Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur

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3

»Ihr dürft die Religiosität eines Zeitalters nicht nach seinen Tempeln oder Kirchen beurteilen«, fuhr Sarnac fort. »Ein ungesunder Körper birgt in der Regel mancherlei in sich, was er abzustoßen nicht die Kraft hat; je schwächer er ist, desto weniger vermag er dem Wachstum abnormer und unnützer Gebilde zu steuern, die an sich mitunter ganz schön sind.

Ich will versuchen, euch das religiöse Leben in meiner Heimat und die religiöse Seite meiner Erziehung zu schildern. Es gab in England eine Art Staatskirche, doch hatte diese zu meiner Zeit ihr offizielles Ansehen bei der Gesamtheit des Volkes bereits zum größten Teil eingebüßt. Sie besaß zwei Gotteshäuser in Cherry Gardens; das eine, ältere, stammte aus den Tagen, da der Ort ein Dörfchen gewesen war, es hatte einen viereckigen Turm und war, verglichen mit anderen Kirchen, recht klein; das andere war neuer, geräumiger und mit einem spitzen Turm versehen. Überdies hatten zwei nicht der Staatskirche angehörende christliche Sekten, die Kongregationalisten und die Methodisten, sowie auch die alte römisch-katholische Glaubensgemeinde ihre Kapellen in Cherry Gardens. Jede dieser Kirchen gab vor, die einzig wahre Form des Christentums zu vertreten, und jede unterhielt einen Geistlichen, das größere Gotteshaus der Staatskirche sogar zwei, einen Pfarrer und einen Unterpfarrer. Ihr denkt nun gewiß, daß in diesen Kirchen Ähnliches dargeboten wurde wie in den Geschichtsmuseen und Visionstempeln, die unsere heutige Jugend besucht; ihr denkt, daß dort die Geschichte der Menschheit und das große Abenteuer des Lebens, an dem wir alle teilhaben, so eindrucksvoll und schön als möglich geschildert, daß die Zuhörer an die Bruderschaft aller Menschen gemahnt und aus dem Kreis selbstsüchtiger Gedanken emporgehoben wurden ... Laßt mich euch berichten, was Religion und Kirche für mich bedeuteten.

Der ersten religiösen Unterweisungen, die ich erhielt, entsinne ich mich nicht mehr. Sehr früh lernte ich ein kleines Gebet in Versen auswendig, das mit den Worten anhob:

›Sanfter Jesus, lieb und lind,

Blick auf mich, dein kleines Kind!‹

Ein anderes Gebet, das ich lernte, blieb mir fast völlig unverständlich. Schon die Anfangsworte ›Vater unser – der du – bis in den Himmel –‹ waren mir ein Rätsel. Es war darin von ›Schulden‹ die Rede, ferner enthielt es die Bitte ›Gib uns unser tägliches Brot‹ und den Wunsch ›Zu uns komme dein Reich‹. Meine Mutter muß mich diese Gebete gelehrt haben, als ich noch ganz klein war, und ich sagte sie jeden Abend auf, manchmal auch des Morgens. Sie hielt offenbar die altehrwürdigen Worte viel zu sehr in Ehren, als daß sie sie mir erklärt hätte. Als ich einmal nicht nur um das tägliche Brot, sondern auch um etwas Butter dazu bat, schalt sie mich heftig. Sehr gerne hätte ich sie gefragt, was wohl mit der guten Königin Victoria geschehen würde, sobald das Reich Gottes käme, doch fand ich nie den Mut dazu. Ich hatte die sonderbare Idee, daß dann eine Heirat geschlossen werden müßte, daß aber noch niemand an diese Lösung gedacht habe. Ich muß damals noch recht jung gewesen sein, denn Victoria die Gute starb, als ich fünf Jahre alt war, während des sogenannten Burenkrieges, eines heute fast vergessenen, aber ziemlich langwierigen Kampfes in Afrika.

Meine kindlichen Zweifel wuchsen, doch als ich das Alter erreicht hatte, in dem Kinder die Kirche und die Sonntagsschule zu besuchen begannen, machten sie einer Art selbstschützerischer Gleichgültigkeit Platz.

