»Wir werden auf ihn warten, liebe Freundin!«
Als sie zurückgingen, bemerkten sie eine Bäuerin, die auf das Haus zukam und in den Händen zwei blanke Blecheimer trug, in denen sich hin und wieder ein Streifen des grellen Sonnenlichts mit plötzlichem Reflex spiegelte.
Sie hinkte auf dem rechten Fusse und sah in ihrem dunkelbraunen, verwaschenen und von der Sonne fuchsig gewordenen Brusttuch wie eine Magd aus, elend und schmutzig.
»Da ist die Mutter«, sagte das Kind.
Näherkommend sah diese die Fremden unfreundlich und misstrauisch an, ging aber ruhig ins Haus, als hätte sie sie gar nicht bemerkt.
Sie schien alt, das Gesicht runzelig, gelb und rau; eine Art Holzgesicht, wie es die Bäuerinnen oft haben.
»Sagt ’mal, gute Frau«, rief Herr d’Agreval sie zurück, »würden Sie uns nicht zwei Glas Milch verkaufen?«
Sie erschien wieder unter der Tür, nachdem sie die Eimer fortgestellt hatte und sagte mürrisch:
»Ich verkaufe keine Milch.«
»Aber wir sind sehr durstig und die alte Dame hier ist sehr erschöpft. Kann man denn nicht für Geld und gute Worte etwas zu trinken haben?«
Die Bäuerin sah sie misstrauisch und verdrossen an.
»Da Sie nun einmal da sind«, entschied sie endlich, »muss ich Ihnen wohl was geben«, und sie verschwand im Hause.
Hierauf kam zunächst das Kind mit zwei Stühlen heraus, die es unter einen Apfelbaum setzte; ihm folgte die Mutter mit zwei Gläsern schäumender Milch, welche sie den Fremden reichte. Sie blieb bei ihnen stehen, als wollte sie sie überwachen und ihre Absichten ergründen.
»Ihr kommt von Fecamp?« fragte sie.
»Ja, wir sind für den Sommer in Fecamp«, antwortete d’Agreval. Dann fuhr er nach einer Pause fort: »Könntet Ihr uns nicht alle Wochen einige Hühner verkaufen?«
Die Bäuerin zögerte, dann sagte sie endlich:
»Nun, ja, wenn es sein muss; wollt Ihr junge?«
»Gewiss, junge.«
»Wie viel zahlt Ihr jetzt auf dem Markte dafür?«
d’Agreval wusste das nicht und wandte sich an seine Begleiterin:
»Was kostet jetzt das Geflügel, ich meine natürlich junges Geflügel?«
»Vier Francs und vier Francs fünfzig«, stammelte sie unter Tränen.
Die Bäuerin warf ihr einen erstaunten Blick zu und fragte dann:
»Ist die Dame krank, weil sie weint?«
Er wusste erst nicht, was er antworten sollte und stotterte dann:
»Nein … nein … aber sie … sie hat unterwegs ihre Uhr verloren, eine wunderhübsche Uhr, und das macht sie ganz traurig. Wenn jemand sie finden sollte, so könnt Ihr uns Bescheid schicken.«
Mutter Benedikt schwieg, sie fand alles so sonderbar.
»Da ist mein Mann!« rief sie plötzlich.
Sie allein hatte ihn kommen sehen, weil sie dem Schlagbaum gegenüber stand.
d’Agreval fuhr auf und Madame de Cadour wäre, als sie sich umwandte, vor Schreck beinahe vom Stuhl gesunken.
*
Ein Mann näherte sich, noch zehn Schritt entfernt, der eine Kuh an dem um beide Hörner gewundenen Stricke keuchend hinter sich her zog.
»Teufel, so ein Schindluder«, rief er, ohne die Fremden zu bemerken, und ging vorüber nach dem Stall zu, in dem er verschwand.
Die Tränen der alten Dame waren plötzlich versiegt und sie blieb starr, unfähig zu denken oder zu sprechen. – Ihr Sohn! das da war also ihr Sohn!
»Das ist sicher Herr Benedikt«, sagte d’Agreval mit zitternder Stimme, von der gleichen Idee beseelt.
