentlich mochten, waren ziemlich verzweifelt. Ich wollte mit meiner ersten Premiere natürlich die Aufführung des Jahrhunderts dirigieren. Mit einer Premiere von Hänsel und Gretel in Ulm! Dabei hätte es durchaus gereicht, einfach das Stück so gut wie möglich über die Bühne zu bringen! Ich war 22 Jahre alt und wollte unbedingt auswendig dirigieren, was ein Unsinn war und was niemand brauchte. Viel wichtiger wäre es gewesen, die richtigen Tempi zu wählen und einfach gut und stimmig zu musizieren. Für die Sänger hatte ich die »perfekte« Interpretation im Kopf, ohne zu wissen oder mich zu fragen, welche Intention der Sänger oder die Sängerin hat, wozu die Stimme geeignet ist und wie man damit umgeht. Sängerinnen und Musiker waren sehr ehrlich mit mir, was gut war, denn es gab wirklich noch viel zu lernen. Ich hatte mich selbst unter wahnsinnigen Druck gesetzt, weil ich so viel von mir erwartet hatte, aber es ist der Vorteil eines kleinen Hauses, dass sehr offen kommuniziert wird und dass einen das Orchester nicht auflaufen lassen will. Da lernt man sehr schnell, und als ich dann Janáčeks Jenufa herausbrachte, lief es bereits deutlich besser, obwohl das zunächst eine für mich völlig fremde Welt war. Ich beschäftigte mich intensiv mit diesem Werk, fuhr zunächst nach Dresden, um mir eine Vorstellung auf Deutsch anzusehen, in der Gwyneth Jones die Küsterin sang, denn auch bei uns in Ulm wurde das Werk auf Deutsch gespielt. In Frankfurt lief es dann zur gleichen Zeit mit der wunderbaren Anja Silja als Küsterin auf Tschechisch. Außerdem las ich Literatur über Janáček, hörte viel von seiner Musik und entwickelte langsam ein Gefühl für diesen Komponisten. Es wurde dann im Ganzen eine schöne Premiere. Angela Denoke, die schon auf dem Absprung nach Stuttgart war, sang Jenufa und wusste genau, was sie wollte. Damals begriff ich, dass man sich durchaus darauf einlassen kann und soll, was ein Sänger denkt, dass einem kein Zacken aus der Krone bricht, wenn man den Ideen anderer gegenüber offen ist. Kurz: Ich lernte, was Zusammenarbeit bedeutet.

Damals sammelte ich auch die ersten Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Regisseuren. Ich war allerdings noch viel zu sehr mit mir und der Musik beschäftigt, um zu registrieren, dass auf der Bühne vielleicht etwas nicht funktioniert, wie zum Beispiel ein akustisch ungeeignetes Bühnenbild. Auch diese Dinge muss man erst lernen.

Das Zusammenspiel mit Regisseuren ist im Grunde bis zum heutigen Tag für mich immer ein schwieriges Thema geblieben. Meine besten Erfahrungen mit Regisseuren waren bisher zumeist Wiederaufnahmen, wie zum Beispiel Parsifal in Bayreuth von Stefan Herheim oder Michael Hanekes Don Giovanni in Paris, auch wenn Letzteres nicht ganz meine Sicht ist. Bei Neuproduktionen hatte ich ganz selten eine wirklich erfüllende Zusammenarbeit. Aber selbst wenn es einmal gut funktioniert hat, heißt das noch lange nicht, dass es beim nächsten Mal wieder so ist. Auch bei den sogenannten »Kennenlerngesprächen« bin ich inzwischen sehr vorsichtig geworden. Meiner Erfahrung nach ist ein solcher Erstkontakt niemals negativ, zumal der Regisseur ja engagiert werden will. Oft hat man den Eindruck, es gebe ein Grundeinverständnis über das Stück, aber spätestens bei der Klavierhauptprobe, wo zum ersten Mal alles zusammenkommt, sieht man dann, dass vieles ganz anders ist als ursprünglich besprochen. Manches hat man sich selber während der szenischen Proben schön gesehen und gerade bei Kostümen und der Beleuchtung gibt es dann böse Überraschungen. Umgekehrt gibt es aber manchmal auch positive Erfahrungen. Ich denke da zum Beispiel an die Entführung aus dem Serail anlässlich des Mozartjahres 2006 im Burgtheater unter der Regie von Karin Beier. Als wir uns kennenlernten, dachte ich: Das kann nie etwas werden. Sie fand die Dialoge altmodisch und schlecht und hätte am liebsten alles neu geschrieben. Ich wollte die Produktion verlassen, es kam zum Krach, Direktor Ioan Holender intervenierte und die Dialoge wurden »nur« modernisiert. Statt »Weg Niederträchtiger« hieß es dann »Hau ab, verzieh dich«. Damit konnte ich irgendwie leben, wenngleich es nicht meine Idee von Theater ist. Die anfänglich großen Bedenken zerstreuten sich aber im Laufe der Arbeit und ich hatte letztlich viel Spaß bei der Produktion, die dann auch ein Erfolg wurde.

