Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Zweites Kapitel
Der Anfang des Traumes
1

»Mein Traum begann,« sagte er, »wie unser aller Leben beginnt, in Bruchstücken, mit einer Reihe unzusammenhängender Eindrücke. So entsinne ich mich zum Beispiel, daß ich einmal auf einem Sofa lag, auf einem Sofa, das mit einem merkwürdig harten, rot und schwarz gemusterten, schon fadenscheinigen Stoff bezogen war; ich schrie – warum, weiß ich nicht mehr. Mein Vater erschien in der Tür des Zimmers und blickte mich an. Er sah unheimlich aus, war halb bekleidet, in Hosen und einem Flanellhemd, und das blonde Haar stand ihm ungebürstet in die Höhe; er rasierte sich eben und hatte das Kinn voll Seifenschaum. Und er war böse, weil ich schrie. Ich glaube, ich hörte alsbald zu schreien auf, bin dessen aber nicht sicher. Ein andermal kniete ich auf demselben harten, rot und schwarz gemusterten Sofa neben meiner Mutter, sah zum Fenster hinaus – das Sofa stand gewöhnlich mit der Rückseite gegen das Fensterbrett – und beobachtete, wie der Regen auf die Straße fiel. Das Fensterbrett roch ein wenig nach Farbe – weiche, schlechte Farbe war es, die in der Sonne Blasen geworfen hatte. Es regnete heftig und die Straße, aus sandigem, gelblichem Lehm, war schlecht. Sie war mit schmutzigem Wasser bedeckt, und der Regenguß verursachte eine Menge glänzender Blasen, die der Wind vor sich her trieb, bis sie platzten und ihnen wieder neue folgten.

›Schau sie dir an, Liebling,‹ sagte meine Mutter, ›wie Soldaten.‹

Ich glaube, ich war noch sehr klein, als sich dies ereignete, aber ich hatte doch schon oft Soldaten mit Helmen und Bajonetten vorübermarschieren gesehen.«

»Das dürfte also einige Zeit vor dem Großen Krieg und dem sozialen Zusammenbruch gewesen sein«, sagte Beryll.

»Ja, einige Zeit«, erwiderte Sarnac. Er dachte nach. »Einundzwanzig Jahre vorher. Das Haus, in dem ich geboren wurde, war kaum drei Kilometer von dem großen britischen Militärlager zu Lowcliff in England entfernt; zur Eisenbahnstation Lowcliff hatten wir nur einige hundert Schritt zu gehen. ›Soldaten‹ waren die auffälligste Erscheinung in meiner Welt außerhalb meines Heims. Sie trugen lebhaftere Farben als andere Leute. Meine Mutter pflegte mich jeden Tag in einem sogenannten Kinderwagen spazieren zu fahren, damit ich an die frische Luft käme, und so oft Soldaten auftauchten, rief sie: ›Ei, die schönen Soldaten!‹

›Soldaten‹ muß eines meiner frühesten Wörter gewesen sein. Ich zeigte mit meinem in Wolle gehüllten Fingerchen auf sie – damals zog man nämlich den Kindern ganz unglaublich viel an, und ich trug sogar Handschuhe – und sagte: ›Daten.‹

Ich will versuchen, euch zu schildern, wie mein Heim beschaffen und was für Leute meine Eltern waren. Dergleichen Haushalte, Wohnhäuser und Orte gibt es nun seit langem nicht mehr, es sind uns kaum Überreste von ihnen erhalten, und wenn ihr auch wahrscheinlich viel über die damalige Lebensweise gehört und gelernt habt, so bezweifle ich doch, daß ihr euch die Dinge, die mich umgaben, richtig vorstellen könnt. Der Name des Ortes war Cherry Gardens; er gehörte zu dem größeren Ort Sandbourne und war etwa drei Kilometer vom Meer entfernt. Auf der einen Seite lag die Stadt Cliffstone, von der aus Dampfschiffe nach Frankreich hinüber verkehrten, auf der andern Lowcliff mit seinen endlosen Reihen häßlicher roter Ziegelbauten für das Militär und einem großen Exerzierplatz. Landeinwärts erstreckte sich eine Art Plateau, von neuen, roh beschotterten Straßen durchzogen – ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Straßen das waren! – und bedeckt von Gemüsegärten und eben fertiggestellten oder noch im Bau begriffenen Häusern; und dahinter kam eine Hügelkette, nicht sehr hoch, aber ziemlich steil, mit Gras bewachsene, sonst jedoch kahle Hügel, die Downs. Die Downs bildeten einen reizvollen Abschluß meiner kleinen Welt gegen Norden, während sie im Süden von einem saphirfarbenen Meeresstreifen begrenzt wurde, und diese ihre beiden Grenzlinien waren wohl das einzig wahrhaft Schöne in ihr. Alles übrige war von menschlicher Verworrenheit berührt und entstellt worden. Schon als ganz kleiner Junge dachte ich oft, was wohl hinter jenen Hügeln liegen möge, doch erst in meinem siebenten oder achten Jahre trieb mich die Wißbegier, sie zu besteigen.«

