Er sann unaufhörlich darüber nach, wie er es anfangen sollte, seinen Bruder zum Vertrauten seiner Sorgen zu machen und ihn zum Verzicht auf dieses schon in Besitz genommene Vermögen, das er bereits genoss, das ihn im Voraus berauschte, zu bewegen. Es musste Hans sauer werden, dem allem zu entsagen, aber geschehen musste es; er konnte sich nicht besinnen, nicht schwanken, der Ruf seiner Mutter stand ja auf dem Spiele.
Das Erscheinen einer riesigen Barbe brachte Roland wieder auf Fischereigeschichten und Beausire erzählte auf diesem Gebiete die unglaublichsten Erlebnisse von Gabunland, von St. Marie auf Madagascar, vor allem aber von den Küsten Japans und Chinas, wo die Fische genau so wunderliche Gesichter haben sollten wie die Menschen. Und er fing nun an, diese Fische zu schildern, mit den großen, goldgelben, runden Augen, den seltsamen, fächerförmigen Flossen, den halbmondartigen Schwänzen, und machte dabei all ihre Bewegungen so urkomisch nach, dass die Zuhörer bis zu Tränen lachten. Nur Peter schien den Beschreibungen des Erzählers keinen Glauben zu schenken und sagte halblaut: »Nicht mit Unrecht nennt man die Normannen die Gascogner des Nordens.«
Nach dem Fisch kam ein Vol-au-vent, darauf Geflügel, Salat, grüne Bohnen und eine Lerchenpastete. Frau Rosémillys Dienstmädchen half beim Auftragen und die Heiterkeit wuchs mit jedem Glas Wein. Als der erste Champagnerpfropfen knallte, ahmte Vater Roland das Geräusch sehr täuschend mit den Lippen nach und versicherte dann, dass ihm dieser Knall weit lieber sei als der einer Pistole.
Peter, der immer reizbarer und verstimmter wurde, bemerkte höhnisch: »Obwohl dir letzterer vielleicht weniger gefährlich wäre.«
Roland, der im Begriff war zu trinken, stellte das volle Glas wieder auf den Tisch und fragte: »Weshalb denn?«
Seit längerer Zeit schon klagte Vater Roland über sein Befinden, litt an Schwindel, Mattigkeit und fortdauerndem, unerklärlichem Unbehagen.
»Weil die Pistolenkugel,« erwiderte der Doktor, »möglicherweise an dir vorbeifliegt, der Wein aber ganz gewiss in deinen Leib kommt.«
»Und was dann?«
»Dann verbrennt er dir den Magen, greift das Nervensystem an, beschwert den Blutumlauf und arbeitet der Apoplexie in die Hände, welche die stets drohende Gefahr für alle Leute deines Schlages ist.«
Die angeheiterte Stimmung des alten Juweliers schien verflogen wie ein Rauchwölkchen, das der Wind verjagt; mit ängstlichen, starren Augen blickte er auf den Sohn und suchte ins klare zu kommen, ob derselbe im Scherz oder Ernst gesprochen.
»Ach! Diese verwünschten Ärzte!« rief Kapitän Beausire. »Da ist doch einer wie der andere, immer dasselbe Lied: essen Sie nicht, trinken Sie nicht, lieben Sie nicht und tanzen Sie keinen Walzer – das alles könnte dem hohen Gesundheitchen etwas zu leide tun. Nun, ich, mein Herr, ich habe alle diese vier Dinge in allen Weltteilen betrieben, so oft ich konnte und so stark ich konnte, und befinde mich vortrefflich dabei.«
Herb und scharf versetzte Peter: »Erstens sind Sie kräftiger als mein Vater, Herr Kapitän, und dann sprechen alle Lebemänner so wie Sie, bis zu dem Tag … an dem Sie nicht mehr da sind, um dem vorsichtigen Arzt sagen zu können: ›Doktor, Sie haben recht gehabt‹. Wenn ich mit ansehen muss, wie mein Vater gerade das tut, was am allerschädlichsten und gefährlichsten für ihn ist, so kann ich doch wohl nicht umhin, ihn zu warnen – ein schlechter Sohn, der das unterlässt.«
Nun mischte sich auch Frau Roland schweren Herzens in das Gespräch.
