Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ein Stückchen Bindfaden

An Har­ry Alis.

Auf al­len Stras­sen und We­gen rings um Go­der­ville zo­gen die Land­leu­te mit ih­ren Frau­en dem Fle­cken zu, wo heu­te Markt­tag war. Die Män­ner gin­gen lang­sa­men Schrit­tes und beug­ten sich bei je­der Be­we­gung ih­rer lan­gen, krum­men Bei­ne vorn­über. Ihr Kör­per trug die Merk­ma­le schwe­rer Ar­beit. Das ewi­ge Auf­drücken beim Pflü­gen hat­te die lin­ke Schul­ter em­por­ge­zo­gen, den Leib ge­krümmt; und durch das Ge­trei­de-Mä­hen wa­ren die Knie ge­knickt, um einen bes­se­ren Schwung neh­men zu kön­nen. Ihre blau­en ge­steif­ten Kit­tel, am Hals und an den Är­melbörd­chen mit wei­ßer Sti­cke­rei ver­se­hen, glänz­ten als ob sie la­ckiert wä­ren. Der Wind bläh­te sie um den kno­chi­gen Kör­per auf, so­dass sie ei­nem Luft­bal­lon gli­chen, der im nächs­ten Au­gen­blick auf­stei­gen soll und aus dem ein Kopf, zwei Arme und zwei Füs­se her­vor­ra­gen.

Die einen zo­gen eine Kuh, die an­de­ren ein Kalb hin­ter sich her. Die Frau­en trie­ben von rück­wärts, mit­tels ei­nes ab­ge­ris­se­nen Zwei­ges, an dem noch die Blät­ter haf­te­ten, das Tier zu schnel­le­rem Gan­ge an. Sie tru­gen am Arme große Kör­be, aus de­nen hier die Köp­fe von Hüh­nern, dort von En­ten her­aus­schau­ten. Sie mach­ten kür­ze­re aber leb­haf­te­re Schrit­te als ihre Män­ner. Ihre ein­ge­fal­le­ne Brust war durch einen klei­nen ge­strick­ten Shawl, vorn mit ei­ner Na­del zu­sam­men­ge­hal­ten, ver­deckt, wäh­rend den Kopf ein oben zu­sam­men­ge­bun­de­nes Lei­nen­tuch schütz­te, auf dem eine Müt­ze sass.

Hin und wie­der kam ein Kar­ren im lang­sa­men Tra­be vor­über; zwei Män­ner vorn und eine Frau, die sich krampf­haft bei je­dem Stos­se fest­hielt, wur­den tüch­tig auf dem­sel­ben durch­ein­an­der ge­rüt­telt.

Auf dem Markt­platz von Go­der­ville wog­te ein bun­tes Ge­men­ge von Men­schen und Tie­ren; die Hör­ner der Kühe, die lang­haa­ri­gen Filz­hü­te der rei­chen Bau­ern, die Müt­zen der Bäue­rin­nen rag­ten aus die­sem Ge­wim­mel em­por. Krei­schen­de, schar­fe, gel­len­de Stim­men bil­de­ten ein fort­ge­setz­tes selt­sa­mes Ge­schrei, mit dem sich zu­wei­len ein lau­tes Ge­läch­ter aus der brei­ten Brust ei­nes Bau­ern oder das lang­ge­zo­ge­ne Ge­brüll ei­ner Kuh ver­meng­te, die an der Wand ei­nes Hau­ses an­ge­bun­den war.

Al­les roch nach Stall, Milch, Rauch, Heu und Schweiß; ström­te je­nen schar­fen, halb tie­ri­schen, halb mensch­li­chen Dunst aus, der den Land­leu­ten ei­gen ist.

Meis­ter Hauch­e­cor­ne von Bréauté war in Go­der­ville ein­ge­trof­fen und steu­er­te dem Markt­plät­ze zu, als er an der Erde ein End­chen Schnur be­merk­te. Meis­ter Hauch­e­cor­ne, ein ech­ter spar­sa­mer Nor­man­ne, dach­te, dass man al­les auf­he­ben müs­se, was noch ir­gend­wie ver­wend­bar sei. Er bück­te sich müh­sam, denn er litt stark an Rheu­ma­tis­mus. Er hob das End­chen Schnur auf und wi­ckel­te es sorg­sam zu­sam­men, als er auf der Schwel­le sei­nes Hau­ses Meis­ter Ma­land­ain, den Satt­ler, be­merk­te, der ihm zu­schau­te. Sie hat­ten we­gen ei­nes Kum­mets ein­mal Streit mit­ein­an­der ge­habt und wa­ren sich seit­dem feind­lich ge­sinnt ge­blie­ben. Meis­ter Hauch­e­cor­ne schäm­te sich et­was, von sei­nem Fein­de da­bei be­ob­ach­tet zu wer­den, wie er in der Gos­se ein End­chen Schnur auf­las. Schnell ver­barg er sei­nen Fund un­ter dem Kit­tel und dann in sei­ner Ho­sen­ta­sche. Hier­auf stell­te er sich, als su­che er auf dem Bo­den et­was, das er nicht fin­den konn­te und ging dann dem Mark­te zu den Kopf we­gen sei­ner Schmer­zen vorn­über ge­beugt.


