Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Er sann un­auf­hör­lich dar­über nach, wie er es an­fan­gen soll­te, sei­nen Bru­der zum Ver­trau­ten sei­ner Sor­gen zu ma­chen und ihn zum Ver­zicht auf die­ses schon in Be­sitz ge­nom­me­ne Ver­mö­gen, das er be­reits ge­noss, das ihn im Voraus be­rausch­te, zu be­we­gen. Es muss­te Hans sau­er wer­den, dem al­lem zu ent­sa­gen, aber ge­sche­hen muss­te es; er konn­te sich nicht be­sin­nen, nicht schwan­ken, der Ruf sei­ner Mut­ter stand ja auf dem Spie­le.

Das Er­schei­nen ei­ner rie­si­gen Bar­be brach­te Ro­land wie­der auf Fi­sche­rei­ge­schich­ten und Be­au­si­re er­zähl­te auf die­sem Ge­bie­te die un­glaub­lichs­ten Er­leb­nis­se von Ga­bun­land, von St. Ma­rie auf Ma­da­gas­car, vor al­lem aber von den Küs­ten Ja­pans und Chinas, wo die Fi­sche ge­nau so wun­der­li­che Ge­sich­ter ha­ben soll­ten wie die Men­schen. Und er fing nun an, die­se Fi­sche zu schil­dern, mit den großen, gold­gel­ben, run­den Au­gen, den selt­sa­men, fä­cher­för­mi­gen Flos­sen, den halb­mond­ar­ti­gen Schwän­zen, und mach­te da­bei all ihre Be­we­gun­gen so ur­ko­misch nach, dass die Zu­hö­rer bis zu Trä­nen lach­ten. Nur Pe­ter schi­en den Be­schrei­bun­gen des Er­zäh­lers kei­nen Glau­ben zu schen­ken und sag­te halb­laut: »Nicht mit Un­recht nennt man die Nor­man­nen die Gas­co­gner des Nor­dens.«

Nach dem Fisch kam ein Vol-au-vent, dar­auf Ge­flü­gel, Salat, grü­ne Boh­nen und eine Ler­chen­pas­te­te. Frau Rosé­mil­lys Dienst­mäd­chen half beim Auf­tra­gen und die Hei­ter­keit wuchs mit je­dem Glas Wein. Als der ers­te Cham­pa­gner­pfrop­fen knall­te, ahm­te Va­ter Ro­land das Geräusch sehr täu­schend mit den Lip­pen nach und ver­si­cher­te dann, dass ihm die­ser Knall weit lie­ber sei als der ei­ner Pis­to­le.

Pe­ter, der im­mer reiz­ba­rer und ver­stimm­ter wur­de, be­merk­te höh­nisch: »Ob­wohl dir letz­te­rer viel­leicht we­ni­ger ge­fähr­lich wäre.«

Ro­land, der im Be­griff war zu trin­ken, stell­te das vol­le Glas wie­der auf den Tisch und frag­te: »Wes­halb denn?«

Seit län­ge­rer Zeit schon klag­te Va­ter Ro­land über sein Be­fin­den, litt an Schwin­del, Mat­tig­keit und fort­dau­ern­dem, un­er­klär­li­chem Un­be­ha­gen.

»Weil die Pis­to­len­ku­gel,« er­wi­der­te der Dok­tor, »mög­li­cher­wei­se an dir vor­bei­fliegt, der Wein aber ganz ge­wiss in dei­nen Leib kommt.«

»Und was dann?«

»Dann ver­brennt er dir den Ma­gen, greift das Ner­ven­sys­tem an, be­schwert den Blu­t­um­lauf und ar­bei­tet der Apo­ple­xie in die Hän­de, wel­che die stets dro­hen­de Ge­fahr für alle Leu­te dei­nes Schla­ges ist.«

Die an­ge­hei­ter­te Stim­mung des al­ten Ju­we­liers schi­en ver­flo­gen wie ein Rauch­wölk­chen, das der Wind ver­jagt; mit ängst­li­chen, star­ren Au­gen blick­te er auf den Sohn und such­te ins kla­re zu kom­men, ob der­sel­be im Scherz oder Ernst ge­spro­chen.

»Ach! Die­se ver­wünsch­ten Ärz­te!« rief Ka­pi­tän Be­au­si­re. »Da ist doch ei­ner wie der an­de­re, im­mer das­sel­be Lied: es­sen Sie nicht, trin­ken Sie nicht, lie­ben Sie nicht und tan­zen Sie kei­nen Wal­zer – das al­les könn­te dem ho­hen Ge­sund­heit­chen et­was zu lei­de tun. Nun, ich, mein Herr, ich habe alle die­se vier Din­ge in al­len Welt­tei­len be­trie­ben, so oft ich konn­te und so stark ich konn­te, und be­fin­de mich vor­treff­lich da­bei.«

Herb und scharf ver­setz­te Pe­ter: »Ers­tens sind Sie kräf­ti­ger als mein Va­ter, Herr Ka­pi­tän, und dann spre­chen alle Le­be­män­ner so wie Sie, bis zu dem Tag … an dem Sie nicht mehr da sind, um dem vor­sich­ti­gen Arzt sa­gen zu kön­nen: ›Dok­tor, Sie ha­ben recht ge­hab­t‹. Wenn ich mit an­se­hen muss, wie mein Va­ter ge­ra­de das tut, was am al­ler­schäd­lichs­ten und ge­fähr­lichs­ten für ihn ist, so kann ich doch wohl nicht um­hin, ihn zu war­nen – ein schlech­ter Sohn, der das un­ter­lässt.«

Nun misch­te sich auch Frau Ro­land schwe­ren Her­zens in das Ge­spräch.

