Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Yveline Samoris

Grä­fin Sa­mo­ris.

– Die Dame da un­ten in Schwarz?

– Sie selbst. Sie trau­ert um ihre Toch­ter, die sie ge­tö­tet hat.

– Nicht doch! Was er­zäh­len Sie mir da!

– Eine ganz ein­fa­che Ge­schich­te ohne Ver­bre­chen und Ge­walt­ta­ten. Frau Sa­mo­ris hat mit Herrn Rap­pa­port nichts zu tun.

– Was war denn aber der Grund?

– Fast nichts. Vie­le He­tä­ren, sagt man ja, sind zu an­stän­di­gen Wei­bern ge­bo­ren, und vie­le so­ge­nann­te an­stän­di­ge Da­men sind ge­bo­re­ne He­tä­ren, nicht wahr? So ist Frau Rap­pa­port – par­don! Frau Sa­mo­ris – eine ge­bo­re­ne He­tä­re, und ihre Toch­ter war zum ehr­ba­ren Wei­be ge­bo­ren.

– Ich ver­ste­he Sie nicht recht.

– Ich wer­de es Ih­nen gleich er­klä­ren. Die Grä­fin Sa­mo­ris ge­hört zu je­nen Tal­mi-Frem­den, wie sie auf Pa­ris all­jähr­lich zu Hun­der­ten her­ab­reg­nen. Sie war eine Grä­fin aus Un­garn oder der Walachei, oder sonst wo­her, und tauch­te ei­nes Win­ters in ei­nem Hau­se der Champs-Élysées, die­ses Aben­teu­rer-Vier­tels, auf, wo sie ihre Sa­lons al­ler Welt öff­ne­te.

Ich ging auch hin. Wa­rum? wer­den Sie fra­gen. Ich weiß es selbst nicht recht. Ich ging hin, wie wir alle hin­ge­hen, weil dort ge­spielt wird, weil die Wei­ber ge­fäl­lig und die Män­ner Gau­ner sind. Sie ken­nen ja die­se Frei­beu­ter­welt mit ih­ren man­nig­fa­chen Aus­hän­ge­schil­dern, sie sind alle von ed­ler Ge­burt, alle ha­ben Ti­tel, und alle sind auf den Ge­sandt­schaf­ten un­be­kannt, aus­ge­nom­men die Spio­ne. Alle spre­chen von Ehre, auch wenn von ih­ren Stie­feln die Rede ist, prah­len mit ih­ren Vor­fah­ren und er­zäh­len von ih­rem Le­ben; sie sind al­le­samt Auf­schnei­der, Lüg­ner und Schel­me, ver­däch­tig wie ihre Kar­ten, trü­ge­risch wie ihre Na­men, kurz, eine rech­te Gal­gen-Ari­sto­kra­tie.

Ich lie­be die­se Leu­te! Es ist in­ter­essant, sie zu durch­schau­en, in­ter­essant, sie ken­nen zu ler­nen, amüsant, sie an­zu­hö­ren; sie sind oft geist­reich und nie ba­nal, wie öf­fent­li­che Be­am­te. Ihre Wei­ber sind im­mer hübsch, mit ei­nem klei­nen Stich ins Aus­län­disch-Gau­ner­haf­te, vom Ge­heim­nis ih­res Da­seins um­wit­tert, das sie viel­leicht zur Hälf­te in ei­nem Kor­rek­ti­ons­hau­se ver­bracht ha­ben. Im All­ge­mei­nen ha­ben sie präch­ti­ge Au­gen und un­wahr­schein­lich schö­nes Haar; sie lie­be ich gleich­falls!

Frau Sa­mo­ris ist der Ty­pus die­ser Aben­teue­rin­nen. Sie ist ele­gant, üp­pig und noch schön, rei­zend und ver­schla­gen; man spürt, sie ist las­ter­haft bis ins Mark. Bei ihr amü­sier­te man sich be­son­ders gut, man spiel­te, tanz­te, sou­pier­te… kurz­um, man ging in ih­rem Hau­se al­len welt­li­chen Ver­gnü­gun­gen nach.