Er ver­lor sich un­ter der lär­men­den lang­sam auf und ab­wo­gen­den Men­ge, die sich ih­ren end­lo­sen Han­dels­ge­schäf­ten wid­me­te. Die Land­leu­te un­ter­such­ten die Kühe, gin­gen fort, ka­men wie­der, im­mer in der Furcht her­ein­ge­legt zu wer­den, nicht wa­gend sich end­gül­tig zu ent­schei­den, miss­trau­isch den Käu­fer mus­ternd, und un­aus­ge­setzt die List des Man­nes oder den Feh­ler des Tie­res zu ent­de­cken su­chend.

Die Frau­en hat­ten die große Kör­be vor sich hin­ge­setzt und das Ge­flü­gel her­aus­ge­nom­men, das nun. an den Füs­sen zu­sam­men­ge­bun­den, mit er­staun­tem Blick und ro­tem Kamm am Bo­den lag.

Sie horch­ten auf die ge­bo­te­nen Prei­se, be­stan­den auf den ih­ri­gen mit zä­her Be­harr­lich­keit bis sie dann schliess­lich, wenn der Käu­fer schon von dan­nen ge­hen woll­te, plötz­lich her­un­ter­gin­gen und ihm nachrie­fen:

»Gut Meis­ter Ant­hi­me. Ich geb es her.«

Dann wur­de der Platz all­mäh­lich lee­rer; und als es zum »An­ge­lus« läu­te­te, be­ga­ben sich die­je­ni­gen, die wei­ter wohn­ten in die ver­schie­de­nen Wirts­häu­ser.

Bei Jour­dain war der große Saal voll von Spei­sen­den, wie der große Hof voll von Fuhr­wer­ken al­ler Art: von Kar­ren, Wa­gen, Gigs, Ein- und Zwei­spän­nern, un­nenn­ba­ren Fahr­zeu­gen, star­rend von Schmutz, un­förm­lich zum Teil, viel­fach ge­flickt, de­ren Deich­seln wie zwei Arme zum Him­mel er­ho­ben wa­ren, oder um­ge­kehrt auf der Erde ruh­ten, wäh­rend der Hin­ter­teil in die Luft rag­te.

Den Spei­sen­den ge­gen­über warf der un­ge­heu­re, hell an­ge­fach­te Ka­min sei­ne wär­me­n­den Strah­len auf den Rücken der zur Rech­ten sit­zen­den. An dem­sel­ben brie­ten auf drei Brat­spies­sen Hüh­ner, Tau­ben und Schöp­sen­keu­len. Ein le­cke­rer Ge­ruch von ge­bra­te­nem Fleisch und saf­ti­ger Sau­ce, die aus dem­sel­ben her­vor­quoll, stieg zur De­cke em­por, mach­te den Mund wäs­se­rig und stimm­te zur Fröh­lich­keit.

Die gan­ze bes­ser si­tu­ier­te Welt der Land­leu­te speis­te dort bei Meis­ter Jour­dain, Wirt und Pfer­de­händ­ler in ei­ner Per­son, ei­nem ge­rie­be­nen Bur­schen, der man­chen Ta­ler im Kas­ten hat­te.

Die Schüs­seln wan­der­ten auf und ab, und leer­ten sich eben­so schnell wie die Fla­schen mit gold­gel­bem Ci­der. Man un­ter­hielt von der Ern­te. Das Wet­ter war für das Grün­fut­ter güns­tig, aber für das Ge­trei­de et­was zu nass. Je­der er­zähl­te von sei­nen Ge­schäf­ten, sei­nen Käu­fen und Ver­käu­fen.

Plötz­lich tön­te im Hofe vor dem Hau­se die Trom­mel. Alle Welt stand mit Aus­nah­me ei­ni­ger Gleich­gül­ti­ger so­fort auf. und rann­te vor die Tür, an die Fens­ter, den Mund noch voll Es­sen und die Ser­vi­et­te in der Hand.

Nach­dem der Aus­ru­fer sei­nen Wir­bel be­en­det hat­te, ver­kün­de­te er mit lau­ter Stim­me, Satz für Satz be­to­nend:

»Es wird zur Kennt­nis der Ein­woh­ner von Go­der­ville ge­bracht – und na­ment­lich al­ler Be­su­cher des Mark­tes, – dass heu­te Mor­gen zwi­schen neun und zehn Uhr – auf der Stras­se von Beu­ze­ville – eine schwarz­le­der­ne Brief­ta­sche – mit fünf­hun­dert Fran­cs und ver­schie­de­nen Ge­schäfts­pa­pie­ren – ver­lo­ren wor­den ist. – Der ehr­li­che Fin­der wird ge­be­ten – die­sel­be auf der hie­si­gen Mai­rie oder bei – Herrn For­tu­ne Houl­brèque in Man­ne­ville ge­gen eine Be­loh­nung von 20 Fran­cs ab­zu­ge­ben.«

Dann ent­fern­te sich der Mann. Noch ein­mal hör­te man von wei­tem das dump­fe Ras­seln sei­ner Trom­mel und schwa­chen Laut sei­ner Stim­me.

Hier­auf be­gann eine leb­haf­te Un­ter­hal­tung über die­sen Zwi­schen­fall. Man er­wog die Aus­sich­ten, die Meis­ter Houl­brèque hat­te, sein Ei­gen­tum wie­der zu er­hal­ten oder für im­mer zu ver­lie­ren.

Die Mahl­zeit ging zu Ende.

Man war ge­ra­de beim Kaf­fee, als der Gen­dar­me­rie-Bri­ga­dier auf der Schwel­le er­schi­en.

»Ist Herr Hauch­e­cor­ne von Béauté hier?« frag­te er.

