Gustloff im Papierkorb

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In den folgenden Wochen beobachtete er Max aufmerksamer. Zunächst verhielt dieser sich unauffällig. Doch nach einer Woche wurde er merkwürdig betriebsam, überlegte, ging im Kontor herum, setzte sich hin, schrieb, strich, zerriss, schrieb erneut. Bisweilen nahm er eine Arbeitsmappe zu sich, durchsuchte sie. Hatte er einen Brief gefunden, begann er eifrig zu schreiben. Am letzten Tag des Oktobers, einem Dienstag, war Max völlig aufgelöst. «Was meinen die eigentlich! Aber nicht mit mir! Ich muss unbedingt zu den Courtaulds!» Wild gestikulierend, vor seinem Pult hin und hergehend berichtete er Paul, dass die Courtaulds den Vertrag, den er mit ihnen ausgehandelt hatte, jetzt plötzlich für unpraktikabel erklärten. Wenn nicht unterschrieben würde, «verpassen wir eine grosse Chance». Paul wusste, dass die Courtaulds in Köln Kunstseide herstellten und neu Viskose-Spinnfasern, eines der Steckenpferde von Max, produzieren wollten. «Ich fahre hin. Die müssen ja nicht glauben …» Max beschloss, am Donnerstag, also am 2. November, zu fahren. Dann hätte er den ganzen Freitag für Verhandlungen, könnte dann noch die Verwandten besuchen. Am Montag würde er wieder zurück sein.

Paul war einverstanden und zufrieden. Das war die Gelegenheit, sich Klarheit zu verschaffen. Am Freitag ging er gleich zu Max’ Pult und durchsuchte den Stapel auf der rechten Pultseite. Wieder die laufenden Geschäfte in ihren Mappen. Die nicht angeschriebene Mappe war wieder da; aber sie enthielt nur zwei Briefentwürfe. Einer war an die Reichsgeschäftsführung A.K.D. Berlin gerichtet. Offenbar beobachtete Max die Einstellung von katholischen Zeitungen. Er fasste den Brief zusammen und schrieb einen Satz, der ihm auffiel, flüchtig ab:

«Reichsgeschäftsführung A.K.D. Berlin

<der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher>

30/X/33

Max berichtet, wie einzelne Blätter der Innerschweiz mit den nationalsoz. Ideen sympathisieren, während andere Blätter einesteils günstige Berichte bringen, dann aber auch Greuelmeldungen wiedergeben. ‹Wir Katholiken haben ein ganz besonderes Interesse, damit die nationalsoz.

Ideen an Ausdehnung gewinnen, besonders dass die Länder, die an Deutschland anstossen, [sie] gerecht beurteilen. Ich trete Ihrem Verein bei und bezahle heute die 6 Frs. ein. Ich halte mich zu Ihrer Verfügung betr. Organisation und Tätigkeit›.»

Der andere Briefentwurf war wieder an Gustloff gerichtet. Paul las ihn durch. Gustloff musste über Zustände in London geschrieben haben, und Max antwortete ihm. Paul konnte die Zusammenhänge nicht ganz verstehen, aber er fand eine Invektive gegen das Auswärtige Amt in Berlin doch so interessant, dass er sich hinsetzte und diese abschrieb. Den Rest fasste er zusammen:

«Auszug aus einem Brief von Max an Gustloff vom 22. Okt. 1933

Gustloff muss Max über ‹unglaubliche Zustände› auf der Londoner Gesandtschaft unterrichtet haben, worauf Max antwortet, er sei darüber nicht überrascht und wörtlich:

‹Die Herren vom A.A. [Auswärtigen Amt, Anm. d. A.] sind noch durchaus capitalistisch verfilzt und können sich an den Sozialismus, der nun einmal einen Hauptbestandteil unserer Bewegung bildet, nicht gewöhnen.

Die Herren haben die Köpfe immer noch zu hoch.

Nach der Abstimmung wird unser Führer das A. A. gewiss selbst in die Hand nehmen.›49 Dann folgt ein längerer Bericht über den Aussenhandelsverband, der nun auch gleichgeschaltet ist und frägt um Erlaubnis, ob er sich [mit] der Sache im Sinne des Nationalsoz. befassen darf.»

Max erschien ihm in diesem Brief als recht fanatisch und anmassend. Aber was war das für eine «Sache», mit der er sich beim Aussenhandelsverband im «Sinne des Nationalsozialismus» befassen wollte? Paul tappte im Dunkeln. Aber er war beunruhigt.

