»Wir möchten abreisen, mein Herr,« nahm der Graf das Wort.
»Nein.«
»Darf ich nach der Ursache der Verweigerung fragen?«
»Weil ich nicht will.«
»Ich möchte Ihnen, mein Herr, aber ergebenst bemerken, dass Ihr kommandierender General uns die Erlaubnis zur Reise nach Dieppe bewilligt hat; wir hätten, dächte ich, nichts begangen, um dieselbe zu verwirken.«
»Ich will aber nicht … Damit gut … Sie können gehn.«
Die drei Herrn entfernten sich unter einer Verbeugung.
Der Nachmittag verlief sehr traurig. Man konnte den Einfall des Deutschen nicht begreifen, und kam auf die sonderbarsten Ideen. Alle Welt hielt sich jetzt in der Küche auf und man besprach sich fortgesetzt unter den unglaublichsten Vermutungen. Wollte man sie vielleicht als Geiseln zurückhalten? – aber zu welchem Zweck? Oder sie als Gefangene fortschleppen? – Wohin? Oder wollte man eine gehörige Brandschatzung bei ihnen vornehmen? Bei diesem Gedanken erstarrte ihnen das Blut. Die Reichsten waren die Furchtsamsten. Sie sahen sich schon im Geiste Haufen von Gold in die Hände dieser zügellosen Soldateska legen, um nur ihr Leben zu retten. Sie zerbrachen sich den Kopf um nur eine glaubhafte Lüge zu ersinnen, ihren Reichtum zu verheimlichen und für arm, ganz arm zu gelten. Loiseau nestelte seine Uhrkette los und verbarg sie in der Tasche. Die einbrechende Nacht vermehrte noch ihre Furcht. Die Lampe wurde angezündet und Madame Loiseau schlug eine Partie Einunddreissig vor, da es noch zwei Stunden bis zum Diner war. Das wäre doch wenigstens eine Zerstreuung. Der Vorschlag wurde angenommen. Sogar Cornudet, der aus Höflichkeit seine Pfeife hatte ausgehen lassen, beteiligte sich.
Der Graf schlug die Karten – gab – und Fett-Kloss hatte auf den ersten Anhieb Einunddreissig. Bald verscheuchte das Interesse am Spiel die Furcht, die sie beseelt hatte. Cornudet bemerkte sogar, dass das Ehepaar Loiseau mogelte.
Als man sich zu Tische setzen wollte, erschien Herr Follenvie wieder.
»Der preussische Offizier lässt Fräulein Elisabeth Rousset fragen, ob sie ihre Ansicht noch nicht geändert habe,« sagte er mit seiner heiseren Stimme.
Fett-Kloss blieb ganz bleich stehen. Dann wurde sie plötzlich knallrot und so von Zorn erstickt, dass sie anfangs nicht sprechen konnte.
»Sie werden dieser Kanaille, diesem Schmutzfinken, diesem Lumpen von Preussen sagen, dass ich niemals wollen werde. Verstehen Sie wohl, nie, nie, niemals!«
Der dicke Wirt ging hinaus. Nun wurde Fett-Kloss von allen Seiten umringt, mit Fragen bestürmt, und energisch aufgefordert endlich das Geheimnis zu lüften, das über ihrer ersten Besprechung mit dem Offizier schwebte. Anfangs sträubte sie sich noch, aber der Ärger riss sie schliesslich mit fort. »Was er will? … Was er möchte? … Er will mit mir schlafen,« schrie sie auf. Niemand nahm an den Worten Anstoss, so groß war die Erregung über den Offizier. Cornudet stiess seinen Schoppen so heftig zurück, dass er vom Tisch fiel und klirrend zersprang. Das war ein Geschimpf über diesen elenden Schmutzian, ein zorniges Gemurmel, eine einstimmige Aufforderung zur Standhaftigkeit, als ob von jedem Einzelnen ein Teil dieses Opfers verlangt worden wäre. Der Graf erklärte mit Abscheu, dass diese Leute da schlimmer hausten, wie die Barbaren, Die Frauen namentlich bezeugten Fett-Kloss eine warme wohltuende Teilnahme. Die Ordensschwestern, die nur zu den Mahlzeiten unten erschienen, hatten den Kopf gesenkt und sagten nichts.