»Hier bin ich,« ant­wor­te­te Meis­ter Hauch­e­cor­ne, der am an­de­ren Ende des Zim­mers ge­ses­sen hat­te.

»Ich er­su­che Sie, Herr Hauch­e­cor­ne,« nahm der Bri­ga­dier wie­der das Wort, »mich ge­fäl­ligst zur Mai­rie zu be­glei­ten. Der Herr Maire hät­te ein Wort mit Ih­nen zu re­den.«

Der über­rasch­te Land­mann stiess be­stürzt sein Glas von sich und folg­te dem Bri­ga­dier in noch ge­bück­terer Hal­tung als am Vor­mit­tag; denn nach je­der Ruhe mach­ten sich sei­ne Gicht­schmer­zen dop­pelt fühl­bar. »Ich kom­me schon, ich kom­me schon,« mur­mel­te er da­bei fort­wäh­rend.

Der Maire er­war­te­te ihn in sei­nem Ses­sel sit­zend. Es war der No­tar des Or­tes, ein di­cker erns­ter Mann, der sich stets in schwung­haf­ten Phra­sen be­weg­te.

»Meis­ter Hauch­e­cor­ne; be­gann er, »man hat Sie heu­te Mor­gen be­ob­ach­tet, wie Sie auf der Stras­se von Beu­ze­ville die Brief­ta­sche auf­ho­ben, die Herr Houl­brèque von Man­ne­ville ver­lo­ren hat.«

Schon der Ver­dacht der auf ihn las­te­te, ohne dass er den Grund da­für be­griff, ver­setz­te den Land­mann in Furcht. Fas­sungs­los starr­te er den Maire an.

»Ich? Ich soll die Brief­ta­sche auf­ge­ho­ben ha­ben?«

»Ja, Sie.«

»Auf mein Wort, ich habe kei­ne Ah­nung da­von ge­habt.«

»Man hat Sie be­ob­ach­tet.«

»Mich be­ob­ach­tet? Wer will mich, ge­se­hen ha­ben?«

»Herr Ma­land­ain, der Satt­ler.«

Da er­in­ner­te sich der Alte; er ver­stand, und wur­de rot vor Zorn.

»Ach ja, er hat mich ge­se­hen die­ser Lüm­mel; er hat ge­se­hen, wie ich die­ses End­chen Schnur da, schau­en Sie, Herr Maire, auf­hob.«

Und in sei­ne Ta­sche grei­fend zog er das klei­ne Stück­chen Schnur her­vor.

Aber der Maire schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf.

»Sie wer­den mir das nicht ein­re­den, Meis­ter Hauch­e­cor­ne, dass Herr Ma­land­ain, ein glaub­wür­di­ger Mann, die­sen Bind­fa­den für eine Brief­ta­sche an­ge­se­hen habe.«

Wü­tend er­hob der Land­wirt sei­ne Hän­de, spuck­te zur Sei­te, um sei­nen Re­spekt aus­zu­drücken und wie­der­hol­te:

 

»Das ist die Wahr­heit, bei Gott! Die rei­ne Wahr­heit, Herr Maire. Wahr­haf­tig, ich be­schwö­re es bei mei­ner Ehre und Se­lig­keit.«

»Nach­dem Sie den Ge­gen­stand auf­ge­ho­ben hat­ten,« nahm der Maire wie­der das Wort, »ha­ben Sie so­gar noch lan­ge in der Gos­se ge­sucht, ob Ih­nen nicht etwa noch ein Geld­stück ent­gan­gen wäre.«

Der Bie­der­mann keuch­te schwer vor Zorn und Furcht.

»Wer soll­te es glau­ben! … Wer soll­te das für mög­lich hal­ten! … Sol­che Lü­gen um einen eh­ren­wer­ten Mann blos­zu­stel­len! Wie ist es mög­lich!«

Aber er hat­te gut pro­tes­tie­ren; man glaub­te ihm nicht.

Man kon­fron­tier­te ihn mit Meis­ter Ma­land­ain, der sei­ne Be­haup­tung ab­so­lut auf­recht hielt. Eine Stun­de lang strit­ten sie sich her­um. Man durch­such­te Meis­ter Hauch­e­cor­ne auf sein Ver­lan­gen, aber man fand nichts bei ihm.

Der Maire wur­de schliess­lich zwei­fel­haft. Er ent­liess ihn mit der Be­mer­kung, dass er die Sa­che an­zei­gen und sich wei­te­re Be­feh­le ein­ho­len wer­de.

Die Ge­schich­te hat­te sich bald her­u­mer­zählt. Als Meis­ter Hauch­e­cor­ne die Mai­rie ver­liess, wur­de er von al­len Sei­ten um­ringt und mit leb­haf­ter spöt­ti­scher Neu­gier, aber ohne jede äus­se­re Ent­rüs­tung, be­fragt. Er er­zähl­te die Ge­schich­te von der Schnur. Aber man glaub­te ihm nicht und lach­te.

Er er­zähl­te im­mer aufs Neue je­dem, der sie hö­ren woll­te, sei­ne Ge­schich­te, schil­der­te sei­nen Pro­test auf der Mai­rie, zeig­te sei­ne um­ge­wen­de­ten Ta­schen, um zu be­wei­sen, dass nichts dar­in sei.

»Al­ter Schlau­kopf!« sag­te man zu ihm.

