Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman)

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Auf gewundenen Pfaden

Auf solche Art hob die Freundschaft zwischen Mr. Parham und Sir Bussy Woodcock an. Sie sollte nahezu sechs Jahre dauern. Die beiden Männer hatten ebenso viel Anziehendes wie Abstoßendes für einander, und vielleicht hielt gerade diese Tatsache ihre Verbindung aufrecht. Im allgemeinen empfand Mr. Parham die Beziehung als ein Bemühen seinerseits, den so merkwürdig begabten und erfolgreichen Abenteurer zu der Parhamschen Weltanschauung zu bekehren, ihn in die Politik zu verwickeln und ihm ratend und leitend zur Seite zu stehen, sowie diese politische Betätigung Schwierigkeiten bieten würde, ihn zu einer bedeutenden Gestalt in der Geschichte des britischen Imperiums und der Welt zu machen – zu einer bedeutenden Gestalt mit einem Zwillingsstern. Im besonderen aber sollte die Beziehung Mr. Parham finanzielle Unterstützung bringen, sollte ihn und eine Gruppe von Schriftstellern und Universitätsprofessoren, die er um sich zu sammeln gedachte, instand setzen, die Welt so weiter zu steuern, wie sie immer gesteuert worden war. Wenn einst die Geschichte der nächsten fünfzig Jahre geschrieben werden würde, sollten die Leute sagen: »Hier hat Parham die Hand im Spiele gehabt« oder: »Das war einer von Parhams Anhängern«. Doch wie schwer war es, dieses Finanz-Rhinozeros, wie Parham seinen Freund mitunter insgeheim nannte, zur klaren Erkenntnis irgend einer Aufgabe zu bringen und es eine Politik verstehen zu lehren, die über das nunmehr fast schon automatisch gewordene Verfahren des Aufkaufens und mit Profit Wiederverkaufens hinausging.

Zu Zeiten schien der Kerl völlig rückgratlos, ein leichtsinniger Verschwender, der mehr Geld zu machen imstande war, als er hinauswarf. Er sagte: »Nu! Jetzt will ich einmal einen Spaß haben«, und dann mußte man entweder auf seine Gesellschaft verzichten oder ihm nach den seltsamsten und absonderlichsten Winkeln der Welt folgen.

Mr. Parham erlebte Zeiten, da er schwer verärgert war, aber auch solche, die ihn zu den besten Hoffnungen berechtigten. Ganz plötzlich begann Sir Bussy mitunter über politische Parteien zu sprechen, und das mit einem Wissen und einem Scharfsinn, die seinen Freund in Erstaunen versetzten. »Es wäre ein Spaß, ihnen allen den Garaus zu machen«, pflegte er dann zu sagen. Auch legte er in einem Gespräch über Rothermere, Beaverbrook, Burnham und Riddell ein Interesse an den Tag, in das sich etwas wie Neid zu mischen schien. Doch alle diese Gespräche fanden zu später Nachtstunde statt, andere Leute – verdächtige Leute – waren anwesend, und Mr. Parham fand keine Möglichkeit, einen bestimmten Vorschlag zu machen.

Mit einem Schlage wirbelte dann die ganze Gesellschaft wieder davon, wie dürre Blätter im Sturmwind. Auf einer großen gemieteten Jacht ging’s nach der Ostsee, nach Maine, Neufundland und dem St. Lorenzostrom. Die sonderbarsten Leute befanden sich an Bord. Oder Mr. Parham sah sich eines schönen Tages in die Betrachtung des Mittelmeers versunken, und das von einem Nizzaer Hotel aus, in dem Sir Bussy für die Weihnachtsferien ein ganzes Stockwerk gemietet hatte. Und mitunter kam Sir Bussy ganz unerwartet zu seinem Mentor, und es leuchtete so viel tatenlustige Wißbegier aus seinem Blick, daß Mr. Parham meinte, nun sei der Augenblick gekommen. Einmal lud er ihn ganz unvermittelt zu einem Theaterbesuche zu zweien in Monte Carlo ein; ein andermal kam er in London ebenso bescheiden zu Mr. Parham und forderte ihn auf, sich mit ihm das Lener-Quartett anzuhören.

