Kung Fu Toby

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Die Rückkehr ins Grau

Als am Morgen der Wecker am Kopfende seines Bettes klingelte, erwachte er als Toby in der Tagesrealität. Er konnte sich an jedes Detail der vergangenen Nacht erinnern. An die geheimnisvolle Stadt unter dem bleichen Vollmond, an die Gefahr, an den Sieg über die fünf Piraten, an die Dankbarkeit des blonden Mädchens.

Toby brauchte nicht darüber nachzudenken, ob die Abenteuer der Nacht wirklich geschehen sein konnten oder nur ein Traum gewesen waren, in denen er die Erlebnisse, Ängste und Wünsche des Tages verarbeitet hatte. Für ihn war es Realität. Sein Leben am Tag war für ihn hoffnungslos. Die dunkle Welt Zhaos zog ihn deshalb in ihren Bann und wurde sein Lebensinhalt. Und sie wurde mehr und mehr seine wahre Existenz. Folgerichtig wurde Toby mit der Zeit tagsüber immer verschlossener und kapselte sich so weit wie möglich von der Umwelt ab. Er erledigte seine Hausaufgaben, war aber im Unterricht still. Er reagierte auf Bedrohungen, die er durch Flucht abzuwenden suchte. Und er warf ab und zu noch versteckte Blicke auf die schöne und blonde Bellinda, die ihn aber nicht bemerkte.

Jeder Mensch hat seinen eigenen Charakter mit seinen Stärken und Schwächen. Ein anderer Junge in Tobys Situation hätte wohl anders reagiert. Vielleicht hätte er genug Selbstbewusstsein gehabt, um die ständige Bedrohung durch die Bande der fünf Jugendlichen zu beseitigen. Entweder aus eigener Kraft, oder vielleicht hätte er sich an seine Lehrer gewandt, an seine Eltern, an die Polizei. Unter Umständen wäre er einer der Jungen gewesen, an die sich die Bande erst gar nicht heran getraut hätte. Er hätte vielleicht auch die Aufmerksamkeit der schönen Bellinda erringen können. Und falls sie auf seine Versuche, mit ihr in Kontakt zu kommen, nicht reagiert hätte, hätte dieser andere Junge sich wohl gedacht: »Dann eben nicht!« und hätte sie fortan ignoriert. Aber das Desinteresse des Mädchens wäre für ihn kein Weltuntergang gewesen.

Toby hingegen reagierte auf die einzige Art und Weise, wie es ihm möglich war. Er wechselte nachts in seine andere Realität und verlor langsam aber sicher den Bezug zum Hier und Jetzt.

Die Luft war rein gewesen, als Toby die Schule betreten hatte. Vor dem Gebäude des Gymnasiums hatte niemand Streit gesucht oder gepöbelt. Trübsinnig war er auf den Pausenhof gegangen, hatte auf den Dreiklanggong gelauscht, der den Beginn des Unterrichts anzeigte. In der Masse der anderen Schülerinnen und Schüler war er über den Flur gegangen, hatte den Klassenraum betreten und seine Schulsachen für die erste Stunde ausgepackt. Es würde Englisch geben.

Neben ihm saß Lars, ein schmächtiger Junge mit rotblondem Haar, blauen Augen und einer Unmenge Sommersprossen, der ebenfalls häufig ein Opfer von Gewalt und Erniedrigung durch die fünfköpfige Bande war. »Haben sie dich gestern in die Finger gekriegt?«

Toby brauchte nicht zu fragen, wen Lars meinte. Sein Mitschüler hatte wohl sein Ausreißen vom Vortag beobachtet. Toby schüttelte den Kopf.

»Wie bist du ihnen entkommen?«, fragte Lars weiter.

»Bin schnell genug gelaufen«, antwortete Toby einsilbig. Doch dann entschloss er sich, die Sache mit dem Lieferwagen und dem freundlichen Fahrer zu erzählen. Lars begann zu lächeln.

»Mensch, das war aber `ne tolle Idee!«, meinte er begeistert.

Toby hätte sich gewünscht, Lars hätte den Mund gehalten oder er hätte seine Bewunderung für den Einfall leiser geäußert. Der Englischlehrer hatte den Raum noch nicht betreten, aber Sascha, einer der Jungen, die in der Klasse das Sagen hatten, kam gerade an der Bank vorbei.

