– Gräfin Samoris.
– Die Dame da unten in Schwarz?
– Sie selbst. Sie trauert um ihre Tochter, die sie getötet hat.
– Nicht doch! Was erzählen Sie mir da!
– Eine ganz einfache Geschichte ohne Verbrechen und Gewalttaten. Frau Samoris hat mit Herrn Rappaport nichts zu tun.
– Was war denn aber der Grund?
– Fast nichts. Viele Hetären, sagt man ja, sind zu anständigen Weibern geboren, und viele sogenannte anständige Damen sind geborene Hetären, nicht wahr? So ist Frau Rappaport – pardon! Frau Samoris – eine geborene Hetäre, und ihre Tochter war zum ehrbaren Weibe geboren.
– Ich verstehe Sie nicht recht.
– Ich werde es Ihnen gleich erklären. Die Gräfin Samoris gehört zu jenen Talmi-Fremden, wie sie auf Paris alljährlich zu Hunderten herabregnen. Sie war eine Gräfin aus Ungarn oder der Walachei, oder sonst woher, und tauchte eines Winters in einem Hause der Champs-Élysées, dieses Abenteurer-Viertels, auf, wo sie ihre Salons aller Welt öffnete.
Ich ging auch hin. Warum? werden Sie fragen. Ich weiß es selbst nicht recht. Ich ging hin, wie wir alle hingehen, weil dort gespielt wird, weil die Weiber gefällig und die Männer Gauner sind. Sie kennen ja diese Freibeuterwelt mit ihren mannigfachen Aushängeschildern, sie sind alle von edler Geburt, alle haben Titel, und alle sind auf den Gesandtschaften unbekannt, ausgenommen die Spione. Alle sprechen von Ehre, auch wenn von ihren Stiefeln die Rede ist, prahlen mit ihren Vorfahren und erzählen von ihrem Leben; sie sind allesamt Aufschneider, Lügner und Schelme, verdächtig wie ihre Karten, trügerisch wie ihre Namen, kurz, eine rechte Galgen-Aristokratie.
Ich liebe diese Leute! Es ist interessant, sie zu durchschauen, interessant, sie kennen zu lernen, amüsant, sie anzuhören; sie sind oft geistreich und nie banal, wie öffentliche Beamte. Ihre Weiber sind immer hübsch, mit einem kleinen Stich ins Ausländisch-Gaunerhafte, vom Geheimnis ihres Daseins umwittert, das sie vielleicht zur Hälfte in einem Korrektionshause verbracht haben. Im Allgemeinen haben sie prächtige Augen und unwahrscheinlich schönes Haar; sie liebe ich gleichfalls!
Frau Samoris ist der Typus dieser Abenteuerinnen. Sie ist elegant, üppig und noch schön, reizend und verschlagen; man spürt, sie ist lasterhaft bis ins Mark. Bei ihr amüsierte man sich besonders gut, man spielte, tanzte, soupierte… kurzum, man ging in ihrem Hause allen weltlichen Vergnügungen nach.
Sie hatte eine schon erwachsene Tochter, eine große und stolze Erscheinung. Sie war immer fröhlich, immer zu Kurzweil aufgelegt, immer über das ganze Gesicht lächelnd und von leidenschaftlicher Tanzlust. Aber sie war unschuldig, unwissend und von Herzen naiv; sie sah nichts, wusste nichts, verstand nichts und erriet nichts von alledem, was im Hause ihrer Mutter vorging.
– Woher wissen Sie das?
– Woher ich das weiß? Das ist bei der ganzen Sache das drolligste. Eines schönen Morgens klingelte es bei mir und mein Kammerdiener meldete einen Herrn Joseph Bonenthal, der mich zu sprechen wünschte. Ich fragte gleich:
– Wer ist dieser Herr?
– Ich weiß nicht recht, gnädiger Herr, sagte mein dienstbarer Geist, es ist vielleicht ein Diener.
Es war auch wirklich ein Diener, der bei mir in Stellung gehen wollte.
– Woher kommen Sie? fragte ich ihn.