»Hübsch«, sagte Sir Bussy, als sie den Konzertsaal verließen. »Eine hübsche Musik. Sie beruhigt einen und heitert einen auf. Ja, noch mehr. Es ist …« sein armer, ungebildeter Geist, dem keinerlei klassische Vergleiche zur Verfügung standen, suchte nach einem Bilde, »es ist, als ob man den Kopf in ein Kaninchenloch steckte und Klänge aus einer unterirdischen Märchenwelt hörte. Aus einer Welt, die es nicht gibt. Und Sie – bedeutet Ihnen die Musik noch mehr?«

»Oh!« stöhnte Mr. Parham. »Sie läßt uns den Himmel ahnen!«

»Nu!«

»Der heutige Abend hat uns erhoben und edler gemacht.«

»Ja? Ich weiß nicht. Es ist, als ob die Musik einem etwas sagen wollte, aber sagt sie einem wirklich etwas? Sie wird lebendig und fröhlich ohne Grund, so wie man in Träumen lebendig und fröhlich wird; und dann ist sie plötzlich wieder traurig und zart, man weiß ebenso wenig, warum. Im Märchenland wird ein toter Käfer begraben. Sie weckt allerlei Erinnerungen in einem – Gedanken, die zu Melodie und Rhythmus passen. Aber das Ganze hat keinen Zweck. Sie gibt einem nichts Wirkliches. Führt einen nirgends hin. Sie ist ein Genuß wie das Rauchen, etwas feiner vielleicht«, meinte Sir Bussy.

Mr. Parham zuckte die Achseln. Dem Barbaren war nicht zu helfen.

Ein Satz jedoch blieb in Mr. Parhams Gedächtnis haften. »Sie führt einen nirgends hin«, hatte Sir Bussy gesagt.

Wohin wollte er? Aus unserer schönen, prächtigen Welt hinaus, die so fest auf den Pfeilern der Geschichte ruht, aus unserer Welt mit ihren Ehren, ihren Rangunterschieden, ihren machtvollen Traditionen? Meinte er das?

Es kam Mr. Parham ein anderer Augenblick in den Sinn, da Sir Bussy einen ganz ähnlichen Gedanken hatte laut werden lassen. Sie hatten Neufundland besucht und fuhren eben über den Atlantischen Ozean nach den Azoren zurück. Die Nacht war wunderbar ruhig und mild. Mr. Parham hatte ziemlich heftig mit einer der hübschen jungen Damen geflirtet, die Sir Bussys Gesellschaften stets in sehr ansehnlicher Zahl verschönten, und ging nun vor dem Zubettgehen auf das Promenadedeck hinaus, um sich ein wenig Kühlung zu schaffen; auch wollte er sich gern auf die richtige Form einiger Horazischer Verszeilen besinnen, die ihm zu seinem Ärger seltsam verschoben und verstümmelt eingefallen waren. Er war außergewöhnlich kühn gewesen, und das junge Geschöpf hatte Furcht vorgeschützt und sich in seine Kabine zurückgezogen. Das Ganze war ein Scherz und völlig harmlos.

An der Reling entdeckte Mr. Parham seinen Gastgeber, der sich schwarz und außerordentlich klein von dem weiten tiefblauen Himmel abhob.

»Beobachten Sie das Meerleuchten?« fragte Mr. Parham in freundlich munterem Ton.

Sir Bussy schien nicht zu hören. Er hatte die Hände tief in die Hosentaschen versenkt. »Nu«, sagte er. »Gucken Sie sich einmal diese Unmenge Wasser an – unter dem geisterhaften Mond!«

Die Reden Sir Bussys verschlugen Mr. Parham mitunter den Atem. Man hätte meinen können, der Mond sei eben zum ersten Male aufgegangen, kreise nicht seit aller Ewigkeit am Firmament, sei nicht Diana, Astarte und Isis.

»Seltsam«, fuhr der sonderbare Mensch fort. »Wir sind hier fast im Weltenraume draußen. Jawohl. Wir befinden uns sozusagen oben auf einer Ausbauchung der Erdkugel, Parham. Dahin geht die Kurve hinunter nach Amerika und und dort nach dem alten Europa – mit all seiner muffigen alten Kunst und Geschichte, die Sie so lieben.«

»Das ›muffige alte Europa‹, wie Sie es zu nennen belieben, hat immerhin diese Jacht hierher gesandt.«

»Ach, die ist von alleine hierher gefahren.«

»Sie kann aber hier nicht bleiben. Sie muß zurückkehren.«

»Diesmal wohl«, meinte Sir Bussy nach einer Pause.

Er starrte eine Weile zum Monde empor, anscheinend mit zunehmendem Widerwillen, machte eine Handbewegung, als ob er ihn verabschieden wollte, und entfernte sich dann langsam und nachdenklich, ohne Mr. Parham weiter zu beachten.