»Wer hat `ne tolle Idee gehabt, hä?«, fragte Sascha. »Doch wohl nicht der blöde Decker, diese Flasche?«

Toby und Lars schwiegen. Sascha baute sich vor der Bank der beiden auf. Er war knapp einen halben Kopf größer als Toby und sportlich. Mit einem geringschätzigen Lächeln sah er auf ihn hinab. Toby hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. Er vermutete, dass Lars dasselbe tat, aber im Grunde genommen war es ihm gleichgültig.

»Also `raus mit der Sprache«, fuhr Sascha fort, während die übrigen Schüler aufmerksam wurden und zuhörten. »Wer hatte `ne tolle Idee? Um worum ging es dabei?«

Toby hob den Blick. »Ich bin gestern vor den fünf Typen abgehauen, die immer wieder vor unserer Schule aufkreuzen und Ärger machen. Beinahe hätten sie mich geschnappt, aber ich habe mich in einem Lieferwagen versteckt, aus dem Kartoffeln ausgeladen wurden.«

Gelächter brandete auf. Für den Rest des Tages wurde Tobias erst Kartoffel-Toby, dann einfach Toffy genannt.

Nach dem Englischunterricht musste Toby eine Doppelstunde Sport überstehen. Er hasste Sport, da er sich für unsportlich hielt. Er hatte auch nie ernsthaft versucht, etwas daran zu ändern, sondern nahm seine geringe Fitness als gegeben hin. Die erste Stunde verging mit Bodenturnen, danach wählten die vier sportlichsten Schüler Mannschaften für Handball aus. Die Jungen und Mädchen, die im Sport erfolgreich waren, wurden natürlich als erste ausgewählt, danach kamen die an die Reihe, die weniger gut waren, und so weiter. Toby, Lars und Wim, ein dicklicher Junge mit brauner Haut und pechschwarzem, dichtem Haar, der immer mit beiden Händen seine Hose hochzog, waren die Letzten, die mit Murren zwischen den anderen geduldet wurden. Toby lief zwar so gut er konnte im Spielgeschehen mit, kam aber nicht einmal in den Ballbesitz. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Wenigstens sorgte er nicht dafür, dass die Klasse etwas zu lachen hatte. Aber Wim stolperte einmal, während er versuchte, dem Ball nachzulaufen, und fiel hin, dass der Holzboden der Turnhalle krachte. Er rappelte sich mühsam auf, während sein Kopf wie eine reife Tomate glühte. Jetzt hatte die Klasse etwas zu lachen, und sie tat es auch.

Logisch!, dachte Toby bitter. Wim war genau solch ein Außenseiter wie Lars und er selbst. Anfangs hatten sich auch manche über sein etwas exotisches Aussehen lustig gemacht, bis Wim in der Erdkundestunde Gelegenheit gehabt hatte, etwas über sich zu erzählen. Seine Eltern waren Deutsche, die einige Jahre in Mexiko gelebt und gearbeitet hatten. Dort war ihnen Wim als Kleinkind, das kaum gehen und nicht sprechen konnte, zugelaufen. Trotz aller Bemühungen waren seine richtigen Eltern nicht festzustellen gewesen. So hatte das deutsche Ehepaar den Jungen behalten, ihn adoptiert und mehrsprachig aufgezogen. Wim beherrschte nicht nur Deutsch, sondern auch Spanisch und Englisch. Irgendwie besorgte ihm diese Geschichte soviel Respekt, dass er nicht mehr wegen Haut- und Haarfarbe gehänselt wurde.

Zum Schulschluss ging Toby wieder mit einem fürchterlichen Druck in der Magengrube Richtung Ausgang. Er spähte erst vorsichtig vom Gebäude aus nach draußen. Gott sei Dank, die fünf Schläger schienen nicht da zu sein. Trübsinnig machte sich Toby auf den Heimweg.

Tobys Mutter

Nora Decker bemerkte die Veränderung an ihrem Sohn mit großer Sorge. Er war immer schon ein stiller Junge gewesen, in sich gekehrt, nicht sehr kontaktfreudig. Nun musste sie diesen langsamen, aber stetigen Wandel registrieren: Toby sprach noch weniger als sonst, zeigte an fast nichts mehr Interesse, machte immer häufiger einen schwermütigen Eindruck. Und er ging immer früher in sein Zimmer, wenn es Abend war. Ihre Versuche, den Jungen zum Sprechen zu bringen, waren vergebens. Auf ihre Fragen, was mit ihm nicht stimme, antwortete Toby einsilbig, dass alles in Ordnung sei.