»Gab es damals noch keine Aeroplane?« fragte Beryll.

»Die ersten Flugversuche wurden gemacht, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Ich sah den ersten Aeroplan, der den Kanal zwischen dem europäischen Festland und England überquerte. Er galt als etwas ganz Wunderbares. (»Das war er wohl auch«, meinte Heliane.) Ich zog mit einer Schar anderer Knaben aus, und wir drängten uns durch die Menge, die sich rings um die sonderbare Maschine gesammelt hatte und sie anstarrte – sie glich einer riesigen Heuschrecke aus Segeltuch mit ausgespannten Flügeln –, es war auf einem Feld in der Nähe von Cliffstone. Man bewachte das Wunderding, die Leute wurden mittels Stangen und Seilen davon ferngehalten.

Es fällt mir schwer, euch zu schildern, was für Orte Cherry Gardens und Cliffstone waren – obwohl wir eben die Ruinen von Domodossola besucht haben. Auch die Stadt Domodossola muß recht planlos angelegt gewesen sein, aber jene beiden Orte breiteten sich noch weit zweck- und sinnloser über Gottes Erdboden hin aus. Ihr müßt wissen, daß die dreißig oder vierzig Jahre, die meiner Geburt vorangingen, eine Zeit verhältnismäßigen Wohlstands, eine Periode der Produktivität gewesen waren. Selbstverständlich war dies in jenen Tagen keineswegs das Resultat irgendwelcher Staatskunst oder Voraussicht; es ergab sich zufällig – etwa so, wie sich mitten im Lauf eines Regen-Sturzbaches da oder dort ein ruhiger kleiner Tümpel bildet.

Die Geld- und Kreditgebarung funktionierte leidlich gut; Handel und Verkehr blühten; es gab keine weit um sich greifenden Seuchen, nur wenige größere Kriege und etliche besonders gute Ernten. Das Ergebnis dieses Zusammenwirkens günstiger Bedingungen war ein deutlich wahrnehmbarer Aufschwung in der Lebensführung der Allgemeinheit; doch wurde dieser Fortschritt durch eine starke Bevölkerungszunahme zum größten Teil wieder aufgehoben. ›Damals wurde der Mensch sich selbst zur Heuschreckenplage‹, wie es in unseren Schulbüchern heißt. In meinem späteren Leben sollte ich des öftern über ein verbotenes Thema leise flüstern hören, nämlich über eine vernünftige Einschränkung der Geburten; in den Tagen meiner Kindheit jedoch befand sich die ganze Menschheit in einem Zustand völliger und sorgfältig behüteter Unwissenheit über die grundlegenden Tatsachen des menschlichen Lebens und Glücks. Die Menschen um mich herum standen unter dem Druck einer unvorhergesehenen und ungehemmten Vermehrung. Sinnlose Vermehrung, das war das Grundmotiv meiner Umgebung, mein Drama, meine Atmosphäre.«

»Sie hatten aber doch Lehrer, Priester, Ärzte und Herrscher, die sie eines Bessern hätten belehren können«, sagte Salaha.