»Woher wisst Ihr denn seinen Namen?« fragte die Bauersfrau misstrauisch.
»Der Schmied an der Ecke der großen Strasse hat ihn uns gesagt«, antwortete er.
Dann schwiegen alle, die Augen auf die Stalltüre geheftet. Dieselbe sah aus wie ein schwarzes Loch in der weißen Mauer des Gebäudes. Man sah von dem Innern nichts; man hörte nur verschiedenen Lärm, Bewegungen, Schritte, die auf dem strohbedeckten Boden widerhallten.
Er erschien wieder am Eingang, wischte sich die Stirn mit der Hand und ging langsam auf das Haus zu, sich bei jedem seiner großen Schritte in den Hüften wiegend.
Ohne die Fremden zu bemerken rief er im Vorbeigehen seiner Frau zu:
»Hol mir einen Krug Apfelwein, ich bin durstig.« Dann trat er ins Haus. Die Bäuerin lief zum Keller und ließ die Pariser allein.
»Gehen wir, Henry, gehen wir!« rief Madame de Cadour ganz entsetzt.
Sie richtete sich an d’Agreval’s Arme auf, und sie sorgfältig stützend, denn sie drohte jeden Augenblick umzufallen, führte dieser sie fort, nachdem er zuvor fünf Francs auf einen der Stühle gelegt hatte.
Als sie zum Tore hinaus waren, fing sie ganz ausser sich vor Schmerz wieder bitterlich zu weinen an und jammerte:
»Was haben Sie aus ihm gemacht, o mein Gott!« Er war sehr bleich geworden und antwortete abwehrend:
»Ich habe getan was ich nur konnte. Seine Farm ist zwanzigtausend Francs wert. Das ist eine Mitgift, wie sie nicht alle Bürgerskinder haben.«
Sie gingen ganz langsam nach Hause, ohne ein Wort weiter darüber zu verlieren. Die Tränen rannen ihr unausgesetzt über die Wangen.
So kamen sie endlich nach Fecamp, wo Herr de Cadour bereits mit dem Diner auf sie wartete. Als er sie sah, rief er laut lachend:
»Ausgezeichnet, meine Frau hat ihren Sonnenstich weg, das macht mir Spaß. Ich glaube seit einiger Zeit wirklich, dass sie den Kopf verliert.«
Beide vermochten nichts zu sagen, und als der Gatte fragte:
»Habt Ihr denn wenigstens einen hübschen Spaziergang gemacht?« da antwortete d’Agreval schnell:
»Einen sehr hübschen, lieber Freund, wirklich einen ausserordentlich hübschen.«
*
Das Meer peitschte die Küste mit seinem kurzen gleichmässigen Wellenschlage. Kleine weiße Wölkchen zogen hastig am blauem Himmel vorüber, von dem scharfblasenden Winde wie Sturmvögel getrieben; das Dorf in dem Talgrunde, der sich nach der See hinzog, briet in der Sonnenglut.
Gleich am Eingange desselben, unmittelbar an der Strasse lag, etwas entfernt vor den andren, das Haus der Martin-Levesque. Es war dies eine kleine Fischerwohnung mit Lehmwänden und einem Strohdach, das ein Büschel blauer Schwertlilien zierte. Vor der Tür befand sich ein Gärtchen, nicht viel grösser wie ein Taschentuch, in welchem Zwiebeln, einige Kohlköpfe, Petersilie und Kerbel wuchsen, und welches längs der Strasse von einer Hecke umzäunt wurde.
Der Mann weilt auf dem Fischfang, die Frau sitzt vor der Tür und flickt die Maschen eines großen braunen Netzes, welches an der Mauer wie ein riesiges Spinnengewebe aufgehängt ist. Ein Mädchen von vierzehn Jahren sitzt am Eingang des Gartens hintenüber gelehnt auf einem Rohrstuhl und flickt Leinenzeug, zerrissen und verschlissen, wie man es eben bei armen Leuten findet. Ein anderes, etwa um ein Jahr jüngeres Mädchen wiegt auf seinen Armen ein ganz kleines Kind, dem noch Sprache und Bewegung fehlen, während zwei Würmer von drei und zwei Jahren auf dem Boden kauernd mit ihren schmutzigen Händchen im Sande wühlen und sich zum Zeitvertreib mit kleinen Erdklümpchen bewerfen.
