Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Das Pflegekind

Fräu­lein Sour­ce hat­te die­sen Kna­ben un­ter sehr trau­ri­gen Um­stän­den ad­op­tiert. Sie war da­mals sechs­und­drei­ßig Jah­re alt, und ihre Häss­lich­keit – sie war als Kind von den Kni­en des Kin­der­mäd­chens in den Ka­min ge­rutscht und hat­te sich ihr gan­zes Ge­sicht furcht­bar ver­brannt, so­dass sie noch im­mer höchst gars­tig aus­sah – ihre Häss­lich­keit hat­te sie be­stimmt, nicht zu hei­ra­ten, denn sie woll­te nicht ih­res Gel­des we­gen ge­hei­ra­tet wer­den.

Eine Nach­ba­rin wur­de, als sie in gu­ter Hoff­nung war, plötz­lich Wit­we und starb dar­auf im Wo­chen­bett, nicht einen Pfen­nig hin­ter­las­send. Fräu­lein Sour­ce nahm sich des Neu­ge­bo­re­nen an, tat das Kind zur Amme, er­zog es, schick­te es in eine Pen­si­on und nahm es dann im Al­ter von vier­zehn Jah­ren wie­der zu sich, um in ih­rem lee­ren Hau­se ein We­sen zu ha­ben, das sie lieb­te, sich um sie küm­mer­te und ihr Al­ter son­nig mach­te. Sie hat­te einen klei­nen Land­sitz vier Stun­den von Ren­nes und leb­te jetzt ohne Magd. Die Aus­ga­ben hat­ten sich seit der An­kunft die­ses Wai­sen­kna­ben um mehr als das Dop­pel­te ge­stei­gert und ihre drei­tau­send Frank Ren­te konn­ten nicht hin­rei­chen, um drei Per­so­nen zu er­näh­ren.

Sie führ­te nun selbst den Haus­halt, koch­te, und schick­te den Klei­nen, den sie au­ßer­dem im Gar­ten be­schäf­tig­te, auf Ein­käu­fe aus. Er war sanft, furcht­sam, schweig­sam und zärt­lich. Und sie hat­te eine in­ni­ge Freu­de, eine neue Freu­de dar­an, wenn er sie um­arm­te, ohne sich von ih­rer Häss­lich­keit ab­schre­cken zu las­sen. Er nann­te sie Tan­te und be­han­del­te sie wie sei­ne Mut­ter.

Abends sa­ßen sie bei­de am Herd und sie be­rei­te­te ihm Lecker­bis­sen. Sie be­rei­te­te Glüh­wein und rös­te­te ein paar Brot­schei­ben; das war ein köst­li­cher klei­ner Schmaus vor dem Zu­bett­ge­hen. Oft nahm sie ihn auch auf ih­ren Schoß und über­häuf­te ihn mit Lieb­ko­sun­gen, in­dem sie ihm zärt­li­che und lei­den­schaft­li­che Wor­te ins Ohr flüs­ter­te. Sie nann­te ihn denn wohl: »Mein Herz­blatt, mein an­ge­be­te­ter En­gel, mein himm­li­scher Schatz«, und er ließ sich das ru­hig ge­fal­len, in­dem er sei­nen Kopf an der Schul­ter der al­ten Jung­fer barg.

Ob­wohl er jetzt be­reits fast fünf­zehn Jah­re zähl­te, war er zart und klein ge­blie­ben, und sah et­was kränk­lich aus.

Zu­wei­len nahm ihn Fräu­lein Sour­ce nach der Stadt mit, um zwei Ver­wand­te zu be­su­chen, ein paar Kou­si­nen, die in ei­ner der Vor­städ­te ver­hei­ra­tet wa­ren. Es war dies ihre gan­ze Fa­mi­lie. Die bei­den Frau­en groll­ten ihr im Stil­len noch im­mer, dass sie die­ses Kind an­ge­nom­men hat­te, denn sie hoff­ten selbst auf die Erb­schaft; doch emp­fin­gen sie sie im­mer mit Wär­me, denn sie er­war­te­ten noch im­mer einen Teil da­von, ein Drit­tel we­nigs­tens, wenn red­lich ge­teilt wur­de.

Sie war glück­lich, sehr glück­lich, und je­der­zeit mit ih­rem Kin­de be­schäf­tigt. Sie kauf­te ihm Bü­cher, um sei­nen Geist zu bil­den, und er be­gann lei­den­schaft­lich zu le­sen.

Am Abend kam er jetzt nicht mehr auf ih­ren Schoß, um sie zu lieb­ko­sen wie vor­dem, viel­mehr setz­te er sich schnell auf sei­nen klei­nen Stuhl in die Ecke am Feu­er und schlug ein Buch auf. Die Lam­pe stand am Ran­de des Tisch­chens über sei­nem Haup­te und be­schi­en sein lo­cki­ges Haar und ein Stück der Stirn. Er rühr­te sich nicht mehr, schlug die Au­gen nicht auf, mach­te kei­ne Ge­bär­de, son­dern las, las wie geis­tes­ab­we­send und ganz in das Aben­teu­er des Bu­ches ver­sun­ken.

Sie saß ihm ge­gen­über und blick­te ihn starr und voll in­ne­rer Er­re­gung an; sie wun­der­te sich über sei­ne ge­spann­te Auf­merk­sam­keit und war vol­ler Ei­fer­sucht; die Trä­nen wa­ren ihr nahe.