»Aber Peter, was fällt dir denn ein?« sagte sie, »dies einemal wird es ihm doch nicht schaden! Bedenke, was für ein Fest er, wir alle, heute feiern. Du verdirbst ihm ganz die Freude und bringst uns alle um unsern Frohsinn. Das ist recht hässlich, muss ich dir sagen.«
»Er kann es halten, wie er will; gewarnt ist er,« murrte Peter, die Achseln zuckend.
Aber Vater Roland trank nicht. Er sah sein Glas an, sein volles Glas, mit dem köstlichen, golden schimmernden Wein, dessen leichte, berauschende Seele mit den kleinen Blasen, die vom Grund des Kristallkelches aufstiegen, heftig und rasch, als ob sie es eilig hätten, sich zu verflüchtigen, dahinflog. Mit dem Misstrauen, womit ein Fuchs eine tote Henne beschnuppert, unter welcher er eine Falle wittert, sah Vater Roland den perlenden Wein an und fragte zögernd: »Du glaubst also, dass es mir sehr schaden würde?«
Peter empfand eine Art von Gewissensbiss und warf sich vor, dass er die anderen unter seiner Verstimmung leiden lasse.
»Nun, nun, dies einemal kannst du ihn jawohl trinken,« sagte er tröstend, »aber halte Maß und lass es dir nicht zur Gewohnheit werden.«
Da erhob der Vater sein Glas, konnte sich aber noch nicht entschließen, es an die Lippen zu führen. Er hielt es vor sich hin und sah es wehmütig, von Begierde und Furcht erfüllt, an, dann roch er an dem Wein, kostete ihn und trank in kleinen Schlucken, langsam, mit der Zunge prüfend, das Herz voll Angst, Schwachheit und Gelüste, und sobald er den letzten Tropfen verschluckt, von tiefer Wehmut erfüllt, dass der Genuss nun zu Ende.
Plötzlich begegnete Peter Frau Rosémillys Blick; klar, durchdringend und fest waren die blauen Augen auf ihn gerichtet, und er ahnte, fühlte, las in ihnen, was die kleine Frau mit ihrem rechtschaffenen, einfachen Sinn und Verstand dachte, und wie empört sie in ihrem Innern zu ihm sagte: »Du bist neidisch – du solltest dich schämen.«
Er senkte das Haupt und machte sich mit seinem Teller zu schaffen.
Appetit hatte er nicht; nichts wollte ihm schmecken; ein Verlangen, fortzugehen, quälte ihn, eine Sehnsucht, nicht mehr unter diesen Menschen zu sein, sie nicht mehr schwatzen, scherzen und lachen zu hören.
Indessen fing der perlende Champagner Papa Rolands Seelenfrieden wieder zu stören an, die ärztlichen Ratschläge seines Sohnes gerieten etwas in Vergessenheit, und er liebäugelte mit einer beinahe vollen Flasche, die neben seinem Teller stand. Aus Furcht vor einer neuen Verwarnung wagte er jedoch nicht sie zu berühren und besann sich im Stillen auf irgend ein Taschenspielerkunststück, um sich ihrer zu bemächtigen, ohne dass Peter es bekritteln könnte. Endlich geriet er auf eine nahe liegende List; er nahm die Flasche nachlässig und gleichmütig zur Hand, streckte den Arm quer über den Tisch und begann in erster Linie des Doktors eben geleertes Glas zu füllen, worauf er bei allen anderen ein gleiches tat, und als schließlich das seinige an die Reihe kam, sprach er so laut und lebendig, dass es jedenfalls nur aus Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit geschehen sein konnte, dass er sich ebenfalls etwas eingoss, was übrigens von keinem Menschen bemerkt wurde.