Mr. Parham blieb allein auf Deck.

Was wollte dieses absonderliche kleine Ungeheuer denn eigentlich haben? Was war ihm nicht recht an unserer wunderbaren Welt? Hatte es Sinn, sich mit einem Menschen abzugeben, der dem Zauber dieses süßen milden Lichts verschlossen blieb? Den silberdurchwirkten Schleiergewändern indischer Haremsfrauen vergleichbar, ergoß es sich über die Welt. Es ließ schimmernde Funken in den Wogen des Wassers aufleuchten und spielte liebkosend mit ihnen. Unendlich süß war es, und es verlockte zu beglückenden Abenteuern.

Ärgerlich schob sich Mr. Parham die Jachtmütze aus der Stirn, steckte die Hände in die Taschen seiner blütenweißen Leinenhose und begann das Verdeck entlang auf und ab zu schreiten. Halb hoffte er, ein Rascheln oder Kichern zu hören, das ihm bewiesen hätte, seine Schöne habe sich vorhin nur zum Scheine zurückgezogen. Doch sie war wirklich in ihre Kabine gegangen, und erst als Mr. Parham ein Gleiches getan hatte, begann er über Sir Bussy und dessen Satz von der »Unmenge Wassers unter dem geisterbleichen Mond« nachzudenken …

Doch wir wollen nicht vergessen, daß der eigentliche Gegenstand dieses Buches eine spiritistische Sitzung ist, samt deren erstaunlichen Folgen. Unser Interesse an den beiden so verschieden gearteten Charakteren darf uns nicht dazu verleiten, uns allzu eingehend mit den verschiedenen Reisen und Ausflügen zu befassen, die Sir Bussy und Mr. Parham unternahmen. Einmal fuhren sie in großer Gesellschaft nach Henley und zweimal besuchten sie Oxford, um den Geist dieser Universitätsstadt auf sich einwirken zu lassen. Mr. Parhams Kollegen überboten einander in Artigkeiten gegen Sir Bussy, und Mr. Parham verachtete sie aus Herzensgrund. Eine Zeitlang legte Sir Bussy Interesse für den Rennsport an den Tag. Die großen Gesellschaften, die er nach The Hangar, nach Buntincombe und nach dem Carfex House lud, ließen Mr. Parham immer wieder darüber staunen, wie viele verschiedenartige und sonderbare Menschen er kannte. Auch seine Bemühungen, sie zu bewirten und zu unterhalten, sowie seine Duldsamkeit ihrer Aufführung gegenüber, setzten Mr. Parham immer wieder in Verwunderung. Sie hatten mitunter recht absonderliche Einfälle, doch Sir Bussy ließ sie gewähren. Es schien Mr. Parham zuweilen, als sei er hauptsächlich nur neugierig, ob die Leute an ihren Verrücktheiten auch wirklich Spaß haben würden. Etliche Male ergaben sich Gespräche über diese Frage zwischen Sir Bussy und Mr. Parham.

 

»Bei keinem Pferd auf dem Turf«, sagte Sir Bussy, »geht es mit absoluter Ehrlichkeit zu.«

»Aber …«

»Durchaus ehrenwerte Leute, selbstverständlich. Sie halten sich an die Regeln, weil ihnen ja die ganze Sache keinen Spaß machen würde, wenn sie das nicht täten. Sie würde einfach auffliegen, und das will doch niemand. Aber meinen Sie, daß die Leute ein Pferd so oft gewinnen lassen, wie es könnte? Das fällt ihnen nicht im Traume ein.«

»Sie glauben, daß jedes Pferd nach vorheriger Vereinbarung geritten wird?«

»Nein. Nein. Nein. Aber zu Anfang darf es nicht seine ganze Kraft hergeben. Das ist was ganz anderes.«

Mr. Parham setzte eine verständnisvolle Miene auf. O menschliche Schwachheit!

»Aber was kümmert Sie das?«

»Mein Vater, der, wie Sie wissen, Droschkenbesitzer war, kutschierte sehr oft ausgediente Rennpferde«, sagte er, »und gewann immer bei den Rennen. Das ist nicht ohne Einfluß auf mich geblieben. Ich hatte auch sehr bald heraus, wie es auf dem Turf zugeht. Von meiner Mutter habe ich ein instinktives Gefühl für menschliche Schwächen geerbt.«

»Aber die Geschichte ist recht kostspielig?«

»Durchaus nicht«, meinte Sir Bussy seufzend. »Ich merke immer, was los ist. Ehe noch die andern merken, daß ich was merke. Ich verdiene Geld auf dem Turf. Ich verdiene immer Geld.«

Sein Gesicht schien ob dieser Tatsache die ganze Welt anzuklagen, und Mr. Parham ließ ein teilnahmsvolles »Mmm« hören.