Mehr fand er nicht. Frustriert machte er sich an seine eigene Arbeit. Als er am Mittag nach Hause wollte, den Mantel von der Garderobe nahm und sich nach vorn beugte, um ihn richtig über die Schultern zu ziehen, fiel sein Blick auf den Pa pierkorb. Ja, wurde der denn nicht mehr geleert? Er ging rasch zur Mutter, die ja immer noch in der Wallstrasse wohnte. Sie war etwas überrascht und erfreut über den unerwarteten Besuch. Ach ja, die Louise – das Dienstmädchen – sei ziemlich erkältet. Sie habe ihr gesagt, dass sie in der Wohnung bleiben solle und den Kontor heute nicht reinigen müsse.

Am Nachmittag radelte Paul wieder ins Büro. Er musste noch eine Antwort für Kern, seinen Vertreter in Tokio, chiffrieren. Gütermann & Cie. hatte die Offerte angenommen, und nun eilte es. Nachdem das Telegramm auf der Bahnhofpost aufgegeben war, kehrte er zufrieden ins Büro zurück. Über Mittag war ihm die Idee gekommen, sich den Papierkorb vorzunehmen. Vielleicht fand sich da etwas. Er räumte den Tisch für die «Muster ohne Wert»-Päckchen frei und leerte den Korbinhalt auf die Tischplatte. Zunächst sortierte er alle Papiere aus, die aus der Geschäftstätigkeit hervorgingen und leicht erkennbar waren. Das ging relativ schnell. Nun lag nur noch auf dem Tisch, was Max’ Handschrift zeigte. Grösstenteils handelte es sich um kleine Fetzen unterschiedlicher Papierarten, die es zusammenzufügen galt, bevor es irgendetwas Zusammenhängendes zu lesen gab: ein wirres Puzzle. Für so etwas war Paul viel zu ungeduldig. Er merkte, dass er das nicht alleine zustande bringen würde und er seine Frau einweihen musste. Er steckte die Papiere und Papierchen sorgfältig in einen grossen Briefumschlag, prüfte, ob er nichts übersehen hatte, und warf den Rest in den Korb zurück.

Während sich Erica nach dem Abendessen noch mit der Köchin unterhielt, der Hausangestellten die Anweisungen für das Wochenende gab und die Kinder zu Bett brachte, breitete Paul den Inhalt des Kuverts auf dem Tisch aus. Erica war eine praktische Frau. Sie würde ihm gewiss helfen können. Sie war schon ziemlich besorgt, als er ihr berichtete, was da alles im Kontor ablief. Noch während er erzählte, begann sie, die Fetzen mit den Zeigefingern zu ordnen, geschickt, wie sie es in der Küche beim Sortieren der Linsen gewohnt war. Und nun arbeiteten beide bis tief in die Nacht hinein konzentriert über den Tisch gebeugt. Zunächst kamen sie gut voran. Einige grössere Fetzen liessen sich leicht zusammenfügen, und Paul fixierte das Ergebnis mit Klebestreifen. Als sie ein erstes Schriftstück zusammengesetzt hatten, lasen sie:

«N.S.D.A.P., Ortsgruppe Basel

Kassenwart:

Max Saurenhaus, Basel

Gundeldingerstrasse 190

Postcheckkonto Basel V 10030

Sehr geehrter Parteigenosse/genossin!

Bei Durchsicht meiner Kassenkartei finde ich, dass bei Ihnen noch folgende Beiträge rückständig sind:

Da ich in kurzer Zeit mit der Landesgruppe abrechnen muss, bitte ich, mir umgehend die entsprechende Ueberweisung zugehen zu lassen. Einzahlungsschein füge ich bei.

Nach Eintreffen der Ueberweisung werde ich Ihnen die Beitragsmarken sofort übersenden.

Sollten Sie aus irgend einem Grunde Ausstand wünschen, so bitte ich um Ihre Mitteilung. Nach der Anweisung der Reichsleitung der N.S.D.A.P. ist ein Pg., der infolge Erwerbslosigkeit nicht in der Lage ist, seiner Beitragspflicht nachzukommen, von der Beitragszahlung während der Dauer der Erwerbslosigkeit befreit. In einem solchen Falle ist jedoch eine kurze Mitteilung an den Ortsgruppenleiter oder mich notwendig.

Heil Hitler!»