Peter trank stark, ohne sich dessen bewusst zu sein. Nervös und erbittert, wie er war, führte er alle Augenblicke ganz gedankenlos den hohen, schlanken Kristallkelch, in dessen durchsichtigem, schäumendem Inhalt man die Bläschen in die Höhe schießen sah, an die Lippen, äußerst langsam und bedächtig schlürfend, um möglichst lang den angenehmen Kitzel der sich verflüchtigenden Kohlensäure auf der Zunge zu spüren.
Allmählich durchströmte eine wohlige Wärme seinen Körper, die vom Magen an, von ihrem Feuerherd, aufsteigend, seine Brust erfüllte, dann die Glieder ergriff und sich durch alle Adern und über jeden Nerv verbreitete, wie eine lauwarme, wohltätige, Freude bringende Welle. Er fing an, sich behaglich zu fühlen, Verstimmung und Verdruss schwanden, und der Entschluss, am selben Abend noch mit dem Bruder zu sprechen, geriet ins Schwanken, ohne dass er jedoch daran gedacht hätte, denselben ganz aufzugeben – nur verschieben wollte er die Ausführung, um sich selbst nicht allzu früh um sein Wohlbehagen zu bringen.
Zuguterletzt erhob sich Beausire, um einen Trinkspruch auszubringen.
Nachdem er sich in die Runde verneigt, begann er: »Meine huldvollen Damen! Verehrte Herren! Wir sind hier vereint, um ein freudiges Ereignis, das einen unsrer Freunde betroffen, zu feiern. Man hat häufig behauptet, Frau Fortuna sei blind, ich meinesteils glaube einfach, dass sie bisher entweder schlechter Laune oder sehr kurzsichtig gewesen, welch letzterem Mangel sie durch Ankauf eines vortrefflichen Marineglases kürzlich abzuhelfen gewusst hat, mit Hilfe dessen es ihr gelungen ist, im Hafen unsrer Stadt den Sohn unsres braven Kameraden Roland, des Kapitäns der ›Perle‹, ausfindig zu machen!«
Lebhaftes Bravo ertönte von allen Seiten und lautes Händeklatschen drückte den Beifall der Gesellschaft aus, Vater Roland aber erhob sich redelustig, räusperte sich etwas, da er seine Zunge ein wenig schwer und seine Kehle gar zu gut geschmiert fühlte, und begann dann stotternd: »Danke, Kapitän! Danke Ihnen in meinem und meines Sohnes Namen! Werde nicht vergessen, wie Sie sich bei diesem Anlass betragen haben! Ich trinke auf Ihr Wohl!«
Augen und Nase wurden dem Wackeren tränenfeucht, und da ihm nichts Weiteres einfiel, setzte er sich wieder.
Lachend stand Hans auf, um an seiner Stelle das Wort zu nehmen.
»An mir ist es,« sprach er, »den verehrten (er sah Frau Rosémilly in die Augen), trefflichen Freunden zu danken, dass sie mir heute einen so sprechenden, ergreifenden Beweis ihrer Zuneigung gegeben. Nicht Worte sollen mir genügen, meine Dankbarkeit an den Tag zu legen; morgen wie heute, an jedem Tag, in jeder Stunde meines Lebens werde ich dieselbe zu zeigen bestrebt sein, denn die Freundschaft, die uns verbindet, gehört nicht zu den vergänglichen.«
»So ist’s recht, mein Kind,« flüsterte die Mutter tief bewegt, Beausire aber rief: »Vorwärts, Frau Rosémilly, geben Sie uns einen Trinkspruch im Namen des schönen Geschlechts!«
Gehorsam erhob die junge Frau ihren Kelch und mit sanfter, ein wenig traurig klingender Stimme sagte sie: »Ich – ich bringe mein Glas dem gesegneten Andenken des Herrn Marschall!«
Es ward plötzlich still im Zimmer; ein paar Sekunden lang bewahrte jeder eine gerührte, feierliche Miene wie nach einem Gebet, und Beausire, der nie verlegen war, wenn es sich um eine Artigkeit handelte, bemerkte halblaut: »So Feinfühliges findet doch nur eine Frau.«
Dann wandte er sich an Vater Roland.