Der Sonntag-Morgen bedeutete für meine Mutter die allergrößte Anstrengung der ganzen Woche. Den Abend vorher bekamen wir allesamt in der unterirdischen Küche eine Art Bad, die Eltern ausgenommen, die sich, glaube ich, niemals am ganzen Körper wuschen – ich kann das aber nicht mit Bestimmtheit behaupten –, und am Sonntag-Morgen standen wir etwas später auf als gewöhnlich und zogen reine Wäsche an sowie die besten Kleider, die wir besaßen. (Man trug in jenen Tagen eine erschreckende Menge von Kleidungsstücken. Jedermann war infolge schwächlicher Gesundheit überaus empfindlich gegen Nässe oder Kälte.) In Erwartung größerer Dinge war das Frühstück ein hastiges und durchaus nicht feiertägliches Mahl. Dann mußten wir uns hinsetzen und still verhalten, damit unsere Kleider weder schmutzig würden noch sonst irgendwie Schaden nähmen, und dabei so tun, als ob wir eines der zehn oder zwölf Bücher, die unser Heim besaß, mit Interesse betrachteten oder läsen – bis es Zeit war, zur Kirche zu gehen. Die Mutter bereitete das Sonntagsmahl, meist eine bestimmte Art von Fleischgericht, das Prudence zu einem benachbarten Bäcker trug, wo es gebraten wurde, während wir dem Gottesdienst beiwohnten. Der Vater erhob sich noch später als wir anderen und erschien, seltsam verwandelt, in einem schwarzen Rock, mit Kragen, Vorhemd und Manschetten und mit niedergebürsteten, gescheitelten Haaren. In der Regel gab es irgendeinen unvorhergesehenen Zwischenfall, der unseren Abgang verzögerte. Eine meiner Schwestern hatte ein Loch im Strumpf, oder meine Schuhe waren noch nicht zugeknöpft und der Schuhknöpfer nirgends zu finden, oder eines der Gebetbücher war verlegt worden. Solches verursachte allgemeine Verwirrung, und es gab angstvolle Augenblicke, wenn die Kirchenglocken zu läuten aufhörten und ein monotones Bimmeln ertönen ließen, das den Beginn des Gottesdienstes anzeigte.

›Ach, nun kommen wir wieder zu spät!‹ rief meine Mutter. ›Nun kommen wir wieder zu spät!‹

›Ich geh' mit Prue voraus‹, pflegte der Vater zu sagen.

›Und ich geh' auch mit‹, sagte Fanny.

›Nicht, ehe du mir den Schuhknöpfer gefunden hast, Fräulein Hurlebusch,‹ schrie meine Mutter, ›ich weiß genau, du hast ihn gehabt.‹

Fanny zuckte die Achseln.

›Warum hat der Junge nicht Schnürstiefel wie andere Kinder, das möcht' ich wissen‹, meinte Vater unfreundlich.

Und Mutter, blaß vor Aufregung, erwiderte zusammenfahrend: ›Schnürstiefel in seinem Alter! Abgesehen davon, daß er die Schnürbänder zerreißen würde.‹

›Und was ist das dort auf der Kommode?‹ rief Fanny dann plötzlich.

›Aha, natürlich weißt du, wo er ist.‹

›Ich gebrauch' eben meine Augen.‹

›Um eine Antwort bist du nie verlegen, du schlechtes Geschöpf!‹

Fanny zuckte wieder die Achseln und schaute zum Fenster hinaus. Zwischen ihr und Mutter bestand eigentlich eine weit bösere Verstimmung als dieser Zwist wegen des verlegten Schuhknöpfers. Am Abend vorher war ›Fräulein Hurlebusch‹ noch lange nach Einbruch der Dämmerung außer Haus gewesen, ein arges Vergehen, vom Standpunkt einer Mutter aus betrachtet, wie ich euch später noch erklären werde.

Schwer atmend und mit strenger Miene knöpfte mir Mutter die Schuhe zu, und dann zogen wir endlich los. Prue hängte sich an den Vater, der vorausging, Fanny schritt, verächtlich dreinblickend, etwas abseits dahin, und ich bemühte mich unterwegs, meine in weißen Baumwollhandschuhen steckende kleine Hand dem festen Griff meiner Mutter zu entwinden.

