Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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»Wir möch­ten ab­rei­sen, mein Herr,« nahm der Graf das Wort.

»Nein.«

»Darf ich nach der Ur­sa­che der Ver­wei­ge­rung fra­gen?«

»Weil ich nicht will.«

»Ich möch­te Ih­nen, mein Herr, aber er­ge­benst be­mer­ken, dass Ihr kom­man­die­ren­der Ge­ne­ral uns die Er­laub­nis zur Rei­se nach Diep­pe be­wil­ligt hat; wir hät­ten, däch­te ich, nichts be­gan­gen, um die­sel­be zu ver­wir­ken.«

»Ich will aber nicht … Da­mit gut … Sie kön­nen gehn.«

Die drei Herrn ent­fern­ten sich un­ter ei­ner Ver­beu­gung.

Der Nach­mit­tag ver­lief sehr trau­rig. Man konn­te den Ein­fall des Deut­schen nicht be­grei­fen, und kam auf die son­der­bars­ten Ide­en. Alle Welt hielt sich jetzt in der Kü­che auf und man be­sprach sich fort­ge­setzt un­ter den un­glaub­lichs­ten Ver­mu­tun­gen. Woll­te man sie viel­leicht als Gei­seln zu­rück­hal­ten? – aber zu wel­chem Zweck? Oder sie als Ge­fan­ge­ne fort­schlep­pen? – Wo­hin? Oder woll­te man eine ge­hö­ri­ge Brand­schat­zung bei ih­nen vor­neh­men? Bei die­sem Ge­dan­ken er­starr­te ih­nen das Blut. Die Reichs­ten wa­ren die Furcht­sams­ten. Sie sa­hen sich schon im Geis­te Hau­fen von Gold in die Hän­de die­ser zü­gel­lo­sen Sol­da­tes­ka le­gen, um nur ihr Le­ben zu ret­ten. Sie zer­bra­chen sich den Kopf um nur eine glaub­haf­te Lüge zu er­sin­nen, ih­ren Reich­tum zu ver­heim­li­chen und für arm, ganz arm zu gel­ten. Loi­seau nes­tel­te sei­ne Uhr­ket­te los und ver­barg sie in der Ta­sche. Die ein­bre­chen­de Nacht ver­mehr­te noch ihre Furcht. Die Lam­pe wur­de an­ge­zün­det und Ma­da­me Loi­seau schlug eine Par­tie Ein­und­dreis­sig vor, da es noch zwei Stun­den bis zum Di­ner war. Das wäre doch we­nigs­tens eine Zer­streu­ung. Der Vor­schlag wur­de an­ge­nom­men. So­gar Cor­nu­det, der aus Höf­lich­keit sei­ne Pfei­fe hat­te aus­ge­hen las­sen, be­tei­lig­te sich.

Der Graf schlug die Kar­ten – gab – und Fett-Kloss hat­te auf den ers­ten An­hieb Ein­und­dreis­sig. Bald ver­scheuch­te das In­ter­es­se am Spiel die Furcht, die sie be­seelt hat­te. Cor­nu­det be­merk­te so­gar, dass das Ehe­paar Loi­seau mo­gel­te.

Als man sich zu Ti­sche set­zen woll­te, er­schi­en Herr Fol­len­vie wie­der.

»Der preus­si­sche Of­fi­zier lässt Fräu­lein Eli­sa­beth Rous­set fra­gen, ob sie ihre An­sicht noch nicht ge­än­dert habe,« sag­te er mit sei­ner hei­se­ren Stim­me.

Fett-Kloss blieb ganz bleich ste­hen. Dann wur­de sie plötz­lich knall­rot und so von Zorn er­stickt, dass sie an­fangs nicht spre­chen konn­te.