»Wer war denn eigentlich dieser Herr Marschall? Sie sind ihm wohl sehr nahe gestanden?«
Der Wein hatte den Alten äußerst weichmütig gestimmt, und halb schluchzend, mit brechender Stimme erwiderte er: »Wie ein Bruder! … Sie wissen ja … das war ein Mensch, wie man ihn nicht zweimal findet … Wir sind unzertrennlich gewesen … jeden Abend hat er bei uns gegessen … und … und dann hat er uns ins Theater eingeladen … mehr … mehr brauch’ ich nicht zu sagen. Ein wahrer Freund … ein echter … ein wahrer … nicht, Luise?«
»Ja, er ist ein treuer Freund gewesen,« versetzte seine Frau ruhig und einfach.
Peter warf einen forschenden Blick auf Vater und Mutter; dann kam die Rede auf etwas Andres, und er fuhr fort, zu trinken.
Der weitere Verlauf des Abends hinterließ ihm kaum eine Erinnerung, man hatte Kaffee getrunken, ziemlich viel Likör dazu genossen und gelacht und gescherzt, dann, gegen Mitternacht, legte er sich mit schwerem Kopf und ziemlich wirren Gedanken zu Bett und schlief wie ein Murmeltier bis zum anderen Morgen um neun Uhr.
Dieser dem Champagner und der Chartreuse zu verdankende tiefe Schlaf musste ihn offenbar beruhigt und milde gestimmt haben, denn er befand sich beim Erwachen in einer leidlich wohlwollenden Seelenverfassung. Während des Ankleidens ging er mit allem, was ihn gestern so erregt, streng ins Gericht, prüfte, erwog, überlegte und suchte sich die tatsächlichen und geheimen Ursachen seiner Aufregung, sowohl die äußeren wie die in ihm selbst liegenden, klar und deutlich vor Augen zu stellen.
Es war ja erklärlich, dass ein Schenkmädchen, als sie hörte, dass nur ein Sohn des Hauses Roland von einem Unbekannten zum Erben eingesetzt sei, einen niedrigen, einer Dirne natürlich naheliegenden Gedanken gehabt; ist es denn nicht die Art solcher Geschöpfe, jeden makellosen Ruf ohne den Schatten einer Veranlassung zu verdächtigen? Hört man sie denn nicht, so oft sie den Mund auftun, alle die in den Schmutz ziehen, verleumden, deren tadellose Reinheit sie empfinden? So oft in ihrer Gegenwart ein unantastbarer Name genannt wird, sind sie gereizt, als ob darin eine persönliche Beleidigung für sie läge, und sofort heißt es: »Aha, deine anständigen Frauen, die kennen wir, eine nette Sippe das! Haben mehr Liebhaber als unsereine, nur verstehen sie sich besser aufs Heucheln. Das kennt man; das sind saubere Damen, die!«
Andeutungen dieser Art über seine arme Mutter, die so gut, so schlicht und so würdig vor ihm stand, hätte er bei anderer Gelegenheit überhaupt nicht verstanden, weil sie ihm ganz unmöglich, ganz undenkbar erschienen wären. Allein im Innersten seines Herzens gärte der Neid und trübte ihm die Seele. Sein überreizter Verstand, der wider sein besseres Wollen immer auf der Lauer lag, um etwas aufzuspüren, was dem Bruder zum Nachteil gereichen konnte, hatte vielleicht dieser Kellnerin mit dem Bierglas in der Hand gehässige Absichten unterschoben, die sie nie gehabt. Dieser grauenvolle Verdacht konnte möglicherweise nur eine Ausgeburt seiner eignen Fantasie sein, dieser Einbildungskraft, die er nicht beherrschte, die jeden Augenblick mit ihm durchging, und kühn, verwegen und abenteuerlustig in das nicht Ende noch Anfang habende Reich der Gedanken hinauszog und deren manchmal so schmähliche und niedrige zurückbrachte, dass sie selbst bestrebt war, ihre Beute wie gestohlenes Gut in dem undurchdringlichsten Winkel der Seele zu bergen. Kein Zweifel, dass sein eignes Herz der Untiefen und Geheimnisse genug barg, und konnte dies Herz nicht jenen abscheulichen Zweifel geboren haben, nur um den Bruder des Erbes zu berauben, das er ihm neidete? Der Verdächtige war er selbst, und kein anderer, und wie ein Frommer vor der Beichte durchforschte er Gedanken und Gewissen. Und wenn diese Frau Rosémilly auch im ganzen eine beschränkte Natur war, so hatte sie doch weiblichen Takt, weibliches Feingefühl und Spürsinn. Ihr aber war dieser Gedanke nicht gekommen, sonst würde sie nicht mit so voller Unbefangenheit den Manen Marschalls ihr Glas geweiht haben. Wenn auch nur der leise Hauch eines Verdachtes ihre Seele gestreift hätte, würde sie das unterlassen haben. Jetzt hatte er Gewissheit – seine unwillkürliche Verstimmung über den seinem Bruder vom Himmel fallenden Reichtum und auch – das durfte er sich sagen – seine heiße, ehrfürchtige Liebe zur Mutter hatten seine an und für sich ehrenwerten und pietätvollen Bedenken bis zur Übertreibung gereizt.
