Gustloff im Papierkorb

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Der Papierkorb

Frühjahr 2017

Draussen scheint die Sonne, draussen spielen Kinder. Draussen ist das Leben, und es herrscht Freude am Frühlingserwachen der Natur. Doch hier drin, am Tisch mit den zusammengeklebten Papieren, lässt sich eine Person nicht mehr wegdrängen: Max Saurenhaus. Seine ungeduldig vorwärtsstrebende Handschrift lugt zwischen den zerstreuten Blättern hervor. Unwirsche Streichungen, Neuversuche und wieder Streichungen, bis der Text neu ansetzend weiterläuft. Und am Ende, wenn es denn einmal erreicht wird, zwei schwungvolle Krakel, in denen sich das «Heil Hitler» andeutet. Was war das nur für ein Mensch? Ich lese die Schriftstücke genauer durch.

Die Briefe verraten einiges über seine Persönlichkeit. Von Grossmannssucht scheint er getrieben zu sein, will sich mit «Konsul» angesprochen wissen (11),20 auch wenn das mit der Partei gar nichts zu tun hat. Ein Wichtigtuer, der frustriert politische Phrasen drescht, obwohl oder gerade weil er nichts bewirken kann (4, 12). Nach oben ein Schleimer, der sich beim Landesführer Gustloff einschmeichelt, diesem wegen dessen unglaublicher Arbeitsleistung Bewunderung zollt – nicht ohne auf seine eigenen Erfahrungen in der Parteiarbeit hinzuweisen –, um dann um die Ernennung zum Wirtschaftsberater zu betteln (5). Mit dem Landesgruppenführer vertrauter geworden, spricht er ihn gerne mit «Lieber Kamerad Pg. Gustloff» an und grüsst familiär «von Haus zu Haus» (12). Nach unten ist er rücksichtslos, wenn er etwa ein widerständisches Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonie «entfernen» will – wenn auch (wiederum) ohne Erfolg – oder den Ortsgruppenleiter Böhmer bei Gustloff anschwärzt (12). Er ist einer, der sich gerne in Funktionen, die ihm wichtig erscheinen, sehen würde (10, 15) und, wenn er eine innehat, dies nicht genug bekannt machen kann (6, 7, 8). Als «Amtswalter» formuliert er in seinen Verlautbarungen möglichst umständlich und gestelzt, etwa mit dem häufigen einleitenden «Ich gestatte mir» und «Erlauben Sie mir» (2, 7, 8, 10) oder wenn er Berlin etwas luftig, ohne genaue Referenz, «informiert» (20). Effizient scheint er kaum gewesen zu sein. Wie schwer tut er sich doch bei der Formulierung eines Rundschreibens (6–8). Und als er von Gustloff mit der Zusammenstellung der schwarzen Listen, für die er sich anerboten hat, betraut wird, meldet er sich gleich wieder zurück, um Hilfe bittend und umständlich Modalitäten erörternd (9). Und aus einer Frustration heraus kann er sich auch mal zielbewusst betrinken, wie in der Zeit nach Gustloffs Ermordung: «zwei Flaschen Wein», «total besoffen» usw. Ob er auch in Geschäfte mit Raubkunst verwickelt ist? Am 3.April 1936 trägt er eine «Versteigerung Isak von Ostade» in seinen Taschenkalender ein (19). Der Gesamteindruck ist: mehr Auftreten als Handeln, mehr Schein als Sein. Irgendwie trifft die Feststellung des damaligen Botschafters in der Schweiz, Ernst von Weizsäcker, auch für ihn zu: «Das Gros aber aller Ortsgruppen-, Kreis- und sonstigen Leiter in der Partei rekrutierte sich aus Existenzen, die es in ihren Berufen zu nichts gebracht hatten und nun ihre Zeit gekommen glaubten. Wie bei jeder Revolution kamen die Nichtarrivierten, die Schreihälse und die Spitzelnaturen an die Oberfläche.»21

Wichtiger sind andere Einblicke. Es gibt sie, auch wenn die damalige Entwicklung im Allgemeinen bekannt ist. Schon aus dem abschliessenden Bericht der Basler Regierung von 1946 lässt sich entnehmen,22 dass mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, den Reichstagswahlen am 5. März und mit dem Ermächtigungsgesetz, das in der «berühmten Reichstagssitzung in der Kroll-Oper» am 24. März beschlossen wurde, auch «die Aktivitäten der nationalsozialistischen Elemente innerhalb der deutschen Kolonie Basels sofort starken Auftrieb» bekamen. Doch Details werden nicht angeführt.