Niemand spricht; nur das Jüngste spottet der Versuche, es einzuschläfern und weint fortgesetzt mit seinem dünnen, mageren Stimmchen. Auf dem Fensterbrett schlummert eine Katze; blühende Levkoyen bilden am Fusse der Mauer eine weiße Kette, über der zahllose Bienen schwärmen.
Plötzlich ruft das Mädchen am Eingange:
»Mama!«
»Was hast Du?« fragt die Mutter.
»Er kommt wieder her.«
Sie sind nämlich schon den ganzen Morgen beunruhigt, weil ein Mann um das Haus herumstreicht: ein alter, ärmlich aussehender Mann. Sie sahen ihn zuerst, als sie den Vater zu seinem Boote begleiteten; er sass am Grabenrande der Tür gegenüber. Als sie vom Strande zurückkehrten, fanden sie ihn noch dort, unverwandt das Haus anstarrend.
Er schien sehr krank und elend zu sein. Seit einer Stunde hatte er sich nicht von der Stelle gerührt, aber als er bemerkte, dass sie ihn wie einen Übeltäter beobachteten, war er aufgestanden und schleppenden Schrittes weiter gegangen.
Aber bald sahen sie ihn mit seinem langsamen, müden Schritt wiederkommen; diesmal jedoch setzte er sich etwas weiter fort, wie um ihnen aufzulauern.
Mutter und Kinder ängstigten sich, namentlich erstere, weil sie, an sich schon furchtsamer Natur, ausserdem noch wusste, dass Levesque vor Abend nicht vom Fischfange heimkehren würde.
Levesque war der Name ihres Mannes, sie selbst hiess eigentlich Martin und so nannte man sie im ganzen Dorfe die Martin-Levesque. Sie war nämlich in erster Ehe mit einem Matrosen Namens Martin verheiratet gewesen, der alle Sommer nach Neufundland auf den Kabeljaufang hinausfuhr.
Nach zweijähriger Ehe schenkte sie ihm ein kleines Mädchen und sie trug ein zweites bereits ein halbes Jahr unter dem Herzen, als die Barke »Die zwei Schwestern«, auf der ihr Mann diente, ein stolzer Dreimaster aus Dieppe, von ihrer Fahrt nicht mehr zurückkehrte.
Man hörte nie wieder etwas von ihr; keiner von den Seeleuten, die auf ihr gedient hatten, kam zurück; man hielt das Schiff mit Mann und Maus für verschollen.
Die Martin wartete zehn Jahre auf ihren Mann, indem sie schlecht und recht ihre beiden Kinder und sich selbst durchzubringen suchte. Dann hielt der Fischer Levesque, Witwer mit einem Knaben, um ihre Hand an, weil sie allgemein für eine fleissige und brave Frau galt. Sie heirateten und hatten in den ersten drei Jahren noch zwei Kinder.
Sie lebten arbeitsam und fleissig, aber kümmerlich. Das Brot war teuer und Fleisch kannte man in der kleinen Fischerhütte kaum dem Namen nach. Im Winter, zurzeit der Stürme, blieb nichts andres übrig, als beim Bäcker Schulden zu machen. Die Kinder gediehen indessen vortrefflich.
»Die Martin-Levesque sind brave Leute«, hiess es allgemein. »Die Martin ist eine fleissige Frau und Levesque sucht als Fischer seinesgleichen.«
*
»Man sollte sagen, dass er uns kennt,« meinte jetzt das Mädchen, welches am Tore sass. »Vielleicht ist es irgend ein Armer aus Epreville oder Auzebosce.«
Aber die Mutter wollte das nicht zugeben. Nein, nein, das war keiner aus der Gegend hier, ganz gewiss nicht.