»Sie wer­den die­ser Ka­nail­le, die­sem Schmutz­fin­ken, die­sem Lum­pen von Preus­sen sa­gen, dass ich nie­mals wol­len wer­de. Ver­ste­hen Sie wohl, nie, nie, nie­mals!«

Der di­cke Wirt ging hin­aus. Nun wur­de Fett-Kloss von al­len Sei­ten um­ringt, mit Fra­gen be­stürmt, und ener­gisch auf­ge­for­dert end­lich das Ge­heim­nis zu lüf­ten, das über ih­rer ers­ten Be­spre­chung mit dem Of­fi­zier schweb­te. An­fangs sträub­te sie sich noch, aber der Är­ger riss sie schliess­lich mit fort. »Was er will? … Was er möch­te? … Er will mit mir schla­fen,« schrie sie auf. Nie­mand nahm an den Wor­ten An­sto­ss, so groß war die Er­re­gung über den Of­fi­zier. Cor­nu­det stiess sei­nen Schop­pen so hef­tig zu­rück, dass er vom Tisch fiel und klir­rend zer­sprang. Das war ein Ge­schimpf über die­sen elen­den Schmut­zi­an, ein zor­ni­ges Ge­mur­mel, eine ein­stim­mi­ge Auf­for­de­rung zur Stand­haf­tig­keit, als ob von je­dem Ein­zel­nen ein Teil die­ses Op­fers ver­langt wor­den wäre. Der Graf er­klär­te mit Ab­scheu, dass die­se Leu­te da schlim­mer haus­ten, wie die Bar­ba­ren, Die Frau­en na­ment­lich be­zeug­ten Fett-Kloss eine war­me wohl­tu­en­de Teil­nah­me. Die Or­dens­schwes­tern, die nur zu den Mahl­zei­ten un­ten er­schie­nen, hat­ten den Kopf ge­senkt und sag­ten nichts.

Als der ers­te Zorn ver­raucht war, setz­te man sich nichts­de­sto­we­ni­ger zu Ti­sche; aber alle wa­ren ein­sil­big und nach­denk­lich.

Die Da­men zo­gen sich früh­zei­tig zu­rück. Die Herrn, die nun sämt­lich rauch­ten, ar­ran­gier­ten eine Par­tie Ecar­té, zu der auch Herr Fol­len­vie auf­ge­for­dert war. Man ge­dach­te bei die­ser Ge­le­gen­heit ihn ge­schickt über die Mit­tel aus­zu­fra­gen, wie man den Ei­gen­sinn des Of­fi­ziers bre­chen könn­te. Aber er war nur auf sein Spiel be­dacht und gab zer­streu­te Ant­wor­ten. »An’s Spiel, mei­ne Herrn; an’s Spiel!« wie­der­hol­te er stets. Sei­ne Auf­merk­sam­keit war so ge­fes­selt, dass er so­gar das Auss­pu­cken ver­gass, ob­gleich sich wah­re Or­gel­tö­ne in sei­ner Brust ent­wi­ckel­ten. Sei­ne keu­chen­de Keh­le gab die gan­ze Ska­la des Asth­ma’s, von den höchs­ten bis zu den nied­rigs­ten No­ten wie­der.

So­gar als sei­ne Frau, die vor Mü­dig­keit um­fiel, ihn ho­len woll­te, wei­ger­te er sich mit her­auf­zu­ge­hen. Da ging sie al­lein, denn sie pfleg­te früh als die ers­te mit der Son­ne auf­zu­ste­hen, wäh­rend ihr Mann ein Nacht­vo­gel war, der bis zur spä­tes­ten Stun­de gern mit Be­kann­ten auf­zu­blei­ben pfleg­te. »Leg’ mir mein Fe­der­bett an den Ofen,« rief er ihr nach und wand­te sich dann wie­der den Kar­ten zu. Als man end­lich ein­sah, dass aus ihm nichts her­aus­zu­krie­gen war, er­klär­te man, es sei Zeit zum Schla­fen­ge­hen; und je­der such­te sein Bett auf.

Am an­de­ren Mor­gen war al­les bei Zei­ten auf; man heg­te eine un­be­stimm­te Hoff­nung, ein noch grös­se­res Ver­lan­gen nach der Abrei­se, einen Schre­cken vor ei­nem zwei­ten lang­wei­li­gen Tage in die­ser klei­nen Her­ber­ge.

Aber ach! die Pfer­de blie­ben im Stal­le, der Kut­scher war nir­gends zu se­hen. Müs­sig um­stand al­les den Wa­gen.