Er wur­de wü­tend, ganz aus­ser sich und schliess­lich trau­rig, weil man ihm nicht glaub­te; er wuss­te nicht, was er ma­chen soll­te und er­zähl­te im­mer wie­der sei­ne Ge­schich­te.

Der Abend brach her­an. Es wur­de Zeit zur Heim­kehr. Er mach­te sich auf den Weg mit drei Nach­barn, de­nen er die Stel­le zeig­te, wo er das End­chen Schnur auf­ge­le­sen hat­te. Und den gan­zen Weg über sprach er von sei­nem Aben­teu­er.

Den gan­zen Abend ging er im Dor­fe Béauté her­um, um al­ler Welt sei­ne Ge­schich­te zu er­zäh­len. Er be­geg­ne­te nur un­gläu­bi­gen Ge­sich­tern.

Nachts wur­de er vor Auf­re­gung krank.

Am an­de­ren Tage, ge­gen ein Uhr Nach­mit­tags, brach­te Ma­ri­us Pau­mel­le, Dienst­knecht bei Meis­ter Bre­ton, Bau­er in Ymau­ville, die Brief­ta­sche samt In­halt dem Meis­ter Houl­brèque von Man­ne­ville zu­rück.

Die­ser Mann be­haup­te­te, die Brief­ta­sche tat­säch­lich auf der Stras­se ge­fun­den zu ha­ben. Aber da er des Le­sens un­kun­dig war, so hat­te er das Ding mit nach Hau­se ge­nom­men und sei­nem Herrn über­ge­ben.

Die Nach­richt ver­brei­te­te sich bald in der Nach­bar­schaft. Auch Meis­ter Hauch­e­cor­ne er­fuhr sie und tri­um­phier­te. Er mach­te sich aber­mals auf den Weg und er­zähl­te al­ler Welt die Ge­schich­te nebst sei­ner Recht­fer­ti­gung.

»Was mich be­küm­mert«, sag­te er, »ist nicht so­sehr die Sa­che selbst, ver­steht ihr, son­dern die Lü­ge­rei. Nichts geht ei­nem so nahe, als durch eine Lüge um sein An­se­hen zu kom­men.«

Die­ses Aben­teu­er bil­de­te jetzt sei­nen ste­ten Ge­sprächss­toff. Er er­zähl­te es den Vor­über­ge­hen­den auf der Stras­se, den Ze­chern im Wirts­hau­se, den Kir­chen­gän­gern am nächs­ten Sonn­ta­ge. Selbst Frem­de hielt er an, um ih­nen die Ge­schich­te zu er­zäh­len. Er war jetzt ziem­lich be­ru­higt; nur et­was ge­nier­te ihn, ohne dass er recht wuss­te, was es war. Es schi­en als ob die Leu­te mit ihm scherz­ten, wenn er die Ge­schich­te er­zähl­te. Man schi­en nicht recht über­zeugt zu sein. Es war, als ob man hin­ter sei­nem Rücken al­ler­lei mun­kel­te.

Am Diens­tag der nächs­ten Wo­che be­gab er sich aber­mals nach Go­der­ville auf den Markt, le­dig­lich von dem Be­dürf­nis ge­trie­ben, sei­ne Ge­schich­te zu er­zäh­len.

Ma­land­ain stand vor sei­ner Tür. Er lach­te, als er ihn vor­über­ge­hen sah. Wa­rum wohl?

Er trat auf einen Päch­ter von Cri­que­tot zu, der ihn gar nicht aus­re­den ließ, ihm auf die Schul­ter klopf­te und ihm ins Ge­sicht lach­te: »Geh nur, al­ter Schlau­mei­er.« Dann dreh­te er ihm den Rücken zu.

Ver­blüfft blieb Meis­ter Hauch­e­cor­ne ste­hen, er wur­de von Mi­nu­te zu Mi­nu­te un­ru­hi­ger. Wa­rum nann­te man ihn einen »al­ten Schlau­mei­er?«

Als er sich in der Gast­stu­be bei Meis­ter Jour­dain zu Tisch ge­setzt hat­te, be­gann er wie­der mit sei­ner Ge­schich­te.

»Ach, geh doch, al­ter Pfif­fi­kus!« rief ihm ein Vieh­händ­ler von Mon­ti­vil­liers zu. »Ich ken­ne schon dei­ne Schnur!«

»Aber man hat die Brief­ta­sche doch wie­der­ge­fun­den!« stam­mel­te Hauch­e­cor­ne.

»Ach schweig doch lie­ber still;« ent­geg­ne­te je­ner, »der eine fin­det sie, und der an­de­re bringt sie zu­rück. Kei­ner sieht’s, kei­ner hör­t’s, der Teu­fel soll ei­nem was be­wei­sen.«

Dem Land­mann ging der Atem aus. Jetzt be­griff er end­lich. Man be­schul­dig­te ihn heim­lich, dass er die Brief­ta­sche durch einen Ver­wand­ten einen Kom­pli­zen hät­te zu­rück­brin­gen las­sen.

Er woll­te Ein­wen­dun­gen ma­chen; aber der gan­ze Tisch fing an zu la­chen.

Er ver­gass sei­ne Mahl­zeit zu vollen­den und ging fort, ver­folgt von ei­nem Re­gen bis­si­ger Scher­ze.