Als er nun immer noch nicht fortging und unausgesetzt auf das Haus der Martin-Levesque geheftet hielt, wurde die Martin endlich ungeduldig, und da die Furcht ihr Mut verlieh, so griff sie zu einer Hacke und begab sich vor das Tor.
»Was macht Ihr da?« schrie sie dem Landstreicher zu.
»Ich schöpfe frische Luft. Habt Ihr was dagegen?« antwortete er mit rauer Kehle.
»Was spioniert Ihr denn sozusagen immer ums Haus herum?« begann sie wieder.
»Ich führe nichts Böses im Schilde« sagte der Mann. »Man darf sich doch an der Strasse hinsetzen?«
Sie wusste hierauf nichts zu sagen und ging ins Haus zurück.
Die Zeit schritt langsam voran. Gegen Mittag verschwand der Mann, kam aber um fünf Uhr wieder. Am Abend sah man ihn nicht mehr.
Levesque kam erst bei Einbruch der Nacht zurück.
»Irgend ein Landstreicher oder gar was Schlimmeres!« entschied er, als man ihm die Sache mitteilte. Dann begab er sich sorglos zur Ruhe, während seine Gefährtin immer an den Landstreicher denken musste, der sie mit so eigentümlichen Augen angesehen hatte.
Am nächsten Tage war es ziemlich stürmisch, und da der Fischer sah, dass er heute nicht ausfahren konnte, so half er seiner Frau die Netze flicken.
Gegen neun Uhr kam das älteste Mädchen, eine Martin, die man um Brot geschickt hatte, zurückgelaufen und schrie schon von Weitem mit ängstlicher Miene:
»Mutter, da kommt er wieder.«
»Geh doch ’mal heraus, Levesque«, sagte sie, bleich vor Schrecken, »und sag ihm, er möge nicht hier so herumlauern, weil mich … das … noch ganz verrückt macht.«
Levesque, ein starker Mann mit ziegelroter Gesichtsfarbe und starkem roten Bart, scharfblickenden blauen Augen, den starken Hals zum Schutze gegen Wind und Wetter stets mit einem Wolltuch umhüllt, ging ruhig hinaus auf den Fremden zu.
Bald waren sie in lebhaftem Gespräch miteinander, während Mutter und Kinder neugierig und ängstlich von Weitem zusahen.
Mit einem Male stand der Fremde auf und schritt mit Levesque auf das Haus zu.
Erschreckt wich die Martin zurück.
»Gib ihm ein Stück Brot und ein Glas Apfelwein; er hat seit vorgestern nichts gegessen.«
Sie gingen ins Haus, gefolgt von Mutter und Kindern; der Landstreicher setzte sich und ass, das Auge unter all den neugierigen Blicken senkend.
Die Mutter stand vor ihm und sah ihn genau an; die beiden großen Mädchen, die Martins, lehnten mit dem Rücken an der Türe. Die eine trug das Kleinste auf dem Arm, und ihre neugierigen Augen folgten unaufhörlich allen Bewegungen des Fremden, während die zwei Kleineren, am Herde hockend, aufgehört hatten mit der Kohle zu spielen, als wollten auch sie den Unbekannten genau betrachten.
»Ihr kommt wohl weit her?« fragte Levesque, der sich auch einen Stuhl genommen hatte.
»Ich komme von Cette.«
»Zu Fuss, wie geht das zu?«
»Ja, zu Fuss. Wenn man kein Geld hat, kann man nicht fahren.«
»Wo geht denn die Reise hin?«
»Hierher.«
»Ihr kennt hier Jemanden?«
»Ich dächte wohl!«
Das Gespräch stockte. Er ass langsam, obschon er sichtlich hungrig war, und nahm nach jedem Bissen einen Schluck Apfelwein. Sein Gesicht war alt, runzelig, voller Falten, und er schien viel durchgemacht zu haben.
»Wie heisst Ihr?« frag ihn Levesque plötzlich.
»Ich heisse Martin«, sagte er, ohne den Kopf zu heben. Ein eigentümlicher Schauder überlief die Mutter. Sie trat einen Schritt vor, als wollte sie sich den Landstreicher aus nächster Nähe ansehen und stand ihm nun, die Arme hängen lassend, mit offenem Munde gegenüber. Niemand sprach ein Wort.