»Aber Pe­ter, was fällt dir denn ein?« sag­te sie, »dies ei­nemal wird es ihm doch nicht scha­den! Be­den­ke, was für ein Fest er, wir alle, heu­te fei­ern. Du verdirbst ihm ganz die Freu­de und bringst uns alle um un­sern Froh­sinn. Das ist recht häss­lich, muss ich dir sa­gen.«

»Er kann es hal­ten, wie er will; ge­warnt ist er,« murr­te Pe­ter, die Ach­seln zu­ckend.

Aber Va­ter Ro­land trank nicht. Er sah sein Glas an, sein vol­les Glas, mit dem köst­li­chen, gol­den schim­mern­den Wein, des­sen leich­te, be­rau­schen­de See­le mit den klei­nen Bla­sen, die vom Grund des Kris­tall­kel­ches auf­stie­gen, hef­tig und rasch, als ob sie es ei­lig hät­ten, sich zu ver­flüch­ti­gen, da­hin­flog. Mit dem Miss­trau­en, wo­mit ein Fuchs eine tote Hen­ne be­schnup­pert, un­ter wel­cher er eine Fal­le wit­tert, sah Va­ter Ro­land den per­len­den Wein an und frag­te zö­gernd: »Du glaubst also, dass es mir sehr scha­den wür­de?«

Pe­ter emp­fand eine Art von Ge­wis­sens­biss und warf sich vor, dass er die an­de­ren un­ter sei­ner Ver­stim­mung lei­den las­se.

»Nun, nun, dies ei­nemal kannst du ihn ja­wohl trin­ken,« sag­te er trös­tend, »aber hal­te Maß und lass es dir nicht zur Ge­wohn­heit wer­den.«

Da er­hob der Va­ter sein Glas, konn­te sich aber noch nicht ent­schlie­ßen, es an die Lip­pen zu füh­ren. Er hielt es vor sich hin und sah es weh­mü­tig, von Be­gier­de und Furcht er­füllt, an, dann roch er an dem Wein, kos­te­te ihn und trank in klei­nen Schlu­cken, lang­sam, mit der Zun­ge prü­fend, das Herz voll Angst, Schwach­heit und Ge­lüs­te, und so­bald er den letz­ten Trop­fen ver­schluckt, von tiefer Weh­mut er­füllt, dass der Ge­nuss nun zu Ende.

Plötz­lich be­geg­ne­te Pe­ter Frau Rosé­mil­lys Blick; klar, durch­drin­gend und fest wa­ren die blau­en Au­gen auf ihn ge­rich­tet, und er ahn­te, fühl­te, las in ih­nen, was die klei­ne Frau mit ih­rem recht­schaf­fe­nen, ein­fa­chen Sinn und Ver­stand dach­te, und wie em­pört sie in ih­rem In­nern zu ihm sag­te: »Du bist nei­disch – du soll­test dich schä­men.«

Er senk­te das Haupt und mach­te sich mit sei­nem Tel­ler zu schaf­fen.

Ap­pe­tit hat­te er nicht; nichts woll­te ihm schme­cken; ein Ver­lan­gen, fort­zu­ge­hen, quäl­te ihn, eine Sehn­sucht, nicht mehr un­ter die­sen Men­schen zu sein, sie nicht mehr schwat­zen, scher­zen und la­chen zu hö­ren.

In­des­sen fing der per­len­de Cham­pa­gner Papa Ro­lands See­len­frie­den wie­der zu stö­ren an, die ärzt­li­chen Ratschlä­ge sei­nes Soh­nes ge­rie­ten et­was in Ver­ges­sen­heit, und er lieb­äu­gel­te mit ei­ner bei­na­he vol­len Fla­sche, die ne­ben sei­nem Tel­ler stand. Aus Furcht vor ei­ner neu­en Ver­war­nung wag­te er je­doch nicht sie zu be­rüh­ren und be­sann sich im Stil­len auf ir­gend ein Ta­schen­spie­ler­kunst­stück, um sich ih­rer zu be­mäch­ti­gen, ohne dass Pe­ter es be­krit­teln könn­te. End­lich ge­riet er auf eine nahe lie­gen­de List; er nahm die Fla­sche nach­läs­sig und gleich­mü­tig zur Hand, streck­te den Arm quer über den Tisch und be­gann in ers­ter Li­nie des Dok­tors eben ge­leer­tes Glas zu fül­len, wor­auf er bei al­len an­de­ren ein glei­ches tat, und als schließ­lich das sei­ni­ge an die Rei­he kam, sprach er so laut und le­ben­dig, dass es je­den­falls nur aus Unauf­merk­sam­keit und Zer­streut­heit ge­sche­hen sein konn­te, dass er sich eben­falls et­was ein­goss, was üb­ri­gens von kei­nem Men­schen be­merkt wur­de.