Es war ein mit Wachsmatrize vervielfältigter Text. Beim Hitlergruss Maxens Unterschrift mit Blaustift, darunter sein privater Stempel: MAX SAURENHAUS, Basel, Gundeldingerstrasse 190. Unten auf der Seite prangte ein Rundstempel, der über dem Wort «Kassenwart» einen Adler zeigte, der ein Hakenkreuz mit Lorbeerkranz in den Krallen hielt. Am Rand des Rundstempels die Umschrift «Nationalsoz. Deutsche Arbeiterpartei * Ortsgruppe Basel *».

Damit war Max also die ganze Zeit beschäftigt? Den Stempel hatte Paul noch nie gesehen. Wo war der bloss? In Paul stieg die Wut hoch. Sie wendeten das Blatt und sahen einen Entwurf:

«1. Konsulate

2. Ortsgruppen N.S.D.A.P.

3. Deutsch/schweizerische Handelskammer

4. Leipziger Messeamte

5. Deutsches Ausland Institut

Sehr geehrter Herr Doktor!

wie Ihnen jedenfalls bekannt, bin

Der Landesgruppenleiter der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz hat mich zum Wirtschaftsberater ernannt und gleichzeitig beauftragt, einer Anregung des Aussenhandelsverbandes Berlin Folge zu leisten.

In der Anlage gestatte ich mir Ihnen die Abschrift eines Schreibens

Sehr geehrte Herren Parteigenossen

In Anlage sen

Der Landesgruppenleiter der N.S.D.A.P.

Herrn

Pg. Gustloff hat mich zum Wirtschaftsberater der Landesgruppe N.S.D.A.P. der Landesgruppe Schweiz ernannt.»

Offensichtlich wusste Max nicht, wie er eine Bekanntmachung formulieren sollte. Max ein «Wirtschaftsberater»? Die nächsten Schnipsel, die Erica zusammensetzte, zeigten das gleiche Formular, auf der Rückseite wieder ein Entwurf, dass «Pg. Gustloff» ihn zum Wirtschaftsberater der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz ernannt habe, nur wenige meist durchgestrichene Zeilen. War Max von dieser Ernennung so beeindruckt, dass er kaum Worte fand, das angemessen mitzuteilen? Paul schüttelte nur den Kopf. Erica hatte sich das Erscheinungsbild des Formulars gemerkt, und so dauerte es nicht lange, bis das nächste Exemplar zusammengesetzt war. Sie drehten es um. Das schien das Endprodukt der Entwürfe zu sein. Nur wenige Streichungen und am Ende «Heil Hitler!»:

«Sehr geehrter Herr Parteigenosse,

Pg. Gustloff hat mich zum Wirtschaftsberater der NSADP Landesgruppe Schweiz ernannt.

In der Anlage gestatte ich mir Ihnen die Abschrift eines Schreibens des Aussenhandelsverbandes

E. V. Berlin zur [unlesbar] Kenntnisnahme zu übersenden. Der Landesgruppenleiter hat mich beauftragt die im vor die vom Auslandhandelsverband angeregte Angelegenheit zu bearbeiten.

 

Ich bitte, mir mitzuteilen, ob die dortige Ortsgruppe in der Lage ist in der Angelegenheit die vom Aussenhandelsverband angeregte weise gewünschten Unterlagen für aus dem dortigen Bezirk zu beschaffen, nämlich.

1.

2.

3.

Ich würde es für ratsam halten, die Sache einem zuverlässigen Pg., vielleicht am besten durch einen Kaufmann, bearbeiten zu lassen. Die Unterlagen für Punkt 3 könnte allenfalls [?] der Pressewart liefern.

Zum Schluss bitte ich, die Angelegenheit durchaus vertraulich zu behandeln.

Ich sehe gern Ihrer vorläufigen Nachricht entgegen und ich zeichne mit Heil Hitler!»

Jetzt waren sie alarmiert. Was war da los? Was bedeutete diese Auflistung ohne Inhalt? Um was für eine «Angelegenheit» ging es, die da vertraulich behandelt werden sollte? Paul legte seine Abschrift vom Vormittag auf den Tisch. Der «gleichgeschaltete Aussenhandelsverband», die «Sache», «im Sinne des Nationalsozialismus»: War das die «Angelegenheit», die von den «Ortsgruppen» bearbeitet werden sollte? Es ging nun schon gegen Mitternacht. Es lagen noch viele Fetzen auf dem Tisch. In dieser Nacht noch weitermachen? Sie konnten nicht mehr. Erica räumte die Resten auf ein Tablett und schob dieses oben auf den Esszimmerschrank. Sie waren müde. Dennoch fanden sie kaum Schlaf.