Nachdem er zu diesem Schluss gelangt, war ihm zu Mut, wie wenn er eine gute Tat vollbracht; ein Verlangen, sich der ganzen Menschheit freundlich und hilfreich zu zeigen, erfüllte ihn, und er gedachte damit bei seinem Vater den Anfang zu machen, dessen Liebhabereien und törichte Behauptungen, triviale Anschauungen und allzu deutlich zu Tage tretende Mittelmäßigkeit ihn täglich und stündlich reizten und verstimmten.
Heute kam er nicht zu spät zum Frühstück und ergötzte seine ganze Familie durch Witz und frohe Laune.
»Peterchen, du weißt gar nicht, wie geistreich und amüsant du sein kannst, wenn du nur magst,« sagte die Mutter ganz entzückt.
Und er sprach, kam auf allerlei liebenswürdige Einfälle und erregte durch launige Charakterisierung der Freunde größte Heiterkeit. Beausire diente seinem Witze zur Zielscheibe und auch Frau Rosémilly kam nicht unversehrt davon, doch nahm er sich wohl in acht, irgendetwas wirklich Verletzendes zu äußern. Wenn er dann den Bruder ansah, dachte er im Stillen: »So nimm sie doch in Schutz, Gimpel, der du bist! Was hilft dir all dein Geld, ich werde dich doch überall in Schatten stellen, wenn ich nur Lust habe.«
Beim Kaffee fragte er seinen Vater: »Brauchst du die ›Perle‹ heute?«
»Nein, mein Junge.«
»Kann ich sie haben?«
»Ja, natürlich, so lange du willst.«
An der nächsten Straßenecke kaufte er sich eine gute Zigarre und frohen Muts ging er zum Hafen hinunter.
Der Himmel, den er sich prüfend ansah, war hell und klar, sein lichtes Blau wie reingefegt vom Seewind.
Papagris, der alte Matrose, hielt in der Barke, die er, falls nicht morgens gefischt wurde, immer um diese Zeit bereit halten musste, sein Mittagsschläfchen.
»Wir fahren, Alter!« rief Peter, ging die eisernen Stufen am Quai hinunter und sprang in das Fahrzeug.
»Was für Wind?« fragte er.
»Alleweil Ostwind, Herr Peter. Draußen weht eine nette Brise.«
»Gut, gut, Alterchen! Vorwärts!«
Sie zogen das Focksegel auf, lichteten den Anker, und das freigewordene Schiff glitt leise auf dem ruhigen Wasserspiegel des Hafens dem Molo zu. Der schwache Landwind, der von der Stadt kam, fiel auf den höchsten Teil des Segels und war fast nicht wahrnehmbar, sodass die »Perle«, wie von eignem Leben beseelt, von einer geheimnisvoll in ihr verborgnen Kraft dahingetrieben erschien, Peter hatte das Steuer in die Hand genommen, und die Zigarre zwischen den Zähnen, die Beine lang ausgestreckt, die Augen vor dem blendenden Licht der Sonne halb zugedrückt, sah er blinzelnd die geteerten Balken des Wellenbrechers an sich vorüberziehen.