Zu­wei­len sag­te sie zu ihm: »Du wirst dich müde ma­chen, mein Schatz!«, denn sie hoff­te, dass er die Au­gen auf­schla­gen und sie küs­sen wür­de. Aber er ant­wor­te­te nicht ein­mal; er sah und hör­te nichts und wuss­te von nichts andrem, als was auf den Sei­ten des Bu­ches stand.

So ver­schlang er zwei Jah­re lang un­ge­zähl­te Bän­de. Sein Cha­rak­ter ver­än­der­te sich.

In der Fol­ge bat er Fräu­lein Sour­ce mehr­mals um Geld, und sie gab es ihm. Da er aber im­mer mehr woll­te, schlug sie es ihm schließ­lich aus, denn sie war haus­häl­te­risch und ener­gisch und wuss­te am rech­ten Plat­ze ver­nünf­tig zu sein.

Er setz­te ihr aber so lan­ge zu, bis sie ihm ei­nes Abends doch noch ein­mal eine be­trächt­li­che Sum­me gab; als er aber ein paar Tage spä­ter wie­der­kam und bet­tel­te, zeig­te sie sich un­er­bitt­lich und gab tat­säch­lich nicht mehr nach.

Da schi­en er sei­nen Ent­schluss zu fas­sen. Er wur­de wie­der ru­hig, wie vor­dem, saß wie­der Stun­den lang un­be­weg­lich, ohne einen Ton von sich zu ge­ben, mit ge­senk­ten Au­gen, in sei­ne Träu­me­rei­en ver­lo­ren. Er sprach nicht mehr mit Fräu­lein Sour­ce und ant­wor­te­te auf ihre Fra­gen kaum mit kur­z­en und knap­pen Sät­zen.

Trotz­dem war er auf­merk­sam ge­gen sie, vol­ler Rück­sicht, aber er küss­te sie nie mehr.

Am Abend, wenn sie schwei­gend und un­be­weg­lich rechts und links vom Feu­er sa­ßen, flö­ßte er ihr jetzt manch­mal Furcht ein. Sie woll­te ihn auf­rüt­teln, woll­te ir­gen­det­was sa­gen, um aus die­sem schreck­li­chen Schwei­gen her­aus­zu­kom­men, das so un­heim­lich war, wie ein fins­te­rer Wald. Aber er schi­en sie nicht zu hö­ren, und sie beb­te vor Schre­cken, die arme alte Jung­fer, wenn sie fünf- oder sechs­mal zu ihm ge­spro­chen hat­te, ohne ein ein­zi­ges Wort zu be­kom­men.

Was hat­te er? Was ging in die­sem ver­schlos­se­nen Kop­fe vor? Wenn sie so zwei oder drei Stun­den ihm ge­gen­über ge­ses­sen hat­te, fühl­te sie den Wahn­sinn na­hen; sie woll­te flie­hen und sich ins Freie ret­ten, um die­sem ewi­gen stum­men Bei­sam­men­sein zu ent­ge­hen, sie bang­te vor ei­ner un­be­stimm­ten Ge­fahr, ohne doch recht zu wis­sen, wes­halb.

Und oft wein­te sie ganz al­lein.

Was hat­te er? Sprach sie einen Wunsch aus – er führ­te ihn ohne Mur­ren aus. Brauch­te sie et­was aus der Stadt – so­gleich ging er hin. Sie hat­te sich über ihn ge­wiss nicht zu be­kla­gen. Und doch…

So ver­ging noch ein Jahr, und es schi­en ihr, als hät­te sich in dem Geis­te des ge­heim­nis­vol­len Jun­gen eine neue Wand­lung voll­zo­gen. Sie spür­te es, sie ahn­te es, sie wuss­te nicht wie, aber sie war des­sen si­cher; sie wuss­te, dass sie sich nicht täusch­te, aber sie wäre nicht im­stan­de ge­we­sen zu sa­gen, worin die un­be­kann­ten Ge­dan­ken die­ses selt­sa­men Kna­ben sich ge­än­dert hat­ten.

Ihr schi­en nur, als ob er bis da­hin ein zau­dern­des Men­schen­kind ge­we­sen wäre und jetzt plötz­lich einen Ent­schluss ge­fasst hät­te. Die­ser Ge­dan­ke kam ihr ei­nes Abends, als sie sei­nem Bli­cke be­geg­ne­te, ei­nem ei­gen­tüm­li­chen, star­ren Bli­cke, den sie nicht kann­te.

All­mäh­lich be­gann er sie alle Au­gen­bli­cke so an­zu­se­hen, und sie hät­te sich dann am liebs­ten ver­steckt, um die­sem kal­ten Auge aus­zu­wei­chen, das auf ihr ruh­te.

Bald blick­te er sie gan­ze Aben­de lang an und wand­te den Blick nur ab, wenn sie es schließ­lich nicht mehr er­tra­gen konn­te und zu ihm sag­te:

– Sieh mich doch nicht im­mer so an, mein Kind!

Dann senk­te er den Kopf.

So­bald sie ihm aber den Rücken ge­kehrt hat­te, fühl­te sie von Neu­em sein Auge auf ihr ru­hen. Wo­hin sie auch ging, über­all ver­folg­te er sie mit sei­nen be­harr­li­chen Bli­cken.