Das Früh­stück ver­lief sehr trau­rig. Ge­gen Fett-Kloss war eine ge­wis­se Er­käl­tung ein­ge­tre­ten; denn in der Nacht, die so man­chen Rat­schluss birgt, hat­te man sei­ne An­sicht et­was ge­mäs­sigt. Man war jetzt fast är­ger­lich ge­gen die­ses Mäd­chen, weil sie es nicht ver­stan­den hat­te, heim­lich dem Preus­sen zu Wil­len zu sein. Welch an­ge­neh­me Über­ra­schung wäre das am Mor­gen für ihre Rei­se­ge­fähr­ten ge­we­sen. Was konn­te es ein­fa­che­res ge­ben? Wer hät­te üb­ri­gens et­was da­von er­fah­ren? Wa­rum konn­te sie nicht den Schein wah­ren, und dem Of­fi­zier sa­gen, dass sie nur der Not wei­chend sich ihm er­ge­be? Üb­ri­gens für sie war das doch über­haupt nur ne­ben­säch­lich.

Aber noch sprach nie­mand sei­ne Ge­dan­ken of­fen aus.

Am Nach­mit­tage, als man sich zum Ster­ben lang­weil­te, schlug der Graf einen Spa­zier­gang in der Um­ge­gend vor. Je­der hüll­te sich sorg­fäl­tig ein und die klei­ne Ge­sell­schaft trat ih­ren Weg an, aus­ser Cor­nu­det; der den Platz am Feu­er vor­zog, und den bei­den Schwes­tern, die ihre Zeit in der Kir­che oder der Pfarr­woh­nung zu­brach­ten.

Die Käl­te, die von Tag zu Tag in­ten­si­ver wur­de, pri­ckel­te ih­nen emp­find­lich in Nase und Au­gen; je­der Schritt wur­de ih­ren kal­ten Füs­sen zur Pla­ge. Als sie nun draus­sen das wei­te Feld vor sich sa­hen, er­schi­en ih­nen die un­be­grenz­te wei­ße Flä­che so öde und trau­rig, dass man so­fort wie­der den Rück­weg ein­schlug.

Die vier Da­men gin­gen vor­aus, wäh­rend die drei Her­ren in ei­ni­ger Ent­fer­nung folg­ten.

Loi­seau, der die Lage er­fasst hat­te, frag­te plötz­lich, ob »die­ses Mäd­chen da« sie noch lan­ge in die­ser Pat­sche sit­zen las­sen woll­te. Der Graf, stets rit­ter­lich, er­klär­te, man kön­ne von ei­nem Wei­be ein sol­ches Op­fer nicht ver­lan­gen, es müs­se von ihr selbst aus­ge­hen. Herr Carré-La­ma­don mein­te, dass wenn die Fran­zo­sen, wie ver­lau­te­te, einen Of­fen­siv-Rück­sto­ss von Diep­pe aus ma­chen wür­den, so kön­ne das Tref­fen ent­schie­den nur bei Tôtes statt­fin­den. Die­se An­sicht mach­te die an­de­ren be­denk­lich. »Ob man sich nicht zu Fuss da­von ma­chen woll­te?« mein­te Loi­seau wie­der. Der Graf zuck­te die Ach­seln. »Woran den­ken Sie bei dem Schnee? Mit un­se­ren Frau­en? Und dann wür­de man so­fort die Ver­fol­gung auf­neh­men, uns ein­ho­len, und als Ge­fan­ge­ne der Gna­de und Un­gna­de der Sol­da­tes­ka über­lie­fern.« Das war rich­tig und man schwieg.

Die Da­men spra­chen von Toi­let­te; aber ein ge­wis­ser Zwang schi­en auf ih­nen zu las­ten.

Plötz­lich an der Stras­se­n­e­cke er­schi­en der Of­fi­zier. Sein ho­her schlan­ker Wuchs hob sich bei dem lich­ten Schnee noch deut­li­cher ab; er ging mit ge­bo­ge­nen Kni­en mit je­ner ei­gen­tüm­li­chen Hal­tung der Sol­da­ten, die ihre sorg­fäl­tig ge­wichs­ten Stie­fel nicht be­schmut­zen wol­len.

Er grüss­te flüch­tig die Da­men und sah hoch­mü­tig auf die Herrn, wel­che üb­ri­gens noch Selbst­ge­fühl ge­nug be­sas­sen, den Hut nicht zu lüf­ten, wenn­gleich Loi­seau schon mit der Hand nach dem Kop­fe fuhr.