Als der erste Zorn verraucht war, setzte man sich nichtsdestoweniger zu Tische; aber alle waren einsilbig und nachdenklich.
Die Damen zogen sich frühzeitig zurück. Die Herrn, die nun sämtlich rauchten, arrangierten eine Partie Ecarté, zu der auch Herr Follenvie aufgefordert war. Man gedachte bei dieser Gelegenheit ihn geschickt über die Mittel auszufragen, wie man den Eigensinn des Offiziers brechen könnte. Aber er war nur auf sein Spiel bedacht und gab zerstreute Antworten. »An’s Spiel, meine Herrn; an’s Spiel!« wiederholte er stets. Seine Aufmerksamkeit war so gefesselt, dass er sogar das Ausspucken vergass, obgleich sich wahre Orgeltöne in seiner Brust entwickelten. Seine keuchende Kehle gab die ganze Skala des Asthma’s, von den höchsten bis zu den niedrigsten Noten wieder.
Sogar als seine Frau, die vor Müdigkeit umfiel, ihn holen wollte, weigerte er sich mit heraufzugehen. Da ging sie allein, denn sie pflegte früh als die erste mit der Sonne aufzustehen, während ihr Mann ein Nachtvogel war, der bis zur spätesten Stunde gern mit Bekannten aufzubleiben pflegte. »Leg’ mir mein Federbett an den Ofen,« rief er ihr nach und wandte sich dann wieder den Karten zu. Als man endlich einsah, dass aus ihm nichts herauszukriegen war, erklärte man, es sei Zeit zum Schlafengehen; und jeder suchte sein Bett auf.
Am anderen Morgen war alles bei Zeiten auf; man hegte eine unbestimmte Hoffnung, ein noch grösseres Verlangen nach der Abreise, einen Schrecken vor einem zweiten langweiligen Tage in dieser kleinen Herberge.
Aber ach! die Pferde blieben im Stalle, der Kutscher war nirgends zu sehen. Müssig umstand alles den Wagen.
Das Frühstück verlief sehr traurig. Gegen Fett-Kloss war eine gewisse Erkältung eingetreten; denn in der Nacht, die so manchen Ratschluss birgt, hatte man seine Ansicht etwas gemässigt. Man war jetzt fast ärgerlich gegen dieses Mädchen, weil sie es nicht verstanden hatte, heimlich dem Preussen zu Willen zu sein. Welch angenehme Überraschung wäre das am Morgen für ihre Reisegefährten gewesen. Was konnte es einfacheres geben? Wer hätte übrigens etwas davon erfahren? Warum konnte sie nicht den Schein wahren, und dem Offizier sagen, dass sie nur der Not weichend sich ihm ergebe? Übrigens für sie war das doch überhaupt nur nebensächlich.
Aber noch sprach niemand seine Gedanken offen aus.
Am Nachmittage, als man sich zum Sterben langweilte, schlug der Graf einen Spaziergang in der Umgegend vor. Jeder hüllte sich sorgfältig ein und die kleine Gesellschaft trat ihren Weg an, ausser Cornudet; der den Platz am Feuer vorzog, und den beiden Schwestern, die ihre Zeit in der Kirche oder der Pfarrwohnung zubrachten.
Die Kälte, die von Tag zu Tag intensiver wurde, prickelte ihnen empfindlich in Nase und Augen; jeder Schritt wurde ihren kalten Füssen zur Plage. Als sie nun draussen das weite Feld vor sich sahen, erschien ihnen die unbegrenzte weiße Fläche so öde und traurig, dass man sofort wieder den Rückweg einschlug.
Die vier Damen gingen voraus, während die drei Herren in einiger Entfernung folgten.