Sie hatte nur kurz erwogen, mit ihrem zweiten Mann über die langsame Verwandlung ihres Sohnes zu sprechen. Aber ihr war klar, dass Tobys Stiefvater nicht das geringste Interesse hatte, an seinem kostbaren Feierabend oder am Wochenende über die Probleme eines Jungen zu sprechen, der von einem anderen Mann abstammte. Sie musste allein eine Lösung finden. Aber welche?

Als erstes bat sie um Gesprächstermine bei Tobys Lehrern. Das hatte überhaupt keinen Erfolg. Die Mehrzahl der Männer und Frauen bestätigten lediglich ihre eigenen Beobachtungen, einer kam sogar noch auf die Idee, ihr wegen des passiven Verhaltens ihres Sohnes Vorwürfe zu machen. Sie solle mehr auf die Erziehung ihres Sohnes Einfluss nehmen und ihn ermahnen, mehr aus sich heraus zu gehen. Auf Nora Deckers Frage, wie sie da vorgehen solle, wusste er auch keine Antwort.

Der nächste Schritt war ein Besuch beim Hausarzt. Der Doktor versprach einen »gründlichen Check-up«. Nach den Untersuchungen bestätigte er, dass Toby körperlich gesund und vollkommen normal entwickelt sei. Ja, gewiss, es gebe da Anhaltspunkte für eine seelische Verstimmung, aber dafür sei er nicht der richtige Ansprechpartner. Er empfahl einige Kollegen aus dem Bereich der Seelenheilkunde bzw. ein Hilfegesuch an den schulpsychologischen Dienst zu stellen. Die Terminkalender der empfohlenen Psychiater waren allerdings auf Monate hinaus ausgebucht, der schulpsychologische Dienst aufgrund von Urlaubsvertretungen und Krankheitsfällen überlastet. Tobys Mutter vereinbarte einen Termin bei einem Psychiater, der dann mit ihrem Sohn in dreieinhalb Monaten sprechen würde, und wandte sich umgehend, wie es ihr die Sprechstundenhilfe am Telefon aufgetragen hatte, an die Krankenkasse, um zu klären, ob die Behandlungskosten übernommen würden.

In ihrer Verzweiflung begann Tobys Mutter auf ein Wunder zu hoffen.

Kleine Wunder

Wieder ein Morgen, der mit dem widerlichen Piepsen des Weckers begann. Toby öffnete die Augen, stellte den Wecker ab und legte den Kopf auf das Kissen zurück. Der kurze Moment des Augenöffnens hatte ihn bereits mit schonungsloser Härte darüber informiert, dass er nicht mehr Zhao war. Er vermisste schon jetzt die dunkle Stadt mit den unzähligen Pagodendächern, den Gefahren und Abenteuern, die er erfolgreich meisterte. Er vermisste seine andere Identität, die des starken Kung-Fu-Meisters Zhao. Toby begann, noch im Bett liegend, auszurechnen, wie viele Stunden ihn von der Rückkehr in sein wirkliches Leben trennten.

 

Er suchte nach der Kraft, die nötig war, um sich zu erheben. Die Strapazen und Unannehmlichkeiten des kommenden Tages türmten sich vor ihm auf wie ein nicht zu erklimmendes Gebirge, das jeden Moment auf ihn herabstürzen und ihn zermalmen musste. Irgendwann schob er mühsam die Beine aus dem Bett. Er schlich ins Bad, dann zog er sich an. In der Küche nahm er die Schnitte Brot und die Tasse Kaffee zu sich, die seine Mutter für ihn bereitgestellt hatte. Ein ödes, langweiliges und einsames Frühstück. Seine Eltern hatten die Wohnung schon verlassen. Der Stiefvater Gott sei Dank, leider auch die Mutter. Wenn er auch kaum mit ihr sprach, so hätte er sich doch gerade am Morgen ihre Gegenwart gewünscht. Er steckte das Pausenbrot und eine kleine Flasche Kakao in die Schultasche und verließ die Wohnung.

Draußen ging ein leichter Nieselregen nieder. Verdrossen und mutlos zog Toby die Kapuze seines Anoraks über den Kopf. Das trübe Wetter ließ die Umgebung noch trostloser erscheinen, als sie ohnehin schon auf ihn wirkte. Er musste daran denken, dass er vor Stunden in seiner Existenz als Zhao einen Tempel betreten hatte. Er hatte ein kleines Weihrauchopfer gebracht und um ein Wunder gebetet für die andere Hälfte seiner Existenz, derer er sich auch als Zhao manchmal bewusst war.