Fett-Kloss war bis über die Ohren rot ge­wor­den; den drei Frau­en war es ein pein­li­ches Ge­fühl, von dem Of­fi­zier so in Ge­sell­schaft die­ser Pro­sti­tu­ier­ten ge­trof­fen zu wer­den, ge­gen die er sich so un­rit­ter­lich be­nom­men hat­te.

Das Ge­spräch dreh­te sich jetzt na­tür­lich um ihn, um sei­ne Hal­tung, sein Ge­sicht. Ma­da­me Carré-La­ma­don, die ja viel mit Of­fi­zie­ren ver­kehr­te und sie als Ken­ne­rin be­ur­teil­te, fand ihn durch­aus nicht übel. Sie be­dau­er­te so­gar, dass er kein Fran­zo­se sei. Er wür­de je­den­falls einen hüb­schen Husa­ren ab­ge­ge­ben ha­ben, in der alle Da­men sich ver­narrt hät­ten.

Zu Hau­se an­ge­kom­men wuss­te man wie­der nicht, was be­gin­nen. Schar­fe Wor­te fie­len so­gar we­gen ganz ne­ben­säch­li­cher Din­ge. Das Di­ner ver­lief rasch und fast schweig­sam. Je­der ging bald zu Bett, in der Hoff­nung die Zeit mit Schla­fen tot­zu­schla­gen.

Am an­de­ren Mor­gen er­schi­en al­les mit ab­ge­spann­ten Mie­nen und in ver­driess­li­cher Stim­mung. Die Da­men spra­chen kaum noch mit Fett-Kloss.

 

Eine Glo­cke läu­te­te; in der Kir­che fand eine Tau­fe statt. Fett-Kloss hat­te ein Kind, das bei Land­leu­ten in Yve­tot auf­ge­zo­gen wur­de. Sie sah es das gan­ze Jahr nicht und dach­te kaum dar­an; aber der Ge­dan­ke an die statt­fin­den­de Tau­fe er­weck­te plötz­lich in ihr ein hef­ti­ges zärt­li­ches Ver­lan­gen nach dem­sel­ben. Sie konn­te der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen bei der Tau­fe zu­ge­gen zu sein.

So­bald sie fort­ge­gan­gen war, sa­hen sich alle an: man steck­te die Köp­fe zu­sam­men, denn man fühl­te un­will­kür­lich, dass jetzt end­lich eine Ent­schei­dung ein­tre­ten müs­se. Loi­seau hat­te einen Ein­fall: Man soll­te dem Of­fi­zier vor­schla­gen, Fett-Kloss al­lein da zu be­hal­ten und die üb­ri­gen ab­rei­sen zu las­sen.

Herr Fol­len­vie über­nahm die­sen Auf­trag, aber er war im Handum­dre­hen wie­der da. Der Deut­sche, der sicht­lich Men­schen­ken­ner war, hat­te ihn ein­fach an die Luft ge­setzt. Es blieb da­bei, al­len die Abrei­se zu ver­sa­gen, wenn sein Wunsch nicht er­füllt wür­de.

Da brach die pö­bel­haf­te Ge­sin­nung der Ma­da­me Loi­seau sich end­lich Bahn. »Wir kön­nen hier doch nicht bis zu un­se­rem Ende blei­ben. Da die­ses Mäd­chen nun ein­mal ein Ge­schäft dar­aus macht, mit al­ler Welt zu gehn, so fin­de ich es sehr lä­cher­lich, wenn sie sich jetzt ziert. In Rou­en nahm sie al­les mit, was kam, und wenn es ein Kut­scher war! Al­ler­dings, Ma­da­me, z. B. den Kut­scher von der Prä­fek­tur! Ich weiß es ge­nau; er kauf­te sei­nen Wein bei uns. Und heu­te, wo es sich dar­um han­delt, uns aus der Ver­le­gen­heit zu reis­sen, spielt sie die Sprö­de, die­se Rotz­na­se …! Ich fin­de mei­ner­seits, dass die­ser Of­fi­zier sich sehr an­stän­dig be­nimmt. Er hat je­den­falls län­ge­re Zeit schon fas­ten müs­sen; und da wä­ren wir drei Frau­en ihm doch je­den­falls noch lie­ber ge­we­sen. Aber nein; er be­gnügt sich mit die­sem Al­ler­welts-Mäd­chen. Er hat Rück­sicht ge­gen die ver­hei­ra­te­ten Da­men. Be­den­ken Sie nur, dass er der Herr ist. Er braucht nur zu sa­gen: »Ich will,« und sei­ne Sol­da­ten schlep­pen uns mit Ge­walt zu ihm hin.«

Ein Schau­der durch­rie­sel­te die bei­den an­de­ren Da­men. Die Au­gen der hüb­schen Ma­da­me Carré-La­ma­don glänz­ten und sie war or­dent­lich blass ge­wor­den, als be­fän­de sie sich schon in der Ge­walt des Of­fi­ziers.