– Von Frau Gräfin Samoris.
– Ach!… Aber in meinem Hause geht es anders zu, als bei ihr.
– Ich weiß wohl, gnädiger Herr, deshalb wollte ich grade zum gnädigen Herrn kommen. Ich habe von den Leuten da genug; das macht man wohl mal mit, aber man bleibt doch nicht da.
Da ich grade noch einen Diener brauchte, nahm ich ihn.
Einen Monat später starb Yveline Samoris auf geheimnisvolle Weise. Ich habe alle Einzelheiten ihres Todes von Joseph erfahren, der sie wiederum von seiner Freundin, der Kammerzofe der Gräfin, hatte.
Eines Abends war Ball bei Samoris und zwei neue Gäste plauderten hinter der Tür. Fräulein Yveline, die eben getanzt hatte, lehnte sich gegen diese Tür, um ein wenig Luft zu holen. Sie sahen sie nicht kommen und das Mädchen verstand ihre Unterhaltung.
– Aber wer ist denn der Vater des jungen Mädchens? fragte der eine.
– Ein Russe, scheint es, ein Graf Ruwaloff. Er sieht die Mutter nicht mehr.
– Und der jetzt regierende Herr?
– Jener englische Prinz, der sich ins Fenster lehnt. Frau Samoris betet ihn an. Nur dauern ihre Anbetungen nie länger als vier bis sechs Wochen. Übrigens sehen Sie ja, dass es an Freunden nicht fehlt; alle sind berufen… und fast alle werden auserwählt. Das ist ein etwas teurer Scherz, aber… Basta!
– Woher hat sie denn aber den Namen Samoris?
– Von dem einzigen Manne vielleicht, den sie geliebt hat, einem jüdischen Bankier aus Berlin, der Samuel Borris hieß.
– Gut. Ich danke Ihnen, Jetzt, wo ich unterrichtet bin, sehe ich klar. Und ich werde gerade aufs Ziel gehen.
Welcher Sturm der Entrüstung in dem Gehirn dieses jungen Mädchens ausbrach, das alle Instinkte eines anständigen Weibes besaß; welche Verzweiflung diese unschuldige Seele erfasste; welche Qualen diesem unaufhörlichen Frohsinn, diesem bezaubernden Lachen, dieser übermütigen Lebensfreude ein Ende bereiteten; welcher Kampf in dem Herzen des armen jungen Wesens tobte, bis der letzte Gast gegangen war: das alles hat mir Joseph nicht verraten können. Aber noch an demselben Abend trat Uveline plötzlich in das Zimmer ihrer Mutter, die sich gerade hinlegen wollte, hieß das Kammermädchen herausgehen, das hinter der Tür stehen blieb, und sagte mit bleichem Gesicht und großen Augen:
– Mama, dies habe ich eben im Salon gehört. Und damit erzählte sie die Unterhaltung, die ich Ihnen eben anvertraute, Wort für Wort wieder.
Die Gräfin war betroffen und wusste zu Anfang nicht, was sie sagen sollte. Dann stellte sie alles energisch in Abrede, erfand eine Geschichte, schwur und rief Gott zum Zeugen an.
Das junge Mädchen ging verwirrt, aber nicht überzeugt, und passte seither auf.
Ich ensinne mich noch sehr deutlich der seltsamen Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie war immer ernst und traurig und blickte uns mit ihren großen Augen starr an, als ob sie auf dem Grund unserer Seelen lesen wollte. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten, und glaubten wohl, sie suchte einen Mann, sei es für immer, sei es vorübergehend.
Eines Abends war sie nicht mehr in Zweifel: sie überraschte ihre Mutter. Da sagte sie kalt, wie ein Geschäftsmann, der seine Vertrags-Bedingungen vorschlägt:
– Mama, ich habe mich zu Folgendem entschlossen. Wir werden alle beide fortziehen, in eine kleine Stadt oder aufs Land, wir werden dort ohne viel Aufsehen leben, wie wir können. Dein Schmuck allein ist ein Vermögen wert. Wenn du Gelegenheit findest, einen anständigen Mann zu heiraten, umso besser. Finde ich auch einen, noch viel besser. Wenn du nicht darein willigst, werde ich mich töten.