Pe­ter trank stark, ohne sich des­sen be­wusst zu sein. Ner­vös und er­bit­tert, wie er war, führ­te er alle Au­gen­bli­cke ganz ge­dan­ken­los den ho­hen, schlan­ken Kris­tall­kelch, in des­sen durch­sich­ti­gem, schäu­men­dem In­halt man die Bläs­chen in die Höhe schie­ßen sah, an die Lip­pen, äu­ßerst lang­sam und be­däch­tig schlür­fend, um mög­lichst lang den an­ge­neh­men Kit­zel der sich ver­flüch­ti­gen­den Koh­len­säu­re auf der Zun­ge zu spü­ren.

All­mäh­lich durch­ström­te eine woh­li­ge Wär­me sei­nen Kör­per, die vom Ma­gen an, von ih­rem Feu­er­herd, auf­stei­gend, sei­ne Brust er­füll­te, dann die Glie­der er­griff und sich durch alle Adern und über je­den Nerv ver­brei­te­te, wie eine lau­war­me, wohl­tä­ti­ge, Freu­de brin­gen­de Wel­le. Er fing an, sich be­hag­lich zu füh­len, Ver­stim­mung und Ver­druss schwan­den, und der Ent­schluss, am sel­ben Abend noch mit dem Bru­der zu spre­chen, ge­riet ins Schwan­ken, ohne dass er je­doch dar­an ge­dacht hät­te, den­sel­ben ganz auf­zu­ge­ben – nur ver­schie­ben woll­te er die Aus­füh­rung, um sich selbst nicht all­zu früh um sein Wohl­be­ha­gen zu brin­gen.

Zu­gu­ter­letzt er­hob sich Be­au­si­re, um einen Trink­spruch aus­zu­brin­gen.

Nach­dem er sich in die Run­de ver­neigt, be­gann er: »Mei­ne huld­vol­len Da­men! Ver­ehr­te Her­ren! Wir sind hier ver­eint, um ein freu­di­ges Er­eig­nis, das einen uns­rer Freun­de be­trof­fen, zu fei­ern. Man hat häu­fig be­haup­tet, Frau For­tu­na sei blind, ich mei­nes­teils glau­be ein­fach, dass sie bis­her ent­we­der schlech­ter Lau­ne oder sehr kurz­sich­tig ge­we­sen, welch letz­te­rem Man­gel sie durch An­kauf ei­nes vor­treff­li­chen Ma­ri­ne­gla­ses kürz­lich ab­zu­hel­fen ge­wusst hat, mit Hil­fe des­sen es ihr ge­lun­gen ist, im Ha­fen uns­rer Stadt den Sohn uns­res bra­ven Ka­me­ra­den Ro­land, des Ka­pi­täns der ›Per­le‹, aus­fin­dig zu ma­chen!«

Leb­haf­tes Bra­vo er­tön­te von al­len Sei­ten und lau­tes Hän­de­klat­schen drück­te den Bei­fall der Ge­sell­schaft aus, Va­ter Ro­land aber er­hob sich re­de­lus­tig, räus­per­te sich et­was, da er sei­ne Zun­ge ein we­nig schwer und sei­ne Keh­le gar zu gut ge­schmiert fühl­te, und be­gann dann stot­ternd: »Dan­ke, Ka­pi­tän! Dan­ke Ih­nen in mei­nem und mei­nes Soh­nes Na­men! Wer­de nicht ver­ges­sen, wie Sie sich bei die­sem An­lass be­tra­gen ha­ben! Ich trin­ke auf Ihr Wohl!«

Au­gen und Nase wur­den dem Wa­cke­ren trä­nen­feucht, und da ihm nichts Wei­te­res ein­fiel, setz­te er sich wie­der.

 

La­chend stand Hans auf, um an sei­ner Stel­le das Wort zu neh­men.

»An mir ist es,« sprach er, »den ver­ehr­ten (er sah Frau Rosé­mil­ly in die Au­gen), treff­li­chen Freun­den zu dan­ken, dass sie mir heu­te einen so spre­chen­den, er­grei­fen­den Be­weis ih­rer Zu­nei­gung ge­ge­ben. Nicht Wor­te sol­len mir ge­nü­gen, mei­ne Dank­bar­keit an den Tag zu le­gen; mor­gen wie heu­te, an je­dem Tag, in je­der Stun­de mei­nes Le­bens wer­de ich die­sel­be zu zei­gen be­strebt sein, denn die Freund­schaft, die uns ver­bin­det, ge­hört nicht zu den ver­gäng­li­chen.«

»So ist’s recht, mein Kind,« flüs­ter­te die Mut­ter tief be­wegt, Be­au­si­re aber rief: »Vor­wärts, Frau Rosé­mil­ly, ge­ben Sie uns einen Trink­spruch im Na­men des schö­nen Ge­schlechts!«

Ge­hor­sam er­hob die jun­ge Frau ih­ren Kelch und mit sanf­ter, ein we­nig trau­rig klin­gen­der Stim­me sag­te sie: »Ich – ich brin­ge mein Glas dem ge­seg­ne­ten An­den­ken des Herrn Mar­schall!«

Es ward plötz­lich still im Zim­mer; ein paar Se­kun­den lang be­wahr­te je­der eine ge­rühr­te, fei­er­li­che Mie­ne wie nach ei­nem Ge­bet, und Be­au­si­re, der nie ver­le­gen war, wenn es sich um eine Ar­tig­keit han­del­te, be­merk­te halb­laut: »So Fein­füh­li­ges fin­det doch nur eine Frau.«

Dann wand­te er sich an Va­ter Ro­land.