Sie hat­te eine schon er­wach­se­ne Toch­ter, eine große und stol­ze Er­schei­nung. Sie war im­mer fröh­lich, im­mer zu Kurzweil auf­ge­legt, im­mer über das gan­ze Ge­sicht lä­chelnd und von lei­den­schaft­li­cher Tanz­lust. Aber sie war un­schul­dig, un­wis­send und von Her­zen naiv; sie sah nichts, wuss­te nichts, ver­stand nichts und er­riet nichts von al­le­dem, was im Hau­se ih­rer Mut­ter vor­ging.

– Wo­her wis­sen Sie das?

– Wo­her ich das weiß? Das ist bei der gan­zen Sa­che das drol­ligs­te. Ei­nes schö­nen Mor­gens klin­gel­te es bei mir und mein Kam­mer­die­ner mel­de­te einen Herrn Jo­seph Bonen­thal, der mich zu spre­chen wünsch­te. Ich frag­te gleich:

– Wer ist die­ser Herr?

– Ich weiß nicht recht, gnä­di­ger Herr, sag­te mein dienst­ba­rer Geist, es ist viel­leicht ein Die­ner.

Es war auch wirk­lich ein Die­ner, der bei mir in Stel­lung ge­hen woll­te.

– Wo­her kom­men Sie? frag­te ich ihn.

– Von Frau Grä­fin Sa­mo­ris.

– Ach!… Aber in mei­nem Hau­se geht es an­ders zu, als bei ihr.

– Ich weiß wohl, gnä­di­ger Herr, des­halb woll­te ich gra­de zum gnä­di­gen Herrn kom­men. Ich habe von den Leu­ten da ge­nug; das macht man wohl mal mit, aber man bleibt doch nicht da.

Da ich gra­de noch einen Die­ner brauch­te, nahm ich ihn.

Ei­nen Mo­nat spä­ter starb Yve­li­ne Sa­mo­ris auf ge­heim­nis­vol­le Wei­se. Ich habe alle Ein­zel­hei­ten ih­res To­des von Jo­seph er­fah­ren, der sie wie­der­um von sei­ner Freun­din, der Kam­mer­zo­fe der Grä­fin, hat­te.

Ei­nes Abends war Ball bei Sa­mo­ris und zwei neue Gäs­te plau­der­ten hin­ter der Tür. Fräu­lein Yve­li­ne, die eben ge­tanzt hat­te, lehn­te sich ge­gen die­se Tür, um ein we­nig Luft zu ho­len. Sie sa­hen sie nicht kom­men und das Mäd­chen ver­stand ihre Un­ter­hal­tung.

– Aber wer ist denn der Va­ter des jun­gen Mäd­chens? frag­te der eine.

– Ein Rus­se, scheint es, ein Graf Ru­wa­loff. Er sieht die Mut­ter nicht mehr.

– Und der jetzt re­gie­ren­de Herr?

– Je­ner eng­li­sche Prinz, der sich ins Fens­ter lehnt. Frau Sa­mo­ris be­tet ihn an. Nur dau­ern ihre An­be­tun­gen nie län­ger als vier bis sechs Wo­chen. Üb­ri­gens se­hen Sie ja, dass es an Freun­den nicht fehlt; alle sind be­ru­fen… und fast alle wer­den aus­er­wählt. Das ist ein et­was teu­rer Scherz, aber… Bas­ta!

– Wo­her hat sie denn aber den Na­men Sa­mo­ris?

– Von dem ein­zi­gen Man­ne viel­leicht, den sie ge­liebt hat, ei­nem jü­di­schen Ban­kier aus Ber­lin, der Sa­mu­el Bor­ris hieß.

– Gut. Ich dan­ke Ih­nen, Jetzt, wo ich un­ter­rich­tet bin, sehe ich klar. Und ich wer­de ge­ra­de aufs Ziel ge­hen.