Als sie die äußerste Spitze des nördlichen Hafendammes erreicht hatten und auf offner See waren, strich die frische Brise wie eine etwas kühle Liebkosung dem Doktor über Gesicht und Hände, drang ihm in die Brust, die sich mit einem tiefen Seufzer auftat, um sie einzuatmen, und schwellte das braune Segel so stark, dass die ›Perle‹ sich ein wenig neigte und rasch dahintrieb.
Plötzlich hisste der alte Papagris den Klüver auf, dessen windgefülltes Dreieck wie ein Flügel aussah, dann, mit zwei langen Schritten den Stern des Bootes erreichend, machte er das an seinen Mast gebundene Besansegel los.
Darauf legte sich das Boot zur Seite und schoss pfeilschnell dahin, dass das zurückweichende Wasser es plätschernd und klatschend umspülte.
Das Vorderteil durchschnitt die See, wie eine in rasender Eile dahinstürmende Pflugschar, und die aufgerührten Wogen stürzten weiß und schäumend gerade so zurück, wie es die schweren braunen Schollen der durchfurchten Erde tun.
Bei jeder der kurzen, rasch aufeinander folgenden Wellen erlitt die ›Perle‹ vom Mast bis zum Steuer, das in Peters Hand zitterte, einen Stoß, und als der Wind ein paar Sekunden lang an Stärke zunahm, leckte das Wasser so begehrlich, über Bord, als ob es die Barke zu verschlingen gedachte. Ein Kohlenschiff von Liverpool lag, die Flut erwartend, vor Anker, sie segelten um dasselbe herum, besuchten dann der Reihe nach die auf der Reede liegenden Fahrzeuge und fuhren schließlich noch weiter hinaus, um den Anblick der ganzen Küste zu genießen.
Drei volle Stunden vagabundierte Peter ruhig und zufrieden auf den schäumenden Wellen umher und lenkte, wie ein fügsames, flinkes Flügeltier, dies Geschöpf aus Holz und Segeltuch, das, seinem Fingerdruck gehorchend, nach seiner Laune hin und her flog.
Er träumte dabei, wie man nur auf dem Rücken eines Pferdes oder dem Deck eines Bootes träumt, malte sich seine Zukunft schön und befriedigend aus und sagte sich, wie süß ein vernunftgemäßes, geistig beschäftigtes Leben sei. Gleich am anderen Morgen, so beschloss er, wollte er seinen Bruder bitten, ihm auf drei Monate fünfzehnhundert Franken zu leihen, und dann wollte er sich auf der Stelle in dem hübschen Zwischengeschoss am Boulevard Franz I. häuslich einrichten.
»Da wäre der Nebel, Herr Peter; jetzt heißt’s machen, dass man heim kommt,« sagte der alte Matrose plötzlich.
Der Doktor schlug die Augen auf und gewahrte im Norden einen tiefen, grauen Schatten, der, den Himmel feucht umhüllend und das Meer verdeckend, wie eine herabgefallene Wolke auf sie zugelaufen kam.
Das Boot ward gewendet, und, den Wind im Rücken, glitt es, von dem rasch näher kommenden Nebel verfolgt, dem Damme zu. Ein kalter Schauer fuhr Peter durch die Glieder, als die Wolke sie doch einholte und in ihre graue, dichte, ungreifbare Masse hüllte, und der dem Meernebel eigne scharfbrandige, feuchte Geruch ließ ihn den Mund fest schließen, damit er möglichst wenig von der schweren, nassen, eisigen Luft einatme. Als die Barke an ihrem gewohnten Platze im Hafen anlegte, war schon die ganze Stadt in Dunst gehüllt, und ohne sich eigentlich in Wasser zu verwandeln, durchnässte der Nebel mehr als jeder Regen und machte Pflaster und Straßen schlüpfrig.