Manch­mal, wenn sie in ih­rem Gärt­chen spa­zie­ren ging, er­blick­te sie ihn plötz­lich in ei­nem Ge­bü­sche zu­sam­men­ge­kau­ert, als ob er im Hin­ter­halt läge. Oder wenn sie in ih­rer Haus­tür saß und St­rümp­fe aus­bes­ser­te, wäh­rend er ein Ge­mü­se­beet um­grub, blick­te er sie bei der Ar­beit mit heim­tücki­schen Bli­cken un­aus­ge­setzt an.

Ver­ge­bens frag­te sie ihn:

– Was hast du, mein Klei­ner? Seit drei Jah­ren bist du so ganz an­ders ge­wor­den. Ich er­ken­ne dich nicht mehr wie­der. Sage mir doch, was du hast, was du denkst, ich be­schwö­re dich.

Er ant­wor­te­te dann im­mer mit dem­sel­ben ru­hi­gen, er­mü­de­ten Tone:

– Aber ich habe nichts, Tan­te.

Und wenn sie in ihn drang und ihn be­schwor:

– Mein Kind, ant­wor­te mir doch, ant­wor­te mir doch, wenn ich dich fra­ge. Wenn du wüss­test, wel­chen Kum­mer du mir be­rei­test, du wür­dest mir im­mer ant­wor­ten und wür­dest mich nicht im­mer so an­bli­cken. Hast du ir­gend ein Leid? Sa­ge’s mir, ich wer­de dich trös­ten…

Dann ging er mit mü­dem We­sen und mur­mel­te:

– Ich ver­si­che­re dich, ich habe nichts.

Er war nicht viel grö­ßer ge­wor­den; er hat­te im­mer noch das An­se­hen ei­nes Kin­des, wie­wohl er die Züge ei­nes Man­nes trug. Sie wa­ren hart und doch un­fer­tig. Er schi­en un­voll­en­det, schlecht ge­ra­ten und gleich­sam nur hin­ge­wor­fen zu sein, und be­un­ru­hi­gend war er wie ein Ge­heim­nis. Ein ver­schlos­se­nes, un­durch­dring­li­ches We­sen, in dem je­den Au­gen­blick eine tä­ti­ge und ge­fähr­li­che Geis­tes­ar­beit vor sich zu ge­hen schi­en.

Fräu­lein Sour­ce emp­fand das al­les sehr wohl und schlief vor Angst nicht mehr. Schreck­li­che Be­klem­mun­gen, ent­setz­li­che Träu­me quäl­ten sie oft. Sie schloss sich in ihr Zim­mer ein und ver­bar­ri­ka­dier­te ihre Tür; so ängs­tig­te sie das Un­be­stimm­te.

Wo­vor fürch­te­te sie sich? Sie wuss­te es sel­ber nicht. Sie fürch­te­te sich vor al­lem, vor der Nacht, den Wän­den, den Ge­stal­ten, die der Mond durch die ge­blüm­ten wei­ßen Vor­hän­ge hin­durch­warf, und vor al­lem – vor ihm!

Wa­rum? Was hat­te sie zu fürch­ten? Wuss­te sie es?

 

Und doch konn­te sie so nicht län­ger le­ben. Sie war si­cher, dass ein Un­glück sie be­droh­te, ein schreck­li­ches Un­glück.

Ei­nes Mor­gens brach sie ins­ge­heim auf und ging nach der Stadt zu ih­ren Ver­wand­ten. Sie er­zähl­te ih­nen al­les mit be­ben­der Stim­me. Die bei­den Frau­en dach­ten, dass sie ver­rückt wür­de, und such­ten sie zu be­ru­hi­gen.

– Wenn ihr nur wüss­tet, klag­te sie, wie er mich von mor­gens bis abends an­starrt! Sei­ne Au­gen ver­las­sen mich nie. Zu­wei­len möch­te ich am liebs­ten um Hil­fe schrei­en und die Nach­barn her­bei­ru­fen, so fürch­te ich mich. Aber was soll­te ich ih­nen sa­gen? Er tut mir ja nichts, als dass er mich an­blickt.

– Ist er denn zu­wei­len bru­tal ge­gen dich? frag­ten die bei­den Kou­si­nen. Gibt er dir fre­che Ant­wor­ten?

– Nein sag­te sie, nie­mals. Er tut al­les, was ich will, er ar­bei­tet flei­ßig und ist die Spar­sam­keit selbst, aber ich hal­te es vor Furcht nicht mehr aus. Er hat et­was im Kop­fe, deß bin ich si­cher, ganz si­cher. Ich will nicht mehr so ganz al­lein mit ihm auf dem Lan­de blei­ben.

Die Ver­wand­ten wa­ren be­trof­fen und stell­ten ihr vor, dass man sich wun­dern, dass man es nicht be­grei­fen wür­de, und ga­ben ihr den Rat, ihre Be­fürch­tun­gen und Plä­ne zu ver­schwei­gen, rie­ten ihr in­des­sen nicht ab, nach der Stadt zu zie­hen, denn sie hoff­ten, dass da­durch die gan­ze Erb­schaft noch an sie zu­rück­fal­len wür­de.

Sie ver­spra­chen ihr so­gar, ihr beim Ver­kauf ih­res Hau­ses be­hilf­lich zu sein, und woll­ten et­was andres in ih­rer Nähe aus­fin­dig ma­chen.

Als Fräu­lein Sour­ce in ihr Heim zu­rück­kehr­te, war ihr der Kopf so wirr, dass sie beim ge­rings­ten Geräusch zu­sam­men­fuhr und ihre Hän­de bei der kleins­ten Be­we­gung zu zit­tern be­gan­nen.