Hier aber erfährt man Atmosphärisches: Aus den Blättern des gelben Kuverts weht einem die Stimmung entgegen, die damals unter den Parteigenossen in Basel und in der Schweiz herrschte: Man fühlt sich als Vorkämpfer des Reichs, wie es Hitler verlangt: «Meine Herren, Sie haben eine der wichtigsten Aufgaben übernommen.» Sie stehen «an vorderster Front unserer deutschen Kampfbewegung als Vorposten Deutschlands».23 Eine Aufbruchstimmung herrscht. So etwas wie: «Jetzt sind wir dran!» Noch stehen die Deutschnationalen im Wege und sind nicht «zum Sozialismus» zu bekehren. So ärgerlich erscheint das, dass Gustloff das biblische Gleichnis vom «Kamel und der Öse» bemüht (1). Die Deutsche Kolonie ist unbrauchbar. Saurenhausens Angriff im Vorstand scheitert, weil der Ortsgruppenobmann Böhmer vor den Argumenten des deutschen Konsuls einknickt. Er selbst sei «blamiert», was nicht schlimm sei, denn «in einem halben Jahr ist die NSDAP Ortsgruppe Basel die deutsche Kolonie» (12). Es zeigt sich eine ungestüme Siegesgewissheit, auch den inneren Feinden gegenüber, wie etwa dem Auswärtigen Amt, dessen «Herren noch durchaus capitalistisch verfilzt sind». Aber getrost, nach der im kommenden November stattfindenden «Abstimmung» – gemeint ist wohl jene über den aussenpolitischen Kurs, die mit Reichstagswahlen verknüpft war – wird ja «unser Führer alles in die eigene Hand nehmen» (4). «Länger als vielleicht noch ein halbes Jahr kann der Zustand nicht andauern. Auch die Herren vom Auswärtigen Amt werden wir klein kriegen» (12).

Auch das ungewiss Fliessende des Augenblicks deutet sich an. Die Unklarheiten, die durch die Konkurrenz zwischen Parteiinstitutionen und den staatlichen Instanzen für Verwirrung sorgen, etwa zwischen Auswärtigem Amt und dem Aussenpolitischen Amt der NSDAP. Nicht bei der staatlichen Instanz in Berlin, die in dieser Frage noch immer zuständig ist, macht Saurenhaus seine Demarche zugunsten Gustloffs Konsulat, sondern bei der entsprechenden Institution der NSDAP. Die hat noch keinen Zugang zu den Finanzen und muss ihn vertrösten (2). Und Gustloff verlangt ausdrücklich, dass Aktivitäten der NSDAP, wie die Erstellung schwarzer Listen, vor den amtlichen Vertretungen Deutschlands geheim zu halten sind (B2, B3). Auch Unsicherheiten bei den anzuschreibenden Adressaten und die noch vereinsmässig gestaltete Aussenhandelsorganisation zeigen, wie alles noch im Fluss ist (3, 9, 11, 15). Als Vorposten wähnen sich die Parteigenossen ständig in Gefahr, zumal in Basel, wo sie nicht nur durch die Presse angeprangert werden, sondern in der Bevölkerung auf Widerstand stossen. Diese demonstriert laut vor dem Deutschen Reichsbahnhof, protestiert gegen das Hissen des Hakenkreuzes und stört Reden mit Zwischenrufen. Die eigene Situation erscheint als «heikel», ja «unhaltbar». Die Parteigenossen fühlen sich «auf einem Pulverfass» und versuchen, für die leitenden Funktionsträger Schutz zu finden in amtlichen Anstellungen, also unter den Fittichen des deutschen Staats, den man eigentlich als überholt ansieht (2, B2).

Und so spärlich sie sind, die Texte erzählen mir doch Geschichten. Geschichten, die bislang unbekannt waren. Als Reaktion auf den Boykott deutscher Produkte wird bereits 1933 an schwarzen Listen gearbeitet und auf eine Ablösung gegnerischer Geschäftsvertreter durch Arier hingewirkt. Auch die Zeitungen sind im Visier. Man will in Berlin wissen, welche deutschfeindlich sind. Innerhalb der eben gegründeten NSDAP Ortsgruppe Basel ist eine gewisse Rivalität spürbar. Der Ortsgruppenobmann scheint nicht gerade über einen diktatorischen Habitus verfügt zu haben. Ihr Kassenwart hatte bereits das Einziehen der Mitgliederbeiträge formalisiert und scheint einen guten Draht zum Landesgruppenleiter Gustloff gefunden zu haben. Auch die Einstellung gewisser Katholiken scheint durch.