Mit kalten Füßen und frierenden Händen ging Peter eilig nach Haus und warf sich aufs Bett, um vor der Mahlzeit noch ein Stündchen zu schlummern. Als er dann später ins Esszimmer kam, sagte seine Mutter gerade zu Hans: »Du sollst sehen, die Galerie wird sich reizend machen. Wir stellen Blumen hinein; die Pflege und Ergänzung ist meine Sache. Wenn du dann Gesellschaften gibst, wird es sich feenhaft ausnehmen.«
»Wovon ist denn die Rede?« fragte der Doktor.
»Von einer entzückenden Wohnung, die ich soeben für deinen Bruder gemietet habe. Wirklich ein glücklicher Fund – ein Zwischengeschoss, das nach zwei Straßen geht. Es sind zwei Salons darin, eine Galerie mit Glasverschluss und ein runder, kleiner Speisesaal, für einen Junggesellen fast ein wenig kokett.«
Peter ward blass; der Zorn kämpfte ihm das Herz zusammen.
»In welcher Lage?« fragte er.
»Am Boulevard Franz I.«
Nun war die Sache über allen Zweifel erhaben, und völlig außer sich, setzte er sich an den Tisch und hätte nur schreien mögen: »Das ist mir aber doch zu toll! Alles, alles scheint nur noch für ihn auf der Welt zu sein.«
»Und denke dir nur,« fuhr die Mutter in ihrer Begeisterung arglos fort, »wir kriegen die ganze Wohnung um zweitausendachthundert Franken. Dreitausend wurden ursprünglich verlangt, aber weil ich einen Mietkontrakt auf je drei, sechs oder neun Jahre einging, wurden zweihundert Franken nachgelassen. Das Haus ist wie gemacht für deinen Bruder. Ein elegantes Büro und Arbeitszimmer, und das Glück des Advokaten ist fix und fertig. Das zieht den Klienten an, hält ihn fest, blendet ihn, flößt ihm Respekt ein und macht ihm begreiflich, dass ein Mann, der so rechnet, sich die guten Ratschläge teuer bezahlen lassen muss.«
Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Wir müssen nun daran denken, etwas Ähnliches für dich zu finden, Peter; viel einfacher und bescheidener natürlich, da du kein Vermögen hast, aber doch auch recht hübsch. Das wird dir ebenso zu statten kommen, glaube mir.«
»Wie, Mutter? Ich werde durch Wissen und Können allein zum Ziele gelangen,« versetzte der Doktor im wegwerfendsten Tone.
»Jawohl, natürlich, aber eine hübsche Wohnung macht doch viel aus,« sagte die Mutter, auf ihrer Lieblingsidee beharrend.
Im Verlaufe der Mahlzeit fragte Peter plötzlich: »Auf welche Weise habt ihr denn diesen Marschall kennen gelernt?«
Der Vater blickte auf und suchte mit einiger Anstrengung in seinen Erinnerungen.
»Ja, warte mal, wie war das eigentlich – ich weiß nicht mehr genau. Es ist gar lange her. O ja, halt, jetzt hab’ ich’s! Deine Mutter war’s, die seine Bekanntschaft gemacht hat, im Laden, nicht wahr, Luise? Er wollte irgendetwas bestellen und ist dann häufig wiedergekommen. Mit der Kundschaft fing die Freundschaft an.«
Peter, der eben Bohnen aß und in denselben umherstocherte, als ob er sie mit der Gabel einzeln aufspießen wollte, fragte weiter: »Um welche Zeit etwa hat sich denn diese Bekanntschaft gemacht?«
Roland gab sich abermals die Mühe, sein Gedächtnis zu durchforschen, da er aber rein nichts darin vorfand, rief er seine Frau zu Hilfe.