Er überquerte eine Straße und wich einem Laster aus, der am Straßenrand langsam ausrollte und schließlich vor einem leer stehenden Geschäft hielt. Zwei Männer verließen das Führerhaus, sahen sich kurz das Ladenlokal an und begannen dann, Werkzeuge und Material aus dem Wagen zu holen. Eine typische Szene für den Stadtteil Bilk.

Als er sich dem Schulgebäude näherte, wurde er automatisch wachsamer, aber das war heute Morgen unnötig. Die Schülerinnen und Schüler strebten ungestört dem Gymnasium zu; von der fünfköpfigen Bande war nichts zu sehen.

Heute hatte Toby sechs Stunden Unterricht zu überstehen. Erst Mathe, dann Chemie, eine Doppelstunde Erdkunde, Religion und schließlich Musik. Er schrieb mit, verfolgte den Unterricht, blieb aber schweigsam. Es machte ihm Mühe, den Lerninhalt der Stunden aufzunehmen. Seine Gespräche mit Lars hielten sich in den Grenzen des absolut Notwendigen. Ansonsten war er froh, dass er niemandem auffiel.

Dann wieder der Zeitpunkt, der ihm schon in den letzten beiden Stunden Übelkeit bereitet hatte: Das vorsichtige und wachsame Verlassen des Schulgebäudes. Aber diesmal hatte die Bande schon ein anderes Opfer. Der rundliche, braunhäutige Wim wurde von ihnen drangsaliert. Er war schon so verschreckt, dass er ganz vergaß, seine Hose hochzuziehen, die schon das obere Drittel seines von einer rot-weiß gestreiften Unterhose bedeckten Hinterns freigab. Toby schämte sich zwar gleichzeitig für die Empfindung, aber er war froh, dass es nicht ihn erwischt hatte. Er sah zu, dass er den Ausgang der Schule und die nähere Umgebung hinter sich ließ, während die fünf Schläger beschäftigt waren. Danach erhaschte Toby einen Blick auf Bellinda. Sie ging neben einem Jungen aus einer der höheren Klassen her. Sie plauderten scheinbar angeregt, während sie der Straßenbahnhaltestelle zustrebten. Das Mädchen streifte Toby nicht einmal mit einem Blick. Er sah den beiden hinterher und beneidete den anderen Jungen.

Weihrauch für ein Wunder!, ging es Toby durch den Kopf, während er trübsinnig einen Fuß vor den anderen setzte, den Blick stets auf den Bürgersteig gerichtet, ausgespuckten Kaugummis, Hundehaufen und Taubendreck ausweichend. Die Menschen aus der schwül-heißen Hafenstadt, in der es immer Abend bzw. Nacht war und in der er als Zhao lebte, glaubten fest daran, dass die Götter Wunder für die Menschen bewirkten, wenn man nur lange genug betete. Er würde es in der folgenden Zeit als Zhao wieder tun, aber diesmal in einem anderen Tempel, in dem vielleicht mächtigere Götter wohnten.

Und dann plötzlich, als er wie gewohnt die Straße überqueren wollte, blieb Toby so abrupt stehen, als sei er gegen die chinesische Mauer gelaufen. Was um alles in der Welt war das denn?

Auf der anderen Straßenseite befand sich das leer stehende Ladenlokal, an dem heute Morgen der Lieferwagen mit den zwei Handwerkern gehalten hatte. Aber wie sah das denn jetzt aus? Man hätte meinen können, die Fassade um den Eingang herum sei aus Zhaos Welt irgendwie in Tobys Tagesrealität transportiert worden. Der Eingang, der früher zu einem kleinen Textilfachgeschäft geführt hatte, war jetzt eingerahmt von zwei schlanken Säulen, die blutrot lackiert waren. Diese trugen ein Vordach, dessen Rand leicht nach oben gebogen war wie bei einer Pagode. Es war mit glänzenden, intensiv grünen Dachpfannen aus Holz gedeckt.

Das war aber noch nicht alles. Ein Maler brachte auf dem Schaufenster links der Tür asiatische Schriftzeichen an. Ein weiterer Mann war gerade damit fertig geworden, auf dem rechten Schaufenster einen Schriftzug in Druckbuchstaben anzubringen: »Kevins Karate-Dojo«, lautete er. Selbst die Druckbuchstaben waren asiatisch angehaucht.