»Wer war denn ei­gent­lich die­ser Herr Mar­schall? Sie sind ihm wohl sehr nahe ge­stan­den?«

Der Wein hat­te den Al­ten äu­ßerst weich­mü­tig ge­stimmt, und halb schluch­zend, mit bre­chen­der Stim­me er­wi­der­te er: »Wie ein Bru­der! … Sie wis­sen ja … das war ein Mensch, wie man ihn nicht zwei­mal fin­det … Wir sind un­zer­trenn­lich ge­we­sen … je­den Abend hat er bei uns ge­ges­sen … und … und dann hat er uns ins Thea­ter ein­ge­la­den … mehr … mehr brauch’ ich nicht zu sa­gen. Ein wah­rer Freund … ein ech­ter … ein wah­rer … nicht, Lui­se?«

»Ja, er ist ein treu­er Freund ge­we­sen,« ver­setz­te sei­ne Frau ru­hig und ein­fach.

Pe­ter warf einen for­schen­den Blick auf Va­ter und Mut­ter; dann kam die Rede auf et­was Andres, und er fuhr fort, zu trin­ken.

Der wei­te­re Ver­lauf des Abends hin­ter­ließ ihm kaum eine Erin­ne­rung, man hat­te Kaf­fee ge­trun­ken, ziem­lich viel Li­kör dazu ge­nos­sen und ge­lacht und ge­scherzt, dann, ge­gen Mit­ter­nacht, leg­te er sich mit schwe­rem Kopf und ziem­lich wir­ren Ge­dan­ken zu Bett und schlief wie ein Mur­mel­tier bis zum an­de­ren Mor­gen um neun Uhr.

Viertes Kapitel.

Die­ser dem Cham­pa­gner und der Char­treu­se zu ver­dan­ken­de tie­fe Schlaf muss­te ihn of­fen­bar be­ru­higt und mil­de ge­stimmt ha­ben, denn er be­fand sich beim Er­wa­chen in ei­ner leid­lich wohl­wol­len­den See­len­ver­fas­sung. Wäh­rend des An­klei­dens ging er mit al­lem, was ihn ges­tern so er­regt, streng ins Ge­richt, prüf­te, er­wog, über­leg­te und such­te sich die tat­säch­li­chen und ge­hei­men Ur­sa­chen sei­ner Auf­re­gung, so­wohl die äu­ße­ren wie die in ihm selbst lie­gen­den, klar und deut­lich vor Au­gen zu stel­len.

Es war ja er­klär­lich, dass ein Schenk­mäd­chen, als sie hör­te, dass nur ein Sohn des Hau­ses Ro­land von ei­nem Un­be­kann­ten zum Er­ben ein­ge­setzt sei, einen nied­ri­gen, ei­ner Dir­ne na­tür­lich na­he­lie­gen­den Ge­dan­ken ge­habt; ist es denn nicht die Art sol­cher Ge­schöp­fe, je­den ma­kel­lo­sen Ruf ohne den Schat­ten ei­ner Ver­an­las­sung zu ver­däch­ti­gen? Hört man sie denn nicht, so oft sie den Mund auf­tun, alle die in den Schmutz zie­hen, ver­leum­den, de­ren ta­del­lo­se Rein­heit sie emp­fin­den? So oft in ih­rer Ge­gen­wart ein un­an­tast­ba­rer Name ge­nannt wird, sind sie ge­reizt, als ob dar­in eine per­sön­li­che Be­lei­di­gung für sie läge, und so­fort heißt es: »Aha, dei­ne an­stän­di­gen Frau­en, die ken­nen wir, eine net­te Sip­pe das! Ha­ben mehr Lieb­ha­ber als un­serei­ne, nur ver­ste­hen sie sich bes­ser aufs Heu­cheln. Das kennt man; das sind sau­be­re Da­men, die!«

An­deu­tun­gen die­ser Art über sei­ne arme Mut­ter, die so gut, so schlicht und so wür­dig vor ihm stand, hät­te er bei an­de­rer Ge­le­gen­heit über­haupt nicht ver­stan­den, weil sie ihm ganz un­mög­lich, ganz un­denk­bar er­schie­nen wä­ren. Al­lein im In­ners­ten sei­nes Her­zens gär­te der Neid und trüb­te ihm die See­le. Sein über­reiz­ter Ver­stand, der wi­der sein bes­se­res Wol­len im­mer auf der Lau­er lag, um et­was auf­zu­spü­ren, was dem Bru­der zum Nach­teil ge­rei­chen konn­te, hat­te viel­leicht die­ser Kell­ne­rin mit dem Bier­glas in der Hand ge­häs­si­ge Ab­sich­ten un­ter­scho­ben, die sie nie ge­habt. Die­ser grau­en­vol­le Ver­dacht konn­te mög­li­cher­wei­se nur eine Aus­ge­burt sei­ner eig­nen Fan­ta­sie sein, die­ser Ein­bil­dungs­kraft, die er nicht be­herrsch­te, die je­den Au­gen­blick mit ihm durch­ging, und kühn, ver­we­gen und aben­teu­er­lus­tig in das nicht Ende noch An­fang ha­ben­de Reich der Ge­dan­ken hin­aus­zog und de­ren manch­mal so schmäh­li­che und nied­ri­ge zu­rück­brach­te, dass sie selbst be­strebt war, ihre Beu­te wie ge­stoh­le­nes Gut in dem un­durch­dring­lichs­ten Win­kel der See­le zu ber­gen. Kein Zwei­fel, dass sein eig­nes Herz der Un­tie­fen und Ge­heim­nis­se ge­nug barg, und konn­te dies Herz nicht je­nen ab­scheu­li­chen Zwei­fel ge­bo­ren ha­ben, nur um den Bru­der des Er­bes zu be­rau­ben, das er ihm nei­de­te? Der Ver­däch­ti­ge war er selbst, und kein an­de­rer, und wie ein From­mer vor der Beich­te durch­forsch­te er Ge­dan­ken und Ge­wis­sen. Und wenn die­se Frau Rosé­mil­ly auch im gan­zen eine be­schränk­te Na­tur war, so hat­te sie doch weib­li­chen Takt, weib­li­ches Fein­ge­fühl und Spür­sinn. Ihr aber war die­ser Ge­dan­ke nicht ge­kom­men, sonst wür­de sie nicht mit so vol­ler Un­be­fan­gen­heit den Ma­nen Mar­schalls ihr Glas ge­weiht ha­ben. Wenn auch nur der lei­se Hauch ei­nes Ver­dach­tes ihre See­le ge­streift hät­te, wür­de sie das un­ter­las­sen ha­ben. Jetzt hat­te er Ge­wiss­heit – sei­ne un­will­kür­li­che Ver­stim­mung über den sei­nem Bru­der vom Him­mel fal­len­den Reich­tum und auch – das durf­te er sich sa­gen – sei­ne hei­ße, ehr­fürch­ti­ge Lie­be zur Mut­ter hat­ten sei­ne an und für sich eh­ren­wer­ten und pie­tät­vol­len Be­den­ken bis zur Über­trei­bung ge­reizt.