Wel­cher Sturm der Ent­rüs­tung in dem Ge­hirn die­ses jun­gen Mäd­chens aus­brach, das alle In­stink­te ei­nes an­stän­di­gen Wei­bes be­saß; wel­che Verzweif­lung die­se un­schul­di­ge See­le er­fass­te; wel­che Qua­len die­sem un­auf­hör­li­chen Froh­sinn, die­sem be­zau­bern­den La­chen, die­ser über­mü­ti­gen Le­bens­freu­de ein Ende be­rei­te­ten; wel­cher Kampf in dem Her­zen des ar­men jun­gen We­sens tob­te, bis der letz­te Gast ge­gan­gen war: das al­les hat mir Jo­seph nicht ver­ra­ten kön­nen. Aber noch an dem­sel­ben Abend trat Uve­li­ne plötz­lich in das Zim­mer ih­rer Mut­ter, die sich ge­ra­de hin­le­gen woll­te, hieß das Kam­mer­mäd­chen her­aus­ge­hen, das hin­ter der Tür ste­hen blieb, und sag­te mit blei­chem Ge­sicht und großen Au­gen:

– Mama, dies habe ich eben im Sa­lon ge­hört. Und da­mit er­zähl­te sie die Un­ter­hal­tung, die ich Ih­nen eben an­ver­trau­te, Wort für Wort wie­der.

Die Grä­fin war be­trof­fen und wuss­te zu An­fang nicht, was sie sa­gen soll­te. Dann stell­te sie al­les ener­gisch in Ab­re­de, er­fand eine Ge­schich­te, schwur und rief Gott zum Zeu­gen an.

Das jun­ge Mäd­chen ging ver­wirrt, aber nicht über­zeugt, und pass­te seit­her auf.

Ich en­sin­ne mich noch sehr deut­lich der selt­sa­men Ver­än­de­rung, die mit ihr vor­ge­gan­gen war. Sie war im­mer ernst und trau­rig und blick­te uns mit ih­ren großen Au­gen starr an, als ob sie auf dem Grund un­se­rer See­len le­sen woll­te. Wir wuss­ten nicht, was wir da­von hal­ten soll­ten, und glaub­ten wohl, sie such­te einen Mann, sei es für im­mer, sei es vor­über­ge­hend.

Ei­nes Abends war sie nicht mehr in Zwei­fel: sie über­rasch­te ihre Mut­ter. Da sag­te sie kalt, wie ein Ge­schäfts­mann, der sei­ne Ver­trags-Be­din­gun­gen vor­schlägt:

– Mama, ich habe mich zu Fol­gen­dem ent­schlos­sen. Wir wer­den alle bei­de fort­zie­hen, in eine klei­ne Stadt oder aufs Land, wir wer­den dort ohne viel Auf­se­hen le­ben, wie wir kön­nen. Dein Schmuck al­lein ist ein Ver­mö­gen wert. Wenn du Ge­le­gen­heit fin­dest, einen an­stän­di­gen Mann zu hei­ra­ten, umso bes­ser. Fin­de ich auch einen, noch viel bes­ser. Wenn du nicht dar­ein wil­ligst, wer­de ich mich tö­ten.

Dies­mal schick­te die Grä­fin ihre Toch­ter zu Bett und ver­bot ihr ein für alle mal, ihr wie­der sol­che Lek­tio­nen zu hal­ten, die sich in ih­rem Mun­de nicht ge­ziem­ten.

– Ich gebe dir einen Mo­nat Be­denk­zeit, ant­wor­te­te Yve­li­ne. Wenn un­ser Da­sein sich in ei­nem Mo­nat nicht ge­än­dert hat, wer­de ich mich tö­ten, da es für mein Le­ben kei­nen an­de­ren an­stän­di­gen Aus­weg gibt.

Da­mit ging sie.

Als ein Mo­nat her­um war, wur­de im Hau­se Sa­mo­ris im­mer noch ge­tanzt und sou­piert.

Yve­li­ne gab nun vor, sie hät­te Zahn­weh, und ließ bei ei­nem Apo­the­ker in der Ge­gend et­was Chlo­ro­form ho­len. Am nächs­ten Tage fing sie wie­der an, und je­des Mal, wenn sie aus­ging, brach­te sie sich be­lang­lo­se Do­sen die­ses Be­täu­bungs­mit­tels mit und füll­te sie in eine Fla­sche.