Loiseau, der die Lage erfasst hatte, fragte plötzlich, ob »dieses Mädchen da« sie noch lange in dieser Patsche sitzen lassen wollte. Der Graf, stets ritterlich, erklärte, man könne von einem Weibe ein solches Opfer nicht verlangen, es müsse von ihr selbst ausgehen. Herr Carré-Lamadon meinte, dass wenn die Franzosen, wie verlautete, einen Offensiv-Rückstoss von Dieppe aus machen würden, so könne das Treffen entschieden nur bei Tôtes stattfinden. Diese Ansicht machte die anderen bedenklich. »Ob man sich nicht zu Fuss davon machen wollte?« meinte Loiseau wieder. Der Graf zuckte die Achseln. »Woran denken Sie bei dem Schnee? Mit unseren Frauen? Und dann würde man sofort die Verfolgung aufnehmen, uns einholen, und als Gefangene der Gnade und Ungnade der Soldateska überliefern.« Das war richtig und man schwieg.
Die Damen sprachen von Toilette; aber ein gewisser Zwang schien auf ihnen zu lasten.
Plötzlich an der Strassenecke erschien der Offizier. Sein hoher schlanker Wuchs hob sich bei dem lichten Schnee noch deutlicher ab; er ging mit gebogenen Knien mit jener eigentümlichen Haltung der Soldaten, die ihre sorgfältig gewichsten Stiefel nicht beschmutzen wollen.
Er grüsste flüchtig die Damen und sah hochmütig auf die Herrn, welche übrigens noch Selbstgefühl genug besassen, den Hut nicht zu lüften, wenngleich Loiseau schon mit der Hand nach dem Kopfe fuhr.
Fett-Kloss war bis über die Ohren rot geworden; den drei Frauen war es ein peinliches Gefühl, von dem Offizier so in Gesellschaft dieser Prostituierten getroffen zu werden, gegen die er sich so unritterlich benommen hatte.
Das Gespräch drehte sich jetzt natürlich um ihn, um seine Haltung, sein Gesicht. Madame Carré-Lamadon, die ja viel mit Offizieren verkehrte und sie als Kennerin beurteilte, fand ihn durchaus nicht übel. Sie bedauerte sogar, dass er kein Franzose sei. Er würde jedenfalls einen hübschen Husaren abgegeben haben, in der alle Damen sich vernarrt hätten.
Zu Hause angekommen wusste man wieder nicht, was beginnen. Scharfe Worte fielen sogar wegen ganz nebensächlicher Dinge. Das Diner verlief rasch und fast schweigsam. Jeder ging bald zu Bett, in der Hoffnung die Zeit mit Schlafen totzuschlagen.
Am anderen Morgen erschien alles mit abgespannten Mienen und in verdriesslicher Stimmung. Die Damen sprachen kaum noch mit Fett-Kloss.
Eine Glocke läutete; in der Kirche fand eine Taufe statt. Fett-Kloss hatte ein Kind, das bei Landleuten in Yvetot aufgezogen wurde. Sie sah es das ganze Jahr nicht und dachte kaum daran; aber der Gedanke an die stattfindende Taufe erweckte plötzlich in ihr ein heftiges zärtliches Verlangen nach demselben. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen bei der Taufe zugegen zu sein.
Sobald sie fortgegangen war, sahen sich alle an: man steckte die Köpfe zusammen, denn man fühlte unwillkürlich, dass jetzt endlich eine Entscheidung eintreten müsse. Loiseau hatte einen Einfall: Man sollte dem Offizier vorschlagen, Fett-Kloss allein da zu behalten und die übrigen abreisen zu lassen.
Herr Follenvie übernahm diesen Auftrag, aber er war im Handumdrehen wieder da. Der Deutsche, der sichtlich Menschenkenner war, hatte ihn einfach an die Luft gesetzt. Es blieb dabei, allen die Abreise zu versagen, wenn sein Wunsch nicht erfüllt würde.