Nach­dem er zu die­sem Schluss ge­langt, war ihm zu Mut, wie wenn er eine gute Tat voll­bracht; ein Ver­lan­gen, sich der gan­zen Mensch­heit freund­lich und hilf­reich zu zei­gen, er­füll­te ihn, und er ge­dach­te da­mit bei sei­nem Va­ter den An­fang zu ma­chen, des­sen Lieb­ha­be­rei­en und tö­rich­te Be­haup­tun­gen, tri­via­le An­schau­un­gen und all­zu deut­lich zu Tage tre­ten­de Mit­tel­mä­ßig­keit ihn täg­lich und stünd­lich reiz­ten und ver­stimm­ten.

Heu­te kam er nicht zu spät zum Früh­stück und er­götz­te sei­ne gan­ze Fa­mi­lie durch Witz und fro­he Lau­ne.

»Pe­ter­chen, du weißt gar nicht, wie geist­reich und amüsant du sein kannst, wenn du nur magst,« sag­te die Mut­ter ganz ent­zückt.

Und er sprach, kam auf al­ler­lei lie­bens­wür­di­ge Ein­fäl­le und er­reg­te durch lau­ni­ge Cha­rak­te­ri­sie­rung der Freun­de größ­te Hei­ter­keit. Be­au­si­re diente sei­nem Wit­ze zur Ziel­schei­be und auch Frau Rosé­mil­ly kam nicht un­ver­sehrt da­von, doch nahm er sich wohl in acht, ir­gen­det­was wirk­lich Ver­let­zen­des zu äu­ßern. Wenn er dann den Bru­der an­sah, dach­te er im Stil­len: »So nimm sie doch in Schutz, Gim­pel, der du bist! Was hilft dir all dein Geld, ich wer­de dich doch über­all in Schat­ten stel­len, wenn ich nur Lust habe.«

Beim Kaf­fee frag­te er sei­nen Va­ter: »Brauchst du die ›Per­le‹ heu­te?«

»Nein, mein Jun­ge.«

»Kann ich sie ha­ben?«

»Ja, na­tür­lich, so lan­ge du willst.«

An der nächs­ten Stra­ßen­e­cke kauf­te er sich eine gute Zi­gar­re und fro­hen Muts ging er zum Ha­fen hin­un­ter.

Der Him­mel, den er sich prü­fend an­sah, war hell und klar, sein lich­tes Blau wie rein­ge­fegt vom See­wind.

Pa­pa­gris, der alte Ma­tro­se, hielt in der Bar­ke, die er, falls nicht mor­gens ge­fischt wur­de, im­mer um die­se Zeit be­reit hal­ten muss­te, sein Mit­tags­schläf­chen.

»Wir fah­ren, Al­ter!« rief Pe­ter, ging die ei­ser­nen Stu­fen am Quai hin­un­ter und sprang in das Fahr­zeug.

»Was für Wind?« frag­te er.

»Al­le­weil Ost­wind, Herr Pe­ter. Drau­ßen weht eine net­te Bri­se.«

»Gut, gut, Al­ter­chen! Vor­wärts!«

Sie zo­gen das Fock­se­gel auf, lich­te­ten den An­ker, und das frei­ge­wor­de­ne Schiff glitt lei­se auf dem ru­hi­gen Was­ser­spie­gel des Ha­fens dem Molo zu. Der schwa­che Land­wind, der von der Stadt kam, fiel auf den höchs­ten Teil des Se­gels und war fast nicht wahr­nehm­bar, so­dass die »Per­le«, wie von eig­nem Le­ben be­seelt, von ei­ner ge­heim­nis­voll in ihr ver­bor­gnen Kraft da­hin­ge­trie­ben er­schi­en, Pe­ter hat­te das Steu­er in die Hand ge­nom­men, und die Zi­gar­re zwi­schen den Zäh­nen, die Bei­ne lang aus­ge­streckt, die Au­gen vor dem blen­den­den Licht der Son­ne halb zu­ge­drückt, sah er blin­zelnd die ge­teer­ten Bal­ken des Wel­len­bre­chers an sich vor­über­zie­hen.