Diesmal schickte die Gräfin ihre Tochter zu Bett und verbot ihr ein für alle mal, ihr wieder solche Lektionen zu halten, die sich in ihrem Munde nicht geziemten.
– Ich gebe dir einen Monat Bedenkzeit, antwortete Yveline. Wenn unser Dasein sich in einem Monat nicht geändert hat, werde ich mich töten, da es für mein Leben keinen anderen anständigen Ausweg gibt.
Damit ging sie.
Als ein Monat herum war, wurde im Hause Samoris immer noch getanzt und soupiert.
Yveline gab nun vor, sie hätte Zahnweh, und ließ bei einem Apotheker in der Gegend etwas Chloroform holen. Am nächsten Tage fing sie wieder an, und jedes Mal, wenn sie ausging, brachte sie sich belanglose Dosen dieses Betäubungsmittels mit und füllte sie in eine Flasche.
Eines Morgens fand man sie tot in ihrem Bette; sie war schon kalt und hatte eine Chloroform-Maske vor’m Gesicht.
Ihr Sarg war mit Blumen überdeckt, die Kirche weiß ausgeschlagen. Bei der Trauerfeier war ein großer Menschenandrang.
Donnerwetter ja! wahrhaftig, wenn ich das vorher gewusst hätte – aber man weiß ja nie etwas – ich hätte das Mädel vielleicht geheiratet. Sie war ganz allerliebst.
– Und die Mutter, was ist aus der geworden?
– Oh, die hat geweint… Erst seit acht Tagen beginnt sie ihre nächsten Bekannten wieder zu empfangen.
– Und was hat sie gesagt, um diesen Tod zu erklären?
Sie hat von einem Füllofen gesprochen, dessen Mechanismus entzwei gegangen wäre. Da die Unfälle mit diesen Dingern ehedem viel Lärm gemacht haben, lag nichts Unwahrscheinliches darin.
*
Den ganzen Winter in Paris hatten sie in engsten Beziehungen gestanden. Als sie die Schule verließen, hatten sie sich wie gewöhnlich aus den Augen verloren, bis sie sich plötzlich eines Abends in einer Gesellschaft wiederfanden, beide schon alt und grau, der eine als Junggeselle, der andere als Ehemann.
Herr von Méroul wohnte ein halbes Jahr in Paris und ein halbes Jahr in seinem kleinen Schloss bei Troubeville. Er hatte die Tochter eines Schlossherrn der Gegend heimgeführt und still wie ein Mensch, der nichts zu tun hat, ein friedlich beschauliches Dasein geführt. Er war von ruhigem Temperament und gesetztem Geiste ohne jegliche Keckheit oder Unabhängigkeits-Gelüste; seine Zeit verging ihm damit, dass er die Vergangenheit sanft zurückwünschte und den Sitten und Einrichtungen der guten alten Zeit nachweinte; und bei jeder Gelegenheit wiederholte er seiner Frau, die dabei die Augen und zuweilen auch die Hände gen Himmel hob, um kräftiger beizustimmen: »O Gott, unter was für einer Regierung leben wir!«
Frau von Méroul stand ihrem Gatten geistig so nahe, als ob sie Bruder und Schwester gewesen wären. Sie wusste durch die Tradition, dass man zuerst den Papst und den König ehren muss!
Und sie liebte und ehrte sie beide von Herzensgrund, ohne sie zu kennen; sie liebte sie mit poetischer Begeisterung und angeborener Hingebung, mit aller Zärtlichkeit einer Frau aus guter Familie. Sie war gut bis in die Falten ihrer Seele. Sie hatte nie Kinder gehabt und sehnte sich stets danach.
Als Herr von Méroul seinen alten Freund Josef Mouradour bei einem Balle wiederfand, bereitete ihm diese Begegnung eine tiefe, ungeschminkte Freude, denn sie hatten sich in ihrer Jugend sehr geliebt.