Wir besaßen einen eigenen Platz in der Kirche, eine Bank mit Binsenmatten darauf; an der Rückseite der Bank vor uns war unten eine breit vorspringende Leiste angebracht, auf der wir zum Gebete niederknieten. Wir schoben uns auf unsere Plätze, knieten einen Augenblick nieder, erhoben uns dann und waren nunmehr bereit für den sogenannten Sonntagsmorgen-Gottesdienst.«

4

»Dieser Gottesdienst war nun auch etwas sehr Sonderbares. Wir lesen in unseren Geschichtsbüchern über die alten Kirchen und den damaligen Gottesdienst und vereinfachen und idealisieren das Bild, das wir gewinnen. Wir nehmen alles für bare Münze. Wir sind der Meinung, daß die Menschen die absonderlichen Glaubensbekenntnisse der alten Religionen verstanden und wirklich glaubten; daß sie voll einfältiger Inbrunst zu ihrem Gott beteten; daß ihr Herz erfüllt war von geheimnisvollen Tröstungen und Illusionen – Vorstellungen, die mancher von uns heute wieder zu gewinnen strebt. Doch das Leben ist stets komplizierter als ein Bericht darüber, als jedwede Schilderung. Der menschliche Geist dachte damals trüber und verworrener, er vergaß seine primären Betrachtungen über sekundären, nahm häufig wiederholte, gewohnheitsmäßige Handlungen für beabsichtigte und verlor seine ursprünglichen Regungen aus dem Gesicht. Das Leben ist im Laufe der Zeit klarer und deshalb einfacher geworden. Wir damaligen Menschen hatten ein komplizierteres Leben, weil wir selbst verworrener waren. Und so saßen wir am Sonntagmorgen in den Kirchenbänken, fügsam, aber gleichgültig, ohne wirklich an das zu denken, was wir taten, die Vorgänge um uns mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande erfassend – und unsere Gedanken kamen und gingen, wie Wasser durch ein undichtes Gefäß sickert. Wir beobachteten die anderen verstohlen, aber genau und waren uns stets bewußt, daß wir ebenso beobachtet wurden. Wir standen auf, beugten die Knie und setzten uns, wie es die rituellen Gepflogenheiten erforderten. Ich erinnere mich noch lebhaft an das lange andauernde und vielfältige Geräusch, das entstand, so oft die versammelte Gemeinde sich hinsetzte oder erhob.

Der Vormittagsgottesdienst bestand aus Gebeten der Priester – Vikar und Kurat nannten wir sie – und aus Wechselreden zwischen ihnen und der Gemeinde, ferner wurden Hymnen in Versen gesungen und einzelne Stellen aus der hebräisch-christlichen Bibel gelesen; und schließlich folgte eine Predigt. Von dieser Predigt abgesehen, hatte der Gottesdienst eine genau festgelegte Form, die vorschriftsmäßigen Gebete, Wechselreden und so weiter standen in den Gebetbüchern, doch war die Abfolge nicht immer dieselbe, wir mußten oft Seiten überschlagen oder zurückblättern, und für mich kleinen Jungen, der ich noch dazu zwischen einer übergeschäftigen Mutter und Prue saß, war das Auffinden der richtigen Stellen eine schwere geistige Anstrengung.

 

Der Gottesdienst hob traurig an und behielt in der Regel bis zum Ende sein düsteres Wesen. Wir waren allesamt elende Sünder, weit entfernt vom Heile, und wir äußerten eine gelinde Verwunderung darüber, daß unser Gott uns gegenüber nicht zu gewaltsamen Maßregeln griff. In einem umfangreichen Teil des Gottesdienstes, die Litanei genannt, zählte der Priester mit offensichtlichem Wohlbehagen alles erdenkliche Unheil auf, das die Menschheit betreffen kann, Krieg, Pestseuchen, Hungersnot und so weiter, und die Gemeinde rief in gleichmäßigen Abständen ›O Herr, erlöse uns‹ dazwischen. Eigentlich hätte man meinen sollen, daß derlei nicht so sehr das höchste Wesen als vielmehr die Verwalter unserer internationalen Beziehungen sowie unseres Gesundheits- und Ernährungswesens angehe. Dann sprach der den Gottesdienst leitende Priester eine Reihe von Gebeten – für die Königin, die Lenker des Staates, die Ketzer, alle Unglücklichen, Reisende – und schließlich eines, das eine gute Ernte erflehte. Ich schloß daraus, daß die göttliche Vorsehung all die genannten Personen sowie auch die Ernte gefährlich vernachlässige. Die Gemeinde verstärkte die Anstrengungen des Priesters, indem sie immer wieder im Chor dazwischen rief: ›Wir flehen zu dir, o Gott! Erhöre uns.‹ Die Hymnen waren von verschiedener Art, die meisten jedoch brachten ein überschwengliches Lob unseres Schöpfers zum Ausdruck, und eine wie die andere wimmelte von unrichtigen Reimen und falschen Silbenmaßen. Wir dankten dem Himmel für seine Wohltaten, und zwar ohne jedweden ironischen Hintergedanken, doch hätte uns eine allmächtige Gottheit den Dank für den recht unsichern Kohlen- und Gemüsehandel in Cherry Gardens, sowie für all die Arbeit und Sorge meiner Mutter und die Mühe meines Vaters wohl erlassen können.