»Die belehrten sie keines Bessern«, erwiderte Sarnac. »Die Führer und Lenker des Lebens waren damals höchst absonderliche Leute. Es gab ihrer zahllose, aber sie leiteten niemanden. Weit davon entfernt, Männer und Frauen über eine Einschränkung der Geburten oder die Abwehr von Krankheiten zu belehren oder ein edelmütiges Zusammenarbeiten der Allgemeinheit zu fordern, traten sie solchem Fortschritt vielmehr hindernd in den Weg. Der Ort Cherry Gardens war etwa fünfzig Jahre vor meiner Geburt entstanden; aus einem winzigen Dörfchen war er zu einem sogenannten städtischen Vorort geworden. In jener alten Welt, in der es weder Freiheit noch Führung gab, wurde der Grund und Boden in Flecken der verschiedensten Art und Größe aufgeteilt, und die Besitzer konnten, abgesehen von einigen wenigen ärgerlichen und zwecklosen Einschränkungen, die ihnen auferlegt waren, damit tun, was sie wollten. In Cherry Gardens nun kauften sogenannte Häuserspekulanten Grundstücke – oftmals ganz ungeeignet für ihre Zwecke, und bauten Wohnhäuser für den zunehmenden Schwarm der Bevölkerung, die kein anderes Obdach hatte. Dieses Bauen erfolgte völlig planlos. Der eine Spekulant baute hier, der andere dort, jeder aber baute so billig als möglich und verkaufte oder vermietete, was er gebaut hatte, so teuer er konnte. Manche dieser Häuser standen in Reihen, andere voneinander getrennt, mit kleinen Privatgärten ringsherum – man nannte sie Gärten, in Wirklichkeit aber waren es verwilderte oder öde Grundstücke – eingezäunt, um fremde Leute davon fernzuhalten.«

»Warum wollte man fremde Leute davon fernhalten?«

»Es freute den Hausbesitzer, das zu tun – es war ihm eine Befriedigung. Dabei aber waren die Gärten keineswegs den Blicken Neugieriger verschlossen, jedermann konnte über den Zaun gucken, wenn es ihm beliebte. Und jedes Haus hatte seine eigene Küche – es gab keine öffentliche Speiseanstalt in Cherry Gardens –, sowie seine besonderen Haushaltungsgeräte. In der Regel bestand der Haushalt aus einem Mann, der außer Haus arbeitete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – man lebte damals eigentlich nicht, um zu leben, sondern vielmehr, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen –, und nur zum Essen und zum Schlafen heimkam, und aus einer Frau, seinem Weib, die allen Dienst versah, für Nahrung sorgte, das Haus rein hielt, und so weiter, und auch Kinder gebar, eine Menge ungewollter Kinder – sie verstand es eben nicht besser. Sie war viel zu beschäftigt, als daß sie sie hätte gut pflegen können, und viele von ihnen starben. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit der Zubereitung der Mahlzeiten. Sie kochte – nun, immerhin, es war ja wohl eine Art Kochen!«

Sarnac machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Das Essen damals! Nun ja! Jetzt hab' ich es ja jedenfalls überstanden.«

Beryll lachte belustigt.

»Fast jedermann litt an Verdauungsstörungen, und die Zeitungen wimmelten von Heilmittelanzeigen«, fuhr Sarnac fort, immer noch ganz düster in seiner rückblickenden Betrachtung.

 

»Es wäre mir niemals eingefallen, diese Seite des Lebens der Vergangenheit ins Auge zu fassen«, meinte Heliane.

»Sie war aber von grundlegender Bedeutung«, sagte Sarnac. »Die damalige Welt war in jeder Hinsicht krank.

Jeden Morgen, den Sonntag ausgenommen, nachdem der Mann sich an seine Arbeit begeben hatte und die Kinder aus den Betten geholt und angezogen und die größeren in die Schule geschickt worden waren, machte die Hausfrau ein wenig Ordnung, und dann kam die Frage der Lebensmittelbeschaffung – für ihr häusliches Kochen. Jeden Werktagmorgen fuhren Männer mit kleinen Pony-Wagen oder Handkarren, die sie vor sich herschoben, die Straßen von Cherry Gardens entlang. Sie hatten Fleisch, Fische, Gemüse und Obst zum Verkauf auf ihren Karren – all das dem Wetter ausgesetzt und jeglichem Schmutz, der daher geweht kam – und riefen mit lauter Stimme aus, welche Art von Ware sie feilboten. Die Erinnerung läßt mich wieder auf dem schwarz-roten Sofa am Fenster stehen, ich bin noch einmal ein kleiner Junge. Es gab da einen Fischverkäufer, der mir besonderen Eindruck machte. Was für eine Stimme der hatte! Ich versuchte, sein prächtiges Geschrei mit meinem schrillen Kinderstimmchen nachzuahmen: ›Makrelen, kauft Makrelen, schöne Makrelen! Drei ein Shilling. Makrelen!‹