Nach den ersten Ausrufen des Erstaunens, wie sehr ihr Aussehen und Gesicht vom Alter verändert wären, hatten sie sich gegenseitig nach ihrem Leben erkundigt.
Josef Mouradour, ein Südfranzose, hatte es in seiner Heimat zum General-Direktor gebracht. Er war von freiem Benehmen, redete lebhaft und ohne Rückhalt, und sprach alles aus, was er dachte, ohne zarte Rücksichten zu kennen. Er gehörte zu jenem gemütlichen Schlage von Republikanern, die sich ein Gesetz daraus machen, möglichst formlos aufzutreten und die Freiheit des Wortes bis zur Rücksichtslosigkeit zu treiben.
Er kam in das Haus seines Freundes und machte sich hier durch seine ungeschminkte Herzlichkeit trotz seiner fortschrittlichen Ansichten bald sehr beliebt. Frau von Méroul rief immer aus: »Wie schade! Ein so reizender Mensch!« Und ihr Gatte sagte zu seinem Freunde in überzeugtem und vertraulichem Tone: »Du ahnst gar nicht, welches Unheil Ihr über unser Land bringt.« Trotzdem hätschelte er ihn, denn nichts ist fester, als die Beziehungen der Kindheit, die im reifen Alter wieder aufgenommen werden. Josef Mouradour seinerseits zog Mann und Frau auf, nannte sie »meine lieben Rückwärtsler« und konnte es sich bisweilen nicht versagen, mit tönendem Phrasenschwall über die Konservativen und ihre Vorurteile und Traditionen herzuziehen.
Wenn er so den Strom seiner demokratischen Beredsamkeit entfesselte, schwiegen seine Gastgeber wohl oder übel aus Anstand und Lebensart, und der Gatte suchte dann das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken, um das Aufeinanderprallen der Meinungen zu vermeiden. Auch sahen sie Josef Mouradour nur im engsten Kreise.
Als der Sommer kam, zogen die Mérouls auf ihre Besitzung bei Troubeville. Hier kannten sie keine größere Freude, als ihre Freunde zu Besuch zu haben. Es war dies eine innige und gesunde Freude, die Freude redlicher Leute und Landbewohner. Sie kamen den Gästen bis zur nächsten Eisenbahn-Station entgegen und fuhren sie in ihrem Wagen heim; dabei horchten sie begierig auf jedes Kompliment über ihre Gegend, den Pflanzenwuchs, den Zustand der Straßen im Kreise, die sauberen Bauernhäuser und das wohlgemästete Vieh, das auf den Feldern zu sehen war, kurz, über alles, was in ihrem Gesichtskreise lag.
Sie machten ihre Gäste darauf aufmerksam, wie erstaunlich gut ihr Pferd trabte, das doch einen Teil des Jahres mit aufs Feld musste, warteten ängstlich auf die Meinung des Angekommenen über ihren Familiensitz, und waren für jedes Wort empfänglich, für die geringste Schmeichelei erkenntlich.
Josef Mouradour wurde eingeladen und sagte sein Kommen zu.
Mann und Frau waren zur Ankunft des Zuges auf der Bahn und freuten sich kindlich, ihm die Honneurs erweisen zu können.
Sobald er sie erkannte, sprang er aus dem Wagen und eilte mit Lebhaftigkeit auf sie zu, was ihre Befriedigung noch steigerte. Er drückte ihnen die Hände, beglückwünschte sie und umspann sie förmlich mit Komplimenten.
Während des ganzen Weges war er reizend und in steter Bewunderung über die Höhe der Bäume, den Stand des Getreides und die Schnelligkeit des Pferdes.