Ei­nes Mor­gens fand man sie tot in ih­rem Bet­te; sie war schon kalt und hat­te eine Chlo­ro­form-Mas­ke vor­’m Ge­sicht.

Ihr Sarg war mit Blu­men über­deckt, die Kir­che weiß aus­ge­schla­gen. Bei der Trau­er­fei­er war ein großer Men­schen­an­drang.

Don­ner­wet­ter ja! wahr­haf­tig, wenn ich das vor­her ge­wusst hät­te – aber man weiß ja nie et­was – ich hät­te das Mä­del viel­leicht ge­hei­ra­tet. Sie war ganz al­ler­liebst.

– Und die Mut­ter, was ist aus der ge­wor­den?

– Oh, die hat ge­weint… Erst seit acht Ta­gen be­ginnt sie ihre nächs­ten Be­kann­ten wie­der zu emp­fan­gen.

– Und was hat sie ge­sagt, um die­sen Tod zu er­klä­ren?

Sie hat von ei­nem Füll­ofen ge­spro­chen, des­sen Mecha­nis­mus ent­zwei ge­gan­gen wäre. Da die Un­fäl­le mit die­sen Din­gern ehe­dem viel Lärm ge­macht ha­ben, lag nichts Un­wahr­schein­li­ches dar­in.

*

Freund Josef

Den gan­zen Win­ter in Pa­ris hat­ten sie in engs­ten Be­zie­hun­gen ge­stan­den. Als sie die Schu­le ver­lie­ßen, hat­ten sie sich wie ge­wöhn­lich aus den Au­gen ver­lo­ren, bis sie sich plötz­lich ei­nes Abends in ei­ner Ge­sell­schaft wie­der­fan­den, bei­de schon alt und grau, der eine als Jung­ge­sel­le, der an­de­re als Ehe­mann.

 

Herr von Méroul wohn­te ein hal­b­es Jahr in Pa­ris und ein hal­b­es Jahr in sei­nem klei­nen Schloss bei Trou­be­ville. Er hat­te die Toch­ter ei­nes Schloss­herrn der Ge­gend heim­ge­führt und still wie ein Mensch, der nichts zu tun hat, ein fried­lich be­schau­li­ches Da­sein ge­führt. Er war von ru­hi­gem Tem­pe­ra­ment und ge­setz­tem Geis­te ohne jeg­li­che Keck­heit oder Un­ab­hän­gig­keits-Ge­lüs­te; sei­ne Zeit ver­ging ihm da­mit, dass er die Ver­gan­gen­heit sanft zu­rück­wünsch­te und den Sit­ten und Ein­rich­tun­gen der gu­ten al­ten Zeit nach­wein­te; und bei je­der Ge­le­gen­heit wie­der­hol­te er sei­ner Frau, die da­bei die Au­gen und zu­wei­len auch die Hän­de gen Him­mel hob, um kräf­ti­ger bei­zu­stim­men: »O Gott, un­ter was für ei­ner Re­gie­rung le­ben wir!«

Frau von Méroul stand ih­rem Gat­ten geis­tig so nahe, als ob sie Bru­der und Schwes­ter ge­we­sen wä­ren. Sie wuss­te durch die Tra­di­ti­on, dass man zu­erst den Papst und den Kö­nig eh­ren muss!

Und sie lieb­te und ehr­te sie bei­de von Her­zens­grund, ohne sie zu ken­nen; sie lieb­te sie mit poe­ti­scher Be­geis­te­rung und an­ge­bo­re­ner Hin­ge­bung, mit al­ler Zärt­lich­keit ei­ner Frau aus gu­ter Fa­mi­lie. Sie war gut bis in die Fal­ten ih­rer See­le. Sie hat­te nie Kin­der ge­habt und sehn­te sich stets da­nach.

Als Herr von Méroul sei­nen al­ten Freund Jo­sef Mou­radour bei ei­nem Bal­le wie­der­fand, be­rei­te­te ihm die­se Be­geg­nung eine tie­fe, un­ge­schmink­te Freu­de, denn sie hat­ten sich in ih­rer Ju­gend sehr ge­liebt.