Im Grunde schob dieser Gottesdienst bei aller äußerlichen Lobhudelei dem angebeteten göttlichen Wesen die Schuld an jedwedem Unglück auf Erden zu und machte es verantwortlich für den Zustand der Verworrenheit und des Elends, in dem sich die Menschheit befand. Sonntag für Sonntag wurde da dem Geiste junger Menschen, soweit der Gottesdienst ihre instinktive, selbstschützerische Gleichgültigkeit zu durchbrechen vermochte, durch Gesang, Gebet und Gebärde eingeprägt, daß die Menschheit nichtswürdig und hoffnungslos sei, das hilflose Spielzeug eines launischen, reizbaren, eitlen und unwiderstehlichen höheren Wesens. Die Macht dieser Suggestion verdunkelte ihnen die Sonne des Lebens, verbarg das Wunderbare vor ihrem Blick und nahm ihnen allen Mut. So fremd jedoch blieb diese Lehre der Erniedrigung dem Menschenherzen, daß der größte Teil der Gemeinde, in den langen Reihen der Kirchenbänke sitzend, stehend oder kniend, ganz mechanisch nur Sätze hersagte oder Lieder sang und dabei an tausend näherliegende Dinge dachte, die Nachbarn beobachtete, Geschäfte und Vergnügungen plante oder sich in Träumereien erging.

Manchmal, aber nicht immer, wurden in den Sonntagsmorgen-Gottesdienst Teile einer anderen Kirchenzeremonie, der sogenannten Kommunion, eingeschoben. Die Kommunion war ein zusammengeschrumpftes Überbleibsel der katholischen Messe, die wir aus unsern Geschichtsbüchern kennen. Wie ihr wißt, quälte sich die Christenheit neunzehn Jahrhunderte, nachdem das Christentum angehoben hatte, immer noch vergebens, den eingewurzelten Gedanken eines mystischen Blutopfers loszuwerden, jene Tradition der Opferung eines Gottmenschen zu vergessen, die so alt war wie der Ackerbau und die Seßhaftigkeit des Menschen. Die englische Staatskirche war so sehr ein Gebilde des Kompromisses und der Tradition, daß in den beiden Gotteshäusern, die sie in Cherry Gardens besaß, das Problem jenes Opfers in ganz verschiedener Weise betrachtet wurde. Das eine, die neue und prächtige St. Jude-Kirche, übertrieb die Wichtigkeit der Kommunion, nannte sie Messe, nannte den Tisch, an dem sie zelebriert wurde, Altar, nannte den Geistlichen, Mr. Snapes, Priester und betonte im allgemeinen die altheidnische Auslegung der ganzen Sache. Das andere hingegen, die alte kleine St. Osyth-Kirche, nannte ihren Priester einen Prediger, ihren Altar den Tisch des Herrn und die Kommunion das heilige Abendmahl, leugnete jede mystische Bedeutung dieser Zeremonie und ließ sie nur als eine Erinnerung an das Leben und den Tod Christi gelten. Diese Gegensätze zwischen dem uralten Tempelkult des Menschengeschlechtes und der neuen geistigen Freiheit, die seit drei oder vier Jahrhunderten emporzudämmern begann, gingen zur Zeit, da ich als kleiner Junge in der Kirche saß und bemüht war, mich anständig zu betragen, weit über meinen jungen Verstand. Für mich bedeutete die Zeremonie der Kommunion nichts weiter als eine arge Verlängerung des normalerweise schon sehr beschwerlichen Gottesdienstes. Ich war damals von einem rührenden Glauben an die Kraft des Gebetes erfüllt, und ohne zu bedenken, wie wenig schmeichelhaft der Inhalt meiner Bitte war, pflegte ich während der Eingangsgebete des Gottesdienstes zu flüstern: ›Lieber Gott, laß heute keine Kommunion sein! Lieber Gott, laß heute keine Kommunion sein!‹

Zum Schluß kam die Predigt. Sie war eine Originalkomposition des Geistlichen, Mr. Snapes, und das einzige im ganzen Gottesdienst, das nicht vorschriftsmäßig festgesetzt und nicht schon tausende Male wiederholt worden war.