Wie in Trance überquerte Toby die Straße. Er erschrak fürchterlich, als ein Auto mit quietschenden Reifen knapp vor ihm zum Stehen kam. Der Fahrer drückte auf die Hupe und gestikulierte wie wild geworden hinter dem Steuer. Kurzzeitig löste Toby seinen Blick von dem so wunderbar veränderten Ladenlokal und machte, dass er von der Straße kam.

Und dann stand er vor dem Eingang, der ihn an seine wahre Realität, sein besseres Leben erinnerte. Der Blick hinter die Schaufenster wurde von schweren, dunkelblauen Samtvorhängen mit goldenen Ornamenten verwehrt. An der Tür war ein kleiner Kasten angebracht. Hierin befanden sich Pappkärtchen, rot mit weißem Druck. Wie in Trance griff Toby danach, hielt eines in der Hand, drehte es hin und her: Eine über dem Meer aufgehende Sonne, vor der sich ein Mann in einem Kimono verbeugte. Asiatische Schriftzeichen, dann: Kevins Karate-Dojo, darunter die Trainingszeiten, sowie eine Telefonnummer. Und der Preis, der für den Unterricht verlangt wurde! Sechzig Euro monatlich! Das war viel zu viel Geld, als dass Toby es hätte bezahlen können. Sein gesamtes Taschengeld belief sich auf zehn Euro die Woche.

Er konnte sich einfach nicht von der Eingangstür trennen, brachte es nicht fertig, den Blick von der exotischen, fremdländischen Pracht zu wenden, die ihm paradoxerweise so vertraut war. Und dann wanderte der Blick wieder zu der Pappkarte, die er in der Hand hielt. Und dann wieder zur Tür und den Fenstern, die mit Vorhängen verhüllt waren. Hinter dieser Tür befand sich ein Dojo, ein »Ort des Weges« auf Deutsch übersetzt. Hinter dieser Tür befanden sich also heilige Hallen, in denen die Künste gelehrt wurden, die Toby so sehr faszinierten. Und die ihm die Möglichkeit bieten würden, stark zu sein, kein verlachter Außenseiter mehr zu sein, sich gegen die Bande der fünf Jungen behaupten zu können! Nur eine Tür befand sich zwischen ihm und einem Dojo und damit der Lösung all seiner Probleme. Eine simple Tür zwischen ihm und der Glückseligkeit!

Die Maler wurden auf den Jungen aufmerksam, der der Welt ganz entrückt war. Der links von Toby lachte und sagte: »Na, ist das etwa schon der erste Schüler? Dann muss der Laden ja eine Goldgrube werden.«

Und der Mann rechts von ihm sagte: »Du musst dich aber noch gedulden. Der Innenausbau wird erst Morgen angefangen. Im Moment spielt sich da noch kein Sport ab, sondern nur Arbeit.«

Beide Männer lachten wieder, aber das Lachen war freundlich und wohlwollend. Es war ohne Häme.

Wieder sank Tobys Blick auf die Karte. Sechzig Euro! Woher sollte er soviel Geld nehmen? Selbst wenn er bereit wäre, sein gesamtes Taschengeld in die Kampfkunst zu investieren, er musste es zunächst um zwanzig Euro monatlich steigern. Soviel Geld konnte seine Mutter aus der Haushaltskasse nicht abzweigen, ganz gewiss nicht! Und sein Stiefvater würde ihm das Geld ohnehin nicht geben, ob er es nun erübrigen konnte oder nicht.

Irgendwann brachte Toby es fertig, den Heimweg fortzusetzen. Seine Gedanken waren aber immer noch bei dem finanziellen Problem, wie er den Monatsbeitrag für das Karatetraining zusammen bekommen sollte. Auf der Karte war eine Handynummer angegeben. Er beschloss, die Nummer anzuwählen, sobald er zu Hause angekommen war. Vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit, wie er in dem Dojo trainieren könnte. Mit neu gefasstem Mut beschleunigte Toby seine Schritte. Er steigerte, ohne dass es ihm bewusst war, sein Tempo so sehr, dass er schwitzend und leicht keuchend die elterliche Wohnung betrat. Die Schultasche flog in eine Ecke, die Jacke ließ er achtlos auf den Boden fallen. Vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit, vielleicht, vielleicht, vielleicht … O bitte, hoffentlich!