Be­schämt und ent­rüs­tet kehr­te er nach Hau­se zu­rück. Er er­stick­te fast vor Zorn; er kann­te sich selbst nicht mehr aus. Er war umso er­bit­ter­ter, als er bei sei­ner nor­man­ni­schen Pfif­fig­keit sich nichts dar­aus ge­macht hät­te, das zu tuen, des­sen man ihn be­schul­dig­te, und sich noch dazu des­sen ganz ru­hig ge­rühmt hät­te. Es schi­en ihm fast un­mög­lich sei­ne Un­schuld zu be­wei­sen, weil er sei­ner Hin­ter­list we­gen be­kannt war. Er war in sei­nem In­ners­ten ver­wun­det durch die­sen un­ge­rech­ten Ver­dacht.

Nun be­gann er aufs Neue sei­ne Aben­teu­er zu er­zäh­len, und je­des Mal wur­de die Ge­schich­te län­ger. Denn je­des Mal füg­te er neue Grün­de hin­zu, im­mer hef­ti­ger pro­tes­tier­te er, im­mer fei­er­li­cher wur­den die Re­den, die er sich in den Stun­den des Al­lein­seins er­dach­te. Sein Geist war nur noch mit die­ser Ge­schich­te be­schäf­tigt. Aber je län­ger sei­ne Ver­tei­di­gung wur­de, und je ge­schraub­ter die Grün­de wa­ren, die er vor­brach­te, umso we­ni­ger glaub­te man ihm.

»Das sind ech­te Lü­gen-Ge­schich­ten,« tu­schel­te man hin­ter sei­nem Rücken.

Er fühl­te das, sein Blut wall­te auf; er er­schöpf­te sich in nutz­lo­sen An­stren­gun­gen.

Ge­gen Ende De­zem­ber leg­te er sich zu Bett. Er starb in den ers­ten Ta­gen des Ja­nu­ar, und in den Fie­ber­fan­tasi­en der letz­ten Stun­den be­zeug­te er fort­wäh­rend sei­ne Un­schuld.

»Eine klei­ne Schnur … Ein End­chen Schnur … se­hen Sie, hier ist es Herr Maire.«

Das wa­ren sei­ne letz­ten Wor­te.

*

Das Ziehkind

Du bist wahr­haf­tig, scheint mir’s, nicht bei Trost, mei­ne Lie­be, mich bei sol­chem Wet­ter im frei­en Fel­de spa­zie­ren zu füh­ren. Du hast seit zwei Mo­na­ten son­der­ba­re Ide­en. Du führst mich, ob ich will oder nicht, an die See, wo Du doch in den vier­zig Jah­ren, die wir nun ver­hei­ra­tet sind, nie­mals an so was ge­dacht hast. Du be­stehst mit Ge­walt auf Fe­camp, die­ser trau­ri­gen Stadt; und kaum sind wir hier, so bist Du, die sonst kei­nen Schritt vor die Türe ging, von ei­ner sol­chen Renn­wut er­grif­fen, dass Du am heis­ses­ten Tage des Jah­res quer­feld­ein läufst. Er­su­che doch d’A­gre­val um sei­ne Beglei­tung; der fügt sich bes­ser Dei­nen Lau­nen. Ich für mei­ne Per­son gehe ins Haus und hal­te mei­ne Sies­ta.«

»Kom­men Sie mit mir?« wand­te sich Ma­da­me de Ca­dour an ih­ren al­ten Freund.

Er ver­beug­te sich lä­chelnd, mit et­was alt­mo­di­scher Höf­lich­keit, und sag­te:

»Ich fol­ge Ih­nen, wo­hin Sie ge­hen.«

»Nun, so ho­len Sie sich einen Son­nen­stich«, sag­te Herr de Ca­dour und ging wie­der ins Ho­tel des Bains hin­ein, um sich ein oder zwei Stünd­chen aufs Ohr zu le­gen.

So­bald sie al­lein wa­ren, be­ga­ben sich die alte Dame und ihr Freund auf den Weg. Ihm die Hand drückend sag­te sie sehr lei­se:

»End­lich! … End­lich!«

»Sie sind tö­richt«, mur­mel­te er, »ich ver­si­che­re Ih­nen, es ist der rei­ne Wahn­sinn. Den­ken Sie, was Sie. ris­kie­ren. Wenn die­ser Mensch …«

»O Hen­ri«, sag­te sie zu­sam­men­zu­ckend, »sa­gen Sie nicht ›die­ser Men­sch‹, wenn Sie von ihm spre­chen.«

»Nun ja!« ant­wor­te­te er ziem­lich rück­sichts­los, »wenn un­ser Sohn ir­gend eine Ver­mu­tung fasst, wenn er miss­trau­isch wird, so hat er Sie, hat er uns in der Ge­walt. Sie ha­ben es ganz gut aus­ge­hal­ten, ihn seit vier­zig Jah­ren nicht zu se­hen; warum muss es denn ge­ra­de heu­te sein?«

Sie wa­ren der lang­ge­dehn­ten Stras­se ge­folgt, wel­che von der Stadt aus an die See führt, und wand­ten sich jetzt rechts, um nach der Küs­te von Etre­tat her­auf­zu­ge­hen. Die wei­ße Stras­se lag vor ih­nen in der ko­chen­den Glut der Son­nen­strah­len.

Sie gin­gen bei der glü­hen­den Hit­ze lang­sam mit kur­z­en Schrit­ten. Ma­da­me de Ca­dour hat­te den Arm ih­res Freun­des er­grif­fen und sah im­mer ge­ra­de­aus mit ei­nem ir­ren, su­chen­den Blick.