Wenn Mr. Parham mit Sir Bussy zu einem Rennen ging, war er stets darauf bedacht, richtig angezogen zu sein. In Ascot trug er einen seidig glänzenden grauen Gehrock, weiße Gamaschen und einen grauen Zylinder mit schwarzem Band; er war eine der sportlichsten Erscheinungen dort. Auf dem Ausflug nach Henley hatte er zu einer tadellosen weißen Hose eine gestreifte Flanelljacke an, die keineswegs neu, sondern, wie es sich gehört, ein wenig abgetragen und verblichen war, überdies einen Teerfleck aufwies. Auf einer Jacht war er ein vollendeter Jachtfahrer, und in Cannes sah er stets aus, wie man da aussehen muß, nämlich so, als ob man eben vom Tennisplatze käme. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die eine Golfhose vornehm kleidet. Seine Sweater waren stets sorgfältig gewählt, denn auch ein Chamäleon kann korrekt sein. Niemals verunzierte er eine Gesellschaft; in der Regel hielt er sie vielmehr zusammen und gab ihr Ziel und Richtung.

Das Jachtkostüm in gutem Stand zu halten, war nicht leicht, denn Mr. Parham neigte recht sehr zur Seekrankheit. Darin unterschied er sich von Sir Bussy, der sich umso wohler fühlte, je bewegter die See und je kleiner das Boot waren. »Ich kann nichts dafür«, sagte Sir Bussy. »Es liegt in meiner Natur. Was ich mir angeeignet habe, gebe ich nicht wieder her.«

Aber wenn Mr. Parham auch immer wieder und in kürzester Frist seekrank wurde, so verlor er darob doch niemals die gute Laune. »Nelson«, pflegte er zu sagen, sowie der Anfall vorüber war, »Nelson war auf jeder seiner Seefahrten die ersten zwei oder drei Tage krank. Das tröstet mich. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.«

Sir Bussy schien ganz dieser Meinung.

Indem er sich auf solche Art seiner Umgebung anzupassen verstand und niemals der absonderliche und schlecht gekleidete Professor war, vermied Mr. Parham in seinem Umgang mit Sir Bussy jedweden Anschein von Schmarotzertum, und sein Selbstgefühl erlitt keinerlei Einbuße. Er war immer »durchaus am Platz«; niemals ein Eindringling. Vor seiner Bekanntschaft mit Sir Bussy hatte er sich nicht so elegant gekleidet, jedoch immer gewünscht, es zu tun, und die Sorgfalt, die er nun seiner äußeren Erscheinung angedeihen ließ, bewirkte, daß sein bescheidenes Kapital beträchtlich zusammenschmolz; aber sein Ziel stand ihm unerschütterlich fest vor Augen. Wenn man eine Wochenzeitschrift herausgeben will, die die Welt beherrschen soll, muß man wie ein Mann von Welt aussehen. Und es sollte eine Phase in seinen Beziehungen zu Sir Bussy kommen, da er die Rolle eines Mannes von Welt spielen mußte, so gut er nur irgend konnte.

Die Sache muß erwähnt werden, obgleich es aus mancherlei Gründen angenehmer wäre, sie zu verschweigen. Es ist jedoch nötig, Gegnerschaft und Widerstreit zwischen den beiden Männern zu beleuchten, die, bei solcher Verschiedenheit der Wesensart miteinander verbunden, einander prüfend beobachteten und insgeheim kritisierten.

Doch wenn der Leser noch jung ist …

Aber auch ein junger Leser wird vielleicht klar sehen wollen.

Es sei festgestellt, daß das nächste Kapitel, wenn auch erhellend, doch zum Verständnis der Geschichte nicht unbedingt notwendig ist. Es ist nicht unanständig und auch nicht derb, doch behandelt es, offen gesagt, einen Zug in Mr. Parhams moralischem Charakter, der – wie soll man es ausdrücken? – an die freien Sitten des achtzehnten Jahrhunderts gemahnt. Wenn es gleich keinen wesentlichen Teil unserer Geschichte enthält, so rundet es doch das Porträt Mr. Parhams ab.