Am Samstag konnten sie es kaum abwarten; Erica musste den Haushalt organisieren, mit der Köchin die Mahlzeiten des Wochenendes besprechen und die Einkäufe erledigen. Paul wandte sich nach der Lektüre der Morgenausgabe einem Buch zu und spielte mit den Kindern. Am Nachmittag machte die ganze Familie einen Spaziergang in den «Zolli». So rannen die Stunden dahin. Zu Hause fiel der Blick immer wieder auf das Tablett oben auf dem Schrank. Heute mussten die Kinder früh zu Bett, und auch die Gutenachtgeschichte fiel etwas kürzer aus als sonst. Nur das Nachtgebet war so lang wie immer. Dann sassen Erica und Paul wieder am Tisch und breiteten die Fetzen aus.

Das nächste Puzzle ergab wieder einen Entwurf für das Rundschreiben, das sie schon kannten. Eines war der Anfang eines Briefs an Ortsgruppenleiter Ernst Böhmer. Bemerkenswert war hier immerhin, dass er als Briefkopf den Kassenwart-Rundstempel der NSDAP zeigte. Erica bemerkte, wie auffällig unterschiedlich die restlichen, teilweise ganz kleinen Papierfetzen waren. Sie hatte sie, wie am Vorabend, mit der Maschinenschrift nach oben hingelegt. Viele wiesen einen maschinengeschriebenen Text mit kleinem Zeilenabstand auf. Bei anderen waren Stempelteile und die in weiterem Abstand geschriebenen Zeilen des bekannten Formulars zu erkennen. Sie sortierten sie nach diesem Kriterium. Sie begannen mit jenen, die zum Formular gehörten, was einfacher war. Nachdem sie die Fetzen in die richtige Ordnung gebracht und zusammengeklebt hatten, lasen sie:

«Lieber Pg. Gustloff!

wegen In der Sache Aussenhandelsverband möchte ich mich laut beiliegendem Schreiben zur Mitarbeit an die Ortsgruppen bez.w. Stützpunkte der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz wenden.

Würden Sie mir bitte die Anschriften [der] einzelnen Ortsgruppen – usw. mitteilen ev. unter Angabe der Anschrift der Kreisleiter mit Angabe, welche Ortsgruppen pp.[?] den Kreisleitern unterstehen. Soweit Kreisleiter vorhanden sind, leite ich die Schreiben über die Kreisleiter. Falls Sie es wünschen, kann auch die ganze Sache über die Landesgruppe geleitet werden. Sie müssten mir nur in diesem Falle angeben, wieviel solcher Schreiben ich Ihnen zusenden soll.

Mit herzlichen Grüssen von Haus zu Haus

Heil Hitler

MS»

«Von Haus zu Haus» – die scheinen ja recht familiär miteinander zu sein, fuhr es Paul durch den Kopf. Aber mehr sorgte ihn, dass Max etwas sehr eilig voranzutreiben schien, von dem Paul nicht wusste, was es war. «In der Sache»: Wieder wurde sie nicht ausgeführt, als würde Max und Gustloff ein Geheimnis teilen, das sie unbedingt bewahren wollten.

Jetzt nahmen sie sich die Stücke der eng mit Maschine beschriebenen Rückseite vor. Es waren nur noch kleinste Fetzen, die höchstens ein paar Worte in der etwas wilden Schrift von Max aufwiesen. Das war nun wirklich Feinarbeit. Etwas, was Erica gerne tat. Wo die maschinenschriftlichen Buchstaben und Linien zusammenpassten, fixierte sie das Resultat sorgsam mit Rabattmarken von Merkur und Courvoisier. Diese Detektivarbeit hatte sie so sehr gepackt, dass sie sogar die Rabattmarken drangab, obwohl diese ein wichtiger Zustupf zum Haushaltsgeld waren. Mit diesen Märkchen liess sich im ganz Kleinen gut arbeiten. Der Text, die Offerte eines Basler Elektrogeschäfts, wurde natürlich verdeckt, aber der interessierte ja nicht. Als endlich das ganze Blatt rekonstruiert war, wendete Paul es sorgfältig. Der Brief war am letzten Sonntag, am 28. Oktober, geschrieben worden. Sie lasen:

Max Saurenhaus verspricht «Genosse Gustloff» treue Gefolgschaft. Der in kleinste Schnipsel zerrissene Brief wurde auf der Rückseite mit Rabattmarken zusammengeklebt.