Und dann stand Toby vor dem Telefon, die Karte mit der Nummer in der Hand. Und nun zögerte er. Was, wenn der Trainer auf dem Monatsbeitrag bestand? Wenn Tobys Hoffnungen enttäuscht würden? Hätte er die Kraft, diese Enttäuschung wegzustecken? Langsam näherte sich seine Hand dem Hörer, er hob ihn ab, wie in Trance wählte er die Nummer. Es dauerte eine Weile, dann war der Ruf aufgebaut. Es läutete einmal, zweimal …

»Kevin Garner?«, hörte er dann eine Stimme mit einem Akzent, der vermuten ließ, dass Tobys Gesprächspartner Englisch als Muttersprache hatte. Ein Amerikaner vielleicht?

Vor Aufregung vergaß Toby beinahe, sich zu melden. Schließlich fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, seinen Namen zu nennen und einen guten Tag zu wünschen, bevor der andere das Gespräch wieder beendete. Dann: »Ich habe heute gesehen, dass Sie einen Karate-Dojo eröffnen.«

Die Stimme aus dem Hörer sagte: »Stimmt! Und du bist am Training interessiert?«

»Ja!«, sagte Toby mit Eifer. »Gibt es vielleicht einen günstigen Tarif für Schüler?«

Ein leises Lachen am anderen Ende der Leitung. »Nein, leider nicht. Ich trainiere ohnehin nur mit Leuten ab vierzehn Jahren aufwärts. Und die betrachte ich als Erwachsene, also gibt es auch keine Ermäßigung.«

»Ach so!«, sagte Toby enttäuscht.

»Was die Kosten angeht«, erklärte der Trainer, »so beträgt der monatliche Beitrag sechzig Euro bei einer Vertragslaufzeit von zwölf Monaten. Hinzu kommt eine einmalige Aufnahmegebühr von einhundert Euro. Der Sportanzug kann bei mir gekauft werden, denn ich verfüge über einen Bestand preiswerter Modelle, die in Pakistan gefertigt wurden. Das wären dann noch mal vierzig Euro. Im Kaufhaus und im Sporthandel sind sie teurer, das weiß ich genau.«

»O ja, gewiss«, sagte Toby mit tonloser Stimme in den Hörer. Also nicht nur sechzig Euro im Monat, sondern auch noch einhundertvierzig Euro einmalig dazu! Woher sollte das ganze Geld kommen?

»Wie ist denn dein Name?«, fragte der Trainer.

»Danke, ich rufe noch mal an«, sagte Toby und legte auf. Die Enttäuschung drückte den Jungen fast mit den Schultern auf den Boden nieder. Das Weihrauchopfer Zhaos war von den Göttern wohl nicht angenommen worden. Toby bedachte in diesem Augenblick nicht, dass ein starker Wind eine dünne Rauchsäule verwirbeln und auflösen konnte, dass der Duft des Rauches aber dennoch seinen Bestimmungsort erreichen mochte, wenn auch auf Umwegen.

Tobys Mutter war in der Küche, als sie ihren Sohn nach Hause kommen hörte. Sie war erstaunt, dass die Schritte schnell und schwungvoll waren. Das klang so gar nicht nach Toby, der doch die ganze letzte Zeit den Kopf hatte hängen lassen. Es musste etwas geschehen sein, etwas Positives oder etwas Negatives. Sie ging zum Flur, um nach ihm zu sehen. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie der Junge unschlüssig vor dem Telefon stand. Er starrte den Apparat an, als sehe er ihn zum ersten Mal. Was war los mit ihm?

Als er schließlich zum Telefon griff und wählte, lauschte sie aufmerksam den Worten des Jungen. Was der Gesprächspartner sagte, hörte sie natürlich nicht, aber anhand der Reaktion ihres Sohnes konnte sie sich denken, dass die Antworten nicht eben zu seiner Begeisterung ausfielen. Als er schließlich auflegte, trat sie näher, nahm ihm die Pappkarte aus der Hand und las den Aufdruck. Also daher wehte der Wind! Also so könnte sie den Jungen aus seiner Lethargie wecken. Das war ja interessant!

Toby starrte auf seinen Teller mit Würstchen und Kartoffelsalat. Er aß langsam und ohne Appetit. Die Worte seiner Mutter empfand er als wenig tröstlich. Nein, das war untertrieben, sie waren überhaupt kein Trost.

 

»Ich habe eine andere Stelle bei der Firma in Aussicht«, sagte sie gerade. Er hörte an ihrem Tonfall, dass sie ihn anlächelte. »Das bedeutet zwar, dass ich bald vielleicht den ganzen Tag über nicht da sein werde, aber ich verdiene dann auch mehr Geld.«

»Hmmmhm«, machte Toby nur.