Der nach Bern schreibende «Anonymus» war offensichtlich gut dokumentiert.

Aber was ist von diesen Papieren zu halten? Viele sind zu zahlreichen Schnipseln zerrissen und nachträglich wieder zusammengeklebt worden. Auf anderen finden sich Abschriften mit Bleistift in einer anderen, sehr disziplinierten, feinen und senkrechten Schrift. Die meisten Texte sind Entwürfe. Man muss sich daran erinnern, dass im Zeitalter der Schreibmaschine Korrekturen sehr umständlich waren. Heute lässt sich ein Text am Computer laufend korrigieren und nachher beliebig ausdrucken. Damals musste man, sollten mehrere Exemplare angefertigt werden, Kopien mit eingelegten Kohlen- und Durchschlagpapieren machen. Im Falle einer Korrektur mussten alle Durchschläge bearbeitet werden, und das Original nahm erst noch Schaden, denn man konnte nichts löschen. Besser neu beginnen! Daher schrieb man den Text zunächst von Hand und formulierte den Brief ganz aus, wobei man Korrekturen einfach vornehmen konnte. Das fertige Elaborat ging dann zur Schreibkraft, und das Konzert der klappernden Schreibmaschine konnte beginnen. So verfuhr man aber auch, wenn man die Reinschrift nachher selbst tippte. War die Arbeit getan, konnte der Entwurf getrost im Papierkorb landen, meist zusammengeknüllt oder, wenn der Inhalt vertraulicher war, eben zerrissen. Normalerweise.

Das Formular des Kassenwarts Max Saurenhaus zur Anmahnung ausstehender Mitgliederbeiträge.

Hier aber sind die Fetzen sorgfältig wieder herausgefischt und fein säuberlich zusammengeklebt worden. Anderes wurde bloss abgeschrieben.

So ist es dazu gekommen, dass es ein Papierkorb ist, der all diese Geschichten erzählt hat. Sein Inhalt ist das Einzige, was von der NSDAP Ortsgruppe Basel noch erhalten geblieben ist.

Dieser Papierkorb stand im Kontor eines Fernhandelsgeschäfts, und zwar einer Familienfirma, der «M. Marchal AG». Um zu verstehen, warum und wie er zur Rolle eines Geschichtenerzählers gekommen ist, warum also die Papiere wieder aus ihm geborgen und schliesslich in zwei gelben Kuverts auf die ungewisse Reise der Dinge durch die Zeit geschickt wurden, braucht es neue Geschichten, andere Geschichten, eine Familien- und eine Firmengeschichte.

 

Geschichten schreiben

Ich muss also selbst zum Geschichtenerzähler werden. Aber wie mache ich das, wenn ich nur über einige wenige Dokumente verfüge? Ich breite auf dem Tisch aus, was ich habe. Es sind Schriftstücke, welche die ungewisse Reise der Dinge durch die Zeit auf irgendeine abenteuerliche Weise überstanden haben: in Schachteln, in denen aufbewahrt wurde, was die entschwundene Generation noch als «familiäre Erinnerungsstücke» zusammengestellt und der nachfolgenden übergeben hat; in Schubladen einer alten Kommode, in die Wachshefte, Dokumente, Fotos, alte Zeugnisse, Aufsatzhefte in deutscher Schrift, Blätter mit Algebra-Aufgaben, die ein fleissiger, Französisch sprechender Schüler einmal gelöst hat, hineingestopft worden sind. Kurz: ein schreckliches und zufälliges Durcheinander.