«Lieber Herr Gustloff, sehr geehrter Herr Parteigenosse

Für Ihre freundlichen Zeilen vom 27. ds. Mts. sage ich Ihnen meinen besten Dank. Die Verzögerung in der Beantwortung kann ich mir durchaus erklären. Wenn ich bedenke, welche Unmenge von Arbeit allein die hiesige Ortsgruppe gibt und all dieses Material der zahlreichen Ortsgruppen, Stützpunkte usw. aus der Schweiz bei Ihnen zusammenkommt und bearbeitet sein will, so weiss bin ich mir klar, welche Arbeitsmenge sie am Hals haben zu bewältigen haben, zumal Sie offenbar ausser von Ihrer Frau Gemahlin noch keine richtige Mitarbeiter Unterstützung haben Mitarbeiter gefunden haben Unterstützung finden.

Ich nahm davon Vormerkung, dass Sie damit einverstanden sind, dass ich dem Ansuchen des Aussenhandelsverbandes E. V. Berlin entspreche stattzugeben. Ich werde verlangen, dass der Inhalt meines Berichts gegenüber den deutschen Amtsstellen in der Schweiz geheim gehalten wird. Wünschen Sie von dem gesamten Briefwechsel mit dem Aussenhandelsverband in dieser Sache, sowie von meiner Korrespondenz mit der deutsch/ schweizerischen Handelskammer, den deutschen Amtsstellen in der Schweiz usw. Briefdurchschläge oder genügen Briefcopien bei besonders wichtigen Fragen oder etwa alle drei Monate ein Bericht über den Stand der Angelegenheit. Ich bitte Sie höflich, mir darüber Bescheid zu sagen. Um gegenüber den genannten Stellen (Deutsch/ schweizerische Handelskammer, Vertreter Leipziger Messeamt, deutsche Konsulate usw.) in meiner … auftreten bei meinen Unterhandlungen aktiv legitimiert zu sein, würde es ratsam sein, wenn Sie mich zum Wirtschaftsberater der Landesgruppe N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz ernennen würden. Bei jedem Gau in Deutschland ist ein Wirtschaftsberater vorhanden, so dass auch für die Schweiz eine solche Stelle durchaus berechtigt ist und sicherlich auch im Interesse der Landesgruppe liegen würde. Ich wäre Ihnen zu ausserordentlichem Dank verbunden, wenn Sie mich zum Wirtschaftsberater der NSDAP ernennen würden und Sie können versichert sein, dass Sie einen stets treuen und zuverlässigen Mitarbeiter an mir finden werden, der mit Ihnen durch dick und dünn geht.

Mit vielen herzlichen Grüssen von Haus zu Haus

Ihr M»

War Max denn von allen guten Geistern verlassen? Er war ja ein Nazi, das wussten sie. Aber dass er so weit gehen würde? Sie konnten es kaum glauben. Und wieder war nicht zu erfahren, um was es dabei ging. Aber es schien sich um etwas Grosses, Gefährliches zu handeln. Es sollte ja geheim bleiben.

Nun war der Tisch leer. Die Uhr zeigte schon gegen Mitternacht. Sie waren erschöpft und aufgewühlt. Paul sah nun genug Anlass gegeben, im Kontor ohne schlechtes Gewissen aufs Ganze zu gehen und auch die Schubladen zu durchsuchen. Er musste unbedingt fündig werden, und es eilte. Am Montag würde Max zurück sein. Sie beschlossen also, dass Paul morgen ins Büro gehen würde. Der Schlüsselbund des verstorbenen Vaters, der zu allem Zutritt gab, musste noch in der Diele der elterlichen Wohnung sein. Paul würde zunächst bei der Mutter vorbeischauen müssen, am besten nach dem Mittagessen zu einem Kaffee. Er müsste nachsehen, ob der Schlüsselbund noch am Schlüsselbrett hing. Als sie im Bett lagen und langsam in den Nebel zwischen Wachen und Schlaf sanken, hofften sie beide, dass dem so sei.

Und es war so. Daher sehen wir Paul am Sonntagnachmittag direkt auf Maxens Pult zugehen und die Schlüssel ausprobieren. Nicht lange, und er hatte alle Schubladen herausgezogen. Aufgeregt hob er Mäppchen und Wachshefte an, nahm die Unterfächer heraus, um darunter zu schauen, schob sie zurück, blätterte Hefte und Geschäftsmappen durch und legte sie sorgfältig an ihren alten Ort. Es raschelte und rumpelte. Plötzlich war es still. Paul hielt eine Mappe in der Hand und blätterte deren Inhalt langsam durch. Da waren die Briefe, die er bereits auf dem Pult vorgefunden hatte. Und da war der Brief des Aussenhandelsverbands Berlin, adressiert an den Konsul Max Saurenhaus. Die drei Punkte stachen ihm sofort ins Auge, diesmal mit Inhalt. Paul überflog sie und wurde bleich. Da sollten offensichtlich schwarze Listen erstellt werden. Paul war empört. Was nehmen die sich heraus! Das musste unbedingt gemeldet werden.