Sie ging dann noch zwei­mal zu ih­ren Ver­wand­ten, um sich mit ih­nen zu be­spre­chen, und war jetzt ganz ent­schlos­sen, nicht mehr so al­lein in ih­rer Woh­nung zu blei­ben.

End­lich fand sie in der Vor­stadt ein klei­nes Gar­ten­haus, das ihr zu­sag­te, und das sie ins­ge­heim kauf­te.

Der Kon­trakt wur­de an ei­nem Diens­tag Mor­gen un­ter­zeich­net, und Fräu­lein Sour­ce ver­brach­te den Rest des Ta­ges mit Vor­be­rei­tun­gen für den Um­zug.

Um acht Uhr abends stieg sie wie­der in den Post­wa­gen, der tau­send Schritt vor ih­rem Hau­se vor­bei­ging, und ließ an dem Punk­te hal­ten, wo der Kut­scher sie ge­wöhn­lich ab­zu­set­zen pfleg­te. Als sie aus­stieg, rief der Mann ihr zu, in­dem er auf sei­ne Pfer­de ein­hieb:

– Gu­ten Abend, Fräu­lein Sour­ce, gute Nacht!

– Gute Nacht, Schwa­ger Jo­seph, ant­wor­te­te sie im Ge­hen.

Am an­de­ren Mor­gen um halb acht Uhr, als der Brief­trä­ger sei­ne Brie­fe nach dem Dor­fe trug, be­merk­te er auf dem Qu­er­weg nicht weit von der Stra­ße eine große, noch fri­sche Blut­la­che. »Halt!« sag­te er sich, »hier hat ei­nem die Nase ge­blu­tet.« Zehn Schritt wei­ter be­merk­te er in­des­sen ein – gleich­falls blu­ti­ges – Ta­schen­tuch und hob es auf. Es war von fei­nem Lei­nen. Als der Fuß­gän­ger sich dem Gra­ben nä­her­te, glaub­te er einen selt­sa­men Ge­gen­stand zu se­hen.

Fräu­lein Sour­ce lag auf der Gra­ben­soh­le mit durch­ge­schnit­te­ner Keh­le im Gras.

Eine Stun­de spä­ter stan­den die Gen­darmen, der Un­ter­su­chungs­rich­ter und vie­le Be­am­te um die Lei­che her­um und stell­ten Ver­mu­tun­gen an.

Die bei­den Ver­wand­ten wur­den als Zeu­gen vor­ge­for­dert und er­zähl­ten die Be­fürch­tun­gen und letz­ten Plä­ne der al­ten Jung­fer.

Der Pfle­ge­sohn wur­de fest­ge­nom­men. Seit dem Tode sei­ner Ad­op­tiv-Mut­ter wein­te er vom Mor­gen bis in die Nacht und war – we­nigs­tens schein­bar – auf das tiefs­te be­küm­mert.

Er führ­te den Be­weis, dass er den Abend bis elf Uhr in ei­nem Café ge­we­sen war. Zehn Per­so­nen hat­ten ihn ge­se­hen und wa­ren bis zu sei­nem Auf­bruch ge­blie­ben.

Nun aber er­klär­te der Post­kut­scher, er habe die Er­mor­de­te zwi­schen halb zehn und zehn Uhr auf der Stra­ße ab­ge­setzt. Das Ver­bre­chen konn­te nur auf dem Wege von der Stra­ße bis zum Hau­se und spä­tes­tens um zehn Uhr ver­übt wor­den sein.

Da­rauf hin wur­de er frei­ge­las­sen.

Ein Te­sta­ment von äl­te­rem Da­tum, das bei ei­nem No­tar in Ren­nes de­po­niert war, mach­te ihn zum Uni­ver­saler­ben, und er trat die Erb­schaft an.

Die Leu­te der Ge­gend äch­te­ten ihn lan­ge Zeit, da sie ihn für ver­däch­tig hiel­ten. Sein Haus, das der To­ten, galt für ver­fehmt. Auf der Stra­ße wich man ihm aus.

Aber er of­fen­bar­te sich als so gut­mü­tig, of­fen­her­zig und ver­trau­lich, dass man ganz all­mäh­lich den schreck­li­chen Zwei­fel fal­len ließ. Er war frei­ge­big und zu­vor­kom­mend, er un­ter­hielt sich selbst mit dem Nied­rigs­ten, er sprach von al­lem und so lan­ge man woll­te.

Der No­tar, Herr Ra­meau, war ei­ner der ers­ten, der wie­der für ihn ein­trat; sei­ne lä­cheln­de Red­se­lig­keit be­stach ihn. Ei­nes Abends, auf ei­nem Abendes­sen beim Steuer­ein­neh­mer, er­klär­te er:

– Ein Mensch, der so un­ge­zwun­gen spricht und stets gu­ter Lau­ne ist, kann ein sol­ches Ver­bre­chen nicht auf dem Ge­wis­sen ha­ben.