»So ha­ben Sie ihn nie­mals wie­der ge­se­hen?« frag­te sie ihn.

»Nein, nie­mals.«

»Ist es mög­lich?«

»Lie­be Freun­din, fan­gen wir die­se alte Ge­schich­te nicht wie­der von Neu­em an. Ich habe Frau und Kin­der, wie Sie einen Gat­ten ha­ben; also Grund ge­nug für uns bei­de, die öf­fent­li­che Mei­nung zu re­spek­tie­ren.«

Sie ant­wor­te­te nicht; sie dach­te an ihre Ju­gend zu­rück, an ver­gan­ge­ne trau­ri­ge Din­ge.

Sie war ver­hei­ra­tet wor­den, wie so man­che an­de­re, ohne ih­ren Bräu­ti­gam, einen Di­plo­ma­ten, ei­gent­lich ge­kannt zu ha­ben, und sie hat­te spä­ter mit ihm zu­sam­men ge­lebt, wie alle Frau­en aus der Ge­sell­schaft zu le­ben pfle­gen.

Ein jun­ger Mann, Herr d’A­gre­val, gleich­falls ver­hei­ra­tet, lieb­te sie lei­den­schaft­lich, und wäh­rend ei­ner län­ge­ren Ab­we­sen­heit Herrn de Ca­dour’s, den eine po­li­ti­sche Mis­si­on nach In­di­en führ­te, er­lag sie sei­nem stür­mi­schen Drän­gen.

Hät­te sie ihm wi­der­ste­hen, ihn zu­rück­wei­sen kön­nen? Hät­te sie die Kraft ge­habt, ihm nicht nach­zu­ge­ben, wo sie ihn gleich­falls lei­den­schaft­lich lieb­te? Nein, in der Tat nicht! Es wäre zu schmerz­lich ge­we­sen; sie hät­te zu sehr ge­lit­ten. Wie ist doch das Le­ben hart und grau­sam. Ge­wis­sen Schick­sals­fü­gun­gen kann man nicht ent­ge­hen, man kann sich ih­rer Be­stim­mung nicht ent­zie­hen. Kann eine al­lein­ste­hen­de Frau, de­ren Gat­te in der wei­ten Fer­ne weilt, die kei­ne Zärt­lich­keit ge­niesst, den Kin­der­se­gen ent­behrt, auf die Dau­er ei­ner Lei­den­schaft ent­flie­hen, die ihr gan­zes We­sen be­herrscht? Ge­wiss eben­so­we­nig wie man im­stan­de wäre, dem Lich­te der Son­ne zu ent­flie­hen, um bis zu sei­nem Tode in tiefs­ter Fins­ter­nis zu le­ben.


Wie gut er­in­ner­te sie sich noch jetzt al­ler Ein­zeln­hei­ten, sei­ner Küs­se, sei­nes Lä­chelns, mit dem er an der Tür ste­hen blei­bend sie an­blick­te, ehe er bei ihr ein­trat. Wel­che Tage des Glückes und der Süs­sig­keit, die­se ein­zi­gen schö­nen, lei­der nur so schnell ver­gan­ge­nen Tage.

Dann fühl­te sie, dass sie Mut­ter war. Wel­che Angst!

Ach, die­se Rei­se nach dem Sü­den, die­se lan­ge Rei­se, die­se Lei­den, die­ser fort­wäh­ren­de Schre­cken, die­ses ver­bor­ge­ne Le­ben in dem klei­nen ein­sa­men Häu­schen an der Mit­tel­meer-Küs­te, im Hin­ter­grun­de ei­nes Gar­tens, den sie nicht zu be­tre­ten wag­te.

Wie gut er­in­ner­te sie sich der lan­gen Tage, die sie un­ter ei­nem Oran­gen­baum lie­gend zu­brach­te, die Au­gen zu den run­den Früch­ten em­por­ge­wen­det, de­ren Rot sich von dem Grün des Blät­ter­werks ab­hob. Wie sie so gern aus­ge­gan­gen wäre bis ans Meer, des­sen fri­scher Hauch über die Mau­er her zu ihr hin­weh­te, des­sen kur­ze Schlä­ge an den Strand sie ver­nahm, von des­sen Ober­flä­che sie träum­te, wie sie bläu­lich im Lich­te der Son­ne er­glänz­te, wäh­rend wei­ße Wol­ken und ein Ge­bir­ge den Hin­ter­grund bil­de­ten. Aber sie wag­te nicht, aus dem Tore zu ge­hen. Wenn man sie er­kannt hät­te, so un­förm­lich, so un­fä­hig, bei ih­rer Fi­gur noch ihre Schan­de zu ver­ber­gen.

 

Und dann die Tage der Er­war­tung, die letz­ten qual­vol­len Tage! Die dro­hen­den Lei­den, end­lich die schreck­li­che Nacht. Wie viel Elend hat­te sie doch aus­hal­ten müs­sen!

War das eine Nacht! Wie hat­te sie ge­seufzt und ge­schri­en! Sie sah noch vor sich das blei­che Ant­litz ih­res Lieb­ha­bers, der ihr je­den Au­gen­blick die Hand küss­te, die be­hä­bi­ge Ge­stalt des Arz­tes, die wei­ße Müt­ze der Wär­te­rin.

Und wel­chen Riss gab es ih­rem Her­zen, als sie die­ses schwa­che Wim­mern, die­ses Kla­gen des Kin­des, die­sen ers­ten An­satz ei­ner mensch­li­chen Stim­me ver­nahm.