Die Hausfrauen kamen aus den geheimen Schlupfwinkeln ihrer Wohnstätten hervor, um zu kaufen oder zu feilschen, und vertrieben sich, wie man damals sagte, bei dieser Gelegenheit ein wenig die Zeit mit den Nachbarinnen. Doch war nicht alles, was sie brauchten, bei den Straßenverkäufern zu haben. Hier setzte die Tätigkeit meines Vaters ein. Er hatte einen kleinen Laden, war ein sogenannter Krämer. Er verkaufte Obst und Gemüse, armseliges Obst und erbärmliches Gemüse, von der Art eben, wie man es damals zu ziehen verstand, ferner Kohlen, Petroleum (man benützte damals Petroleumlampen), Schokolade, Ingwerbier und andere Dinge, die für die barbarische Haushaltung jener Zeit nötig waren. Überdies handelte er mit Schnittblumen und Topfpflanzen, sowie mit Samen, Stöckchen, Bindfaden und Harken für die kleinen Gärten. Sein Laden befand sich in einer Reihe mit einer Anzahl anderer; die Häuserzeile war genau so wie eine gewöhnliche Häuserzeile im Ort, nur hatte man die Erdgeschoßräume zu Laden gemacht. Mein Vater erwarb seinen und unseren Lebensunterhalt, indem er seine Waren so billig einkaufte, als er konnte, und möglichst viel dafür zu bekommen trachtete. Es war ein sehr ärmlicher Verdienst, denn Cherry Gardens hatte außer ihm noch einige Krämer aufzuweisen, tüchtige Kerle, und wenn er zuviel Profit auf seine Waren schlug, gingen seine Kunden weiter und kauften bei seinen Konkurrenten, und er verdiente dann überhaupt nichts.

Ich, mein Bruder und meine beiden Schwestern – meine Mutter hatte sechs Kinder geboren und vier davon waren am Leben – verbrachten unsere Tage in diesem Laden oder in dessen nächster Nähe. Im Sommer waren wir meist vor dem Hause oder in einem Zimmer oberhalb des Geschäftes, in der kalten Jahreszeit aber kostete es zuviel Geld und zuviel Mühe, in jenem Zimmer Feuer anzumachen – man heizte in ganz Cherry Gardens mit offenem Kohlenfeuer – und da mußten wir denn in die finstere unterirdische Küche, in der meine Mutter, die Ärmste, kochte, so gut sie es verstand.«

»Ihr wart ja Höhlenbewohner!« rief Salaha.

»Tatsächlich. Wir nahmen alle unsere Mahlzeiten in dem unterirdischen Raum ein. Im Sommer waren wir wohl sonnverbrannt und rotbäckig, im Winter aber wurden wir infolge dieses – Höhlenlebens blaß und recht mager. Mein Bruder, der zwölf Jahre älter war als ich und mir riesengroß erschien, hieß Ernst, meine beiden Schwestern Fanny und Prudence. Ernst fing bald an, außer Haus zu arbeiten, etwas später ging er dann nach London, und ich sah ihn nur selten, bis zu der Zeit, da ich selbst nach London kam. Ich war das jüngste Kind. Als ich neun Jahre alt war, faßte mein Vater Mut, verwandelte Mutters Kinderwagen in einen kleinen Schubkarren und benützte ihn fortan zur Lieferung von Kohlen und ähnlichen Waren.

Fanny, die ältere von meinen beiden Schwestern, war ein sehr hübsches Mädchen; ihre zarte Hautfarbe stand in lieblichem Gegensatz zu den natürlich gewellten braunen Haaren, die ihr Gesicht anmutig umrahmten, und sie hatte sehr dunkle blaue Augen. Auch Prudence hatte eine helle, aber viel mattere Gesichtsfarbe, und ihre Augen waren grau. Sie neckte mich viel oder nörgelte an mir herum, Fanny hingegen beachtete mich entweder gar nicht oder war sehr freundlich mit mir, und ich liebte sie innig. Merkwürdigerweise kann ich mich an das Aussehen meiner Mutter nicht deutlich erinnern, obwohl sie selbstverständlich die Hauptrolle in meinem jungen Leben spielte. Sie war mir wohl zu vertraut, als daß ich ihr die Art von Aufmerksamkeit zugewendet hätte, die dem Gedächtnis ein Bild einprägt.