Nach den ers­ten Aus­ru­fen des Er­stau­nens, wie sehr ihr Aus­se­hen und Ge­sicht vom Al­ter ver­än­dert wä­ren, hat­ten sie sich ge­gen­sei­tig nach ih­rem Le­ben er­kun­digt.

Jo­sef Mou­radour, ein Süd­fran­zo­se, hat­te es in sei­ner Hei­mat zum Ge­ne­ral-Di­rek­tor ge­bracht. Er war von frei­em Be­neh­men, re­de­te leb­haft und ohne Rück­halt, und sprach al­les aus, was er dach­te, ohne zar­te Rück­sich­ten zu ken­nen. Er ge­hör­te zu je­nem ge­müt­li­chen Schla­ge von Re­pu­bli­ka­nern, die sich ein Ge­setz dar­aus ma­chen, mög­lichst form­los auf­zu­tre­ten und die Frei­heit des Wor­tes bis zur Rück­sichts­lo­sig­keit zu trei­ben.

Er kam in das Haus sei­nes Freun­des und mach­te sich hier durch sei­ne un­ge­schmink­te Herz­lich­keit trotz sei­ner fort­schritt­li­chen An­sich­ten bald sehr be­liebt. Frau von Méroul rief im­mer aus: »Wie scha­de! Ein so rei­zen­der Mensch!« Und ihr Gat­te sag­te zu sei­nem Freun­de in über­zeug­tem und ver­trau­li­chem Tone: »Du ahnst gar nicht, wel­ches Un­heil Ihr über un­ser Land bringt.« Trotz­dem hät­schel­te er ihn, denn nichts ist fes­ter, als die Be­zie­hun­gen der Kind­heit, die im rei­fen Al­ter wie­der auf­ge­nom­men wer­den. Jo­sef Mou­radour sei­ner­seits zog Mann und Frau auf, nann­te sie »mei­ne lie­ben Rück­wärts­ler« und konn­te es sich bis­wei­len nicht ver­sa­gen, mit tö­nen­dem Phra­sen­schwall über die Kon­ser­va­ti­ven und ihre Vor­ur­tei­le und Tra­di­tio­nen her­zu­zie­hen.

Wenn er so den Strom sei­ner de­mo­kra­ti­schen Be­red­sam­keit ent­fes­sel­te, schwie­gen sei­ne Gast­ge­ber wohl oder übel aus An­stand und Le­bens­art, und der Gat­te such­te dann das Ge­spräch auf einen an­de­ren Ge­gen­stand zu len­ken, um das Auf­ein­an­der­pral­len der Mei­nun­gen zu ver­mei­den. Auch sa­hen sie Jo­sef Mou­radour nur im engs­ten Krei­se.

Als der Som­mer kam, zo­gen die Mérouls auf ihre Be­sit­zung bei Trou­be­ville. Hier kann­ten sie kei­ne grö­ße­re Freu­de, als ihre Freun­de zu Be­such zu ha­ben. Es war dies eine in­ni­ge und ge­sun­de Freu­de, die Freu­de red­li­cher Leu­te und Land­be­woh­ner. Sie ka­men den Gäs­ten bis zur nächs­ten Ei­sen­bahn-Sta­ti­on ent­ge­gen und fuh­ren sie in ih­rem Wa­gen heim; da­bei horch­ten sie be­gie­rig auf je­des Kom­pli­ment über ihre Ge­gend, den Pflan­zen­wuchs, den Zu­stand der Stra­ßen im Krei­se, die sau­be­ren Bau­ern­häu­ser und das wohl­ge­mä­s­te­te Vieh, das auf den Fel­dern zu se­hen war, kurz, über al­les, was in ih­rem Ge­sichts­krei­se lag.

Sie mach­ten ihre Gäs­te dar­auf auf­merk­sam, wie er­staun­lich gut ihr Pferd trab­te, das doch einen Teil des Jah­res mit aufs Feld muss­te, war­te­ten ängst­lich auf die Mei­nung des An­ge­kom­me­nen über ih­ren Fa­mi­li­en­sitz, und wa­ren für je­des Wort emp­fäng­lich, für die ge­rings­te Schmei­che­lei er­kennt­lich.