Den An­we­sen­den hat­te die­ses Ar­gu­ment Ein­druck ge­macht, sie dach­ten nach und ent­san­nen sich in der Tat ih­rer lan­gen Un­ter­hal­tun­gen mit die­sem Men­schen, der sie fast wi­der Wil­len in der Plau­de­r­e­cke fest­hielt, um ih­nen sei­nen Ge­dan­ken mit­zu­tei­len, der sie zwang, bei ihm ein­zu­keh­ren, wenn sie an sei­nem Gar­ten vor­über­gin­gen, dem die schö­nen Re­dens­ar­ten leich­ter flos­sen, als selbst dem Gen­dar­me­rie-Leut­nant, und des­sen Lus­tig­keit so an­ste­ckend war, dass man trotz des Wi­der­wil­lens, den er ein­flö­ßte, in sei­ner Ge­sell­schaft im­mer herz­lich la­chen muss­te.

Seit­dem öff­ne­ten sich ihm alle Tü­ren.

Jetzt ist er der Bür­ger­meis­ter des Städt­chens.

✳ ✳ ✳

Bel Ami
Teil 1

I.

Die Kas­sie­re­rin gab auf sein 5-Fran­cs-Stück das Geld her­aus und Ge­or­ges Du­roy ver­ließ das Lo­kal. Statt­lich ge­wach­sen, rich­te­te er sich auf mit der Hal­tung ei­nes ehe­ma­li­gen Un­ter­of­fi­ziers und dreh­te schnei­dig-mi­li­tä­risch sei­nen Schnurr­bart zwi­schen den Fin­gern. Er warf auf die üb­rig­ge­blie­be­nen Gäs­te einen schnel­len, flüch­ti­gen Blick; einen je­ner Bli­cke des schö­nen Bur­schen, die un­fehl­bar tref­fen, wie der Raub­vo­gel sei­ne Beu­te.

Die Frau­en blick­ten ihm neu­gie­rig nach: es wa­ren drei klei­ne Nähmäd­chen, eine Mu­sik­leh­re­rin un­be­stimm­ten Al­ters, schlecht ge­kämmt, nach­läs­sig ge­klei­det mit ei­nem al­ten, ver­staub­ten Hut und ei­nem Kleid, das nie­mals sit­zen woll­te. Dazu zwei bür­ger­li­che Frau­en mit ih­ren Män­nern, Stamm­gäs­te des klei­nen Lo­kals mit »fes­ten Prei­sen«.

Auf der Stra­ße blieb er einen Au­gen­blick ste­hen und über­leg­te, was er un­ter­neh­men soll­te. Es war der 28. Juni — in der Ta­sche blie­ben ihm 3 Fran­cs 40 Cen­ti­mes für den Rest des Mo­nats üb­rig. Da­für konn­te er sich zwei Mit­ta­ges­sen leis­ten, dann al­ler­dings kein Früh­stück, oder um­ge­kehrt. Er über­leg­te sich, dass ein Früh­stück nur 22 Sous, ein Mit­ta­ges­sen da­ge­gen 30 kos­te­te. Begnüg­te er sich bloß mit dem Früh­stück, so wür­den ihm 1 Fran­cs 20 Cen­ti­mes ver­blei­ben, das be­deu­te­te zwei­mal Würst­chen mit Brot und zwei Glas Bier auf dem Bou­le­vard. Dies war sein kost­spie­li­ges Ver­gnü­gen, das er sich abends gönn­te.

Da­rauf­hin ging er die Rue Notre-Dame de Lo­ret­te hin­un­ter.

So schritt er da­hin, wie zur­zeit, als er die Husa­ren­uni­form trug, in stram­mer Hal­tung mit et­was ge­spreiz­ten Bei­nen, wie ein Rei­ter, der eben vom Pfer­de ge­stie­gen ist. Ohne auf je­mand Rück­sicht zu neh­men, ging er sei­nen Weg durch die Stra­ßen­men­ge. Er stieß die Passan­ten und woll­te nie­man­dem aus­wei­chen. Sei­nen al­ten Zy­lin­der­hut rück­te er et­was auf das eine Ohr, und laut klan­gen sei­ne Schrit­te auf dem Pflas­ter. Verächt­lich und her­aus­for­dernd be­trach­te­te er die Men­schen, die Häu­ser, die gan­ze Stadt: er — der schi­cke, schnei­di­ge Sol­dat, der zu­fäl­lig Zi­vi­list war.

Sein fer­tig­ge­kauf­ter An­zug kos­te­te nur 60 Fran­cs, trotz­dem trug er eine ge­wis­se be­tont knal­li­ge Ele­ganz zur Schau; et­was or­di­när, da­für echt und ein­drucks­voll. Groß und schön ge­wach­sen, hat­te er dun­kel­blon­des, röt­li­ches, von Na­tur krau­ses Haar, das in der Mit­te ge­schei­telt war; mit ei­nem ke­cken Schnurr­bart, der sich auf sei­ner Ober­lip­pe kräu­sel­te, und hel­len, blau­en Au­gen mit klei­nen Pu­pil­len, sah er dem Mords­kerl aus ei­nem Hin­ter­trep­pen­ro­man ähn­lich.

Es war ein hei­ßer Som­mer­tag. Kein fri­scher Luft­zug reg­te sich in Pa­ris. Die Stadt glüh­te wie ein Kes­sel und er­stick­te in der schwü­len Nacht. Die Stra­ßen­kanä­le hauch­ten üb­len Duft aus ih­ren Gra­ni­tra­chen, und aus den Kü­chen und Kel­ler­räu­men dran­gen ekle Gerü­che von Spül­was­ser und al­ten Spei­se­res­ten auf die Stra­ße.