Ich lernte von meiner Familie, und zwar hauptsächlich von meiner Mutter sprechen. Keiner von uns sprach gut. Die Redewendungen, deren wir uns bedienten, waren dürftig und schlecht, wir sprachen vieles falsch aus, und lange Wörter vermieden wir, denn sie waren uns zu gefährlich und dünkten uns anmaßend. Ich hatte sehr wenig Spielzeug; ich entsinne mich einer kleinen Blechlokomotive, einiger Zinnsoldaten und einer recht spärlichen Menge von hölzernen Bauklötzen. Niemand wies mir einen bestimmten Platz an, wo ich hätte spielen können; hatte ich mein Spielzeug auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet, so kam sicherlich gerade eine Mahlzeit und fegte mir alles hinweg. Ich weiß noch ganz genau, wie gerne ich mit Gegenständen aus dem Laden gespielt hätte, besonders mit den Brennholzbündeln, die es da gab, und mit gewissen radförmigen Zündspänen, die sehr verlockend auf mich wirkten. Mein Vater aber entmutigte derartige Wünsche. Er sah mich nicht gern im Laden, solange ich noch zu klein war, um ihm zu helfen, und so hielt ich mich, wenn ich nicht ins Freie durfte, meist in dem erwähnten oberen Zimmer auf oder in dem Kellerraum, der als Küche diente. Wenn der Laden geschlossen war, wurde er für meine Knabenphantasie ein kalter, dunkler, höhlenartiger Ort; düstere Schatten lauerten darin, in denen Schreckliches verborgen sein mochte, und selbst wenn ich auf dem Weg zur Schlafstube die Hand meiner Mutter ganz fest hielt, fürchtete ich mich hindurchzugehen. Es war da auch immer ein unangenehm dumpfer Geruch von verfaulendem Zeug; er änderte sich stets ein wenig, je nach dem Obst oder Gemüse, das gerade am meisten verlangt wurde, das Petroleum war aber ein ständiges Element darin. An Sonntagen, wenn der Laden den ganzen Tag geschlossen blieb, machte er einen andern Eindruck auf mich. Er war dann nicht so drohend dunkel, nur sehr, sehr still. Wenn ich zur Kirche oder zur Sonntagsschule geführt wurde, kam ich hindurch. (Ja, ja, von der Kirche und der Sonntagsschule will ich euch sofort erzählen.) Als ich meine Mutter auf dem Totenbette liegen sah – sie starb, da ich noch nicht ganz sechzehn Jahre alt war –, kam mir alsbald der sonntägliche Laden in den Sinn ...

So war das Heim geartet, liebste Heliane, in dem ich mich im Traume sah. Und ich glaubte fest, daß mein Leben dort angehoben habe. Es war der tiefste Traum, den ich jemals träumte. Sogar dich hatte ich vergessen.«

2

»Und wie wurde das zufällig in die Welt gesetzte Kind für das Leben vorbereitet?« fragte Beryll. »Wurde es in einem Kindergarten erzogen?«

»Es gab damals keine Kindergärten, wie wir sie heute besitzen«, sagte Sarnac. »Man hatte sogenannte Elementarschulen, und eine solche besuchte ich, nachdem ich das sechste Lebensjahr vollendet hatte; meine Schwester Prudence brachte mich zweimal täglich hin.