Ich suche also Brauchbares heraus und lege es zur Seite:

– ein schweizerisches Dienstbüchlein, das 1921 angelegt worden ist und die Daten der zahlreichen Aktivdienstleistungen ausweist;

– ein ganzes Bündel von notariell beglaubigten Kaufverträgen und Erbschaften, Verkäufen und Hypotheken aus alten Zeiten, alle auf Bassenge in Belgien bezogen und – ich schaue genauer hin – tatsächlich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts zurückreichend;

– Urkunden der belgischen Könige Leopold I. und Albert I., die 1894 einen «Sieur» zum Konsul in Basel ernennen und später, 1918, seine «démission honorable» akzeptieren. Oh, da wurde der Konsul noch zum «chevalier de l’Ordre de Léopold» ernannt;

– der Menüvorschlag für ein Hochzeitsbankett im Basler Casino von 1912;

– eine Heiratsurkunde von 1888 aus Mülheim am Rhein, die auch das Alter und die Eltern der Frischvermählten angibt;

– ein aus dem Basler Volksblatt ausgeschnittener Nachruf von 1931;

– ein 1880 von der belgischen Armee erteilter «congé définitif», eine definitive Beurlaubung;

– ein Geburtsschein aus Basel, ausgestellt 1921, versehen mit einem kleinen Stempel des Zivilstandsamts mit dem Datum einer Einbürgerung;

– eine Urkunde, 1894 ausgestellt von der Ambassade de Belgique in Bern, die bestätigt, dass ein Ehepaar und seine drei Töchter sich als in der Schweiz residierende Belgier haben registrieren lassen;

– ein grosses Wachsheft aus den 1920er- und 1930er-Jahren, das tabellarische Aufzeichnungen über Geschäftsvorgänge mit diversen Seidenabfällen enthält;

– eine Todesanzeige von 1931;

– ein kleines Wachsheft mit kaum lesbaren Kriegsaufzeichnungen von 1914/15;

– ein autobiografischer Lebenslauf, bei der Trauerfeier vorzulesen;

– eine hübsche Broschüre mit dem Titel «Das kleine Buch der Nähseide»;

– einige Briefe.

Ja, und da finden sich noch drei weitere gelbe Kuverts mit maschinengeschriebenen Erinnerungsberichten über den «Quatorze Juillet 1913 in Belfort», über den «Kriegsausbruch 1914», über einen «Tag im Hitler-Deutschland 1938», alle datiert vom April 1986, Februar, Mai 1987.24

Wahrlich, ein etwas disparates Puzzle! Aber ich kann mir fürs Nötigste im Basler Staatsarchiv helfen lassen. Ein Archiv ist eine schöne Sache: Für die Dinge auf der Reise durch die Zeit stellt es die Luxusklasse dar. Hier sind sie sicher. Hier ruhen sie, geordnet und sorgfältig verwahrt seit Jahrhunderten. Hier steht die Zeit still, und es ist gerade umgekehrt: Wer ins Archiv geht, kann sich selbst auf die spannendsten Zeitreisen begeben, Jahrzehnte, Jahrhunderte zurück. Alles ist registriert und auffindbar, und, wenn man nicht weiterweiss, sind da hilfreiche Geister. Für die Familiengeschichte stehen die Akten des «Civilstands» im Alten Hauptarchiv zur Verfügung. Hier lassen sich Eheschlüsse und Geburten über entsprechende Repertoires in den Ehe- und Geburtenregistern finden. Es sind mächtige und schwere Folianten, aber man findet alles, punktgenau. Unglaublich, dieses Gedächtnis eines Staats.

Für die Firmengeschichte habe ich praktisch nichts auf meinem Tisch, das sich verwenden lässt, ein dickes Wachsheft, einen Brief mit Geschäftsanweisungen. Aber es gibt Abhilfe. Es gibt das Schweizerische Handelsregister. Ein erstaunlicher Zeuge geordneten Staatslebens. Bei der Gründung der Schweizeri schen Eidgenossenschaft 1848 hatte man auch an die Wirtschaft gedacht. Und da die Schweizer nun mal fabelhaft ordnungsliebend sind, legten sie gesetzlich fest, dass sich jede Handelsfirma bei ihrer Gründung in das Schweizerische Handelsregister eintragen müsse. Ebenso, wenn Änderungen, sei es bei Statuten und Rechtsform oder beim Kapital, vorgenommen oder Vollmachten erteilt wurden. Kaum zu glauben: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden Firmen, wo immer sie gegründet werden, was immer sie Rechtsrelevantes tun, in ein Register eingetragen. Das heisst auch, dass dieses Register riesig ist und man schon genau wissen muss, was man suchen will. Aber gemach, im Staatsarchiv finden sich Hilfsmittel. Zunächst das Ragionenbuch: ein nach Kantonen gegliedertes Nachschlagewerk, in dem Jahr für Jahr alle Handelsfirmen mit ihrem aktuellen Status alphabetisch verzeichnet werden, so lange, bis sie im Handelsregister gelöscht worden sind. Dort wird immer auch das Datum der letzten Änderungen angegeben. Hat man das Gesuchte gefunden, kann man unter dem entsprechenden Datum im Basler Kantonsblatt nachschlagen und hat schon mal das Wesentliche in der Hand. Wenn man es ganz genau wissen will: Das Kantonsblatt gibt immer auch das genaue Datum und die Seite an, wo das Rechtsgeschäft im Handelsregister eingetragen wurde. Auf diese Weise kann ich die Entwicklung der Firma grob verfolgen. Mehr brauche ich nicht. Aber nötigenfalls kenne ich den Weg.