Mr. Snapes war ein rosiger junger Mann, mit rötlichblondem Haar; sein glatt rasiertes Gesicht zeigte rundliche Formen wie ein Büschel Champignons und trug einen Ausdruck glückseliger Selbstzufriedenheit; seine Stimme klang fettig. Er hatte eine Art, den weiten Ärmel seines weißen Priesterrockes zurückzuschlagen, indem er eine gezierte Handbewegung nach oben machte, die in mir eine jener unerklärlichen Abneigungen erweckte, wie Kinder sie zuweilen haben. Ich haßte diese Gebärde, lauerte auf sie und krümmte mich, so oft sie kam.

Die Predigten gingen so sehr über meinen Verstand, daß ich eigentlich nichts über ihren Inhalt sagen kann. Snapes sprach von Dingen wie den ›Tröstungen des allerheiligsten Sakramentes‹ oder der ›Tradition der Kirchenväter‹. Sehr weitläufig ließ er sich über die Kirchenfeste aus, über die Adventzeit, den Tag der heiligen drei Könige und Pfingsten, und er benützte eine stehende Formel des Übergangs zur Betrachtung unserer Zeit: ›Und auch wir, liebe Brüder, haben unsere Adventzeit und unser Fest der heiligen drei Könige.‹ Dann kam er auf den bevorstehenden Besuch König Eduards in Lowcliffe zu sprechen, oder auf Kontroversen, die den Bischof von Natal oder den von Zanzibar betrafen. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie fernab das alles von den wichtigen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens lag.

Und dann, wenn ich armer kleiner Kerl bereits kaum mehr zu hoffen wagte, daß die glatte Stimme jemals zu reden aufhören werde, kam plötzlich eine kleine Pause und gleich darauf die erlösenden Worte: ›Und nun, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes –‹

Es war überstanden! Eine Bewegung ging durch die Kirche. Wir erhoben uns, knieten noch einen Augenblick, scheinbar betend, hin, suchten dann nach Hüten, Überröcken und Regenschirmen und traten schließlich ins Freie hinaus. Da gab es ein großes Fußgetrappel auf dem Pflaster, die Leute zerstreuten sich da und dort hin, Bekannte begrüßten einander steif, Prue lief zum Bäcker, um den Sonntagsbraten zu holen, und wir anderen gingen geradewegs nachhause.

Gewöhnlich gab es köstliche Bratkartoffeln zur Fleischspeise, manchmal auch eine Obsttorte. Im Frühling aber war diese gewöhnlich aus Rhabarber gemacht, was ich nicht leiden konnte. Es hieß, Rhabarber sei mir besonders zuträglich, und ich mußte immer besonders viel von der Rhabarbertorte essen.