Da brach die pöbelhafte Gesinnung der Madame Loiseau sich endlich Bahn. »Wir können hier doch nicht bis zu unserem Ende bleiben. Da dieses Mädchen nun einmal ein Geschäft daraus macht, mit aller Welt zu gehn, so finde ich es sehr lächerlich, wenn sie sich jetzt ziert. In Rouen nahm sie alles mit, was kam, und wenn es ein Kutscher war! Allerdings, Madame, z. B. den Kutscher von der Präfektur! Ich weiß es genau; er kaufte seinen Wein bei uns. Und heute, wo es sich darum handelt, uns aus der Verlegenheit zu reissen, spielt sie die Spröde, diese Rotznase …! Ich finde meinerseits, dass dieser Offizier sich sehr anständig benimmt. Er hat jedenfalls längere Zeit schon fasten müssen; und da wären wir drei Frauen ihm doch jedenfalls noch lieber gewesen. Aber nein; er begnügt sich mit diesem Allerwelts-Mädchen. Er hat Rücksicht gegen die verheirateten Damen. Bedenken Sie nur, dass er der Herr ist. Er braucht nur zu sagen: »Ich will,« und seine Soldaten schleppen uns mit Gewalt zu ihm hin.«
Ein Schauder durchrieselte die beiden anderen Damen. Die Augen der hübschen Madame Carré-Lamadon glänzten und sie war ordentlich blass geworden, als befände sie sich schon in der Gewalt des Offiziers.
Die Herren, welche sich etwas abseits besprochen hatten, kamen näher heran. Loiseau, ganz ausser sich, wollte diese »Elende« an Händen und Füssen gebunden, dem Feinde ausliefern. Aber der Graf, der eine angeborene Diplomaten-Natur besass, denn seine Vorfahren waren durch drei Generationen bei der Gesandtschaft gewesen, liebte nicht die Gewalt. »Sie muss selbst die Entscheidung treffen« sagte er.
Nun schmiedete man einen Plan.
Die Damen drängten sich zusammen, ihre Stimmen wurden leise, und jeder gab in der allgemeinen Beratung seine Ansicht kund. Es war übrigens sehr amüsant. Diese Damen fanden die sonderbarsten Redewendungen, die zartesten Ausdrücke, um die schmutzigsten Dinge zu sagen. Ein Uneingeweihter würde nichts verstanden haben; so vorsichtig deutete man alles an. Aber da die leichte Schamhülle, welche jede Frau von Welt besitzt, nur die äussere Oberfläche bedeckt, so gefielen sie sich eigentlich in diesem närrischen Abenteuer; es machte ihnen im Grunde des Herzens riesigen Spaß. Sie plauderten von Liebessachen, mit den schnalzenden Lippen eines Koches, der ein leckeres Souper bereitet.
Ihre Munterkeit kehrte von selbst zurück, so scherzhaft erschien ihnen schliesslich die ganze Geschichte. Der Graf fand sogar den Mut zu einigen riskanten Witzen, die aber so fein gegeben waren, dass alles lächelte.
Loiseau fand schon etwas derbere Ausdrücke, aber man war ihm nicht böse darob. Und der Gedanke, den seine Frau so rücksichtslos ausgesprochen hatte: »Wenn es das Geschäft dieses Mädchens nun einmal ist, warum macht sie hier eine Ausnahme?« beherrschte sie alle. Die reizende Madame Carré-Lamadon schien sogar heimlich zu denken, dass sie an jener ihrer Stelle hier am wenigsten eine Ausnahme machen würde.
Man durchdachte sorgfältig den Angriffsplan, wie bei einer belagerten Festung. Jeder prägte sich die Rolle ein, die er zu spielen hatte, die Beweise, die er vorbringen wollte, die Kunstgriffe, die er anwenden musste. Man ordnete den Angriff, die Kampfesmittel und den Sturm, um diese lebende Feste zu zwingen, den Feind aufzunehmen.
Nur Cornudet hielt sich abseits; er stand dieser Sache ganz fremd gegenüber.
Man war so in der Verteilung der Rollen vertieft, dass man Anfang nicht bemerkte, wie Fett-Kloss aus der Kirche zurückkam. Aber ein leises »Pst« des Grafen warnte sie noch rechtzeitig. Bei ihrem Erscheinen schwieg plötzlich alles still und eine gewisse Verlegenheit hielt anfangs jeden ab, sie anzureden. »War es hübsch bei der Taufe?« fragte endlich die Gräfin, welche durch ihre Erziehung mehr an die Doppelzüngigkeit des Salons gewöhnt war.