»Seid Ihr von hier?« fragte endlich Levesque.
»Jawohl, ich bin von hier.«
Und als er endlich den Kopf hob, begegnete sein Blick dem der Frau und beide sahen sich lange an, als wollten sie sich ganz ineinander versenken.
»Du bist’s, mein Mann«, sagte sie dann plötzlich mit ganz veränderter, tiefer und zitternder Stimme.
»Ja, ich bin’s«, entgegnete er zögernd.
Er rührte sich nicht und fuhr fort an dem Brote zu essen.
»Du bist’s wirklich, der Martin?« stammelte Levesque, mehr überrascht als ergriffen.
»Ja, ich bin’s«, sagte nochmals ruhig der andere.
»Aber woher kommst Du doch nur?« fragte nun der zweite Gatte.
»Von der afrikanischen Küste«, erzählte Jener. »Wir waren auf ein Riff geraten und nur drei von den Unseren konnten sich retten: Picard, Vatinel und ich. Die Wilden nahmen uns gefangen und hielten uns zwölf Jahre fest. Picard und Vatinel starben. Ein englischer Reisender hat mich losgekauft und nach Cette zurückgebracht. Da bin ich nun.«
Die Martin lag mit dem Gesicht auf dem Tisch und schluchzte laut.
»Was sollen wir nun anfangen?« rief Levesque.
»Ist das Dein Mann?« fragte Martin.
»Ja, das bin ich«, antwortete Levesque.
Sie sahen sich an und schwiegen abermals.
Dann deutete Martin, nachdem er die Kinder ringsum längere Zeit betrachtet hatte, mit einer Kopfbewegung auf die beiden Mädchen und fragte:
»Sind das meine?«
»Ja, das sind Deine«, sagte Levesque.
Er stand nicht auf, er umarmte sie nicht.
»Guter Gott, wie groß sie geworden sind«, war das Einzige, was er bemerkte.
»Aber was sollen wir nur anfangen?« fragte Levesque aufs Neue.
Anfangs wusste Martin in seiner Bestürzung auch nichts zu sagen. Schliesslich meinte er:
»Was mich anbetrifft, so werde ich mich schon mit Dir verständigen; ich will Dir kein Unrecht tun. Das versteht sich ganz von selbst, auch wegen des Hauses. Ich habe zwei Kinder, Du hast drei, jedem gehören die seinigen. Aber die Mutter? Gehört sie Dir oder mir? Ich werde mich darin nach Deinem Wunsche richten; aber das Haus gehört mir, denn mein Vater hat es mir vermacht, ich bin darin geboren und die betreffenden Papiere liegen beim Notar.«
Die Frau weinte immer fort, ihre Tränen befeuchteten das blaue Tischtuch. Die beiden Mädchen waren näher gekommen und sahen ihren Vater voll Unruhe an.
Er hatte aufgehört zu essen und sagte nun seinerseits:
»Was soll jetzt werden?«
Levesque hatte einen Gedanken:
»Wir müssen zum Pfarrer gehen.«
Martin erhob sich, und als er auf seine Frau zuging, warf sie sich an seine Brust und rief schluchzend:
»Mein Mann! Martin, mein armer Martin! Da bist Du wieder!«
Sie hielt ihn mit beiden Armen umschlungen; die alte Zärtlichkeit von ehemals kehrte wieder, tausend Erinnerungen aus der Jugendzeit tauchten vor ihr auf.
Martin, nicht minder bewegt, küsste sie innig. Die beiden Kinder am Herd fingen an zu heulen, als sie die Tränen der Mutter sahen, und das Jüngste auf dem Arm der zweiten Tochter Martins schrie mit kläglicher Stimme wie eine verstimmte Geige.
Levesque stand eine Weile wartend da.