Am Nachmittag war Sonntagsschule oder ›Kindergottesdienst‹, und von der Gegenwart der Eltern befreit, begaben wir drei Kinder uns ins Schulgebäude oder wieder in die Kirche, um in den Besonderheiten unseres Glaubensbekenntnisses unterrichtet zu werden. In der Sonntagsschule lehrten Personen, die für diese Aufgabe weder vorbereitet, noch sonst im geringsten geeignet waren; werktags kannten wir sie als Ladenverkäufer oder dergleichen, einer war Schreiber bei einem Auktionator, ein anderer ein schwerhöriger Greis mit buschigem Haar. Sie teilten uns in Klassen auf und hielten uns Vorträge über das Leben und die recht zweifelhaften Taten des Königs David von Israel, Abrahams, Isaks und Jakobs, über die schlechte Aufführung der Königin Jesabel und dergleichen Themen mehr. Auch sangen wir leichte Hymnen im Chor. Mitunter erzählten uns unsere Lehrer auch von Christus, aber ohne jedwedes Verständnis; sie schilderten ihn als eine Art Zauberkünstler, der Wunder wirkte und die Toten auferweckte. Somit habe er uns ›erlöst‹, behaupteten sie – trotz der offenkundigen Tatsache, daß wir wahrhaftig nicht erlöst waren. Ihr wißt ja, daß die Lehre Christi zwei Jahrtausende hindurch unter einem Wust von Geschichten über Auferstehung und Wundertaten begraben lag. Er war ein Licht, das in der Finsternis schien, und die Finsternis wußte nichts davon. Von der großen Vergangenheit des Menschen, von den langsamen Fortschritten der Völker und Rassen auf dem Gebiete des Wissens, von ihren trüben Ängsten, ihrem dunklen Aberglauben und den ersten Siegen der Wahrheit, von der Niederkämpfung und Veredlung der menschlichen Leidenschaften im Verlaufe langer Zeitalter, von Forschung und Entdeckung, von den schlummernden Kräften unseres Körpers und unserer Sinne und von den Gefahren und den Aussichten, unter denen wir selbst, die Menschenscharen unserer Zeit, dumpf dahinlebten, schwer irrend und doch immer wieder von Hoffnung und Verheißung erfüllt: von all dem erfuhren wir nichts. Man deutete uns nicht im entferntesten an, daß es eine Gemeinschaft aller menschlichen Wesen gebe und letzten Endes ein gemeinsames Schicksal der ganzen Menschheit. Unsere Lehrer wären entsetzt gewesen, wenn man derlei in der Sonntagsschule erwähnt hätte.«

»Und wohlgemerkt,« sagte Sarnac, »eine bessere Vorbereitung auf das Leben als die Art Unterricht, den ich empfing, gab es damals überhaupt nicht. Die alte St. Osyth-Kirche wurde von einem Geistlichen, namens Thomas Benderton, geleitet, dessen Gemeinde von Jahr zu Jahr abnahm, weil er die Leute durch Drohungen mit den Schrecknissen der Hölle in Angst zu versetzen pflegte. Er hatte meine Mutter in die St. Jude-Kirche hinübergescheucht, indem er in seinen Drohpredigten immer wieder den Teufel erwähnte. Sein Lieblingsthema war die Sünde der Götzendienerei, und wenn er davon sprach, bezog er sich stets im besonderen auf das Gewand, das Mr. Snapes bei Zelebrierung der Kommunion trug, überdies auch auf eine dunkle Prozedur mit Brot und Wein während dieser Zeremonie.

Was die Kongregationalisten und Methodisten in ihren Gotteshäusern und Sonntagsschulen taten und lehrten, weiß ich nicht genau, denn meine Mutter wäre in einen Paroxismus religiösen Entsetzens verfallen, wenn ich irgendeiner Versammlung einer fremden Sekte beigewohnt hätte. Ich weiß aber, daß ihre Riten nichts als eine Vereinfachung unserer Kirchengebräuche waren, wobei sie sich noch etwas weiter von der alten Messe entfernten, dafür aber um so zäher am Teufel festhielten. Die Methodisten insbesondere legten großen Nachdruck auf den Glauben, daß die meisten Menschen nach den Entbehrungen und dem Elend dieses Lebens in die Hölle kommen und dort die entsetzlichsten Qualen zu erdulden haben würden. Ich wurde darüber genau belehrt, als ein Junge aus einer Methodistenfamilie, ein wenig älter als ich, mir eines Tages während eines gemeinsamen Spazierganges nach Cliffstone von seinen Befürchtungen in dieser Hinsicht erzählte.

Es war etwas Geducktes in seiner Haltung, und er hatte eine eigentümliche Art, die Luft durch die Nase zu ziehen. Gewöhnlich trug er einen langen, weißen Schal um den Hals, eine Erscheinung wie die seine gibt es nun seit Jahrhunderten nicht mehr auf der Welt. Wir schlenderten über die Strandpromenade, die sich längs der Klippen hinzog, an einem Musikpavillon vorbei und an Reihen von Strandstühlen, auf denen Leute saßen oder lagen. Scharen von Menschen in den sonderbaren Festtagskleidern der damaligen Zeit bevölkerten die Strandpromenade, dahinter erhoben sich die blaßgrauen Häuser, in denen sie wohnten. Und mein Gefährte sprach: ›Mr. Molesly sagt, das Jüngste Gericht kann jeden Augenblick hereinbrechen – kann anbrechen in feuriger Pracht, bevor wir noch bis hinunter ans Ende des Strandwegs gelangt sind. Und dann werden all die Leute gerichtet ...‹