Paul ging eilig zur Schreibmaschine, spannte das karierte Blatt ein, auf dem er eigentlich Notizen machen wollte, und begann mit pochendem Herzen sorgfältig zu tippen. Er suchte auch die Briefgestaltung wiederzugeben, was mühsam war. Er tippte zunächst: «Abschrift» und unterstrich es. Mühsam brachte er das Datum, den Absender, die Adresse und die internen Angaben «J. Nr. Dr. N./Pf.» an die Stelle, wo sie im Original standen, dann schrieb er den Text ab. Bei der Gestaltung der drei Punkte hatte er wieder Mühe, aber er brachte es schliesslich zustande:

«1. eine Liste solcher Firmen und Vertreter, von denen bekannt ist, dass sie mittelbar oder unmittelbar zum Boykott deutscher Waren auffordern

2. eine Liste von zuverlässigen und geschäftstüchtigen Vertretern, wenn möglich arischer Abstammung, möglichst nach Branchen geordnet

3. Listen von Zeitungen

a) deutsch-freundlichen

b) deutsch-feindlichen»

Den weiteren Text konnte er mühelos abtippen. Zufrieden betrachtete er das vollbrachte Werk. Er wollte das Blatt schon in die Mappe zurücklegen, da bemerkte er, dass Max gleich auf der Rückseite eine Liste von Adressaten erstellt und einen Entwurf begonnen hatte, aber schon nach der Anrede und dem ersten Satz abgebrochen hatte. Hatte er es so eilig gehabt? Er tippte auch das ab:

«an Konsulate

Ortsgruppen der N.S.D.A.P.

deutsch-schweizerische Handelskammer

Leipziger Messamt

Deutsche Auslandsinstitute

Sehr geehrter Herr Dr.

Der Landesgruppenleiter der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz hat mich zum Wirtschaftsberater ernannt und gleichzeitig beauftragt, einer Anregung des Aussenhandelsverbandes Berlin Folge zu leisten»

Nun konnte er das Schreiben in die Mappe zurücklegen und blätterte weiter. Er fand nochmals Briefe von Gustloff. Paul überflog sie. Da war Gustloffs Brief vom 27. Oktober, der die Geheimhaltung der Aktion empfahl. Paul schrieb den entscheidenden Satz ab:

«Bitten möchte ich Sie, dem Gesuch der Aussenhandelsvertretung zu entsprechen, allerdings würde ich raten, dem Verband zu schreiben, dass Ihre Auskünfte gegenüber den Amtsstellen in der Schweiz (Konsulate etc.) streng geheim zu halten sind, da diese nicht als verlässig bezeichnet werden können.»

Mindestens diesen Satz musste er ebenfalls melden. Und da war Max’ Entwurf für ein Antwortschreiben an den Aussenhandelsverband. Auch hiervon schrieb Paul wenigstens den Haupttext von Hand ab. Das ging schneller. Ein Datum fehlte, aber es musste der Lage der Dinge nach Ende Oktober/Anfang November sein:

«Wir kommen zurück auf Ihr gesch. Schreiben vom 19. v. M. Ohne Zweifel ist unbedingt eine Gegenmassnahme gegen die gegen Deutschland gerichtete Boykottbewegung dringend erforderlich. Es wird von gewissen Kreisen geheim aber sehr stark gegen Deutschland gearbeitet und zwar ist in der letzten Zeit eher eine Verschärfung festzustellen als ein Abflauen des Boykotts.

Wir sind gerne bereit, die von Ihnen angeregte Arbeit durchzuführen. Auf Wunsch des Landesgruppenführers in der Schweiz der N.S.D.A.P. müssen wir aber zur Bedingung machen, dass den amtlichen deutschen Stellen im Ausland (deutsche Konsulate, Gesandtschaften usw.) das von uns zur Verfügung gestellte Material nicht zur Kenntnis gebracht wird. Der Landesgruppenführer der Schweiz hat diese Anregung nach reiflicher Überlegung getroffen. Wir haben auch mit einem Konsulat in der Schweiz die denkbar schlechtesten Erfahrungen gemacht. Wir würden überhaupt empfehlen, die Sache vertraulich zu behandeln, da es nicht im deutschen Interesse liegt, dass Ihre Schritte an der Öffentlichkeit bekannt werden.»