Fett-Kloss, noch ganz bewegt, schilderte alles, sowohl die Gesichter als die Haltung der Einzelnen; sogar das Innere der Kirche. »Es tut einem zuweilen so gut, zu beten,« fügte sie hinzu.
Bis zum Frühstück bemühten sich die Damen liebenswürdig gegen sie zu sein, um sie vertrauensseliger und für ihre Vorschläge zugänglicher zu machen.
Bei Tisch begann man sofort die Annäherungsversuche. Zunächst führte man ein allgemeines Gespräch über den Opfermut. Man führte Beispiele aus alter Zeit an: Judith und Holofernes, dann, ohne rechte Veranlassung Lucrecia und Sextus; Kleopatra, die ihre zahlreichen Feinde einen nach dem anderen in ihrem Bett zu ihren Sklaven umwandelte. Dann tischte man eine Geschichte auf, so fantastisch, wie sie nur im Gehirn dieser unwissenden Millionäre entstehen konnte, wonach nämlich die Römerinnen bei Kapua den Hannibal und mit ihm seine Lieutenants und die Scharen seiner Söldner in ihren Armen eingeschläfert hätten. Man führte der Reihe nach alle Frauen an, die einen Eroberer auf seiner Siegeslaufbahn abhielten, ihren Leib zum Schlachtfeld machten, ihn als Waffe, als Mittel der Herrschaft verwendeten und durch ihre heroischen Liebesopfer die Welt von einem verhassten schändlichen Wesen befreiten; die ihre Keuschheit der Rache und der Pflicht opferten.
Man sprach sogar mit verschleierten Ausdrücken von jener vornehmen Engländerin, die sich eine furchtbare ansteckende Krankheit einimpfen ließ um sie auf Bonaparte zu übertragen, der nur durch ein Wunder der Ansteckung entging, indem ihm zur Stunde des gefährlichen Rendezvous plötzlich die Manneskraft fehlte.
Alles dieses erzählte man in ganz leichter und zufälliger Weise; nur zuweilen brach man absichtlich in lauten Beifall aus, um zur Nacheiferung anzuspornen. Man hätte schliesslich glauben sollen, dass die einzige Aufgabe der Frau hier auf Erden, ein ewiges Opfer ihrer Person, eine beständige Hingabe an die Launen der Soldateska sei.
Die beiden Ordensschwestern schienen nichts zu verstehen; sie waren in tiefe Gedanken versunken. Fett-Kloss sagte nichts.
Man ließ ihr den Nachmittag über Zeit zum Nachdenken. Aber statt sie, wie bisher »Madame« zu nennen, sagte man jetzt »mein Fräulein« zu ihr, ohne dass man sich selbst über den Grund dazu Rechenschaft gab. Aber es war, als hätte man die Achtung vor ihr um einen Grad heruntersetzen, ihr das Gefühl ihrer Schande näher legen wollen.
In dem Augenblick, wo die Suppe aufgetragen wurde, erschien Herr Follenvie. »Der preussische Offizier lässt Fräulein Elisabeth Rousset fragen, ob sie ihre Ansicht noch nicht geändert hat?« wiederholte er seine stehende Phrase.
»Nein, mein Herr,« antwortete Fett-Kloss trocken. Aber beim Essen fiel die Gesellschaft aus der Rolle. Loiseau brachte einige schlechtgewählte Redensarten vor. Jeder klopfte sich an die Stirn und suchte nach irgendwelchen neuen Beispielen, als die Gräfin, ohne Überlegung vielleicht, in dem unbestimmten Bedürfnisse Trost in der Religion zu suchen, die ältere der Ordensschwestern nach den großen Taten aus dem Leben der Heiligen fragte. Da hatten freilich manche von ihnen Dinge begangen, die nach unseren Begriffen ein Verbrechen gewesen wären. Aber die Kirche billigte zweifelsohne solche Dinge, wenn sie zur Ehre Gottes oder zum Heile des Nächsten vollbracht waren. Das war ein kräftiges Argument, von dem die Gräfin ihren Nutzen zog. Jedenfalls brachte ihr die Schwester einen ganz unverhofften mächtigen Beistand, mochte sie nun beabsichtigt haben ihr zu helfen, oder mochte sie rein ohne das geringste Verständnis für die Sachlage ihre Meinung aussprechen. Was sie da sagte war über jeden Zweifel erhaben; ihr Glaube war unerschütterlich wie ein Fels; ohne Zögern, ohne Gewissensbisse gab sie ihre Opferwilligkeit zu erkennen. Sie begriff das Opfer Abrahams, wie sie sagte, vollständig; denn sie würde unbedingt Vater und Mutter töten, wenn sie den Befehl des Himmels dazu erhielte. Ihrer Meinung nach könne Gott nichts missfallen, was zu einem löblichen Zwecke geschehe. Die Gräfin hatte ihren Vorteil wahrgenommen, und sie, ohne dass sie es merkte, eine erbauliche Umschreibung des alten Grundsatzes »der Zweck heiligt die Mittel« ausführen lassen.