Die Her­ren, wel­che sich et­was ab­seits be­spro­chen hat­ten, ka­men nä­her her­an. Loi­seau, ganz aus­ser sich, woll­te die­se »Elen­de« an Hän­den und Füs­sen ge­bun­den, dem Fein­de aus­lie­fern. Aber der Graf, der eine an­ge­bo­re­ne Di­plo­ma­ten-Na­tur be­sass, denn sei­ne Vor­fah­ren wa­ren durch drei Ge­ne­ra­tio­nen bei der Ge­sandt­schaft ge­we­sen, lieb­te nicht die Ge­walt. »Sie muss selbst die Ent­schei­dung tref­fen« sag­te er.

Nun schmie­de­te man einen Plan.

Die Da­men dräng­ten sich zu­sam­men, ihre Stim­men wur­den lei­se, und je­der gab in der all­ge­mei­nen Be­ra­tung sei­ne An­sicht kund. Es war üb­ri­gens sehr amüsant. Die­se Da­men fan­den die son­der­bars­ten Re­de­wen­dun­gen, die zar­tes­ten Aus­drücke, um die schmut­zigs­ten Din­ge zu sa­gen. Ein Un­ein­ge­weih­ter wür­de nichts ver­stan­den ha­ben; so vor­sich­tig deu­te­te man al­les an. Aber da die leich­te Scham­hül­le, wel­che jede Frau von Welt be­sitzt, nur die äus­se­re Ober­flä­che be­deckt, so ge­fie­len sie sich ei­gent­lich in die­sem när­ri­schen Aben­teu­er; es mach­te ih­nen im Grun­de des Her­zens rie­si­gen Spaß. Sie plau­der­ten von Lie­bes­sa­chen, mit den schnal­zen­den Lip­pen ei­nes Ko­ches, der ein le­cke­res Sou­per be­rei­tet.

Ihre Mun­ter­keit kehr­te von selbst zu­rück, so scherz­haft er­schi­en ih­nen schliess­lich die gan­ze Ge­schich­te. Der Graf fand so­gar den Mut zu ei­ni­gen ris­kan­ten Wit­zen, die aber so fein ge­ge­ben wa­ren, dass al­les lä­chel­te.

Loi­seau fand schon et­was der­be­re Aus­drücke, aber man war ihm nicht böse darob. Und der Ge­dan­ke, den sei­ne Frau so rück­sichts­los aus­ge­spro­chen hat­te: »Wenn es das Ge­schäft die­ses Mäd­chens nun ein­mal ist, warum macht sie hier eine Aus­nah­me?« be­herrsch­te sie alle. Die rei­zen­de Ma­da­me Carré-La­ma­don schi­en so­gar heim­lich zu den­ken, dass sie an je­ner ih­rer Stel­le hier am we­nigs­ten eine Aus­nah­me ma­chen wür­de.

Man durch­dach­te sorg­fäl­tig den An­griffs­plan, wie bei ei­ner be­la­ger­ten Fes­tung. Je­der präg­te sich die Rol­le ein, die er zu spie­len hat­te, die Be­wei­se, die er vor­brin­gen woll­te, die Kunst­grif­fe, die er an­wen­den muss­te. Man ord­ne­te den An­griff, die Kamp­fes­mit­tel und den Sturm, um die­se le­ben­de Fes­te zu zwin­gen, den Feind auf­zu­neh­men.

Nur Cor­nu­det hielt sich ab­seits; er stand die­ser Sa­che ganz fremd ge­gen­über.