Denn es ist etwas Merkwürdiges um meine Geschichten. Ich werde eine Familiengeschichte erzählen, aber ich bin kein Genealoge, will das gar nicht sein. Ich werde eine Firmengeschichte erzählen, aber ich bin kein Wirtschaftshistoriker, will es gar nicht sein.

Ich werde diese Geschichten nur so weit erzählen, als sie die Geschehnisse erklären und nachvollziehbar machen.

Ich weiss aus der Familientradition, wo sie hinführen werden, aber wie es sich genau zugetragen hat, muss ich mir ausdenken. Und natürlich: Ich habe Erinnerungen, mit denen das, was aus den Quellen nicht ersichtlich ist, zum Leben erweckt werden kann. Zum Beispiel die Geschichte mit dem kleinen Koffer und der Parteiuniform, auch wenn sie sich nicht genau so abgespielt haben mag, wie ich sie einbauen werde; über sie konnten wir in der Familie dann später oft lachen. Vom gemeinsamen Zusammenkleben der zerrissenen Briefe haben Vater und Mutter wiederholt erzählt. Vaters Arbeitsweise bei der Qualitätsprüfung der Seidenabfälle im Büro habe ich als kleiner Junge manchmal beobachten können und war fasziniert vom weissen Glanz der Seide, wenn er langsam einen Strang auseinanderzupfte. Die Kokons und ihre Geschichte – dargestellt in einem Schaukasten im Hausflur – haben mich oft träumen lassen. Wie die Ware mit Schnüren in grosse, merkwürdig riechende Ballen aus grobem Sacktuch eingenäht war, konnte ich damals bei Besuchen mit Vater im Zollfreilager sehen. Dass es am Ende sicherlich auch die Frage «Kunstseide oder nicht» war, die 1938 zur Trennung der Geschäftspartner führte, daran konnte sich mein älterer Bruder erinnern – und die Dokumente, die mir später aus Berlin zugesendet werden würden, sollten dies bestätigen. Von den Geldtransporten in die Gundeldingerstrasse haben mir Schwester und Bruder erzählt. Vaters «Das Rheinland ist nicht Deutschland», wenn man ihn wegen seiner nicht nur belgischen Abstammung hänselte, oder seine Freude am Kölner Karneval und Rosenmontag, den er am Fernsehen verfolgte, haben wir in der Familie oft erlebt. Den von ihm geliebten Spaziergang am Bachgraben, der in der Geschichte vorkommen wird, habe ich als kleiner Junge viele Male mitgemacht und mich dabei nie an den Ortsnamen «Blotzheim» erinnern können, obwohl er mich jedes Mal danach fragte.

Wo die Erinnerungen gar zu spärlich sind, kann ich überlegen, wie es gewesen sein könnte, ich kann meine historische Fantasie einsetzen, um diese möglichen Geschichten plausibel in die Zeitumstände einzubetten. Ich kann auch verschiedene Vermutungen anstellen und es dabei bewenden lassen. Und wo ich gar nichts von den Handlungen wissen kann und nur die Ergebnisse dieser Handlungen kenne, lasse ich für einmal der einfühlenden Fantasie freien Lauf.

Wir werden sehen …

Schicksal

Sie kamen aus Wallonien. Bassenge war ihre Heimat, ein Dörfchen nördlich von Liège und nahe der Maas in der damaligen belgischen Provinz Limburg gelegen. Im 19. Jahrhundert hiess das: Sie kamen aus einer Gegend, deren Spezialität das Flechten von und der Handel mit Strohhüten war.