Als sie die äu­ßers­te Spit­ze des nörd­li­chen Ha­fen­dam­mes er­reicht hat­ten und auf off­ner See wa­ren, strich die fri­sche Bri­se wie eine et­was küh­le Lieb­ko­sung dem Dok­tor über Ge­sicht und Hän­de, drang ihm in die Brust, die sich mit ei­nem tie­fen Seuf­zer auf­tat, um sie ein­zuat­men, und schwell­te das brau­ne Se­gel so stark, dass die ›Per­le‹ sich ein we­nig neig­te und rasch da­hin­trieb.

Plötz­lich hiss­te der alte Pa­pa­gris den Klü­ver auf, des­sen wind­ge­füll­tes Drei­eck wie ein Flü­gel aus­sah, dann, mit zwei lan­gen Schrit­ten den Stern des Boo­tes er­rei­chend, mach­te er das an sei­nen Mast ge­bun­de­ne Bes­an­se­gel los.

Da­rauf leg­te sich das Boot zur Sei­te und schoss pfeil­schnell da­hin, dass das zu­rück­wei­chen­de Was­ser es plät­schernd und klat­schend um­spül­te.

Das Vor­der­teil durch­schnitt die See, wie eine in ra­sen­der Eile da­hin­stür­men­de Pflug­schar, und die auf­ge­rühr­ten Wo­gen stürz­ten weiß und schäu­mend ge­ra­de so zu­rück, wie es die schwe­ren brau­nen Schol­len der durch­furch­ten Erde tun.

Bei je­der der kur­z­en, rasch auf­ein­an­der fol­gen­den Wel­len er­litt die ›Per­le‹ vom Mast bis zum Steu­er, das in Pe­ters Hand zit­ter­te, einen Stoß, und als der Wind ein paar Se­kun­den lang an Stär­ke zu­nahm, leck­te das Was­ser so be­gehr­lich, über Bord, als ob es die Bar­ke zu ver­schlin­gen ge­dach­te. Ein Koh­len­schiff von Li­ver­pool lag, die Flut er­war­tend, vor An­ker, sie se­gel­ten um das­sel­be her­um, be­such­ten dann der Rei­he nach die auf der Ree­de lie­gen­den Fahr­zeu­ge und fuh­ren schließ­lich noch wei­ter hin­aus, um den An­blick der gan­zen Küs­te zu ge­nie­ßen.

Drei vol­le Stun­den va­ga­bun­dier­te Pe­ter ru­hig und zu­frie­den auf den schäu­men­den Wel­len um­her und lenk­te, wie ein füg­sa­mes, flin­kes Flü­gel­tier, dies Ge­schöpf aus Holz und Se­gel­tuch, das, sei­nem Fin­ger­druck ge­hor­chend, nach sei­ner Lau­ne hin und her flog.

Er träum­te da­bei, wie man nur auf dem Rücken ei­nes Pfer­des oder dem Deck ei­nes Boo­tes träumt, mal­te sich sei­ne Zu­kunft schön und be­frie­di­gend aus und sag­te sich, wie süß ein ver­nunft­ge­mä­ßes, geis­tig be­schäf­tig­tes Le­ben sei. Gleich am an­de­ren Mor­gen, so be­schloss er, woll­te er sei­nen Bru­der bit­ten, ihm auf drei Mo­na­te fünf­zehn­hun­dert Fran­ken zu lei­hen, und dann woll­te er sich auf der Stel­le in dem hüb­schen Zwi­schen­ge­schoss am Bou­le­vard Franz I. häus­lich ein­rich­ten.

»Da wäre der Ne­bel, Herr Pe­ter; jetzt heißt’s ma­chen, dass man heim kommt,« sag­te der alte Ma­tro­se plötz­lich.

Der Dok­tor schlug die Au­gen auf und ge­wahr­te im Nor­den einen tie­fen, grau­en Schat­ten, der, den Him­mel feucht um­hül­lend und das Meer ver­de­ckend, wie eine her­ab­ge­fal­le­ne Wol­ke auf sie zu­ge­lau­fen kam.

Das Boot ward ge­wen­det, und, den Wind im Rücken, glitt es, von dem rasch nä­her kom­men­den Ne­bel ver­folgt, dem Dam­me zu. Ein kal­ter Schau­er fuhr Pe­ter durch die Glie­der, als die Wol­ke sie doch ein­hol­te und in ihre graue, dich­te, un­greif­ba­re Mas­se hüll­te, und der dem Meer­ne­bel eig­ne scharf­bran­di­ge, feuch­te Ge­ruch ließ ihn den Mund fest schlie­ßen, da­mit er mög­lichst we­nig von der schwe­ren, nas­sen, ei­si­gen Luft ein­at­me. Als die Bar­ke an ih­rem ge­wohn­ten Plat­ze im Ha­fen an­leg­te, war schon die gan­ze Stadt in Dunst gehüllt, und ohne sich ei­gent­lich in Was­ser zu ver­wan­deln, durch­näss­te der Ne­bel mehr als je­der Re­gen und mach­te Pflas­ter und Stra­ßen schlüpf­rig.