6
Eine Indiskretion

Glücklicherweise brauchen wir nicht auf Einzelheiten einzugehen. Das Wie der Angelegenheit ist von ganz untergeordneter Bedeutung. Wir können den Vorhang fallen lassen, sobald der Wohnungsschlüssel der Miss Gaby Greuze sich in dem Schlosse der Tür herumdreht, die zu ihrer sehr eleganten Wohnung führt, und brauchen ihn erst wieder emporziehen, wenn Mr. Parham diese Wohnung verläßt. Er sieht dabei ganz so achtbar aus, wie ein Einbrecher in einem eleganten Vorstadtviertel. Ganz so achtbar – abgesehen von einer gewissen Miene des Stolzes, einer gewissen Erhobenheit, wie ein gewöhnlicher Dieb sie niemals zur Schau trägt.

Außerdem müssen wir zumindest Bruchstücke eines Gespräches wiedergeben – ohne jedoch zu sagen, wo es stattfand.

»Du hast mir gleich das erste Mal so gut gefallen«, sagte Gaby …

»Es war etwas wie ein Versprechen …«

»Wie schnell du begreifst. Du bist so klug! Du guckst dir die Leute an und weißt auch schon, wie sie sind …«

»Herrlich muß es sein, alles zu wissen, was du weißt«, sagte Gaby, »und all das zu denken, was du denkst. Ich komme mir ganz dumm vor neben dir!«

»Ach du, du kannst des Helms der Athene wahrlich entraten!« rief Mr. Parham.

Wie gewöhnlich, verstand Gaby dieses gebildete Kompliment nicht, und sie schien eine Weile verstimmt.

Mr. Parham sei sehr gut gewachsen, erklärte sie schließlich, und er lächelte strahlend, als sie das sagte. Und so kräftig. Ob er viel Sport treibe, wollte sie wissen. Tennis. Sie würde auch gerne Tennis spielen, meinte sie, doch fürchte sie, davon zu starke Armmuskeln zu bekommen. Sport sei ja so viel netter als Gymnastik, sagte sie, nur wegen der Muskeln, die man davon kriegt, sei er nicht gut. Ja, selbstverständlich turne sie. Durch gewisse gymnastische Übung werde man geschmeidig und bekomme eine gute Haltung, überhaupt eine gute Figur. Ob Mr. Parham einmal sehen wolle, was für Übungen sie mache?

Es waren reizende Übungen.

Sie tätschelte ihm die Wangen und nannte ihn einen »hübschen Jungen«. Mehrere Male nannte sie ihn so.

Und sie sagte: »Du bist sehr einfach, kommt mir vor.«

»Fein und zartfühlend«, fügte sie hinzu, als sie seine fragende Miene gewahrte, »aber gar nicht kompliziert.«

Sie sagte es nachdenklich, ihr Blick schien dabei in die Ferne gerichtet. Dann betrachtete sie ihren weichen, glatten Arm und ihr schönes Handgelenk und fuhr fort: »Und wenn man nett und lieb mit dir ist, so wirst du, was immer du auch tun magst, jedenfalls nicht ›Nu!‹ sagen.«

Sie preßte die Lippen zusammen und nickte mit dem Kopfe. »Nu!« wiederholte sie; »als ob er einen bei einer Hintertücke erwischt hätte, die einem in Wirklichkeit ganz ferne liegt.«

»So daß man sich ordentlich schäbig vorkommt.«

Sie begann hemmungslos zu weinen und warf sich plötzlich noch einmal in Mr. Parhams Arme.

Armes, armes Geschöpf, empfindsam, heißblütig und hingebungsvoll. So mißverstanden zu werden! …

Als Mr. Parham nach diesem Abenteuer den ahnungslosen Sir Bussy wiedersah, fühlte er sich von Stolz geschwellt. Auch ein wenig Reue empfand er, aber sie war durchaus nicht unangenehm. Mehr als sonst mußte er sich bemühen, Sir Bussy nicht herablassend zu behandeln. Nach einer Weile merkte er jedoch, daß Sir Bussy ihn auf eine seltsame Art betrachtete, und ein weit weniger angenehmes Gefühl, ein Gefühl leiser Furcht nämlich, mischte sich in seinen Stolz.