In der Region um Liège gab und gibt es noch immer viele Familien Marchal, und eine davon stammte aus Bassenge. Irgendwann heiratete einer von ihnen, der 1816 geborene «fabricant de chapeaux de paille» Michel Marchal, die ebenfalls aus Bassenge stammende, im rheinpreussischen Köln wohnhafte Anna Maria Botty.25 Die Verbindung wird wohl durch Geschäftsbeziehungen zustande gekommen sein, denn auch die Familien Botty fabrizierten und handelten im Rheintal von Aachen bis Köln und auch im Westfälischen mit Strohhüten.26 Die Marchal-Bottys blieben zunächst in Bassenge. Dem Paar wurden vier Kinder geschenkt, drei Töchter, Catherine, Elisabeth und Odile, und 1860 ein Sohn, Mathieu. Mit vier Kindern mag ein Auskommen im ärmlichen Dorf schwer geworden sein. So zog die Familie in die reichere Heimat der Frau nach Köln oder vielleicht auch nach Mülheim, das Köln gegenüber am rechten Rheinufer lag. Dort war gut leben. In der lebenslustigen Stadt wird das Strohhutgeschäft floriert haben. Vielleicht wurde Michel hier auf die Seidenbänder aufmerksam, mit denen die Hüte für modebewusste Damen geschmückt wurden. Hatte er die Chancen einer direkten Zusammenarbeit mit der Seidenbandindustrie erkannt? Vor Ort konnte er die neuesten Bänder leichter und früher finden als die ferne Konkurrenz. Man musste nur rheinauf in die Stadt der Seidenbänder, nach Basel, reisen. Hier stand die Seidenbandindustrie in voller Blüte. Seidenbänder waren damals der Exportschlager.27

So wird Michel, ein unternehmungslustiger Mann, mit der ganzen Familie und seinen Strohhüten wohl Mitte der 1860er-Jahre in die Stadt am Rheinknie gezogen sein. Seinen Sohn schickte er hier in die katholische Schule am Lindenberg und später an die vom gleichen Schulorden, den Marianisten, geführte höhere Internatsschule in Belfort.28 Nach dem Schulabschluss, mit 17 Jahren, trat Mathieu die kaufmännische Lehre bei einem Kolonialwarengeschäft in Basel an.29 Als er, zwanzig Jahre alt geworden, ins belgische Militär hätte eingezogen werden sollen, liess er sich von der Armee am 6. August 1880 das «congé définitif» erteilen.30 Dann tat er sich mit Heinrich Fleck aus Fulda in der Provinz Hessen zusammen, der im Januar 1885 die Aktiven und Passiven der Firma «Pfaff-Müller, Agenturen, Handel in Rohseide und Seidenabfällen» in der Steinenvorstadt 57 in Basel übernommen und die Firma «H. Fleck» gegründet hatte.31 Nach sechs Jahren wurde Mathieu zum Mitinhaber der Firma. Sie wurde 1891 in eine Kollektivgesellschaft, die Firma «Fleck & Marchal», umgewandelt. 1895 erwarb diese die Wallstrasse 11 als Firmensitz. Als Fleck sich altershalber zurückzog, wurde die Kollektivgesellschaft am 17. Oktober 1898 aus dem Handelsregister gelöscht. Mathieu übernahm die Aktiven und Passiven. Die Firma «M. Marchal, Agenturen, Handel in Rohseide und Seidenabfällen» war gegründet.32

Wie mag dieser geschäftige Mathieu seine künftige Frau, eine Kölnerin, kennengelernt haben? Zog es die Marchals immer wieder zurück in ihre wallonisch-rheinländische, katholische Heimat? Etwa um den Kölner Karneval zu besuchen? Oder zu Weihnachtsfesten mit der Verwandtschaft daheim? Wir wissen es nicht. Doch an einem sonnigen Sommertag, am 6. August 1888, trafen sich zwei Familien im Standesamt von Mülheim am Rhein. Der «Kaufmann» Mathieu Marchal, geboren zu Bassenge, vermählte sich mit der «geschäftslosen» Anna Maria Bornheim aus Mülheim am Rhein. Beide waren damals 28 Jahre alt. Zugegen waren die Eltern, einerseits der «Strohhutfabrikant» Michel Marchal und dessen Frau, die «geschäftslose» Anna Maria geborene Botty, beide zu Basel wohnhaft, andererseits der «Rentner» Christian Bornheim und die «geschäftslose» Catharina, geborene Stahl, beide aus Mülheim am Rhein. Das Paar wohnte fortan in Basel an der Leonhardstrasse 25, ab 1898 an der Wallstrasse 11.