Un­ter den Hau­sto­ren sa­ßen die »con­cier­ges« (Haus­war­te) in Hemds­är­meln ritt­lings auf ih­ren Stroh­ses­seln und rauch­ten die Pfei­fe. Trä­ge schli­chen die Men­schen da­hin, mit ent­blö­ßtem Kopf, den Hut in der Hand tra­gend.

Als Ge­or­ges Du­roy den Bou­le­vard er­reich­te, blieb er ste­hen, un­schlüs­sig, was er nun tun soll­te. Er hat­te Lust, in die Champs Elysée und die Ave­nue du Bois de Bou­lo­gne zu ge­hen, um un­ter den Bäu­men et­was fri­sche Luft zu schöp­fen.

Aber ein an­de­res Ver­lan­gen reg­te sich in ihm, und zwar nach ei­nem Lie­bes­aben­teu­er. Wie ihm so ein Aben­teu­er in den Weg lau­fen soll­te, da­von hat­te er kei­ne Ah­nung, aber seit drei Mo­na­ten war­te­te er dar­auf je­den Tag und je­den Abend. Dank sei­ner schö­nen, statt­li­chen Er­schei­nung hat­te er wohl hier und da ein biss­chen Lie­be kos­ten dür­fen; ge­nü­gen tat ihm das nicht, er hoff­te im­mer auf mehr und auf Bes­se­res.

Mit heißem Blut aber lee­rer Ta­sche er­reg­ten ihn die Dir­nen, die ihm an den Stra­ßen­e­cken zu­mur­mel­ten: »Komm mit, fei­ner Jun­ge«, doch er ge­trau­te sich nicht, ih­nen zu fol­gen, denn be­zah­len konn­te er sie nicht, und dann träum­te er auch von an­de­rem, von et­was vor­neh­me­rer Lie­be und min­der ge­mei­nen Küs­sen.

Trotz­dem lieb­te er die Orte, wo es von je­nen öf­fent­li­chen Mäd­chen wim­mel­te; er such­te gern ihre Bal­lo­ka­le, ihre Cafés, ihre Stra­ßen auf. Er lieb­te, sie an­zu­spre­chen, sie zu du­zen, ihre auf­dring­li­chen Par­füms ein­zuat­men und ihre Nähe zu füh­len. Sie wa­ren doch schließ­lich Frau­en; Frau­en, die zur Lie­be be­stimmt wa­ren. Ver­ach­ten tat er sie nicht, so wie je­der Mann sie ver­ach­te­te, der im Schoß der Fa­mi­lie auf­ge­wach­sen ist.

Er lenk­te sei­ne Schrit­te nach der Ma­de­lei­ne­kir­che und folg­te dem Men­schen­strom, der sich, von der Hit­ze be­drückt, schwer­fäl­lig da­hin­wälz­te.

Die Cafés wa­ren über­füllt, dicht­ge­drängt sa­ßen die Men­schen am Bür­ger­steig, im grel­len, blen­den­den Licht der er­leuch­te­ten Fens­ter. Vor ih­nen auf klei­nen run­den oder vier­e­cki­gen Ti­schen stan­den Glä­ser mit ro­ten, gel­ben, grü­nen und in al­len Far­ben schil­lern­den Flüs­sig­kei­ten, und in den Kar­af­fen sah man große, durch­sich­ti­ge Eis­stücke glän­zen, die das schö­ne, kla­re Was­ser kühl­ten.

Du­roys Schrit­te wur­den lang­sa­mer, und das Ver­lan­gen nach ei­nem er­fri­schen­den Ge­tränk trock­ne­te ihm die Keh­le. Ihn pack­te ein glü­hen­der Durst, ein Durst ei­nes hei­ßen Som­mer­abends; er dach­te im­mer­fort an das köst­li­che Ge­fühl, wenn ihm et­was Kal­tes durch die Keh­le rinnt. Wenn er sich aber heu­te auch nur zwei Glas Bier ge­stat­te­te, dann war es mor­gen mit sei­nem kar­gen Abend­brot vor­bei, und die Stun­den des Hun­gers am Mo­nats­en­de wa­ren ihm nur zu wohl be­kannt.

Er sag­te sich: »Bis zehn Uhr muss ich aus­hal­ten, und dann trin­ke ich einen Bock à l’A­me­ri­cain. Don­ner­wet­ter, habe ich jetzt einen Durst!« Und er blick­te all die­se Men­schen an, die an den Ti­schen sa­ßen, tran­ken und ih­ren Durst lö­schen konn­ten, so viel sie woll­ten. Und wäh­rend er äu­ßer­lich keck und zu­ver­sicht­lich an den Cafés vor­über­ging, ta­xier­te er mit ra­schem Blick nach dem Aus­se­hen und der Klei­dung ei­nes je­den Gas­tes, wie viel Geld er wohl mit sich trug. Eine Wut er­griff ihn ge­gen die­se ru­hig da­sit­zen­den Leu­te. Wenn man ihre Ta­schen durch­such­te, so wür­de man Gold, Sil­ber und Klein­geld fin­den. Durch­schnitt­lich muss­te je­der wohl zwei Zwan­zig­fran­cs­stücke bei sich ha­ben, etwa hun­dert Men­schen sa­ßen in je­dem Café, und hun­dert­mal zwei­mal zwan­zig macht vier­tau­send Fran­cs. »Schwei­ne­hun­de!« mur­mel­te er vor sich hin und ging mit wie­gen­den Schrit­ten wei­ter. Hät­te er nur einen an ir­gend­ei­ner dunklen Stra­ßen­e­cke fas­sen kön­nen, wür­de er ihm weiß Gott ohne Be­den­ken den Hals um­ge­dreht ha­ben, wie er es mit den Dorf­hüh­nern an den Ta­gen der großen Ma­nö­ver tat.