Und der nächs­te Tag! Ach ja, der nächs­te Tag, der ein­zi­ge ih­res Le­bens, wo sie ihr Kind se­hen und an ihr Herz drücken konn­te, denn nie­mals seit die­sem Tage hat­te sie auch nur eine Spur von ihm be­merkt. Welch öde lan­ge Zeit hat­te sie dann ver­bracht, wäh­rend die Ge­dan­ken an die­ses Kind ihr im­mer und im­mer wie­der vor die See­le tra­ten. Sie hat­te es nicht wie­der ge­se­hen, nicht ein ein­zi­ges Mal, die­ses klei­ne We­sen, dem sie das Le­ben ge­schenkt, ih­ren Sohn. Man hat­te ihn ihr ge­nom­men und ir­gend­wo an einen un­be­kann­ten Ort ge­bracht. Sie wuss­te nur, dass Bau­ers­leu­te in der Nor­man­die ihn auf­ge­zo­gen hat­ten, und dass er selbst ein Land­mann ge­wor­den war, dass er sich ver­hei­ra­tet und von sei­nem Va­ter, des­sen Na­men er nicht kann­te, eine reich­li­che Mit­gift er­hal­ten hat­te.


Wie kam sie nur plötz­lich auf den Ge­dan­ken, zu ihm rei­sen zu wol­len, um ihn zu se­hen und an ihr Herz zu drücken? Sie ver­gass, dass er in­zwi­schen ein Mann ge­wor­den war. Sie sah nur im­mer die­ses klei­ne Men­schen­we­sen vor sich, dass sie einen Tag in ih­ren Ar­men ge­hal­ten und an ihr klop­fen­des Herz ge­legt hat­te.

Wie oft hat­te sie spä­ter zu ih­rem Lieb­ha­ber ge­sagt:

»Ich hal­te es nicht mehr aus, ich muss ihn se­hen; ich fah­re hin.«

Stets hat­te er sie zu­rück­ge­hal­ten, sie ge­hin­dert; sie wis­se nicht sich zu be­herr­schen und an sich zu hal­ten, der an­de­re wür­de al­les ver­ra­ten und auf­de­cken. Dann sei sie ver­lo­ren.

*

»Wie sieht er denn aus?« frag­te sie d’A­gre­val.

»Ich weiß es nicht; ich sah ihn nie­mals wie­der.«

»Ist das mög­lich? Ei­nen Sohn ha­ben und ihn nicht ken­nen; Furcht vor ihm ha­ben, ihn von sich stos­sen, wie et­was Schänd­li­ches.«

Das war schreck­lich.

Und sie gin­gen un­ter den drücken­den Son­nen­strah­len stets die lan­ge Stras­se bergan wei­ter, die nach der Küs­te führ­te.

»Ist es nicht wie ein Straf­ge­richt«, fuhr sie fort, dass ich nie­mals wie­der ein Kind ge­habt habe? Nein, ich konn­te nicht dem Ver­lan­gen wi­der­ste­hen, das mich nun seit vier­zig Jah­ren quält, ihn noch ein­mal zu se­hen. Ihr Män­ner ver­steht das nicht. Den­ken Sie, dass ich schon ein­mal am Tode lag. Und ich hät­te ihn dann nicht wie­der ge­se­hen … ist es mög­lich … ihn nicht wie­der­ge­se­hen? … Wie konn­te ich nur so lan­ge war­ten? Mein gan­zes Le­ben lang habe ich an ihn ge­dacht. Wie habe ich dar­un­ter lei­den müs­sen! Nie­mals bin ich er­wacht, nicht ein ein­zi­ges Mal, den­ken Sie, ohne dass mein ers­ter Ge­dan­ke nicht ihm, mei­nem Kin­de, ge­gol­ten hät­te. Wie mag es ihm nur ge­hen? Ach, wie schul­dig füh­le ich mich ihm ge­gen­über! Darf man denn in ei­nem sol­chen Fal­le Men­schen­furcht ha­ben? Ich hät­te al­les ver­las­sen müs­sen, um ihm zu fol­gen, ihn zu er­zie­hen, mit mei­ner Lie­be zu um­ge­ben. Ich wäre glück­li­cher da­bei ge­we­sen, wahr­haf­tig. Ich war fei­ge, ich wag­te es nicht. Wie habe ich ge­lit­ten! Ach, wie müs­sen die­se ar­men ver­las­se­nen We­sen ihre Müt­ter has­sen!«

Sie blieb plötz­lich ste­hen, von Trä­nen über­strömt. Die gan­ze Ge­gend lag stumm und ein­sam un­ter der drücken­den Son­nen­hit­ze. Nur die Gril­len lies­sen fort­ge­setzt ihr ein­för­mi­ges Ge­zir­pe in dem dür­ren spär­li­chen Gra­se er­tö­nen, wel­ches die Stras­se zu bei­den Sei­ten ein­fass­te.

»Set­zen Sie sich einen Au­gen­blick«, sag­te er. Sie ließ sich von ihm zum Ran­de des Gra­bens füh­ren und setz­te sich, das Ge­sicht in den Hän­den be­gra­bend. Ihre wei­ßen Haa­re, die in Lo­cken zu bei­den Sei­ten des Ge­sich­tes hin­gen, wi­ckel­ten sich auf, aber sie be­ach­te­te es nicht; sie wein­te wei­ter zum Herz­zer­bre­chen.