Als Mr. Parham Gaby Grenze wiedersah – es ist zu bemerken, daß er sie fortan nur selten und sehr flüchtig zu Gesichte bekam –, flammte sein Stolz mit einer Leidenschaftlichkeit empor, die ein starkes Ausmaß von Selbstbeherrschung notwendig machte. Doch ein Mann von Ehre weiß es an einer Frau zu achten, wenn sie ein intimes Erlebnis geheimzuhalten wünscht. Sie mied ihn, darüber konnte kein Zweifel herrschen. In feinem Zartgefühl begriff Mr. Parham, daß es am besten sei, wenn sowohl er wie auch seine Mitschuldige so taten, als wäre es zwischen ihnen niemals zu jenem schönen, süßen Ausbruch der Leidenschaft gekommen.

Trotzdem: in einer Hinsicht zumindest hatte er Sir Bussy übertrumpft.

ZWEITES BUCH Der Geist der Herrschaft kommt auf die Welt

7
Auseinandersetzungen und gespannte Stimmung an Sir Bussys Eßtisch

Der Verkehr zwischen Sir Bussy und Mr. Parham erfuhr notwendigerweise Unterbrechungen, denn Mr. Parham hatte ja seine Berufspflichten, hatte die heranwachsende Generation zu unterrichten, und Sir Bussy andererseits schien seine Gesellschaft durchaus nicht allezeit zu suchen. Überdies kam es mit der Zeit und bei näherer Bekanntschaft unvermeidlich zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Männern. Anfänglich hatte Sir Bussy den Ansichten Mr. Parhams über die Welt und das Dasein nichts weiter als kurze Ausrufe entgegengestellt, allmählich aber begann er seine Zweifel in längeren und bestimmteren Reden zu äußern. Und da Mr. Parham sich bemüßigt fühlte, Sir Bussy zu belehren und ihn auf ganz bestimmte vernünftige Ziele hinzulenken, wurde er mitunter ein wenig absprechend in seinen Äußerungen und ein wenig anmaßend in seinem ganzen Gehaben. Dann konnte ihn Sir Bussy eine Weile offenkundig überhaupt nicht leiden: er sagte »Nu!« und wandte sich von ihm ab.

Etliche Wochen oder sogar einen bis zwei Monate lang erging keinerlei Einladung an Mr. Parham; dann aber zeigte Sir Bussy ganz plötzlich wieder die Neigung, Mr. Parhams Ansicht über dieses oder jenes kennen zu lernen, und Zusammenkünfte und gemeinsame Ausflüge hoben aufs neue an.

Für Mr. Parham war die Beziehung allezeit eine hoffnungsvolle Sache, völlig harmonisch war sie jedoch nie. Sir Bussys Umgang dünkte ihn meist schlecht, oft geradezu kläglich. Immer wieder traf er Leute bei Sir Bussy, die ganz anderer Meinung waren als er und ihn über alle Maßen reizten. Mit solchen ließ er sich oft in erbitterte Wortgefechte ein. Dabei vermochte er Sir Bussy Dinge zu Gehör zu bringen, die er ihm nicht geradezu ins Gesicht hätte sagen mögen.

Zuzeiten hatte es fast den Anschein, als ob Sir Bussy gewisse Leute nur einlade, um Mr. Parham zu ärgern, ungebildete Menschen, die ein schlechtes Englisch sprachen und die abgeschmacktesten Ansichten äußerten. Sir Bussy hatte als Gastgeber einen sehr sonderbaren Geschmack. Er lud merkwürdige Amerikaner zu sich, Amerikaner mit unklaren Ansichten über die Währungsfrage oder über Abzahlungsgeschäfte, über Dinge mit einem Wort, von denen zu sprechen geradezu unanständig ist, unmögliche Amerikaner, geschwätzig und aggressiv; oder skandinavische Phantasten; oder Leute, die schwer enttäuscht von Rußland schienen, andere, die über alle Maßen dafür schwärmten, ja sogar richtige Bolschewiken; Mr. Bernard Shaw und noch schlimmere, Schriftsteller, die sich aus den untersten Schichten emporgearbeitet hatten – ein äußerst unangenehmer Typus! – Worthelden wie Mr. J. B. S. Haldane, die die verrücktesten Dinge verbrachten. Einmal war ein Chinese da, dem Mr. Parham geduldig und so klar wie nur möglich darlegte, was man in England unter Selbstverwaltung verstehe und welche Rolle soziale und intellektuelle Einflüsse in den britischen Angelegenheiten spielten. Am Ende dieser Ausführungen sagte der Mann: »Ich sehe, daß zumindest England sich noch von Mandolinenklängen einlullen läßt.« Der Himmel mochte wissen, was er damit meinte. Er nickte nachdenklich mit dem Kopfe und blickte durch seine goldgeränderte Brille hindurch Mr. Parham sehr ernst an, also bildete er sich jedenfalls ein, daß sein Satz einen Sinn habe. Schlau und heimtückisch pflegte Sir Bussy in einer Gesellschaft so schlecht zueinander passender Menschen Streit zu säen und saß dann, die Mundwinkel herabgezogen, verzückt lauschend da, während Mr. Parham, gelassen manchmal, meist aber recht heftig, den Trugschlüssen, falschen Auffassungen und Irrtümern, die laut wurden, zu Leibe rückte. »Nu!« flüsterte Sir Bussy von Zeit zu Zeit.