 

Er dach­te an sei­ne zwei Dienst­jah­re in Afri­ka und an die Art und Wei­se, wie man in den klei­nen Vor­pos­ten im Sü­den den Ara­bern das Geld ab­nahm. Ein grau­sa­mes, zu­frie­de­nes Lä­cheln glitt über sei­ne Lip­pen, als er ei­nes Strei­ches ge­dach­te, der drei Män­nern vom Stam­me der Uled-Alan das Le­ben kos­te­te und ihm und sei­nen Ka­me­ra­den zwan­zig Hüh­ner, zwei Scha­fe und Gold ein­brach­te und hei­te­ren Ge­sprächss­toff für sechs Mo­na­te.

Die Schul­di­gen wa­ren nie ent­deckt wor­den, man hat­te sie auch frei­lich nie ge­sucht, da der Ara­ber so­zu­sa­gen als na­tür­li­che Beu­te der Sol­da­ten galt.

In Pa­ris war das an­ders. Hier konn­te man nicht mit dem Sä­bel an der Sei­te und dem Re­vol­ver in der Faust, fern vom wach­sa­men Auge der bür­ger­li­chen Ge­richts­bar­keit, in vol­ler Frei­heit her­um­plün­dern.

Wahr­haf­tig, er dach­te mit Weh­mut an die­se zwei Jah­re in der Wüs­te zu­rück. Wie scha­de, dass er nicht da un­ten ge­blie­ben war! Er hat­te sich Bes­se­res er­hofft, als er heim­kehr­te. Und nun … Ach ja, jetzt hat­te er, was er woll­te!

Er schnalz­te mit der Zun­ge, als woll­te er kon­sta­tie­ren, wie völ­lig aus­ge­dörrt sein Mund schon wäre.

Lang­sam und müde schob sich die Men­ge an ihm vor­über, und er dach­te im­mer noch: »Die­ses Pack! All die­se Idio­ten ha­ben Geld in der Wes­ten­ta­sche!« Er rem­pel­te die Men­schen an und pfiff dazu eine lus­ti­ge Me­lo­die. Män­ner, die er ge­schubst hat­te, dreh­ten sich schimp­fend um, und die Frau­en rie­fen ent­rüs­tet: »Un­ge­zo­ge­ner Lüm­mel!« Er ging am Vau­de­ville vor­bei und blieb vor dem Café Ame­ri­cain ste­hen. Er frag­te sich, ob er nicht doch ein Glas Bier trin­ken soll­te, so quäl­te ihn der Durst. Ehe er sich ent­schloss, sah er auf die be­leuch­te­te Uhr mit­ten auf dem Fahr­damm. Es war ein Vier­tel nach neun. Er kann­te sich zu ge­nau: so­bald das Glas Bier vor ihm stün­de, wür­de er es mit ei­nem Zug hin­un­ter­schlu­cken. Was soll­te er dann bis elf Uhr an­fan­gen?

Er über­leg­te: »Ich gehe noch bis zur Ma­de­lei­ne und keh­re dann lang­sam zu­rück.«

Als er an die Ecke des Place de l’O­pe­ra kam, be­geg­ne­te er ei­nem di­cken jun­gen Man­ne, des­sen Ge­sicht ihm ir­gend­wie be­kannt er­schi­en.

Er folg­te ihm und such­te sich zu er­in­nern, wäh­rend er halb­laut vor sich hin­sprach: »Zum Teu­fel, wo ken­ne ich die­sen Kerl her?«

Er ging und grü­bel­te, ohne dass es ihm ein­fiel; dann plötz­lich er­schi­en ihm der­sel­be Mensch durch einen ei­gen­tüm­li­chen Vor­gang des Ge­dächt­nis­ses we­ni­ger dick, jün­ger, in Husa­ren­uni­form. »Halt, Fo­res­tier!« rief er laut, be­schleu­nig­te sei­ne Schrit­te und klopf­te dem vor ihm Ge­hen­den auf die Schul­ter. Die­ser wand­te sich um, blick­te ihn an und sag­te:

»Was wün­schen Sie, mein Herr?«

Du­roy lach­te: »Er­kennst du mich nicht?«

»Nein.«

»Ge­or­ge Du­roy von den 6. Husa­ren.«

Fo­res­tier streck­te ihm bei­de Hän­de ent­ge­gen: »Du bist es, Al­ter! Wie geht es dir?«

»Aus­ge­zeich­net. Und dir?«

»Mir geht es nicht all­zu gut. Den­ke dir, mei­ne Brust ist wie aus Pa­pier­maché. Sechs Mo­na­te im Jahr quält mich ein Hus­ten, die Fol­ge ei­ner Bron­chi­tis, die ich mir in Bou­gi­val ge­holt habe kurz nach mei­ner Rück­kehr nach Pa­ris. Es sind jetzt schon vier Jah­re her.«