Bei der Zusammenarbeit mit Regisseuren ist mir die Personenführung sehr wichtig. Deshalb schätze ich auch Sänger und Sängerinnen mit darstellerischer Intelligenz ganz besonders. Wenn ich mit einem Sänger arbeite, geht es nie nur um Intonation, Phrasierung oder Farben, sondern es geht immer auch um den Inhalt. Am problematischsten sind für mich einerseits Sänger, die in einer musikalischen Probe nicht an der Gestaltung arbeiten wollen und ohne Energie nur die Noten singen und andererseits solche, denen man in einer szenischen Probe nichts Musikalisches sagen darf. Ich möchte mit Menschen arbeiten, die für die ganze Sache brennen, mit denen man – durchaus auch kontroversiell – diskutieren kann, um letztlich einen gemeinsamen Weg zu finden. So soll es auch in der Zusammenarbeit mit der Regie sein.

Als Dirigent muss man sich mit dem Regisseur über die einzelnen Figuren genau absprechen, denn die musikalische Gestaltung muss mit der szenischen zusammenpassen. Vielleicht ist ein Regisseur anderer Meinung über die Psychologie einer Figur, kann mich aber mit schlüssigen Argumenten überzeugen und wir gehen dann diesen Weg gemeinsam. Oder das Gegenteil tritt ein, wie es zum Beispiel 2004 in Salzburg bei Così fan tutte der Fall war. Zu Beginn der Arbeit mit Ursel und Karl-Ernst Herrmann hatte mich zunächst die Idee fasziniert, dass die Frauen den Schwindel der Männer mithören, aber dann wurde mir im Laufe der Proben mehr und mehr klar, dass dieses Konzept nicht funktionieren kann. Ich hatte die Premiere bei den Osterfestspielen nicht dirigiert – das war Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern –, aber bei der Wiederaufnahme zu den Sommerfestspielen mit den Wiener Philharmonikern lief dann leider vieles aus dem Ruder. Hinzu kam damals meine Kontroverse mit den Herrmanns, deren Regiekonzept es nicht zuließ, dass ich vom Cembalo aus dirigieren konnte. Wir hatten ein paar Jahre davor in Brüssel gemeinsam eine sehr schöne Produktion von Rossinis Il Turco in Italia mit einem Klavier auf der Bühne gemacht. Bei Così fan tutte bekam ich mein Cembalo – damals war ich ein überzeugter Cembalo-Fetischist, was ich heute nicht mehr bin –, aber plötzlich stand dann ein Hammerklavier auf der Bühne. Dann fielen so polemische Sätze wie: »Was soll ein Cembalo auf der Bühne, da können wir den Sängern gleich Barockperücken verpassen!« Selbstverständlich muss es aber die Entscheidung des Dirigenten bleiben, welche Instrumente in einer Produktion verwendet werden! Das war allerdings nur der Aufhänger, denn letztlich sollten bei dieser Produktion sogar Dynamik, Tempo und Kunstpausen der Sänger ausschließlich von der Regie bestimmt werden! In einer szenischen Probe, als Rezitative geprobt wurden, die bekanntlich der Motor der Da Ponte-Opern sind, sah ich dann, wie sehr sich Musik und Regie immer weiter voneinander entfernten. Ich wusste ja inzwischen sehr gut, wie man Rezitative gestalten muss, schließlich hatte ich das bei Daniel Barenboim gründlich studieren können, der es wiederum von Jean-Pierre Ponnelle gelernt hatte. Riccardo Muti, James Levine, Harnoncourt – sie alle haben sehr viel an den Rezitativen gearbeitet, wohl wissend, wie wichtig das für den Ablauf der gesamten Produktion ist. Bei den musikalischen Nummern versuchten wir dann, die richtigen Emotionen zum Ausdruck zu bringen, um das Ganze noch irgendwie zu retten, aber von den zehn Vorstellungen gelangen vielleicht gerade einmal zwei oder drei. Daher wollte ich für die Wiederaufnahme im nächsten Jahr andere Bedingungen. Vor allem die Entscheidung über Tempi und über die Pausen in der Musik sowie Mitsprache bei der Sängerbesetzung, sollten wieder mehr nach musikalischen Maßgaben getroffen werden. Doch plötzlich hieß es alles müsse genau gleich gleichbleiben.