Jo­sef Mou­radour wur­de ein­ge­la­den und sag­te sein Kom­men zu.

Mann und Frau wa­ren zur An­kunft des Zu­ges auf der Bahn und freu­ten sich kind­lich, ihm die Hon­neurs er­wei­sen zu kön­nen.

So­bald er sie er­kann­te, sprang er aus dem Wa­gen und eil­te mit Leb­haf­tig­keit auf sie zu, was ihre Be­frie­di­gung noch stei­ger­te. Er drück­te ih­nen die Hän­de, be­glück­wünsch­te sie und um­spann sie förm­lich mit Kom­pli­men­ten.

Wäh­rend des gan­zen We­ges war er rei­zend und in ste­ter Be­wun­de­rung über die Höhe der Bäu­me, den Stand des Ge­trei­des und die Schnel­lig­keit des Pfer­des.

Als er den Fuß auf die Trep­pe des Schlos­ses setz­te, sag­te Herr von Méroul mit ei­ner ge­wis­sen freund­schaft­li­chen Fei­er­lich­keit: »Du bist jetzt bei Dir, Jo­sef!« wor­auf die­ser ant­wor­te­te: »Dan­ke, mein Freund, ich rech­ne­te dar­auf. Üb­ri­gens tue ich mir bei mei­nen Freun­den nie Zwang an. Ich ver­ste­he die Gast­freund­schaft nur so.«

Da­mit ging er her­auf in sein Zim­mer, um sich als Bau­er an­zu­zie­hen, wie er sag­te. Bald er­schi­en er in blau­er Lei­ne­wand wie­der. Auf dem Kop­fe hat­te er einen Far­mer­hut, an den Fü­ßen gel­be Le­der­schu­he, kurz, er sah aus wie ein Pa­ri­ser im Schwank-Ko­stüm. Auch schi­en er noch ge­wöhn­li­cher, ver­trau­li­cher und jo­via­ler ge­wor­den zu sein und mit sei­ner Bau­ern­klei­dung eine Zwang­lo­sig­keit und Un­ge­bun­den­heit an­ge­tan zu ha­ben, wie er sie hier wohl für an­ge­bracht hielt. Sein neu­es Auf­tre­ten be­rühr­te Herrn und Frau von Méroul et­was pein­lich, denn sie blie­ben auch auf ih­rem Land­sitz ernst und wür­dig, als ob die drei Buch­sta­ben vor ih­rem Na­men sie zu ei­ner ge­wis­sen Fei­er­lich­keit selbst im engs­ten Krei­se ver­pflich­te­ten.

Nach dem Früh­stück wur­den die Höfe be­sich­tigt, und der Pa­ri­ser mach­te die ehr­er­bie­ti­gen Bau­ern durch sei­nen plump ver­trau­li­chen Ton stut­zig.

Abends aß der Pfar­rer im Hau­se, ein al­ter, wohl­be­leib­ter Herr, und ste­ter Sonn­tags­gast; er war zu Ehren des Neu­an­ge­kom­me­nen aus­nahms­wei­se zu die­sem Tage ge­be­ten.

Als Jo­sef ihn er­blick­te, schnitt er ein Ge­sicht und blick­te ihn dann er­staunt an, wie ein sel­te­nes We­sen von be­son­de­rem Schla­ge, das er noch nie so nahe ge­se­hen hat­te. Im Ver­lau­fe der Mahl­zeit er­zähl­te er al­ler­hand ge­wag­te Stück­lein, die im ver­trau­ten Krei­se wohl durch­ge­hen moch­ten, hier aber, in Ge­gen­wart ei­nes Geist­li­chen, den Mérouls sehr we­nig am Plat­ze schie­nen. Auch sag­te er nicht ein­mal »Herr Pfar­rer«, son­dern ganz kurz »Herr« und setz­te den Pries­ter durch phi­lo­so­phi­sche Be­trach­tun­gen über die ver­schie­de­nen Ar­ten von Aber­glau­ben auf dem Er­drund in nicht ge­rin­ge Ver­le­gen­heit. »Ihr Gott, mein Herr«, sag­te er, »ge­hört zu de­nen, die man ach­ten soll, aber auch zu de­nen, über die man strei­ten muss. Der mei­ne heißt Ver­nunft; er ist von je­her der Feind des Ihren ge­we­sen«… u. s. w.