»Nun müssen wir aber doch die Sache in Ordnung bringen.«
Martin löste sich aus den Armen seiner Frau, und als er seine beiden Kinder ansah, rief die Mutter:
»So gebt doch Eurem Vater wenigstens einen Kuss.«
Sie kamen beide zugleich herbei mit trockenen Augen, mehr erstaunt als furchtsam. Er küsste eines nach dem anderen mit einem vollen saftigen Kuss nach Bauernart. Als das Jüngste den Fremden so nahe sah, stiess es ein durchdringendes Geschrei aus, sodass man glauben konnte, es fiele in Krämpfe.
Dann gingen die beiden Männer zusammen fort.
Als sie bei dem Kaffeehause vorbeikamen, meinte Levesque:
»Wie wär’s, wenn wir erst ’mal einen Tropfen nähmen?
»Ich bin dabei«, erklärte Martin.
Sie traten ein und nahmen in dem noch leeren Zimmer Platz.
»Heh! Chicot, zwei Gläser aus der guten Flasche. Hier ist Martin, der wiedergekommen ist, Martin von meiner Frau, Du weißt schon, der mit den ›zwei Schwestern ‹ verschollen war.«
Und der Wirt kam herbei, in der einen Hand die Flasche, in der anderen drei Gläser, ein dicker, vollblütiger, aufgedunsener Bursche.
»Sieh da! Martin! Wieder zurück?« fragte er ruhig.
»Ja, da bin ich wieder«, sagte Martin.
*
Du batest mich, lieber Freund, Dir die Eindrücke zu schildern, die ich hier in Afrika empfangen, die Abenteuer, und vor allem die Liebesgeschichten, die ich in diesem Lande erlebt, nach welchem es mich schon seit so vielen Jahren zog. Du würdest, schreibst Du, schon im Voraus herzlich über meine »schwarzen Liebschaften« lachen und sähest mich im Geiste schon in Begleitung eines großen ebenholzfarbigen Weibsbildes zurückkehren, das, den Kopf mit einem gelben Seidentuche umwunden, in den grellsten Kleidungsstücken einherwatschelt.
Die Reihe wird auch, das ist gewiss, noch an die schwarzen Weiber kommen; denn ich sah bereits mehrere, die mir einige Lust eingeflösst haben, auch mal in dieser Tinte unterzutauchen. Indessen habe ich zunächst etwas Besseres und ganz Originelles gefunden.
In Deinem letzten Briefe schreibst Du mir:
»Wenn ich erst mal weiß, wie man in einem Lande liebt, so kenne ich es genügend, um es beschreiben zu können, auch wenn ich es niemals gesehen habe.«
Nun so wisse denn, dass man hier mit einer wahren Raserei zu lieben pflegt. Man verspürt hier vom ersten Tage an eine Art Siedehitze, eine Aufwallung, eine ungestüme Anspannung der Begierden, einen bis in die Fingerspitzen gehenden Kitzel, wodurch unsere Liebesbrunst bis zur Erschlaffung entfacht und unsere ganze Sinnenlust, von der einfachen Berührung der Hände bis zu jenem unnennbaren Bedürfnis, um dessen willen wir so viele Dummheiten begehen, aufs Höchste gereizt wird.
Versteh’ mich, bitte, recht. Ich weiß nicht, ob das, was Du wahre Herzensliebe, die Liebe zweier Seelen, nennst, ob dieser Idealismus des Gemütes, mit einem Worte die platonische Liebe, unter diesem Himmelsstriche gedeihen könne. Aber jene andere Liebe, die der Sinne, die auch ihr Gutes, und zwar sehr viel Gutes hat, ist in diesem Klima geradezu schrecklich. Die Hitze, diese ewig kochende, fieberschwangere Luft, diese erstickenden südlichen Winde, diese Feuerflut, welche aus der nahegelegenen Wüste kommt und sengender, verzehrender wirkt wie eine wirkliche Flamme; dieser ewige Brand eines Landstriches, den eine riesige lechzende Sonnenglut bis auf die Steine ausdörrt, lassen unser Blut kochen, betäuben das Gehirn und machen uns zum reissenden Tiere.
Doch nun zu meiner Geschichte!