 

Keinerlei Beifall, keinerlei Zustimmung, nichts als dieses farblose »Nu!« Die Darlegungen mochten noch so vortrefflich gewesen sein. Es war entmutigend. Niemals tauchte der so naheliegende Vorschlag auf, daß so viel gesunde Überzeugung und geistige Kraft durch eine Zeitschrift der Allgemeinheit übermittelt werden sollten.

Die Wirkung dieser immer wiederkehrenden Wortgefechte auf Mr. Parham war keine gute. Zwar gelang es ihm stets, mit siegreichen Fahnen daraus hervorzugehen – hatte er doch bereits an sechs Generationen von Studenten Erfahrungen gesammelt! Er wußte genau, wann es notwendig wurde, eine Behauptung durch Autorität zu stützen, und verstand es, dem Gegner schließlich mit allem Nachdruck zu sagen, daß ihm noch vieles zu lernen übrig bleibe.

Im Grunde jedoch war Mr. Parham eine zartbesaitete Natur, und der dauernde Umgang mit ungläubigen, zweifelsüchtigen und mitunter geradezu streitlustigen Menschen hinterließ Narben in seinem Gemüt – schmerzende Narben. Nicht, daß seine Ansichten dadurch irgendwie ins Wanken geraten wären, seine Ansichten über das englische Imperium und dessen notwendige Vorherrschaft in der Welt, über die historische Aufgabe und Bestimmung der Engländer, über Klassen, Gesetze, Ideale, Institutionen; aber es überkam ihn das Gefühl, daß all diese für ihn feststehenden Wahrheiten in immer größerem Maße geleugnet würden. Die Amerikaner schienen sich insbesondere seit dem Krieg insgeheim von den Ideen entfernt zu haben, die Mr. Parham beherrschten. Rings um Sir Bussys Tisch verbreiteten sie stillschweigend die schauderhafte Überzeugung, daß diese Ideen nunmehr absonderlich und veraltet seien.

Die Abtrünnigen! Was in aller Welt hatten sie denn Besseres? Was im Namen der Königin Elisabeth, Shakespeares, Raleighs, der Mayflower, Tennysons, Nelsons und der Königin Victoria hatten diese Kerle denn Besseres? Immer mehr schienen sie heutzutage von dem Gedanken besessen, daß sie ihre eigenen Wege zu gehen vermöchten.

Es gab ihrer hundertundzwanzig Millionen, und sie besaßen den größten Teil des Goldschatzes der Welt – in bar. Irgendwelche in Betracht kommende Ideen, die an Stelle der wohldurchdachten und erprobten des Mr. Parham hätten treten können, hatten sie nicht. Mit den positiven Vorschlägen, die sie verbrachten, wurde er leicht fertig. Ein törichter Tischgast flüsterte das Wort »Weltstaat«. Mr. Parham ließ lächelnd seine Zähne sehen und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Mein bester Herr«, sagte er mit tieftönender Stimme. Und das genügte.

Ein anderer sprach vom »Völkerbund«.

»Das in Verfall geratende Denkmal des armen Wilson«, meinte Mr. Parham.