»Ich weiß noch nicht genau, wie viel ich dann mehr verdiene, aber es wird schon eine ganz schöne Summe sein. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir das Training nicht doch bezahlen können.«

»Hmmmhm!«

»Toby, so hör doch! Es ist vielleicht nur eine Frage von ein oder zwei Monaten, und dann kannst du Karate trainieren. Vielleicht macht der Laden vorher überhaupt nicht auf.«

Toby schwieg. Die Worte seiner Mutter hörte er zwar, aber die Bedeutung drang kaum in sein Bewusstsein. Die Enttäuschung am Telefon, die erst wenige Minuten zurück lag, blockierte sein Denken. Er sehnte sich nur noch den Abend herbei, damit er wieder in die Existenz Zhaos eintauchen konnte. Die einzige Welt, die für ihn noch Wertvolles bereithielt.

»Ich könnte auch mit deinem Vater reden, ob er uns nicht den Betrag leiht, bis ich ihn von meinem höheren Gehalt zurückzahlen kann. Toby, hörst du? Wir fragen gleich deinen Vater nach einem kleinen Darlehen, und dann kannst du mittrainieren, sobald der Laden aufmacht. Wie heißt der noch? Dozi?«

Toby hob kurz den Blick. »Es heißt Dojo, und dein Mann ist nicht mein Vater. Vor allem bin ich nicht sein Sohn, und das lässt er mich spüren. Jeden Tag auf´s Neue!«

Die Mutter legte ihre Hand auf die ihres Sohnes, doch Toby zog sie sogleich weg. »Ich rede mal mit ihm, wenn er nach Hause kommt. Warte erst mal ab. Und zur Not musst du eben ein bisschen warten. Ein oder zwei Monate sind doch keine Ewigkeit, oder?«

Aber für Toby waren ein oder zwei Monate eine Ewigkeit, denn sie hielten jede Menge Schultage für ihn bereit. Und an jedem einzelnen dieser Tage musste er auf der Hut sein, wenn er die Schule verließ, und manchmal war alle Vorsicht umsonst und es setzte Prügel. Und das war noch nicht einmal sein einziges Problem.

Nun schwieg auch die Mutter, da sie einsehen musste, dass im Augenblick jedes Zureden vergebens war. So hing sie ihren Gedanken nach. Ihr war schon aufgefallen, dass vom Fernsehprogramm fast nur noch eine Art Sendung ihren Sohn fesseln konnte. Das waren Spielfilme mit Jackie Chan, Bruce Lee oder anderen Darstellern, Filme, in denen fernöstliche Kampfkünste gezeigt wurden. Nur hätte sie nie geglaubt, dass Toby daran interessiert sein könnte, selbst so etwas auszuüben. Dass sich sein Interesse an Sport in sehr engen Grenzen hielt, wusste sie immerhin genau. Deshalb war sie nicht davon überzeugt, dass ihr Sohn dauerhaft bei dieser Beschäftigung bleiben würde. Immerhin konnte es ja sein, dass er sehr schnell das Interesse verlieren würde, wenn er erst feststellte, dass auch Karate mit körperlicher Anstrengung verbunden war. Sie war klug genug zu wissen, dass die Bewegungen, die auf dem Bildschirm so federleicht und spielerisch aussahen, hartes Training und Körperbeherrschung voraus setzten.

Aber dennoch, sie hatte mit Freude bemerkt, dass er für kurze Zeit lebendiger geworden war als in den gesamten letzten Wochen. Sie würde daher auf jeden Fall ihren Mann ansprechen, ob er sich nicht zu der Geldausgabe hinreißen ließ. Voller Hoffnung überlegte sie sich bereits, wie sie ihn zu der Sache überreden wollte.

Tobys Stiefvater kam etwas früher nach Hause als sonst, was dazu führte, dass die Hausaufgaben noch nicht ganz fertig waren. Aus welchen Gründen auch immer hatte Paul gute Laune und ließ seinen Stiefsohn großzügigerweise am Küchentisch die Arbeit vollenden. Seine Laune wurde sogar noch etwas besser, als ihm seine Frau eine geöffnete Flasche Bier und ein Glas servierte. Als es dann auch noch Bockwurst mit Kartoffelsalat gab, strahlte der Mann über das ganze Gesicht.