Man war so in der Ver­tei­lung der Rol­len ver­tieft, dass man An­fang nicht be­merk­te, wie Fett-Kloss aus der Kir­che zu­rück­kam. Aber ein lei­ses »Pst« des Gra­fen warn­te sie noch recht­zei­tig. Bei ih­rem Er­schei­nen schwieg plötz­lich al­les still und eine ge­wis­se Ver­le­gen­heit hielt an­fangs je­den ab, sie an­zu­re­den. »War es hübsch bei der Tau­fe?« frag­te end­lich die Grä­fin, wel­che durch ihre Er­zie­hung mehr an die Dop­pel­zün­gig­keit des Sa­lons ge­wöhnt war.

Fett-Kloss, noch ganz be­wegt, schil­der­te al­les, so­wohl die Ge­sich­ter als die Hal­tung der Ein­zel­nen; so­gar das In­ne­re der Kir­che. »Es tut ei­nem zu­wei­len so gut, zu be­ten,« füg­te sie hin­zu.

Bis zum Früh­stück be­müh­ten sich die Da­men lie­bens­wür­dig ge­gen sie zu sein, um sie ver­trau­ens­se­li­ger und für ihre Vor­schlä­ge zu­gäng­li­cher zu ma­chen.

Bei Tisch be­gann man so­fort die An­nä­he­rungs­ver­su­che. Zu­nächst führ­te man ein all­ge­mei­nes Ge­spräch über den Op­fer­mut. Man führ­te Bei­spie­le aus al­ter Zeit an: Ju­dith und Ho­lo­fer­nes, dann, ohne rech­te Ver­an­las­sung Lu­cre­cia und Sex­tus; Kleo­pa­tra, die ihre zahl­rei­chen Fein­de einen nach dem an­de­ren in ih­rem Bett zu ih­ren Skla­ven um­wan­del­te. Dann tisch­te man eine Ge­schich­te auf, so fan­tas­tisch, wie sie nur im Ge­hirn die­ser un­wis­sen­den Mil­lio­näre ent­ste­hen konn­te, wo­nach näm­lich die Rö­me­rin­nen bei Ka­pua den Han­ni­bal und mit ihm sei­ne Lieu­ten­ants und die Scha­ren sei­ner Söld­ner in ih­ren Ar­men ein­ge­schlä­fert hät­ten. Man führ­te der Rei­he nach alle Frau­en an, die einen Ero­be­rer auf sei­ner Sie­ges­lauf­bahn ab­hiel­ten, ih­ren Leib zum Schlacht­feld mach­ten, ihn als Waf­fe, als Mit­tel der Herr­schaft ver­wen­de­ten und durch ihre he­ro­i­schen Lie­bes­op­fer die Welt von ei­nem ver­hass­ten schänd­li­chen We­sen be­frei­ten; die ihre Keusch­heit der Ra­che und der Pf­licht op­fer­ten.

Man sprach so­gar mit ver­schlei­er­ten Aus­drücken von je­ner vor­neh­men Eng­län­de­rin, die sich eine furcht­ba­re an­ste­cken­de Krank­heit ein­imp­fen ließ um sie auf Bo­na­par­te zu über­tra­gen, der nur durch ein Wun­der der An­ste­ckung ent­ging, in­dem ihm zur Stun­de des ge­fähr­li­chen Ren­dez­vous plötz­lich die Man­nes­kraft fehl­te.

Al­les die­ses er­zähl­te man in ganz leich­ter und zu­fäl­li­ger Wei­se; nur zu­wei­len brach man ab­sicht­lich in lau­ten Bei­fall aus, um zur Nach­ei­fe­rung an­zu­spor­nen. Man hät­te schliess­lich glau­ben sol­len, dass die ein­zi­ge Auf­ga­be der Frau hier auf Er­den, ein ewi­ges Op­fer ih­rer Per­son, eine be­stän­di­ge Hin­ga­be an die Lau­nen der Sol­da­tes­ka sei.

Die bei­den Or­dens­schwes­tern schie­nen nichts zu ver­ste­hen; sie wa­ren in tie­fe Ge­dan­ken ver­sun­ken. Fett-Kloss sag­te nichts.

Man ließ ihr den Nach­mit­tag über Zeit zum Nach­den­ken. Aber statt sie, wie bis­her »Ma­da­me« zu nen­nen, sag­te man jetzt »mein Fräu­lein« zu ihr, ohne dass man sich selbst über den Grund dazu Re­chen­schaft gab. Aber es war, als hät­te man die Ach­tung vor ihr um einen Grad her­un­ter­set­zen, ihr das Ge­fühl ih­rer Schan­de nä­her le­gen wol­len.