Die Mérouls wa­ren ver­zwei­felt und be­müh­ten sich, das Ge­spräch auf einen an­de­ren Ge­gen­stand zu len­ken. Der Pfar­rer ging früh­zei­tig.

Da sag­te der Gat­te sanft:

»Du bist in Ge­gen­wart die­ses Pries­ters viel­leicht et­was zu weit ge­gan­gen.«

Aber Jo­sef rief so­fort: »Das ist aus­ge­zeich­net! Ich wer­de mich vor so ei­nem Schwar­zen wohl noch ge­nie­ren! Üb­ri­gens weißt du: Tue mir den Ge­fal­len, und set­ze mir die­sen Bie­der­mann bei Ti­sche nicht mehr vor. Ihr mögt ihn ja fre­quen­tie­ren, so viel Ihr wollt, Sonn­tags und Wer­kel­tags, aber sap­per­lot! setzt ihn nicht Eu­ren Freun­den vor.

– Aber mein Lie­ber, in sei­ner hei­li­gen Ei­gen­schaft…

– Ja­wohl, weiß schon, fiel ihm Jo­sef Mou­radour ins Wort. Man muss sie be­han­deln, wie zar­te Jung­fern. Ken­nen wir, mein Freund! Wenn die Leu­te da mei­ne Über­zeu­gun­gen eh­ren, ehre ich die ih­ren auch!

Das war der ers­te Tag.

Als Frau von Méroul am nächs­ten Mor­gen in das Wohn­zim­mer trat, sah sie mit­ten auf ih­rem Ti­sche drei Zei­tun­gen lie­gen, vor de­nen sie un­will­kür­lich zu­rück­wich; es wa­ren der »Vol­taire«, die »Ré­pu­bli­que Françai­se« und die »Ju­sti­ce.«

Und als­bald er­schi­en Jo­sef Mou­radour, wie­der ganz in blau, auf der Schwel­le, mit der Lek­tü­re des »In­tran­si­geant« be­schäf­tigt.

– Hier, rief er, steht ein fa­mo­ser Ar­ti­kel von Ro­che­fort. Der Kerl ist wirk­lich über­ra­schend.

Er las ihn dann mit lau­ter Stim­me vor, in­dem er auf die Kraft­stel­len einen be­son­de­ren Nach­druck leg­te, und war so be­geis­tert, dass er das Er­schei­nen sei­nes Freun­des gar­nicht be­merk­te.

Herr von Mä­roul trat mit dem »Gau­lois« und dem »Clai­ron« in der Hand ein, die­sen für sei­ne Frau, je­nen für sich mit­brin­gend. Er hör­te, wie die glü­hen­de Pro­sa des meis­ter­haf­ten Schrift­stel­lers, der das Kai­ser­reich nie­der­don­ner­te, in süd­li­chen Ak­zen­ten und lei­den­schaft­li­cher Ton­art vor­ge­tra­gen, durch das fried­li­che Zim­mer scholl, die al­ten Gar­di­nen mit ih­ren gra­den Fal­ten in Schwin­gung ver­setz­te, und die Wän­de, die großen ge­wirk­ten Lehn­stüh­le, die gan­zen schwe­ren Mö­bel, die seit ei­nem Jahr­hun­dert auf dem­sel­ben Fleck stan­den, mit ei­nem Ha­gel her­um­schnel­len­der, bos­haf­ter, höh­nen­der, ver­nich­ten­der Wor­te über­schüt­te­te…

Mann und Frau, er ste­hend, sie sit­zend, hör­ten mit Stau­nen zu und är­ger­ten sich der­ma­ßen, dass sie kein Glied rühr­ten.