 

1894 wurde «Sieur Marchal (M.)» vom belgischen König Leopold II. zum Konsul in Basel ernannt «avec juridiction sur les cantons de Bâle, de Schaffouse, d’Argovie et de Soleur».33 Mathieu Marchal war nun eine geachtete Persönlichkeit, aber, der katholischen Diaspora angehörend, wird die belgische Familie kaum in das Basler Gesellschaftsleben integriert gewesen sein.

1901 wurde Paul geboren, der später die Firma weiterführen sollte. Bis dahin war es noch ein weiter Weg; aber Paul sollte zielbewusst auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Man schickte ihn zur Ausbildung in den französischen Sprachraum nach Fribourg ins katholische Internat St-Michel. Mathieu wird sich trotzdem um den Fortbestand des Geschäfts gesorgt haben. Ein Lichtblick wird es für ihn gewesen sein, als seine älteste Tochter Katharina Anna Maria am 6. September 1912 den 28-jährigen Kaufmann Auguste Georg Ferdinand Wein heiratete, einen in Basel geborenen, an der Wallstrasse 18 wohnhaften Franzosen aus Paris. Die Eheankündigung erfolgte international, im 2ème Arrondissement von Paris und in Bassenge. Den beiden musste einerseits vom französischen Konsul in Basel, andererseits von der Gesandtschaft des Königreichs Belgien in Bern ein Ehefähigkeitszeugnis ausgestellt werden.34 Der lebensfreudige Schwiegersohn sollte zu gegebener Zeit die Geschäftsführung übernehmen. Paul muss «Gusti», wie er in der Familie genannt wurde, bewundert haben. Am 14. Juli 1913 reiste Gusti mit dem zwölfjährigen Jungen nach Belfort, um dort das grosse Defilee auf dem Champs de Mars zu verfolgen, an dem auch Gustis Regiment teilnahm. Paul war begeistert.35

Der Firmengründer und belgische Konsul Mathieu Marchal mit seiner Gattin Anna Maria.

Ein Jahr später befand sich der Junge wieder in der Nähe von Belfort, in Mélisey, und erlebte hautnah den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Nacht zogen unerwartet Truppen vorbei, und er und sein Vater, der geschäftlich bei der dortigen Seidenspinnerei weilte, mussten überstürzt nach Hause zurückreisen – auf Umwegen, denn die Grenze zum deutschen Elsass war bereits unpassierbar. In Basel herrschte wegen des Kriegsausbruchs grosse Aufregung, und der Junge war mittendrin. Belgien war von den deutschen Armeen überfallen worden. Viele Belgier verbrachten ihre Ferien in der Schweiz und wussten nun nicht mehr weiter. Paul sah, wie sein Vater, der Konsul Marchal, zu allen Tages- und oft auch Nachtzeiten in der Grenzstadt von Hilfesuchenden bestürmt wurde. Er musste Rat geben, Ausweise ausstellen, oft finanziell weiterhelfen und für Unterkünfte und Nahrung für die Gestrandeten sorgen. Paul half, wo er konnte, und war stolz, wenn er mit dem Magaziner des Geschäfts Kriegsvorräte einkaufen und einen Leiterwagen voller Esswaren und Petroleumkanister nach Hause karren konnte.36 Dann rückte Gusti nach Belfort zu seinem Regiment ein. Dies alles vermittelte dem 13-Jährigen das Gefühl, einen erschütternd grossen Augenblick der Geschichte zu erleben. Er kaufte sich ein wächsernes Oktavheft und schrieb auf die erste Seite in grosser Schrift den Titel: «Der Europäische Krieg vom 1.August 1914 –… Von Paul Marchal». Schon im März brauchte er ein weiteres Heft: «Heft 2. Inhalt vom 8. März 1915 – ». Mit kleiner Schrift in eng beschriebenen Zeilen notierte er Tag für Tag die Kampfhandlungen, wie er sie aus Zeitungen und wohl auch von seinem gut unterrichteten Vater erfahren hatte – und hielt das durch bis zum 16. Oktober 1915. Merkwürdiger Junge! Eigenbrötlerisch am Verlauf von Offensiven, Gegenoffensiven und Schlachten zu Land und zur See interessiert. Im November 1916 traf die Nachricht ein, dass Gusti bei der Monastir-Offensive der Alliierten gefallen war.