Als er den Fuß auf die Treppe des Schlosses setzte, sagte Herr von Méroul mit einer gewissen freundschaftlichen Feierlichkeit: »Du bist jetzt bei Dir, Josef!« worauf dieser antwortete: »Danke, mein Freund, ich rechnete darauf. Übrigens tue ich mir bei meinen Freunden nie Zwang an. Ich verstehe die Gastfreundschaft nur so.«
Damit ging er herauf in sein Zimmer, um sich als Bauer anzuziehen, wie er sagte. Bald erschien er in blauer Leinewand wieder. Auf dem Kopfe hatte er einen Farmerhut, an den Füßen gelbe Lederschuhe, kurz, er sah aus wie ein Pariser im Schwank-Kostüm. Auch schien er noch gewöhnlicher, vertraulicher und jovialer geworden zu sein und mit seiner Bauernkleidung eine Zwanglosigkeit und Ungebundenheit angetan zu haben, wie er sie hier wohl für angebracht hielt. Sein neues Auftreten berührte Herrn und Frau von Méroul etwas peinlich, denn sie blieben auch auf ihrem Landsitz ernst und würdig, als ob die drei Buchstaben vor ihrem Namen sie zu einer gewissen Feierlichkeit selbst im engsten Kreise verpflichteten.
Nach dem Frühstück wurden die Höfe besichtigt, und der Pariser machte die ehrerbietigen Bauern durch seinen plump vertraulichen Ton stutzig.
Abends aß der Pfarrer im Hause, ein alter, wohlbeleibter Herr, und steter Sonntagsgast; er war zu Ehren des Neuangekommenen ausnahmsweise zu diesem Tage gebeten.
Als Josef ihn erblickte, schnitt er ein Gesicht und blickte ihn dann erstaunt an, wie ein seltenes Wesen von besonderem Schlage, das er noch nie so nahe gesehen hatte. Im Verlaufe der Mahlzeit erzählte er allerhand gewagte Stücklein, die im vertrauten Kreise wohl durchgehen mochten, hier aber, in Gegenwart eines Geistlichen, den Mérouls sehr wenig am Platze schienen. Auch sagte er nicht einmal »Herr Pfarrer«, sondern ganz kurz »Herr« und setzte den Priester durch philosophische Betrachtungen über die verschiedenen Arten von Aberglauben auf dem Erdrund in nicht geringe Verlegenheit. »Ihr Gott, mein Herr«, sagte er, »gehört zu denen, die man achten soll, aber auch zu denen, über die man streiten muss. Der meine heißt Vernunft; er ist von jeher der Feind des Ihren gewesen«… u. s. w.
Die Mérouls waren verzweifelt und bemühten sich, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Der Pfarrer ging frühzeitig.
Da sagte der Gatte sanft:
»Du bist in Gegenwart dieses Priesters vielleicht etwas zu weit gegangen.«
Aber Josef rief sofort: »Das ist ausgezeichnet! Ich werde mich vor so einem Schwarzen wohl noch genieren! Übrigens weißt du: Tue mir den Gefallen, und setze mir diesen Biedermann bei Tische nicht mehr vor. Ihr mögt ihn ja frequentieren, so viel Ihr wollt, Sonntags und Werkeltags, aber sapperlot! setzt ihn nicht Euren Freunden vor.
– Aber mein Lieber, in seiner heiligen Eigenschaft…
– Jawohl, weiß schon, fiel ihm Josef Mouradour ins Wort. Man muss sie behandeln, wie zarte Jungfern. Kennen wir, mein Freund! Wenn die Leute da meine Überzeugungen ehren, ehre ich die ihren auch!
Das war der erste Tag.
Als Frau von Méroul am nächsten Morgen in das Wohnzimmer trat, sah sie mitten auf ihrem Tische drei Zeitungen liegen, vor denen sie unwillkürlich zurückwich; es waren der »Voltaire«, die »République Française« und die »Justice.«
Und alsbald erschien Josef Mouradour, wieder ganz in blau, auf der Schwelle, mit der Lektüre des »Intransigeant« beschäftigt.
– Hier, rief er, steht ein famoser Artikel von Rochefort. Der Kerl ist wirklich überraschend.
Er las ihn dann mit lauter Stimme vor, indem er auf die Kraftstellen einen besonderen Nachdruck legte, und war so begeistert, dass er das Erscheinen seines Freundes garnicht bemerkte.