Mou­radour schmet­ter­te das Fina­le her­aus, wie man eine Ra­ke­te ab­brennt, und frag­te dann in tri­um­phie­ren­dem Tone:

– Was? Ist das nicht gut ge­sal­zen?

Plötz­lich aber be­merk­te er die bei­den Blät­ter, die sein Freund mit­ge­bracht hat­te, und blieb dies­mal selbst vor Stau­nen starr. Dann eil­te er mit großen Schrit­ten auf ihn zu und frag­te mit wü­ten­der Stim­me:

– Was willst du mit den Wi­schen da?

– Aber… mach­te Herr von Méroul zö­gernd, das sind ja mei­ne… mei­ne Zei­tun­gen!

– Dei­ne… Zei­tun­gen? Ei sieh, du machst dich wohl über mich lus­tig! Du wirst mir das Ver­gnü­gen ma­chen, die mei­nen zu le­sen; die wer­den dir den Kopf zu­recht­set­zen. Die dei­nen aber… sieh mal, das mach’ ich mit ih­nen, das…

Und ehe sein ver­dutz­ter Wirt et­was da­ge­gen tun konn­te, hat­te er die bei­den Blat­ter er­grif­fen und zum Fens­ter hin­aus ge­schleu­dert. Dann über­reich­te er die »Ju­sti­ce« mit wich­ti­ger Ge­bär­de der Frau von Méroul, übergab den »Vol­taire« ih­rem Gat­ten und ließ sich selbst in ein Fau­teuil fal­len, um den »In­tran­si­geant« zu Ende zu le­sen.

Mann und Frau ta­ten an­stands­hal­ber so, als lä­sen sie et­was dar­in und ga­ben ihm dar­auf die re­pu­bli­ka­ni­schen Blät­ter zu­rück, fass­ten sie da­bei aber nur mit den Fin­ger­spit­zen an, als wä­ren sie ver­gif­tet.

Da lach­te er, lach­te laut und er­klär­te:

– Acht Tage die­se Kost und ich be­keh­re Euch zu mei­nen Ide­en!

Nach acht Ta­gen war er wirk­lich der Herr im Hau­se. Er hat­te dem Pfar­rer die Tür ver­schlos­sen; Frau von Méroul be­such­te ihn nur ins­ge­heim; er hat­te ver­bo­ten, dass der »Gau­lois« und der»Clai­ron« ins Haus ka­men; da­für wur­den sie von ei­nem Be­dien­ten heim­lich von der Post ge­holt, und wenn er er­schi­en, un­ter das So­pha­kis­sen ver­steckt; er be­stimm­te al­les nach sei­nem Gut­dün­ken und war stets be­zau­bernd und jo­vi­al in sei­ner ty­ran­ni­schen All­macht…

In­des­sen wur­den an­de­re Be­kann­te er­war­tet, gute und from­me Le­gi­ti­mis­ten. Ein Zu­sam­men­tref­fen mit ihm hiel­ten die Gast­ge­ber für un­mög­lich, und da sie nicht wuss­ten, was sie tun soll­ten, er­klär­ten sie ihm ei­nes Abends, dass sie ge­nö­tigt wä­ren, ei­ner klei­nen An­ge­le­gen­heit hal­ber für ein paar Tage zu ver­rei­sen und ihn al­lein zu las­sen.

– Sehr wohl, er­klär­te er, das ist mir ganz gleich­gül­tig. Ich war­te hier auf Euch, so­lan­ge Ihr wollt. Ich sag­te Euch ja gleich zu An­fang: Un­ter Freun­den kei­nen Zwang! Teu­fel auch, Ihr tut ganz recht dar­an, wenn Ihr zu Eu­rer Ge­schich­te da fahrt. Ich neh­me Euch das nicht übel, im Ge­gen­teil! Das be­nimmt mir den letz­ten Rest von Zwang Euch ge­gen­über. Geht nur, mei­ne Ver­ehr­tes­ten, ich war­te auf Euch!

 

Herr und Frau von Méroul reis­ten am fol­gen­den Tage ab.

Er war­tet noch auf sie.

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