»Sie denken also Schwester,« fragte sie »dass Gott jedes Opfer annimmt, und die Tat verzeiht, wenn der Beweggrund ein reiner ist?«
»Wer wollte das bezweifeln, Madame? Eine an sich tadelnswerte Handlung wird durch die Absicht, die uns leitet, verdienstlich.«
So fuhren sie noch lange fort, den Willen Gottes auseinanderzusetzen, seine Entscheidungen gewissermassen vorweg zu nehmen; sie schrieben ihm schliesslich ein Interesse an Dingen zu, die ihn in der Tat gar nichts angingen.
Alles dieses war natürlich geschickt verschleiert; aber jedes Wort der ehrwürdigen Schwester legte eine Bresche in die Widerstandskraft der Prostituierten. Dann lenkte die Unterhaltung sich auf das Ordenshaus, die Oberin, die Schwester selbst und ihre kleine Nachbarin, die Schwester Nicephora. Man hatte sie nach Havre berufen, um dort im Lazareth die Pflege der Blatternkranken zu übernehmen. Sie beschrieb das Aussehen dieser armen Soldaten und schilderte alle Einzelnheiten der Krankheit. Und während sie nun durch die Laune dieses Preussen zurückgehalten würden, stürbe vielleicht eine ganze Anzahl Franzosen, die durch ihre Pflege hätten gerettet werden können. Die Pflege kranker Soldaten sei ihre Spezialität. Sie wäre in der Krim, in Italien, in Österreich mitgewesen. Während sie so ihren Reisegefährten erzählte, entpuppte sie sich vor deren Augen plötzlich als eine jener wackren mutigen Ordensfrauen, die dafür geschaffen zu sein scheinen, im Kampfgewühl die Verwundeten aufzuheben und mit einem Wort die rohesten Schmierfinken zum Gehorsam zu bringen. Sie war eine echte Schwester Ra-ta-plan, deren gefurchtes mit zahllosen Löchern bedecktes Gesicht selbst ein Bild der Verwüstung des Krieges bot.
Als sie geendet hatte, sprach keiner ein Wort; so ausgezeichnet schienen ihre Ausführungen gewirkt zu haben.
Sofort nach dem Essen begab man sich schnell hinauf und erst ziemlich spät am anderen Morgen kamen die Reisenden wieder zusammen.
Das Frühstück verlief ruhig. Man wollte das Samenkorn, das die alte Schwester ausgestreut hatte, erst aufgehen lassen, um dann die Frucht umso besser einzuheimsen.
Die Gräfin schlug Nachmittags einen Spaziergang vor. Wie verabredet, nahm der Graf den Arm von Fett-Kloss und blieb mit ihr etwas hinter den anderen zurück.
Er sprach mit ihr in vertraulichem, väterlichem etwas herablassendem Tone, wie ihn gesetzte Herren bei solchen Mädchen gern anwenden. Er nannte sie »mein Kind,« behandelte sie zugleich aber ein wenig von oben herab, sich mit seiner unbestreitbaren Ehrenhaftigkeit brüstend.
»Sie ziehen also vor,« sagte er direkt auf sein Ziel lossteuernd, »uns mit Ihnen zugleich all den Gewalttätigkeiten auszusetzen, die eine Schlappe der preussischen Truppen zur Folge haben muss, statt in eine jener kleinen Gefälligkeiten einzuwilligen, die Sie doch sonst im Leben so oft gewährt haben?«
Fett-Kloss antwortete nichts.