Er blieb ihr ge­gen­über ste­hen, un­ru­hig bei dem Ge­dan­ken, was er ihr sa­gen soll­te.

»Kom­men Sie … Mut!« mur­mel­te er.

»Ich habe Mut«, sag­te sie auf­ste­hend. Und in­dem sie ihre Trä­nen trock­ne­te, nahm sie ih­ren Weg wie­der auf, wo­bei das Al­ter ih­ren Schritt et­was un­si­cher mach­te.

Die Stras­se führ­te et­was wei­ter hin zu ei­ner grös­se­ren Baum­grup­pe, un­ter der ei­ni­ge Häu­ser ver­steckt la­gen. Man konn­te schon von Wei­tem den re­gel­mäs­si­gen zit­tern­den Schlag ei­nes Schmie­de­ham­mers auf ei­nem Am­bos un­ter­schei­den.

Bald dar­auf sa­hen sie zur Rech­ten vor ei­nem nied­ri­gen Hau­se eine Kar­re hal­ten, wäh­rend un­ter ei­nem Vor­da­che zwei Män­ner ein Pferd be­schlu­gen. Herr d’A­gre­val nä­her­te sich ih­nen.

»Ist hier das Ge­höft von Pe­ter Be­ne­dikt?« rief er.

Ei­ner der Leu­te er­wi­der­te:

»Nehmt den Weg links, ganz bis zum klei­nen Kaf­fee­hau­se und geht dann ganz rechts, es ist das drit­te vom Wege nach Po­ret, ein Tänn­chen vorm Tore, nicht zu ver­feh­len.«

Sie wand­ten sich links. Sie ging jetzt ganz lang­sam mit wan­ken­den Kni­en, wäh­rend ihr Herz zum Zer­sprin­gen klopf­te.

Bei je­dem Schritt mur­mel­te sie wie im Ge­bet: »Mein Gott! Mein Gott!« Eine furcht­ba­re Auf­re­gung schnür­te ihr die Keh­le zu, und sie schwank­te auf den Füs­sen, als wä­ren ihre Seh­nen zer­ris­sen.

Herr d’A­gre­val, vor Auf­re­gung gleich­falls bleich, sag­te ihr et­was un­wirsch:

»Wenn Sie sich jetzt schon nicht mehr be­herr­schen kön­nen, wer­den Sie al­les so­fort ver­ra­ten. Su­chen Sie sich doch zu fas­sen.«

»Ach wie kann ich das?« seufz­te sie. »Mein Kind! Wenn ich den­ke, dass ich mein Kind se­hen wer­de!«

Sie folg­ten ei­nem je­ner klei­nen Feld­we­ge, wie man sie so viel sieht, zwi­schen den Fel­dern der Ge­höf­te hin­durch­füh­rend, be­schat­tet von ei­ner Dop­pel­rei­he Bu­chen zu bei­den Sei­ten der Grä­ben.

Und plötz­lich stan­den sie vor ei­nem höl­zer­nen Schlag­baum, den eine jun­ge Tan­ne be­schat­te­te.

»Hier ist’s«, sag­te er.

Sie blie­ben ste­hen und schau­ten.

Der mit Ap­fel­bäu­men be­pflanz­te Hof war ziem­lich groß und dehn­te sich bis zu dem klei­nen stroh­be­deck­ten Wohn­hau­se aus. Ge­gen­über lag der Pfer­de­stall, die Scheu­ne, der Kuh­stall, das Hüh­ner­haus. Un­ter ei­nem Zie­gel­dach stan­den die Acker­wa­gen, Kar­ren, Schieb­kar­ren, das Ca­brio­let. Vier Kühe wei­de­ten in dem ho­hen grü­nen Gra­se im Schat­ten der Bäu­me, wäh­rend in al­len Win­keln des Ge­höf­tes schwar­ze Hüh­ner her­um­trip­pel­ten.

Man hör­te nichts; die Tür des Hau­ses stand zwar of­fen, aber man konn­te im In­nern nie­mand er­bli­cken.

Sie tra­ten ein. So­fort stürz­te aus ei­nem Fas­se am Fus­se ei­nes großen Birn­bau­mes ein schwar­zer Hund her­vor und be­gann ein wü­ten­des Ge­bell.

Als sie nä­her ka­men, sa­hen sie an der Mau­er des Hau­ses vier Bie­nen­stö­cke mit ih­ren gel­ben Stroh­kup­peln ge­lehnt.

»Ist je­mand hier?« rief Herr d’A­gre­val, als sie an der Tür stan­den. Als­bald er­schi­en ein Kind, ein klei­nes Mäd­chen von un­ge­fähr zehn Jah­ren, in Hemd und Lei­nen­röck­chen, mit blos­sen schmut­zi­gen Füs­sen und furcht­sa­mer trot­zi­ger Mie­ne. Es blieb im Tür­rah­men ste­hen, als woll­te es den Ein­gang weh­ren.

»Was wol­len Sie?« frag­te es.

»Ist Dein Va­ter da?«

»Nein.«

»Wo ist er?«

»Ich weiß nicht.«

»Und Dei­ne Mut­ter?«

»Bei den Kü­hen.«

»Kommt sie bald zu­rück?«

»Weiß nicht.«

Und plötz­lich, als ob sie fürch­te­te, dass man sie mit Ge­walt weg­füh­ren wer­de, sag­te die alte Dame in ener­gi­schem Tone:

»Ich gehe nicht fort ohne ihn ge­se­hen zu ha­ben.«