›So wie sie da sind?‹

›Ja, so wie sie da sind! Die Frau dort mit dem Hund und der Dicke, der da in seinem Stuhl schläft, und – der Polizist.‹

Er hielt inne, selbst ein wenig erstaunt über die hebräische Kühnheit seiner Gedanken. ›Auch der Polizist‹, wiederholte er. ›Sie werden gewogen und zu leicht befunden werden, und dann kommen die Teufel und martern sie. Martern den Polizisten, verbrennen ihn und schneiden ihn in Stücke. Und jeden andern auch. Schreckliche, schreckliche Martern ...‹

 

Ich hatte bis dahin die Anwendung der christlichen Lehre niemals in solcher Weise ausmalen gehört und ich war bestürzt.

›Ich würde mich verstecken‹, sagte ich.

›Er würde dich aber sehen. Er würde dich sehen und dich den Teufeln zeigen‹, sagte mein kleiner Freund. ›Er sieht auch jetzt die bösen Gedanken in uns.‹«

»Ja, aber glaubten denn die Menschen derartigen Unsinn?« rief Heliane.

»Soweit sie überhaupt an etwas glaubten«, erwiderte Sarnac. »Ich gebe zu, es ist schrecklich, aber es war so. Könnt ihr euch vorstellen, welch verkrampfte Gemüter sich unter solchen Lehren in unseren unterernährten und infizierten Körpern entwickelten?«

»Nur wenige können das groteske Märchen der Hölle wirklich geglaubt haben«, meinte Beryll.

»Mehr Menschen, als man denken sollte, glaubten es«, sagte Sarnac. »Selbstverständlich beschäftigten sich nur wenige andauernd damit – sonst wären sie ja wohl verrückt geworden –, aber latent schlummerte es in vielen Gemütern. Und die anderen? Bei den meisten hatte diese grauenhafte Auffassung der Welt und des Daseins eine Art passiver Abwehr zur Folge. Sie leugneten jene Vorstellung nicht, unterließen es aber, sie ihrem Gedankenkreis wirklich einzuverleiben. So entstand etwas wie eine tote Stelle in ihnen, eine Narbe, da, wo ein Empfinden für das Menschheitsschicksal hätte sein sollen, eine Vision des Lebens über die individuelle Existenz hinaus ...

Es fällt mir schwer, den Gemütszustand zu schildern, in den wir hineinwuchsen. Geist und Gemüt der Kinder nahmen durch jene Lehre Schaden; ein normales geistiges Wachstum wurde durch sie unmöglich gemacht, es wurde, in einer Hinsicht zumindest, unterbunden. Vielleicht nahmen wir das groteske Märchen von der Hölle gar nicht völlig in uns auf, glaubten nicht ernstlich daran; trotzdem bewirkte es, daß wir ohne lebendigen Glauben und ohne Lebensziel aufwuchsen. Der Kern unseres religiösen Empfindens war eine unterdrückte Angst vor der Hölle. Die wenigsten Menschen wagten es, diese Furcht ans Tageslicht zu bringen. Es galt als geschmacklos, von solchen Dingen oder überhaupt von irgendwelchen wesentlichen Fragen des Daseins zu sprechen, einerlei ob gläubig oder zweifelnd. Man durfte höchstens versteckt darauf anspielen oder darüber scherzen. Fortschrittliche Äußerungen wurden zumeist unter der Maske der Scherzhaftigkeit gemacht.

Geistig war die Welt in den Tagen des Mortimer Smith völlig verirrt; wie ein Hund, der sich verlaufen und jede Spur verloren hat. Wohl waren die damaligen Menschen, ihrer Veranlagung nach, den heutigen durchaus ähnlich, aber sie waren krank an Geist und Körper, sie hatten keinen Halt, keinen festen Boden unter den Füßen. Wir, die wir im Licht wandeln und vergleichsweise einfache und gerade Wege gehen, können die Verworrenheit, die verschlungene Vielfältigkeit des damaligen Denkens und Handelns kaum begreifen. Es gibt heute kein geistiges Leben mehr auf der Welt, das sich mit jenem vergleichen ließe.«