 

Noch gab es weitere Briefe. Paul sah, dass sie nicht mit dieser Sache zu tun hatten, und wollte die Mappe schliessen. Doch da war noch die Antwort des Aussenamts auf Max’ Insistieren auf dem Konsulat für Gustloff vom 26. Oktober. Er schrieb wenigstens den wichtigsten Satz eilig ab.

«Antwort des A. P. der N.S.D.A.P. in Berlin vom 26. Oktober 1933:

‹Was die Übertragung des Konsulats in Davos an Pg. Gustloff anbetrifft, so muss das Aussenpolitische Amt aus finanziellen Gründen auf diese Neueinrichtung verzichten. Pg. Gustloff bleibt aber für diesen Posten vorgemerkt.›»

Nun war es schon später Nachmittag, als er das Büro verliess. Alles lag wieder an seinem Platz. Den Schlüsselbund sperrte er in sein Pult. Er würde ihn irgendwann unauffällig zurückbringen müssen.

Abends sass Paul mit Erica im Salon und besprach mit ihr den Fund. Eigentlich hätte er seine Frau wieder aus der Sache raushalten wollen. Aber sie hatte sich so sehr bemüht, sie wollte es wissen. Sie lasen den Brief des Aussenhandelsverbands aufmerksam durch. Erica war zusehends alarmiert. «Das kann auch gegen dich gehen, Paul, du musst aufpassen!» Paul hatte sich seit dem Nachmittag fassen können. Jetzt wiegelte er ab. Es geht ja eigentlich nur um Vertreter von deutschen Firmen, das konnte ihn doch nicht betreffen. «Aber ich muss es unbedingt melden.» Erica insistierte: «Was hindert Max daran, dich auf die schwarze Liste zu setzen? Warum ist er denn so eifrig dabei?» Paul müsse das mit jemandem besprechen. «Aber mit wem denn?» Auch Erica wurde sich bewusst, dass sie nicht mehr auf ihre früheren Bekanntschaften zurückgreifen konnte, dass sie beide, ohne die nötigen Beziehungen, allein dastanden. An diesem Sonntagabend gingen sie besorgt zu Bett. Paul konnte nicht schlafen.

Die Befürchtung Ericas wollte nicht aus seinem Kopf. Es wäre doch möglich … Wenn sich die Umstände ergaben … Wer wusste schon, wie es kommen würde … Wenn Krieg ausbräche und Hitler die Schweiz besetzte … Aber doch nicht … Aber wenn es doch … Die Firma M. Marchal war doch keine deutsche Firma … Allerdings, wenn Max wollte, konnte er sie als eine deutsche … Doch nicht … Oder doch … Max war der Direktor, seine Frau Erna war ebenfalls deutsche Staatsangehörige … Seine älteste Schwester Maria? Sie war französische Staatsangehörige … Alice, die jüngste Schwester? Sie war ja Musikerin, lebte in einer ganz anderen Welt … Paul wälzte sich im Bett. Es wollte einfach nicht ruhig werden in ihm. Max, der bereit war, mit Gustloff durch dick und dünn zu gehen. Mit diesem Fanatiker. War er nicht zu allem fähig? Und warum betrieb er diese «Angelegenheit» mit solchem Eifer? Wies das nicht auf ein ganz persönliches Interesse hin? Paul erinnerte sich an die Auseinandersetzungen im Kontor, die immer wieder aufkamen. Diese Kunstseide … Max, der den Handel mit deutschen Firmen bevorzugen wollte … Kunstseide … Er könnte vielleicht versuchen, ihn auszubooten. Durch dick und dünn … Er könnte, wenn die Umstände gegeben waren, alles behaupten … Paul als deutschfeindlicher Vertreter in seiner deutschen Firma? Unmöglich, sie waren ja im schweizerischen Handelsregister … Aber wenn sich alles veränderte? Wenn Hitler … Max konnte schon impertinent … Durch dick und dünn …

Als er am Morgen aufwachte, drehten diese Gedanken wieder in seinem Kopf. Er war sich nun ziemlich sicher, dass Max liebend gerne etwas gegen ihn unternehmen wollte, wenn er könnte. Paul sah sich vor einer existenziellen Gefahr. Er musste sich unbedingt einen Gegenzug ausdenken.