»So, du siehst aber ganz ge­sund aus.«

Fo­res­tier nahm sei­nen al­ten Ka­me­ra­den am Arm und er­zähl­te ihm von sei­ner Krank­heit, von den Ärz­ten, die er kon­sul­tiert hat­te, de­ren Mei­nun­gen und Ratschlä­gen und der Schwie­rig­keit, in sei­ner Stel­lung ih­ren Ver­ord­nun­gen zu fol­gen. Er soll­te den Win­ter im Sü­den zu­brin­gen, aber wie konn­te er das? Er war ver­hei­ra­tet, Jour­na­list, und hat­te eine gute Stel­lung. »Ich re­di­gie­re den po­li­ti­schen Teil in La Vie Françai­se, ich schrei­be die Se­nats­be­rich­te für den ›Sa­lut‹, und im ›Pla­ne­te‹ er­schei­nen hin und wie­der li­te­ra­ri­sche Feuil­le­tons von mir. Ich habe mei­nen Weg ge­macht.«

Du­roy war über­rascht und sah ihn er­staunt an. Fo­res­tier hat­te sich sehr ver­än­dert, er war rei­fer ge­wor­den. Sein Ge­ba­ren, sei­ne Hal­tung zeig­ten den ge­setz­ten, selbst­si­che­ren Mann und sein Bäuch­lein wuss­te von gu­ten Di­ners zu er­zäh­len. Frü­her war er ma­ger, klein und schlank, ein aus­ge­las­se­ner Le­be­mann und streit­süch­ti­ger Ra­dau­ma­cher, stets an­ge­hei­tert. Die drei Jah­re in Pa­ris hat­ten aus ihm einen ganz an­de­ren, einen be­lieb­ten und ernst­haf­ten Men­schen ge­macht, der schon ei­ni­ge wei­ße Haa­re an den Schlä­fen hat­te, ob­gleich er nicht mehr als sie­ben­und­zwan­zig Jah­re zähl­te.

Fo­res­tier frag­te: »Wo gehst, du hin?«

Du­roy ant­wor­te­te: »Nir­gends. Ich ma­che einen Spa­zier­gang, be­vor ich nach Hau­se gehe.«

»Weißt du was, willst du mich viel­leicht nach der Vie Françai­se be­glei­ten? Ich habe noch ein paar Kor­rek­tu­ren zu er­le­di­gen. Dann wol­len wir zu­sam­men ein Glas Bier trin­ken?«

»Sehr gern.«

Und Arm in Arm gin­gen sie wei­ter mit der leich­ten Ver­trau­lich­keit, die zwi­schen Schul­ka­me­ra­den und Waf­fen­ge­fähr­ten herrscht.

»Was machst du in Pa­ris?« frag­te Fo­res­tier.

Du­roy zuck­te die Ach­seln: »Kurz ge­sagt, ich kre­pie­re vor Hun­ger. Als mei­ne Dienst­zeit vor­bei war, woll­te ich hier­her kom­men, um … um mein Glück zu ma­chen, oder viel­mehr, um in Pa­ris le­ben zu kön­nen. Seit sechs Mo­na­ten bin ich bei der Ver­wal­tung der Nord­bahn an­ge­stellt. Ich ver­die­ne fünf­zehn­hun­dert Fran­cs im Jahr, kei­nen Cen­ti­me mehr.«

Fo­res­tier mur­mel­te: »Zum Teu­fel, das ist nicht viel!«

»Das glau­be ich. Aber was soll ich sonst an­fan­gen? Ich bin al­lein, ich ken­ne nie­man­den und habe kei­ne Pro­tek­ti­on. An gu­tem Wil­len fehlt es mir schon nicht, aber die Mit­tel?«

Sein Freund be­trach­te­te ihn vom Kopf bis zu den Fü­ßen, wie ein prak­ti­scher Mensch, der einen Ge­gen­stand ab­schätzt; dann ver­setz­te er in über­zeug­tem Ton:

»Sieh mal, mein Jun­ge, hier hängt al­les von dei­nem Auf­tre­ten ab. Ein fin­di­ger Kopf bringt es hier leich­ter bis zum Mi­nis­ter als bis zum Bü­ro­chef. Man muss sich auf­drän­gen und nicht schüch­tern bit­ten. Aber wie, zum Hen­ker, kommt es, dass du nichts Bes­se­res ge­fun­den hast als eine Stel­le bei der Nord­bahn?«

»Ich habe über­all ge­sucht«, er­wi­der­te Du­roy, »und nichts ge­fun­den. Au­gen­blick­lich habe ich zwar et­was in Aus­sicht, man bie­tet mir eine Stel­le als Stall­meis­ter in der Reit­bahn von Pel­le­rin an. Da be­kom­me ich min­des­tens drei­tau­send Fran­cs.«

Fo­res­tier blieb plötz­lich ste­hen:

»Tu das nicht. Das ist dumm, wo du doch zehn­tau­send Fran­cs ver­die­nen könn­test. Du ver­schließt dir mit ei­nem Schla­ge die Zu­kunft. In dei­ner Schreib­stu­be bist du we­nigs­tens ver­steckt, nie­mand kennt dich, und wenn du dich stark ge­nug fühlst, kannst du ei­nes schö­nen Ta­ges auch von dort aus Kar­rie­re ma­chen. Aber wenn du Stall­meis­ter bist, dann ist al­les aus. Du kannst ge­ra­de­so­gut Ober­kell­ner in ei­nem Re­stau­rant wer­den, wo ganz Pa­ris ver­kehrt. Wenn du erst ein­mal Leu­ten der Ge­sell­schaft oder ih­ren Söh­nen Reit­un­ter­richt ge­ge­ben hast, dann könn­ten sie sich nicht mehr dar­an ge­wöh­nen, dich als ih­res­glei­chen zu be­trach­ten.«