Jetzt fasste er sie bei ihrer Gutherzigkeit, bei ihrer Vernunft, bei ihrem weichen Gemüt an. Er selbst wisse recht gut, stets der »Herr Graf« zu bleiben und doch dabei höflich, entgegenkommend und liebenswürdig zu sein, wenn es erforderlich wäre. Er pries den Dienst, den sie ihnen leisten würde, und sprach von ihrer Erkenntlichkeit. »Und dann weißt Du, mein Kind,« fuhr er sie plötzlich duzend fort, »er dürfte sich rühmen, ein Mädchen besessen zu haben, wie er sie bei sich zu Hause wohl selten finden wird.«
Fett-Kloss antwortete wieder nichts und eilte der Gesellschaft nach.
Sobald sie wieder zu Hause kamen, flüchtete sie auf ihr Zimmer und kam nicht wieder zum Vorschein. Unten war man in der höchsten Aufregung«. Was würde sie beginnen? Welch ein Missgeschick, wenn sie sich endgültig weigern würde.
Zu Diner-Stunde erwartete man sie vergeblich. Herr Follenvie erschien und verkündete, dass Fräulein Rousset sich unwohl fühle und man sich nur zu Tische setzen möchte. Alles spitzte die Ohren. »Ist es so weit?« fragte der Graf den Wirt ganz leise. »Jawohl.« Er hütete sich seinen Gefährten laut etwas zu sagen; aber er machte ihnen ein leichtes Zeichen mit dem Kopfe. Ein Seufzer der Erleichterung entstieg jeder Brust; alle Gesichter hellten sich auf. »Sapperlot!« schrie Loiseau »ich gebe Sekt, wenn es hier welchen gibt,« Madame Loiseau fiel vor Schreck fast auf den Rücken, als gleich darauf der Wirt mit vier Flaschen unterm Arm zurückkam. Jeder war jetzt lustig und mitteilsam geworden; eine ausgelassene Freude bewegte aller Herzen. Dem Grafen erschien jetzt plötzlich Frau Carré-Lamadon reizend und der Fabrikant sagte der Gräfin allerlei Artigkeiten. Die Unterhaltung wurde lebhaft und mit allerlei Scherzen gewürzt.
»Still!« rief plötzlich Loiseau mit ängstlicher Miene die Hände aufhebend. Alles schwieg überrascht, beinahe erschreckt. Dann spitzte er die Ohren machte »Pst« mit beiden Händen, hob die Augen zur Decke empor, lauschte nochmals und sagte dann seine gewöhnliche Miene wieder annehmend: »Beruhigen Sie sich; es geht alles gut.«
Man verstand ihn zuerst nicht; aber dann fing alles an zu lachen.
Nach einer halben Stunde wiederholte er denselben Witz und so mehrmals noch im Verlaufe des Abends. Er tat als ob er jemand im oberen Stock anriefe, ihm zweideutige gute Ratschläge gebe, wie sie in seinem Weinreisenden-Gehirn entstanden. Zuweilen murmelte er auch ein »Armes Mädchen!« zwischen den Zähnen, oder er rief: »Infamer Preusse, pack Dich.« Hin und wieder, wenn niemand daran dachte, rief er mit zitternder Stimme: »Genug, genug!« und fügte wie im Selbstgespräch hinzu: »Hoffentlich sehen wir sie noch wieder; wenn er sie nur nicht umbringt, der Elende!«
Obschon diese Scherze wahrhaftig recht geschmacklos waren, so amüsierte sich doch alles und keiner nahm sie ihm übel. Denn die Entrüstung richtet sich unwillkürlich nach der Umgebung, und bei jenen war die Luft allmählich mit zweideutiger Vorstellungen geladen.
Beim Dessert fingen sogar die Damen an geistreiche pikante Anspielungen zu machen, ihre Augen glänzten nach dem reichlichen Weingenusse. Der Graf, der selbst bei solchen Gelegenheiten sein würdevolles Benehmen zu wahren wusste, brachte einen geistreichen Vergleich über das Ende eines Winteraufenthaltes am Nordpol und die Freude der Schiffbrüchigen, welche den Weg nach dem Süden wieder offen sahen.