Auch hier fällt es mir schwer, euch ein getreues Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. Unsere Geschichtsbücher berichten euch von den Anfängen einer allgemeinen Erziehung in jener fernen Zeit und von dem eifersüchtigen Groll der alten Priesterschaften und gewisser privilegierter Personen gegen die neue Art von Lehrern; doch können sie euch keine lebendige Vorstellung von den elend ausgestatteten Schulhäusern geben, in denen eine viel zu spärliche Zahl von Lehrpersonen wirkte, noch von der tapferen Arbeit dieser schlecht bezahlten und für ihre Aufgabe schlecht vorbereiteten Männer und Frauen, denen die Menschheit die ersten rohen Versuche auf dem Gebiete der Volkserziehung zu danken hat. In der Schule zu Cherry Gardens hatte ein hagerer, dunkelhaariger Mann, der immer hustete, die größeren Knaben unter sich, und ein sommersprossiges kleines Frauchen von etwa dreißig Jahren plagte sich mit den kleineren ab. Heute sehe ich ein, daß sie Märtyrer waren. Wie er geheißen, habe ich vergessen, der Name des kleinen Frauchens war Miß Merrick. Sie hatten riesengroße Klassen zu leiten und bewerkstelligten den Unterricht größtenteils mit Hilfe von Stimme und Gebärde und mit einer schwarzen Tafel, auf der sie mit Kreide schrieben. Ihre Ausstattung mit Lehrmitteln war erbärmlich. Die einzigen, die ihnen in genügender Menge zur Verfügung standen, waren abgegriffene schmutzige Lesebücher, Bibeln und Gesangbücher und eine Anzahl von kleinen Schiefertafeln in Holzrahmen, auf denen wir mit Griffeln schrieben, um Papier zu sparen. Zeichenmaterial hatten wir eigentlich gar nicht; die meisten von uns lernten niemals zeichnen. Ihr könnt es mir glauben! Viele normal entwickelte Erwachsene jener Zeit waren nicht imstande, auch nur eine Schachtel zu zeichnen. Es gab in jener Schule nichts, woran die Schüler hätten zählen lernen können; es gab auch keinerlei geometrische Modelle. Bilder waren nur sehr spärlich vorhanden: eines, das die Königin Victoria darstellte, und ein Blatt mit Tieren; zwei sehr vergilbte Landkarten von Europa und Asien waren um zwanzig Jahre veraltet. Die Grundregeln der Mathematik lernten wir, indem wir sie im Chor aufsagten. Wir standen in Reihen und leierten ein sonderbares Lied, das Einmaleins genannt:

›Einmalzwei–sinzwei,

zweimalzwei–sinvier,

dreimalzwei–sinsechs,

viermalzwei–sinacht.‹

Wir sangen auch im Chor – einstimmig – meist religiöse Hymnen. Die Schule besaß ein altes, aus zweiter Hand gekauftes Klavier, auf dem man unser Geheul begleitete. Als dieses Instrument erstanden wurde, gab es in Cliffstone und Cherry Gardens große Aufregung, man nannte den Kauf einen Luxus, eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen.«

»Eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen!« wiederholte Iris. »Es wird wohl stimmen. Aber es ist mir völlig unbegreiflich.«

»Ich kann euch nicht alles und jedes erklären«, sagte Sarnac. »Aber ihr dürft mir's glauben: England bedachte die Kinder seines eigenen Volkes mit einem äußerst dürftigen Unterricht und das nur widerwillig; übrigens verfuhren andere Länder ziemlich ähnlich. Man sah die Dinge damals ganz anders als heute. Die ganze Menschheit war besessen von der Idee des Wettbewerbs. Amerika, das sich eines viel größeren Wohlstands erfreute als England – so weit man in Bezug auf die damalige Zeit überhaupt von Wohlstand reden kann –, hatte wenn möglich noch schlechtere und schäbigere Schulen für die Masse des Volks ... Ja, meine Lieben! Ich sage euch, es war so. Ich bin daran, euch eine Geschichte zu erzählen, nicht euch das Universum zu erklären ... Selbstverständlich lernten wir Kinder trotz der hingebungsvollen Bemühungen so tapferer Menschen wie Miß Merrick sehr wenig und dieses Wenige schlecht. Der größte Teil meiner Erinnerungen an die Schulzeit bedeutet Langeweile. Wir saßen auf Holzbänken an abgenutzten Pulten, zahllose Reihen hintereinander. Ich sehe noch all die kleinen Köpfe vor mir – und ganz vorn stand Miß Merrick und versuchte, uns Interesse an den Flüssen Englands beizubringen:

›Tai. Weer. Tihsömber.‹«

»Hast du nun eben das getan, was man damals fluchen nannte?« fragte Salaha.