Ich übergehe die erste Zeit meines Aufenthaltes in Algier. Nachdem ich Bona, Constantine, Biskra und Setif besucht hatte, kam ich durch die Schluchten von Chabet nach Bougie. Wir hatten einen unvergleichlich schönen Weg mitten durch die Wälder der Kabylen zurückgelegt; derselbe zieht sich in einer Höhe von zweihundert Metern dem Meere entlang und folgt den Windungen des Hochgebirges bis zum herrlichen Golf von Bougie, der ebenso schön wie der von Neapel, Ajaccio und Douarnenez ist. Allerdings nehme ich hierbei die unvergleichliche Bucht von Porto an der Westküste Corsikas aus, mit ihrer Einfassung aus rotem Granit, innerhalb deren man die blutroten Steinriesen, im Volksmunde die »Calanches« von Piana genannt, erblickt.
Von weitem, ganz von weitem, bevor man um die große Bucht kommt, in der die stillen Wasser schlummern, erblickt man Bougie. Es ist an den steilen Hängen eines hohen, von Wäldern gekrönten Berges erbaut; ein weißer Pieck auf diesem grünen Hange, wie ein schäumender Wasserfall, der sich ins Meer ergiesst.
Sobald ich den Fuss in dieses bezaubernde Städtchen gesetzt hatte, wurde es mir zur Gewissheit, dass ich hier lange verweilen würde. Überall ringsum haftet das Auge auf eine Reihe zackiger wildromantischer Hügel mit bizarren Spitzen, die so dicht zusammenhängen, dass man kaum das offene Meer erblicken kann und den Golf für einen See halten möchte. Das blaue, milchfarbene Wasser ist von wunderbarer Durchsichtigkeit; und der azurne Himmel, so azurblau, als habe er einen doppelten Farbenanstrich erhalten, lacht über dem Ganzen in seiner ergreifenden Pracht.
Bougie ist die Stadt der Ruinen. Wenn man ankommt, so erblickt man am Quai einen so großartigen Trümmerhaufen, dass man sich in eine Märchenwelt versetzt glaubt; das epheuumrankte alte Sarazenen-Tor. Und in dem waldigen Gebirge rings um die Stadt herum findet man überall Ruinen, Reste römischer Mauern, Denkmäler aus der Sarazenen-Zeit, Überbleibsel arabischer Baukunst.
Ich hatte in der oberen Stadt ein maurisches Häuschen gemietet. Du kennst ja diese Wohnungen der Beschreibung nach. Sie haben nach Aussen hin keine Fenster, sondern empfangen von oben bis unten ihr Licht von dem inneren Hofe her. Im ersten Stock befindet sich ein großer Saal, in dem man sich tagsüber aufhält, und ganz oben eine Terrasse, wo man die Nächte zubringt.
Ich folgte sofort der Gewohnheit jener heissen Länder, d. h. ich hielt stets nach dem Frühstück meine Siesta. Es sind dies die drückendsten Stunden des Tages, wo man vor Hitze kaum noch atmet, wo die Gassen, die Plätze, die blendenden Strassen verödet sind, wo alle Welt schläft oder wenigstens in möglichst unbekleidetem Zustande zu schlafen versucht.
In meinem mit Säulen von arabischer Bauart geschmückten Saale hatte ich einen großen behaglichen, mit Teppichen von Djebel-Amur bedeckten Divan aufstellen lassen. So ziemlich in Adams Kostüm streckte ich mich auf demselben aus; aber einsam wie ich war, konnte ich keine Ruhe finden.
Zwei Qualen auf dieser Welt gibt es, liebster Freund, die ich nicht gerne kennen lernen möchte; nämlich der Durst nach Wasser und die unbefriedigte Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen. Welche von beiden ist wohl die schlimmere? Ich weiß es selbst nicht. In der Wüste würde man manchesmal die schrecklichsten Dinge begehen, um nur ein Glas frischen klaren Wassers zu erlangen. Was gäbe man in gewissen Küstenstädten nicht für ein hübsches frisches und gesundes Mädchen? Es fehlt ja in Afrika nicht an Mädchen, es ist sogar Überfluss daran; aber, um bei meinem Vergleich stehen zu bleiben, sie gleichen in ihrer Art dem übelriechenden faulen und schlammigen Wasser, das man in den Brunnen der Sahara findet.