Nach außenhin war Mr. Parham tapfer, in seinem Herzen aber verlor er die Zuversicht, daß seine Ideen, so richtig sie auch ganz gewiß waren, daheim und im Auslande eine ehrliche und nachdrückliche Unterstützung finden würden, wenn sie das nächste Mal auf die Probe gestellt werden sollten. Im Jahre 1914 waren sie auf die Probe gestellt worden; war sie zu schwer gewesen? Unmerklich geriet er in jenen Zustand nervöser Unsicherheit, den wir im ersten Kapitel unseres Buches zu schildern versucht haben. Hielt das historische Erbe stand? Ging das Spiel weiter? Die Welt befand sich in einer Phase des moralischen und intellektuellen Verfalls; ihre Bande lockerten sich; ihre bestimmten Umrisse verschwammen. Angenommen, es kam zu einer Krise in Europa, und irgend ein starker Mann in Westminster würde das Schwert Britanniens aus der Scheide reißen. Würden die Bande des Imperiums fest genug sein? Wie, wenn die Dominions kabelten: »Dieser Krieg kümmert uns nichts. Wir sehen weiteren Berichten entgegen«? Etwas dergleichen hatten sie ja bereits getan, als die Türken nach Konstantinopel zurückkehrten. Sie mochten sich wiederum so verhalten und noch schlimmer. Angenommen, unsere mutige Gebärde bot dem irischen Freistaat Anlaß zu einer unanständigen Aufführung. Angenommen, aus Amerika ertönte an Stelle des brüderlichen Beifalls und der neidvollen Sympathien des Jahres 1914 ein Lärm, als ob Plünderer ihre Messer schärften. Angenommen, königliche Proklamationen riefen in unserem Lande, das die allgemeine Dienstpflicht noch immer nicht eingeführt hatte, aufs neue die Männer zu den Waffen, und anstatt sich begeistert zu melden, wie im Jahre 1914 – wie herrlich war das gewesen! –, blieben sie unentschlossen. Angenommen, sie fragten: »Muß der Krieg sein?« oder »Lohnen sich die Opfer, die wir bringen sollen?« Der linke Flügel der Arbeiterpartei war ohne Unterlaß an einem ruchlosen Werk, untergrub die Kraft der Nation, zerstörte das Vertrauen, zerstörte die stolze Bereitschaft, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben. Erstaunlich, daß wir das überhaupt duldeten! Und angenommen schließlich, die Geschäftsleute benahmen sich noch schlechter als im Jahre 1914.

Denn das wußte Mr. Parham: Sie hatten sich schlecht gehalten; sie hatten nur auf ihr Geschäft gesehen. Sie waren nicht die Patrioten, für die sie sich ausgaben.

Ein Gespräch nach einem Diner im Carfex House ließ diese unbestimmten Zweifel feste Form annehmen. Als es stattfand, hatte Sir Bussy sich bereits jenen spiritistischen Experimenten zugewendet, durch die seine Beziehungen zu Mr. Parham völlig umgestaltet werden sollten. Jenes Diner aber war ein Zwischenspiel. Das Gespräch drehte sich um den nächsten Krieg und konnte von diesem Thema nicht loskommen. Es war ein Herrendiner, und der redseligste unter den Gästen war ein Beamter aus Genf, Sir Walter Atterbury, der im Sekretariat des Völkerbundes eine bedeutende Rolle spielte, ein nach außenhin bescheidener, in Wirklichkeit aber sehr halsstarriger und von sich eingenommener Mensch. Außerdem war da der amerikanische Bankier Mr. Hamp, ein ältlicher Herr mit grauem Gesicht und einer Brille, der die absonderlichsten Dinge in feierlichem Tone vortrug; ferner Austin Camelford, einer der Führer auf dem Gebiet der chemischen Industrie, der in vielfältiger geschäftlicher Beziehung zu Sir Bussy stand, ihn unter anderem auch mit den großen Unternehmungen der Firma Romer Steinhart Crest & Co. in Verbindung gebracht hatte. Er hauptsächlich ließ Mr. Parham an den Zynismus der Geschäftsleute im Jahre 1914 denken. Er war ein schmächtiger kleiner Kerl und hatte die moderne Manie, den phantastischsten Unsinn so vorzubringen, als ob es sich um klar in die Augen springende und allgemein bekannte Tatsachen handle. Auch ein junger Amerikaner von einer der westlichen Universitäten war da, einer jener neuerungssüchtigen Hochschulen, an denen Dinge wie Handelswesen gelehrt werden. Er war zu jung, um viel zu sagen, doch was er sagte, war bezeichnend.

Anfänglich sprach hauptsächlich nur Atterbury, und zwar unter dem offensichtlichen Beifall der anderen. Dann hielt Mr. Parham es für angemessen, sich einzumengen und einige der Irrtümer des Mannes richtigzustellen – denn um Irrtümer handelte es sich offenbar bei einem Gutteil seiner Behauptungen. Das Gespräch wurde allgemeiner, und gewisse Äußerungen Camelfords und Hamps ließen Mr. Parham erkennen, wie weit sich Industrie und Finanz bereits von den Grundbegriffen der Geschichte entfernt hatten. Schließlich sah sich Sir Bussy zu etwas wie einem durchaus feindseligen Kommentar veranlaßt, und damit schloß der außerordentlich unangenehme Abend.