Im Kontor sass Paul am Montagmorgen an seinem Pult, die Zigarre zwischen den Lippen, und las wie gewohnt in einem der Handelsblätter. Wieder verglich er die Angebote, die Einschiffungstermine und orientierte sich über allgemeine Entwicklungen. Als Max mit knappem Gruss eintraf und Mantel und Hut in die Garderobe hängte, fragte Paul beiläufig: «Nun, wie wars in Köln?» – «In Köln?» Paul gab vor, konzentriert zu lesen. Max ging zu seinem Pult. «Ach ja, die Courtaulds. Ich hab sie klein gekriegt.» Und nun singend: «Sie werden unterschreiben.» Es brauche nur noch eine Sitzung des Verwaltungsrats. Paul blieb in seine Zeitung vertieft, schaute nicht auf. Max griff demonstrativ vergnügt in die Zigarrenkiste, zündete sich theatralisch seine «Corona» an und setzte sich an sein Pult – und Paul wusste, dass Max nicht in Köln gewesen war.

Am Nachmittag ging Paul nicht ins Geschäft. Er ging spazieren. Die Sonne schien blass durch die steigenden Nebelschwaden. Es war kühl. Spätherbst. Am Bachgraben konnte man ruhig und ungestört gehen und über die Wiesen und Äcker in die elsässische Ebene hinausschauen – und man konnte überlegen. Mit der Zeit ordneten sich seine Gedanken. Zunächst der Adressat. Er würde an die gleiche Stelle in Bern schreiben, von der er annahm, dass sie aufgrund seines ersten Schreibens die Sache mit dem Davoser Konsulat verfolgen würde. Paul würde einen nüchternen Bericht über den Ablauf machen, wie er ihn jetzt rekonstruieren konnte. Er würde mit dem Konsulat beginnen und das Antwortschreiben des Aussenamts zitieren, das er am Sonntag ebenfalls abgeschrieben hatte. Das Zitat würde die Glaubwürdigkeit der ersten Mitteilung erhöhen und die Verbindung zu dem herstellen, was er jetzt zu melden hatte. Dann würde er den Brief des Aussenhandelsverbands vollständig zitieren, das würde bestimmt die Alarmglocken in Bern zum Schrillen bringen. Anschliessend würde er Max’ Anfrage an Gustloff erwähnen, mit der Ernennung des Kassenwarts zum Wirtschaftsberater durch Gustloff weiterfahren und dessen Rat um Geheimhaltung wörtlich zitieren, ebenso die Antwort Maxens an den Verband. Am Ende würde er darauf hinweisen, dass die verschiedenen Ortsgruppen zur Mitarbeit aufgefordert würden. Das schien ihm überzeugend zu sein. Und Saurenhaus? Nennen konnte er ihn nicht. Er wollte den Namen verbergen und gleichwohl so auf Max hinweisen, dass man ihn finden könnte. Wenn Max ihn schon auf die künftige schwarze Liste gesetzt hatte, konnte er es ihm mit einer verdeckten Anzeige heimzahlen. Er hielt inne, schaute hinaus in die Weite, wo fern aus dem Dunst der Kirchturm von Blotzheim herübergrüsste, das Laub raschelte im Wind. Paul überlegte. Am besten würde er nur von der Ortsgruppe Basel oder von «Basel» sprechen. Die vom Aussenhandelsverband benutzte Adresse musste er ja nicht wiedergeben, er konnte einen «Herrn X» einsetzen. Aber wie nun Max in den Fokus rücken? Und zwar so, dass Max nicht erkennen konnte, dass der Hinweis von ihm kam? Er überlegte. Die Felder vor ihm leuchteten im müden Licht etwas auf, eine Nebelschwade war weggezogen. Da kam ihm der Einfall, sein Schachzug: Er würde darauf hinweisen, dass ein Vorsteher der NSDAP Ortsgruppe Konsul von Nicaragua in Basel sei.50 Aber nein, Paul machte einige bedächtige Schritte, das wäre vielleicht zu direkt und könnte Saurenhaus auffallen. Besser, er schriebe bloss, Konsul eines unbedeutenden überseeischen Staates. Das würde die Ermittlungen in Basel gewiss stark eingrenzen und man könnte leicht auf Nicaragua und Saurenhaus kommen, ohne dass die Firma M. Marchal in Mitleidenschaft gezogen würde. Und die Verbindung zwischen dem Kassenwart in Basel und dem Wirtschaftsberater für die Schweiz könnte man ja auch irgendwo anders herausgefunden haben. Das wars. Nun schritt Paul rascher aus. Er wollte nach Hause, wollte den Brief entwerfen.

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