Schicksal.

Es war ein schwerer Schlag und hatte Folgen auch für Paul: Der Vater konnte nun nicht mehr eine längere Ausbildungszeit für ihn vorsehen. Paul musste sich so bald wie möglich ins Geschäft einarbeiten. Als das Ende des Kriegs absehbar wurde, suchte sich sein Vater zudem von seinen diplomatischen Pflichten zu entlasten, um sich ganz aufs Geschäft konzentrieren zu können. Am 10. September 1918 akzeptierte der belgische König Albert I. die «démission honorable» seines Konsuls.37 Paul wurde am 18. Mai 1918 Bürger von Basel.38 Er wollte nicht mehr abseitsstehen, sondern ebenfalls Militärdienst leisten, in der Kavallerie, für die Schweiz.

Diese Jugenderlebnisse prägten Paul fürs ganze Leben. Deutschland stand er immer misstrauisch, ja zeitweilig feindselig gegenüber. Noch in hohem Alter konnte er sein negatives Urteil im Grunde nicht revidieren. Zeitlebens stand er auf der Seite Frankreichs, Belgiens natürlich und der Alliierten. Allerdings nahm er immer das Rheinland aus. Die Familie hielt nämlich die Kontakte zu den Verwandten in Mülheim und Köln stets aufrecht. Für Paul blieben die Weihnachtstage in Mülheim und das «Kölle Alaaf!» unvergessliche Kindheitserinnerungen, und das Kölsch war das Idiom seiner Mutter.

Nach dem Krieg muss die alte Heimat wieder näher gerückt sein. Die Familie besass ja noch immer Besitzrechte in Bassenge, von denen sie sich erst 1937 trennen sollte.39 Es wird wieder zu gegenseitigen Besuchen gekommen sein – und hierbei wird die zweitälteste Schwester ihren künftigen Ehemann kennengelernt haben. Am 31. Mai 1920 beurkundete das Standesamt Basel die Eheschliessung zwischen dem 31-jährigen «Kaufmann (Colonialwaren en gros)» Maximilian Joseph Saurenhaus, «preussischem Staatsangehörigen, geboren und wohnhaft in Mülheim, Stadt Köln am Rhein», und der 29-jährigen «berufslosen» Anna Christine Ernestine Marchal von Bassenge, wohnhaft an der Wallstrasse 11 in Basel. Im Alltag nannte man sie Max und Erna. Max’ Vater, der «Kaufmann» Wilhelm Saurenhaus, war damals bereits verstorben. Die Mutter, Anna Catharina Alexandrine geborene Botty, lebte noch in Mülheim. Trauzeugen waren die Kaufleute Mathieu Marchal und Pascal Botty, der ebenfalls in Basel wohnte. Wieder, wie ganz am Anfang dieser Geschichte, erscheinen die beiden Kaufmannsfamilien Marchal und Botty. Zugleich zeigt sich, wie wenig integriert die Familie des belgischen Honorarkonsuls in der Basler Gesellschaft war, auch wenn sie noch so sehr am Leben der Stadt teilgenommen haben mochte. Trauzeugen waren keine Basler Freunde. Man bewegte sich unter seinesgleichen, im Milieu der in Basel niedergelassenen ausländischen Kaufleute. Und fast will es scheinen, als wäre diese Ehe zwischen Max und Erna arrangiert gewesen. Von nun an war Erna Saurenhaus-Marchal aus Bassenge deutsche Staatsangehörige.

Man mag schon etwas erstaunt darüber sein, dass nach all den schmerzhaften Erfahrungen des Kriegs ein Deutscher in den Familienkreis aufgenommen wurde. Aber die entfernte Verwandtschaft, das gemeinsam Rheinländische und das Berufsmilieu überwogen offensichtlich gegenüber den nationalen Ressentiments. An einem der ersten Junitage des Jahres 1920, nach der kirchlichen Trauung, wird man, wie 1912 bei der Hochzeit von Gusti und Maria,40 gewiss ein grosses Hochzeitsfest im Basler Casino gefeiert haben. Das Essen war reichlich, man tanzte und lachte. Niemand konnte wissen, was die Zukunft bringen würde.

Schicksal.

Und wenn man die Anfänge im Grenzland zwischen Belgien, Holland und dem preussischen Rheinland und später den Einbezug von Paris mitbedenkt: europäisches Schicksal.