In dem Au­gen­blick, wo die Sup­pe auf­ge­tra­gen wur­de, er­schi­en Herr Fol­len­vie. »Der preus­si­sche Of­fi­zier lässt Fräu­lein Eli­sa­beth Rous­set fra­gen, ob sie ihre An­sicht noch nicht ge­än­dert hat?« wie­der­hol­te er sei­ne ste­hen­de Phra­se.

»Nein, mein Herr,« ant­wor­te­te Fett-Kloss tro­cken. Aber beim Es­sen fiel die Ge­sell­schaft aus der Rol­le. Loi­seau brach­te ei­ni­ge schlecht­ge­wähl­te Re­dens­ar­ten vor. Je­der klopf­te sich an die Stirn und such­te nach ir­gend­wel­chen neu­en Bei­spie­len, als die Grä­fin, ohne Über­le­gung viel­leicht, in dem un­be­stimm­ten Be­dürf­nis­se Trost in der Re­li­gi­on zu su­chen, die äl­te­re der Or­dens­schwes­tern nach den großen Ta­ten aus dem Le­ben der Hei­li­gen frag­te. Da hat­ten frei­lich man­che von ih­nen Din­ge be­gan­gen, die nach un­se­ren Be­grif­fen ein Ver­bre­chen ge­we­sen wä­ren. Aber die Kir­che bil­lig­te zwei­felsoh­ne sol­che Din­ge, wenn sie zur Ehre Got­tes oder zum Hei­le des Nächs­ten voll­bracht wa­ren. Das war ein kräf­ti­ges Ar­gu­ment, von dem die Grä­fin ih­ren Nut­zen zog. Je­den­falls brach­te ihr die Schwes­ter einen ganz un­ver­hoff­ten mäch­ti­gen Bei­stand, moch­te sie nun be­ab­sich­tigt ha­ben ihr zu hel­fen, oder moch­te sie rein ohne das ge­rings­te Ver­ständ­nis für die Sach­la­ge ihre Mei­nung aus­spre­chen. Was sie da sag­te war über je­den Zwei­fel er­ha­ben; ihr Glau­be war un­er­schüt­ter­lich wie ein Fels; ohne Zö­gern, ohne Ge­wis­sens­bis­se gab sie ihre Op­fer­wil­lig­keit zu er­ken­nen. Sie be­griff das Op­fer Abra­hams, wie sie sag­te, voll­stän­dig; denn sie wür­de un­be­dingt Va­ter und Mut­ter tö­ten, wenn sie den Be­fehl des Him­mels dazu er­hiel­te. Ih­rer Mei­nung nach kön­ne Gott nichts miss­fal­len, was zu ei­nem löb­li­chen Zwe­cke ge­sch­ehe. Die Grä­fin hat­te ih­ren Vor­teil wahr­ge­nom­men, und sie, ohne dass sie es merk­te, eine er­bau­li­che Um­schrei­bung des al­ten Grund­satzes »der Zweck hei­ligt die Mit­tel« aus­füh­ren las­sen.

»Sie den­ken also Schwes­ter,« frag­te sie »dass Gott je­des Op­fer an­nimmt, und die Tat ver­zeiht, wenn der Be­weg­grund ein rei­ner ist?«

»Wer woll­te das be­zwei­feln, Ma­da­me? Eine an sich ta­delns­wer­te Hand­lung wird durch die Ab­sicht, die uns lei­tet, ver­dienst­lich.«

So fuh­ren sie noch lan­ge fort, den Wil­len Got­tes aus­ein­an­der­zu­set­zen, sei­ne Ent­schei­dun­gen ge­wis­ser­mas­sen vor­weg zu neh­men; sie schrie­ben ihm schliess­lich ein In­ter­es­se an Din­gen zu, die ihn in der Tat gar nichts an­gin­gen.