 

Mit kal­ten Fü­ßen und frie­ren­den Hän­den ging Pe­ter ei­lig nach Haus und warf sich aufs Bett, um vor der Mahl­zeit noch ein Stünd­chen zu schlum­mern. Als er dann spä­ter ins Ess­zim­mer kam, sag­te sei­ne Mut­ter ge­ra­de zu Hans: »Du sollst se­hen, die Ga­le­rie wird sich rei­zend ma­chen. Wir stel­len Blu­men hin­ein; die Pfle­ge und Er­gän­zung ist mei­ne Sa­che. Wenn du dann Ge­sell­schaf­ten gibst, wird es sich feen­haft aus­neh­men.«

»Wo­von ist denn die Rede?« frag­te der Dok­tor.

»Von ei­ner ent­zücken­den Woh­nung, die ich so­eben für dei­nen Bru­der ge­mie­tet habe. Wirk­lich ein glück­li­cher Fund – ein Zwi­schen­ge­schoss, das nach zwei Stra­ßen geht. Es sind zwei Sa­lons dar­in, eine Ga­le­rie mit Glas­ver­schluss und ein runder, klei­ner Spei­se­saal, für einen Jung­ge­sel­len fast ein we­nig ko­kett.«

Pe­ter ward blass; der Zorn kämpf­te ihm das Herz zu­sam­men.

»In wel­cher Lage?« frag­te er.

»Am Bou­le­vard Franz I.«

Nun war die Sa­che über al­len Zwei­fel er­ha­ben, und völ­lig au­ßer sich, setz­te er sich an den Tisch und hät­te nur schrei­en mö­gen: »Das ist mir aber doch zu toll! Al­les, al­les scheint nur noch für ihn auf der Welt zu sein.«

»Und den­ke dir nur,« fuhr die Mut­ter in ih­rer Be­geis­te­rung arg­los fort, »wir krie­gen die gan­ze Woh­nung um zwei­tau­sen­dacht­hun­dert Fran­ken. Drei­tau­send wur­den ur­sprüng­lich ver­langt, aber weil ich einen Miet­kon­trakt auf je drei, sechs oder neun Jah­re ein­ging, wur­den zwei­hun­dert Fran­ken nach­ge­las­sen. Das Haus ist wie ge­macht für dei­nen Bru­der. Ein ele­gan­tes Büro und Ar­beits­zim­mer, und das Glück des Ad­vo­ka­ten ist fix und fer­tig. Das zieht den Kli­en­ten an, hält ihn fest, blen­det ihn, flö­ßt ihm Re­spekt ein und macht ihm be­greif­lich, dass ein Mann, der so rech­net, sich die gu­ten Ratschlä­ge teu­er be­zah­len las­sen muss.«

Sie schwieg einen Au­gen­blick, dann fuhr sie fort: »Wir müs­sen nun dar­an den­ken, et­was Ähn­li­ches für dich zu fin­den, Pe­ter; viel ein­fa­cher und be­schei­de­ner na­tür­lich, da du kein Ver­mö­gen hast, aber doch auch recht hübsch. Das wird dir eben­so zu stat­ten kom­men, glau­be mir.«

»Wie, Mut­ter? Ich wer­de durch Wis­sen und Kön­nen al­lein zum Zie­le ge­lan­gen,« ver­setz­te der Dok­tor im weg­wer­fends­ten Tone.

»Ja­wohl, na­tür­lich, aber eine hüb­sche Woh­nung macht doch viel aus,« sag­te die Mut­ter, auf ih­rer Lieb­lings­idee be­har­rend.

Im Ver­lau­fe der Mahl­zeit frag­te Pe­ter plötz­lich: »Auf wel­che Wei­se habt ihr denn die­sen Mar­schall ken­nen ge­lernt?«

Der Va­ter blick­te auf und such­te mit ei­ni­ger An­stren­gung in sei­nen Erin­ne­run­gen.

»Ja, war­te mal, wie war das ei­gent­lich – ich weiß nicht mehr ge­nau. Es ist gar lan­ge her. O ja, halt, jetzt hab’ ich’s! Dei­ne Mut­ter war’s, die sei­ne Be­kannt­schaft ge­macht hat, im La­den, nicht wahr, Lui­se? Er woll­te ir­gen­det­was be­stel­len und ist dann häu­fig wie­der­ge­kom­men. Mit der Kund­schaft fing die Freund­schaft an.«

Pe­ter, der eben Boh­nen aß und in den­sel­ben um­her­sto­cher­te, als ob er sie mit der Ga­bel ein­zeln auf­spie­ßen woll­te, frag­te wei­ter: »Um wel­che Zeit etwa hat sich denn die­se Be­kannt­schaft ge­macht?«

Ro­land gab sich aber­mals die Mühe, sein Ge­dächt­nis zu durch­for­schen, da er aber rein nichts dar­in vor­fand, rief er sei­ne Frau zu Hil­fe.