Während er das Bier trank, erzählte er von seiner Arbeit. In triumphierendem Ton berichtete er, dass der achtzehnjährige Junge, der neulich erst eingestellt worden war, heute schon wieder seinen letzten Tag in der Firma gehabt hatte. Mit stolz geschwellter Brust erzählte er, dass er daran seinen Anteil gehabt habe. Seht her, ich kann dafür sorgen, dass aus der Firma einer raus fliegt! Bin ich nicht ein toller Kerl und einflussreicher Mann?

Tobys Mutter ließ ihren Mann reden und hörte aufmerksam zu. Die Dinge schienen sich günstig zu entwickeln. Als Paul schließlich seinen Monolog unterbrechen musste – auch er konnte nur essen oder reden – begann sie zu erzählen, dass sie gute Aussichten hatte, in naher Zukunft mehr Geld nach Hause zu bringen. Kauend nickte Paul beifällig. Mehr Geld war immer gut. Ohne ein Wort zu verlieren dachte er kurz darüber nach, was er mit dem Mehrverdienst anfangen könnte.

»Könntest du mir nicht eine Kleinigkeit vorschießen?«, sagte sie freundlich lächelnd. »Du bekommst es zurück, sobald ich mein erstes höheres Gehalt habe.«

Paul zog die Augenbrauen zusammen. Das war nun weniger schön! »Und wenn du die andere Arbeitsstelle nicht bekommst und damit auch keine höhere Bezahlung?«

»Das wird schon klappen«, meinte die Mutter in vergnügtem Ton.

»Wofür brauchst du denn das Geld?«, fragte Paul und gab dabei ein deutliches Rülpsen von sich.

Das war nun der heikle Moment. »Ich möchte gerne unserem Sohn eine Freude machen«, sagte sie diplomatisch.

Damit hatte Tobys Stiefvater absolut nicht gerechnet. Er verlor zwar kein Wort, aber sein dummes Glotzen verlangte eine Erklärung.

»Dir ist doch sicher auch schon aufgefallen, dass Tobias in letzter Zeit sehr niedergeschlagen ist«, fuhr die Mutter fort. »Ich bin heute zufällig dahinter gekommen, was ihn wieder ein Bisschen lebhafter machen könnte. Ist auch nur `ne Kleinigkeit, gar nicht teuer!«

»Wie viel?«, fragte Paul. Man merkte, dass seine gute Laune einen erheblichen Dämpfer erhalten hatte.

»Nur dreihundert Euro! Und auch nur geliehen!«

Paul verschluckte sich am Kartoffelsalat und wechselte die Farbe. Sein Kopf wurde knallrot wie ein Feuerwehrauto. Nach einer ganzen Weile des Hustens würgte er hervor: »Dreihundert? Und was willst du dafür kaufen?«

Toby beobachtete seine Mutter und seinen Stiefvater so unauffällig wie möglich. Bisher hatte das Gespräch trotz der klugen Vorgehensweise seiner Mutter genau die Wendung genommen, die er erwartet hatte. Kaum anzunehmen, dass Paul bereit war, für ihn Geld auszugeben. Dennoch war es vielleicht interessant zu sehen, was er sagen würde, wenn er hörte, welchen Wunsch Toby hatte.

Im arglosesten Plauderton, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, antwortete die Mutter: »Dein Sohn möchte sich gerne sportlich betätigen. Der Hausarzt sagte übrigens nach der Untersuchung von neulich, dass so etwas genau das Richtige für Toby wäre.«

Ein geringschätziges Lächeln mit Lippen, an denen die Soße vom Kartoffelsalat hing. »Und welche Sportart soll es sein? Hallenjojo? Oder vielleicht Frikadellenweitwurf? Toby und Sport, da lachen ja die Hühner!«

»Nein, etwas anderes!«, sagte Nora Decker.

»Nun sag schon, `raus mit der Sprache!« Ein weiteres Rülpsen verbreitete Bierdunst in der kleinen Küche.

»Er möchte gerne Karate trainieren.«

Nun blickte Toby seinem Stiefvater ganz offen ins Gesicht. Welche Reaktion würde jetzt folgen? Und bevor Paul etwas sagen konnte, blickten er und sein Stiefsohn sich einen Sekundenbruchteil lang an. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein merkwürdiger Ausdruck, den Toby so noch nicht gesehen hatte. Das war reichlich seltsam, und Toby wusste zumindest in diesem Augenblick nicht, wie er den Ausdruck zu deuten hatte. Aber schon war der kurze Moment vorbei, und auf Pauls Gesicht zog mürrische Entschlossenheit auf.

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