»Ich trinke auf unsere Befreiung,« rief Loiseau etwas angetrunken sein Glas erhebend. Alle sprangen auf und stiessen an. Selbst die beiden Ordensschwestern liessen sich durch die Heiterkeit der anderen Damen verleiten, von dem Champagner zu kosten, den sie noch nie getrunken hatten. Sie meinten, er schmecke wie Brauselimonade, nur viel feiner.
»Schade, dass kein Klavier vorhanden ist«; meinte Loiseau, »sonst könnten wir eine Quadrille tanzen.«
Cornudet hatte fast kein Wort gesprochen und kaum eine Miene verzogen. Er schien vielmehr in ernste Gedanken versunken und zerrte zuweilen mit grimmiger Miene an seinem großen Barte, als wollte er ihn noch länger ziehen. Als man endlich um Mitternacht aufbrach, patschte ihm Loiseau, der etwas turkelig war, auf den Bauch und sagte lallend: »Sie sind heute nicht bei Laune, Bürger; »Sie sprechen ja kein Wort.« Cornudet drehte sich unwillig herum, mass die Gesellschaft mit einem zornigen wilden Blick und sagte: »Ich erkläre Ihnen offen, dass Sie eine große Gemeinheit begangen haben.« Er stand auf, und ging hinaus fortwährend »eine große Gemeinheit!« murmelnd.
Im ersten Augenblick war man verblüfft. Selbst Loiseau stierte mit dummen Augen vor sich hin. Aber dann gewann er seine muntere Stimmung wieder und sagte plötzlich lachend: »Sie sind zu sauer, ja, zu sauer.« Als man ihn nicht verstand, erzählte er »die Geheimnisse des Ganges«, wobei er sich vor Lachen ausschütten wollte. Auch die Damen amüsierten sich köstlich. Der Graf und Frau Carré-Lamadon lachten Tränen. Sie fanden es unglaublich.
»Wie? Sie wissen gewiss? Er wollte …«
»Ich sage Ihnen ja, dass ich es gesehen habe.«
»Und sie hat sich geweigert?«
»Weil der Preusse im Zimmer nebenan wohnt.«
»Unmöglich!«
»Mein Wort darauf.«
Der Graf erstickte fast; der Fabrikant hielt sich den Bauch mit beiden Händen.
»Und deshalb, wissen Sie«, fuhr Loiseau fort, »ist er heute Abend nicht zufrieden mit ihr, durchaus nicht zufrieden.«
Alle drei brachen auf, sie waren krank vor Lachen und glaubten nicht mehr weiter zu können.
Oben trennte man sich. Beim Zubettgehen machte Madame Loiseau ihren Mann darauf aufmerksam, dass dieses »Kücken,« wie Sie die kleine Madame Carré-Lamadon nannte, den ganzen Abend vor Neid vergangen sei. »Du weißt, dass die Frauen, die es nun einmal mit der Uniform halten, es eben so gern sich vom Preussen wie Franzosen gefallen lassen. Großer Gott! Ist das nicht eine Schande?«
Und die ganze Nacht durch hörte man auf dem Gange allerhand leichte, kaum wahrnehmbare Geräusche, wie Seufzer, wie das Tappen von blossen Füssen, wie ein leises Knacken. Jedenfalls schien die Gesellschaft spät einzuschlafen, denn noch lange schimmerte Licht unter den Türritzen her. Der Champagner hat so seine Eigentümlichkeiten. Er soll einen unruhigen Schlaf verursachen.
Am anderen Morgen strahlte die Sonne hell über die glänzende Schneedecke. Der Omnibus stand nun endlich bespannt vor der Türe. Eine Schar weißer Tauben, die dichten Federn aufwärts sträubend, mit rotem, in der Mitte schwarz punktiertem Auge, wandelte gravitätisch zwischen den Beinen der sechs Pferde umher und suchte ihre Nahrung in dem rauchenden Dünger derselben.