»In wel­chem Jah­re war’s denn, Lui­se, du kannst es ja nicht ver­ges­sen ha­ben, du, mit dei­nem gu­ten Ge­dächt­nis? Lass mal se­hen … es war … im Jah­re … fünf- oder sechs­und­fünf­zig, nicht? So be­sin­ne dich doch … du musst es ja bes­ser wis­sen als ich.«

Sie dach­te in der Tat eine Wei­le nach und er­wi­der­te dann, voll­kom­men ru­hig, mit si­che­rer Stim­me: »Im Jah­re achtund­fünf­zig ist’s ge­we­sen, Al­ter. Pe­ter war da­mals drei Jah­re. Ich kann es des­halb mit Si­cher­heit nach­rech­nen, weil es in dem­sel­ben Jah­re war, da der Jun­ge das Schar­lach­fie­ber hat­te und Mar­schall, den wir noch kaum kann­ten, uns so hilf­reich bei­sprang.«

»Na­tür­lich, so ist’s!« rief Ro­land. »Ja frei­lich, frei­lich! Rüh­rend ist der Mann ge­we­sen! Dei­ne Mut­ter konn­te sich vor Übe­r­an­stren­gung und Sor­ge nicht mehr auf den Fü­ßen hal­ten, ich war fest­ge­na­gelt im La­den, da rann­te er im­mer in die Apo­the­ke, um dei­ne Arz­nei­en zu ho­len. Ein Herz wie Gold, wahr­haf­tig! Und die Freu­de, als du wie­der ge­sund warst, wie er dich da küss­te! Von der Zeit ab wa­ren wir Freun­de, und zwar von Her­zen.«

Scho­nungs­los und un­auf­halt­sam wie eine Ku­gel, die al­les zer­fetzt und durch­lö­chert, dräng­te sich Pe­ter der Ge­dan­ke auf: »Wenn er mich zu­erst ge­kannt, sich für mich ge­op­fert, mich lieb ge­habt und ge­küsst hat, wenn ich also die ei­gent­li­che Ver­an­las­sung ge­we­sen bin, dass er den El­tern nä­her ge­tre­ten, wes­halb hat er dann sein gan­zes Ver­mö­gen mei­nem Bru­der hin­ter­las­sen, und mir kei­nen Hel­ler?«

Er stell­te kei­ne Fra­gen mehr und blieb ernst und fins­ter, mehr geis­tes­ab­we­send und in­ner­lich be­schäf­tigt als nach­denk­lich, eine neue, noch ge­stalt­lo­se Sor­ge, den Keim kom­men­den Übels in sich ber­gend.

Nach Tisch ging er so­fort wie­der aus und nahm sein Um­her­strei­fen in den Stra­ßen von Neu­em auf. Die Nacht war durch den Ne­bel, wel­cher Häu­ser, Plät­ze und Men­schen um­fing, un­durch­sich­tig düs­ter, die Luft schwer und wi­der­lich, wie wenn ein ver­pes­te­ter Hauch über der Erde läge. Über den Gas­flam­men sah man den schwärz­li­chen Dunst zit­tern, und zu­wei­len schi­en er die Ober­hand ge­win­nen zu wol­len und sie zu ver­lö­schen. Das Stra­ßen­pflas­ter war so schlüpf­rig wie bei Glatteis, und al­les, was sich an schlech­ten Gerü­chen in der Tie­fe der Häu­ser fand, schi­en sich her­vor­zu­wa­gen; aus Kel­lern, Gru­ben, Kloa­ken und arm­se­li­gen Kü­chen des ar­men Vol­kes dran­gen häss­li­che Düns­te, die sich zu dem ab­scheu­li­chen Ge­ruch des Ne­bels ge­sell­ten.

Den Rücken ge­beugt, die Hän­de in den Ta­schen, trat Pe­ter, der die Käl­te auf die Län­ge un­er­träg­lich fand, bei Marow­sko ein.

Der alte Apo­the­ker schlum­mer­te, wie im­mer, un­ter sei­ner ein­sa­men, tief her­ab­ge­schraub­ten Gas­flam­me, die das Wa­chen für ihn be­sor­gen muss­te. Als er Pe­ter er­kann­te, dem er zu­ge­tan war wie ein treu­er Hund, schüt­tel­te er die Schläf­rig­keit ab und hol­te eilends zwei Glä­ser und den ru­bin­ro­ten »Jo­han­nis­geist«.

»Nun,« frag­te der Dok­tor, »wie weit ha­ben Sie es mit dem Ge­bräu ge­bracht?«

Der Pole setz­te weit­läu­fig aus­ein­an­der, dass vier der be­such­tes­ten Cafés in der Stadt den Li­kör zu füh­ren ver­spro­chen hat­ten, und dass der »Leucht­turm« und der »Küs­ten-Te­le­graf« Re­kla­me für den­sel­ben ma­chen wer­den, für wel­chen Dienst er den Her­ren Re­dak­teu­ren phar­ma­zeu­ti­sche Pro­duk­te zur Ver­fü­gung ge­stellt habe.

Nach län­ge­rem Schwei­gen frag­te Marow­sko, ob Hans denn wirk­lich in den Be­sitz sei­nes Ver­mö­gens ge­tre­ten sei, und tat dann noch drei oder vier nicht sehr ein­ge­hen­de Fra­gen über die­sen Ge­gen­stand. Sei­ne scheue Ver­eh­rung und Hin­ge­bung für den Dok­tor em­pör­te sich ge­gen die Par­tei­lich­keit, und Pe­ter las in den ab­ge­wand­ten Bli­cken, ahn­te, ver­stand, hör­te aus dem un­sich­ren Ton der Stim­me al­les, was sich dem al­ten Man­ne wohl auf die Lip­pen drän­gen moch­te, was er aber, vor­sich­tig, schüch­tern und ängst­lich wie er war, nicht aus­sprach und nim­mer­mehr aus­ge­spro­chen hät­te.