»In welchem Jahre war’s denn, Luise, du kannst es ja nicht vergessen haben, du, mit deinem guten Gedächtnis? Lass mal sehen … es war … im Jahre … fünf- oder sechsundfünfzig, nicht? So besinne dich doch … du musst es ja besser wissen als ich.«
Sie dachte in der Tat eine Weile nach und erwiderte dann, vollkommen ruhig, mit sicherer Stimme: »Im Jahre achtundfünfzig ist’s gewesen, Alter. Peter war damals drei Jahre. Ich kann es deshalb mit Sicherheit nachrechnen, weil es in demselben Jahre war, da der Junge das Scharlachfieber hatte und Marschall, den wir noch kaum kannten, uns so hilfreich beisprang.«
»Natürlich, so ist’s!« rief Roland. »Ja freilich, freilich! Rührend ist der Mann gewesen! Deine Mutter konnte sich vor Überanstrengung und Sorge nicht mehr auf den Füßen halten, ich war festgenagelt im Laden, da rannte er immer in die Apotheke, um deine Arzneien zu holen. Ein Herz wie Gold, wahrhaftig! Und die Freude, als du wieder gesund warst, wie er dich da küsste! Von der Zeit ab waren wir Freunde, und zwar von Herzen.«
Schonungslos und unaufhaltsam wie eine Kugel, die alles zerfetzt und durchlöchert, drängte sich Peter der Gedanke auf: »Wenn er mich zuerst gekannt, sich für mich geopfert, mich lieb gehabt und geküsst hat, wenn ich also die eigentliche Veranlassung gewesen bin, dass er den Eltern näher getreten, weshalb hat er dann sein ganzes Vermögen meinem Bruder hinterlassen, und mir keinen Heller?«
Er stellte keine Fragen mehr und blieb ernst und finster, mehr geistesabwesend und innerlich beschäftigt als nachdenklich, eine neue, noch gestaltlose Sorge, den Keim kommenden Übels in sich bergend.
Nach Tisch ging er sofort wieder aus und nahm sein Umherstreifen in den Straßen von Neuem auf. Die Nacht war durch den Nebel, welcher Häuser, Plätze und Menschen umfing, undurchsichtig düster, die Luft schwer und widerlich, wie wenn ein verpesteter Hauch über der Erde läge. Über den Gasflammen sah man den schwärzlichen Dunst zittern, und zuweilen schien er die Oberhand gewinnen zu wollen und sie zu verlöschen. Das Straßenpflaster war so schlüpfrig wie bei Glatteis, und alles, was sich an schlechten Gerüchen in der Tiefe der Häuser fand, schien sich hervorzuwagen; aus Kellern, Gruben, Kloaken und armseligen Küchen des armen Volkes drangen hässliche Dünste, die sich zu dem abscheulichen Geruch des Nebels gesellten.
Den Rücken gebeugt, die Hände in den Taschen, trat Peter, der die Kälte auf die Länge unerträglich fand, bei Marowsko ein.
Der alte Apotheker schlummerte, wie immer, unter seiner einsamen, tief herabgeschraubten Gasflamme, die das Wachen für ihn besorgen musste. Als er Peter erkannte, dem er zugetan war wie ein treuer Hund, schüttelte er die Schläfrigkeit ab und holte eilends zwei Gläser und den rubinroten »Johannisgeist«.
»Nun,« fragte der Doktor, »wie weit haben Sie es mit dem Gebräu gebracht?«
Der Pole setzte weitläufig auseinander, dass vier der besuchtesten Cafés in der Stadt den Likör zu führen versprochen hatten, und dass der »Leuchtturm« und der »Küsten-Telegraf« Reklame für denselben machen werden, für welchen Dienst er den Herren Redakteuren pharmazeutische Produkte zur Verfügung gestellt habe.
Nach längerem Schweigen fragte Marowsko, ob Hans denn wirklich in den Besitz seines Vermögens getreten sei, und tat dann noch drei oder vier nicht sehr eingehende Fragen über diesen Gegenstand. Seine scheue Verehrung und Hingebung für den Doktor empörte sich gegen die Parteilichkeit, und Peter las in den abgewandten Blicken, ahnte, verstand, hörte aus dem unsichren Ton der Stimme alles, was sich dem alten Manne wohl auf die Lippen drängen mochte, was er aber, vorsichtig, schüchtern und ängstlich wie er war, nicht aussprach und nimmermehr ausgesprochen hätte.