Herr von Märoul trat mit dem »Gaulois« und dem »Clairon« in der Hand ein, diesen für seine Frau, jenen für sich mitbringend. Er hörte, wie die glühende Prosa des meisterhaften Schriftstellers, der das Kaiserreich niederdonnerte, in südlichen Akzenten und leidenschaftlicher Tonart vorgetragen, durch das friedliche Zimmer scholl, die alten Gardinen mit ihren graden Falten in Schwingung versetzte, und die Wände, die großen gewirkten Lehnstühle, die ganzen schweren Möbel, die seit einem Jahrhundert auf demselben Fleck standen, mit einem Hagel herumschnellender, boshafter, höhnender, vernichtender Worte überschüttete…
Mann und Frau, er stehend, sie sitzend, hörten mit Staunen zu und ärgerten sich dermaßen, dass sie kein Glied rührten.
Mouradour schmetterte das Finale heraus, wie man eine Rakete abbrennt, und fragte dann in triumphierendem Tone:
– Was? Ist das nicht gut gesalzen?
Plötzlich aber bemerkte er die beiden Blätter, die sein Freund mitgebracht hatte, und blieb diesmal selbst vor Staunen starr. Dann eilte er mit großen Schritten auf ihn zu und fragte mit wütender Stimme:
– Was willst du mit den Wischen da?
– Aber… machte Herr von Méroul zögernd, das sind ja meine… meine Zeitungen!
– Deine… Zeitungen? Ei sieh, du machst dich wohl über mich lustig! Du wirst mir das Vergnügen machen, die meinen zu lesen; die werden dir den Kopf zurechtsetzen. Die deinen aber… sieh mal, das mach’ ich mit ihnen, das…
Und ehe sein verdutzter Wirt etwas dagegen tun konnte, hatte er die beiden Blatter ergriffen und zum Fenster hinaus geschleudert. Dann überreichte er die »Justice« mit wichtiger Gebärde der Frau von Méroul, übergab den »Voltaire« ihrem Gatten und ließ sich selbst in ein Fauteuil fallen, um den »Intransigeant« zu Ende zu lesen.
Mann und Frau taten anstandshalber so, als läsen sie etwas darin und gaben ihm darauf die republikanischen Blätter zurück, fassten sie dabei aber nur mit den Fingerspitzen an, als wären sie vergiftet.
Da lachte er, lachte laut und erklärte:
– Acht Tage diese Kost und ich bekehre Euch zu meinen Ideen!
Nach acht Tagen war er wirklich der Herr im Hause. Er hatte dem Pfarrer die Tür verschlossen; Frau von Méroul besuchte ihn nur insgeheim; er hatte verboten, dass der »Gaulois« und der»Clairon« ins Haus kamen; dafür wurden sie von einem Bedienten heimlich von der Post geholt, und wenn er erschien, unter das Sophakissen versteckt; er bestimmte alles nach seinem Gutdünken und war stets bezaubernd und jovial in seiner tyrannischen Allmacht…
Indessen wurden andere Bekannte erwartet, gute und fromme Legitimisten. Ein Zusammentreffen mit ihm hielten die Gastgeber für unmöglich, und da sie nicht wussten, was sie tun sollten, erklärten sie ihm eines Abends, dass sie genötigt wären, einer kleinen Angelegenheit halber für ein paar Tage zu verreisen und ihn allein zu lassen.
– Sehr wohl, erklärte er, das ist mir ganz gleichgültig. Ich warte hier auf Euch, solange Ihr wollt. Ich sagte Euch ja gleich zu Anfang: Unter Freunden keinen Zwang! Teufel auch, Ihr tut ganz recht daran, wenn Ihr zu Eurer Geschichte da fahrt. Ich nehme Euch das nicht übel, im Gegenteil! Das benimmt mir den letzten Rest von Zwang Euch gegenüber. Geht nur, meine Verehrtesten, ich warte auf Euch!
Herr und Frau von Méroul reisten am folgenden Tage ab.
Er wartet noch auf sie.
*