»Ach nein! Das ist Geographie. Und Geschichte war so:

›Willemdaroberer – tausendsechsundsechzig

Willemrufiß – tausendsiebnundachtzig.‹«

»Was hat das bedeutet?«

»Für uns Kinder? Ziemlich dasselbe, was es für euch bedeutet – Kauderwelsch. O die Stunden, diese nicht endenwollenden Stunden der Kindheit in der Schule! Wie endlos lange sie schienen! Habe ich gesagt, ich hätte in meinem Traume ein ganzes Leben durchlebt? In der Schule durchlebte ich Ewigkeiten. Selbstverständlich erfanden wir allerlei, um uns zu unterhalten. Wir zwickten oder pufften zum Beispiel unseren Nachbarn und sagten: ›Gib's weiter.‹ Oder wir spielten verstohlen mit kleinen Kugeln. Es ist komisch, wenn ich bedenke, daß ich nicht durch den Rechenunterricht, sondern durch das verbotene Kugelspiel zählen lernte, addieren, subtrahieren, und so weiter.«

 

»Aber was leisteten Miß Merrick und der hustende Märtyrer nun eigentlich?« fragte Beryll.

»Ach, sie konnten ja nicht, wie sie wollten. Sie waren in eine Maschine eingespannt. Es gab regelmäßige Inspektionen und Prüfungen, um festzustellen, ob sie sich an die Vorschriften hielten.«

»Der Singsang ›Willemdaroberer‹ und so weiter,« sagte Heliane, »das bedeutete doch etwas? Dem lag doch, wenn auch verborgen, irgendeine vernünftige oder halbwegs vernünftige Idee zugrunde?«

»Wohl möglich«, meinte Sarnac nachdenklich. »Ich habe sie aber nie entdecken können.«

Iris versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. »Du sagtest, es sei Geschichte gewesen ...?«

»Ja, ja«, bestätigte Sarnac. »Ich glaube, die Kinder sollten Interesse am Tun und Treiben der Könige und Königinnen von England gewinnen. Wahrscheinlich war das eine der langweiligsten Reihen von Monarchen, die die Welt je gesehen hat. Interessant wurden sie uns nur zeitweise, wenn sie Gewalttätigkeit an den Tag legten. Es gab da besonders einen Herrscher, den wir gerne mochten, Heinrich VIII. hieß er; der hatte eine derartige Liebesgier in sich und besaß dabei so viel Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe, daß er seine Gemahlin jeweils ermordete, bevor er die nächste nahm. Und dann gab es einen gewissen Alfred, der Kuchen backen sollte – ich weiß nicht, warum – und sie anbrennen ließ, was seinen Feinden, den Dänen, auf irgendeine rätselhafte Weise Schaden brachte.«

»Aber das kann doch nicht alles gewesen sein, was man euch an Geschichte lehrte!« rief Heliane.

»Königin Elisabeth von England trug eine Halskrause, und Jakob der Erste von England und Schottland küßte seine Günstlinge.«

»Aber Geschichte!«

Sarnac lachte. »Ja, es ist absonderlich. Nun, da ich wieder wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir's aber glauben, mehr wurde uns nicht gelehrt.«

»Erzählte man euch nichts über Anfang und Ende des Lebens, nichts über seine unendlichen Freuden und Möglichkeiten?«

Sarnac schüttelte den Kopf.

»In der Schule nicht«, sagte Stella, die offenbar noch gut wußte, was in ihren Lehrbüchern gestanden hatte. »Das geschah in der Kirche. Sarnac vergißt die Kirchen. Ihr müßt bedenken, daß jenes Zeitalter eines intensiver Religiosität war. Es gab allenthalben Stätten der Andacht. Ein ganzer Tag von sieben wurde der Betrachtung des Menschheitsschicksals und dem Studium der göttlichen Absichten gewidmet. Der Arbeiter feierte an diesem Tage. Von einem Ende des Landes bis zum andern war die Luft erfüllt vom Klange der Kirchenglocken und vom Gesang der Gläubigen. Lag darin nicht eine gewisse Schönheit, Sarnac?«

Sarnac lächelte sinnend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Unsere Geschichtsbücher bedürfen in dieser Hinsicht einer kleinen Revision.«

»Aber man sieht doch zahllose Kirchen und Kapellen auf alten Photographien und kinematographischen Bildern. Auch besitzen wir ja noch eine Menge der damaligen Kathedralen. Manche von ihnen sind recht schön.«

»Sie mußten allesamt gestützt, die Mauern mit Stahlklammern zusammengeheftet werden,« sagte Heliane, »weil sie nachlässig oder gewissenlos erbaut worden waren. Und sie stammen nicht aus Sarnacs Zeit.«

»Mortimer Smiths Zeit«, verbesserte Sarnac. »Sie wurden Jahrhunderte früher erbaut.«