So versuchte ich nun eines schönen Tages wieder, als ich abgespannter wie gewöhnlich war, vergeblich die Augen zu schliessen. Meine Glieder zitterten, als brennten Nesseln darin; in ängstlicher Unruhe warf ich mich auf meinem Divan hin und her, und schliesslich hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprang auf und begab mich ins Freie.
Es war ein schrecklich heisser Juli-Nachmittag. Das Strassenpflaster strahlte eine Hitze wie ein Backofen aus, das Hemd war im Augenblick feucht und klebte einem am Leibe, und am ganzen Horizont schwebte ein leichter weißlicher Dunst, der verzehrende Hauch des Sirokko, dessen Hitze man greifen zu können glaubt.
Ich ging in der Richtung auf das Meer zu hinunter und folgte, beim Hafen angelangt, dem Hange, welcher sich längs der lieblichen Bucht hinzieht, in der die Bäder liegen. Das steile, mit Gebüsch und stark duftenden Pflanzen bewachsene Gebirge umragt von allen Seiten diese Bucht, längs deren ganzem Ufer sich mächtige Felsblöcke in der stillen Flut baden.
Hier draussen sah man kein menschliches Wesen; nichts rührte sich, kein Tier gab einen Laut, kein Vogel strich durch die Lüfte. Jedes Geräusch war verstummt; selbst das Meer schien unter den brennenden Strahlen der Sonne erstarrt zu sein, sodass man nicht einmal das Plätschern des Wassers vernahm. Dagegen glaubte ich in der kochenden Luft ein Knistern wie von Feuer zu hören.
Plötzlich schien es mir, als wenn ich hinter einem der Felsen, die zur Hälfte in der schweigenden Wasserfläche untergetaucht waren, eine leichte Bewegung bemerkte. Ich wandte mich um und erblickte ein hochgewachsenes Mädchen, welches hier, wo es sich in diesen Stunden der Hitze völlig ungestört glauben mochte, ohne jede Bekleidung sein Bad nahm. Bis zur Brust im Wasser stehend, wandte sie ihren Blick dem Meere zu und plätscherte leicht mit den Händen, ohne mich zu bemerken.
Was konnte es Bezaubernderes geben, als dieses Bild: das schöne Weib in dem Wasser, so durchsichtig, wie ein Glas unter der Pracht dieses südlichen Himmels! Und sie war schön, wunderbar schön sogar, dieses hochgewachsene Weib mit dem Körper einer Marmorstatue.
In diesem Augenblick wandte sie sich um; sie stiess einen Schrei aus und verbarg sich, halb schwimmend, halb gehend, sofort hinter ihrem Felsen.
Da sie doch wieder ’mal zum Vorschein kommen musste, so setzte ich mich am Hange hin und wartete geduldig. Da kroch sie ganz sachte wieder hervor und zeigte ihren mit schwarzen wirren Haaren dichtbewachsenen Kopf. Sie hatte einen breiten Mund, aufgeworfene lüsterne Lippen, große begehrliche Augen, und ihre ganze durch das Klima leicht gebräunte Haut hatte das Aussehen von altem Elfenbein, hart und weich zugleich, mit einem Worte ein herrlicher Typus der weißen Rasse, dem aber die Sonne Afrikas ihr eigenartiges Kolorit verliehen hatte.
»Gehen Sie fort!« rief sie mir zu. Ihre volle Stimme, die, wie ihre ganze Erscheinung, etwas Kräftiges an sich hatte, kam tief aus der Kehle.
»Es ist nicht hübsch von Ihnen, dass Sie dableiben, mein Herr!« Dabei rollte sie die »r« in ihrem Munde wie Kieselsteine herum. Ich rührte mich indessen nicht, und der Kopf verschwand wieder.
Zehn weitere Minuten vergingen. Dann kamen die Haare, hierauf die Stirn und die Augen wieder zum Vorschein, langsam und vorsichtig, wie es Kinder beim Versteckenspiel zu machen pflegen, wenn sie sich nach dem umsehen wollen, der die andren suchen muss.