Al­les die­ses war na­tür­lich ge­schickt ver­schlei­ert; aber je­des Wort der ehr­wür­di­gen Schwes­ter leg­te eine Bre­sche in die Wi­der­stands­kraft der Pro­sti­tu­ier­ten. Dann lenk­te die Un­ter­hal­tung sich auf das Or­dens­haus, die Obe­rin, die Schwes­ter selbst und ihre klei­ne Nach­ba­rin, die Schwes­ter Ni­ce­pho­ra. Man hat­te sie nach Ha­vre be­ru­fen, um dort im La­za­reth die Pfle­ge der Blat­tern­kran­ken zu über­neh­men. Sie be­schrieb das Aus­se­hen die­ser ar­men Sol­da­ten und schil­der­te alle Ein­zeln­hei­ten der Krank­heit. Und wäh­rend sie nun durch die Lau­ne die­ses Preus­sen zu­rück­ge­hal­ten wür­den, stür­be viel­leicht eine gan­ze An­zahl Fran­zo­sen, die durch ihre Pfle­ge hät­ten ge­ret­tet wer­den kön­nen. Die Pfle­ge kran­ker Sol­da­ten sei ihre Spe­zia­li­tät. Sie wäre in der Krim, in Ita­li­en, in Ös­ter­reich mit­ge­we­sen. Wäh­rend sie so ih­ren Rei­se­ge­fähr­ten er­zähl­te, ent­pupp­te sie sich vor de­ren Au­gen plötz­lich als eine je­ner wack­ren mu­ti­gen Or­dens­frau­en, die da­für ge­schaf­fen zu sein schei­nen, im Kampf­ge­wühl die Ver­wun­de­ten auf­zu­he­ben und mit ei­nem Wort die ro­he­s­ten Schmier­fin­ken zum Ge­hor­sam zu brin­gen. Sie war eine ech­te Schwes­ter Ra-ta-plan, de­ren ge­furch­tes mit zahl­lo­sen Lö­chern be­deck­tes Ge­sicht selbst ein Bild der Ver­wüs­tung des Krie­ges bot.


Als sie ge­en­det hat­te, sprach kei­ner ein Wort; so aus­ge­zeich­net schie­nen ihre Aus­füh­run­gen ge­wirkt zu ha­ben.

So­fort nach dem Es­sen be­gab man sich schnell hin­auf und erst ziem­lich spät am an­de­ren Mor­gen ka­men die Rei­sen­den wie­der zu­sam­men.

Das Früh­stück ver­lief ru­hig. Man woll­te das Sa­men­korn, das die alte Schwes­ter aus­ge­streut hat­te, erst auf­ge­hen las­sen, um dann die Frucht umso bes­ser ein­zu­heim­sen.

Die Grä­fin schlug Nach­mit­tags einen Spa­zier­gang vor. Wie ver­ab­re­det, nahm der Graf den Arm von Fett-Kloss und blieb mit ihr et­was hin­ter den an­de­ren zu­rück.

Er sprach mit ihr in ver­trau­li­chem, vä­ter­li­chem et­was her­ab­las­sen­dem Tone, wie ihn ge­setz­te Her­ren bei sol­chen Mäd­chen gern an­wen­den. Er nann­te sie »mein Kind,« be­han­del­te sie zu­gleich aber ein we­nig von oben her­ab, sich mit sei­ner un­be­streit­ba­ren Ehren­haf­tig­keit brüs­tend.

 

»Sie zie­hen also vor,« sag­te er di­rekt auf sein Ziel los­steu­ernd, »uns mit Ih­nen zu­gleich all den Ge­walt­tä­tig­kei­ten aus­zu­set­zen, die eine Schlap­pe der preus­si­schen Trup­pen zur Fol­ge ha­ben muss, statt in eine je­ner klei­nen Ge­fäl­lig­kei­ten ein­zu­wil­li­gen, die Sie doch sonst im Le­ben so oft ge­währt ha­ben?«

Fett-Kloss ant­wor­te­te nichts.

Jetzt fass­te er sie bei ih­rer Gut­her­zig­keit, bei ih­rer Ver­nunft, bei ih­rem wei­chen Ge­müt an. Er selbst wis­se recht gut, stets der »Herr Graf« zu blei­ben und doch da­bei höf­lich, ent­ge­gen­kom­mend und lie­bens­wür­dig zu sein, wenn es er­for­der­lich wäre. Er pries den Dienst, den sie ih­nen leis­ten wür­de, und sprach von ih­rer Er­kennt­lich­keit. »Und dann weißt Du, mein Kind,« fuhr er sie plötz­lich du­zend fort, »er dürf­te sich rüh­men, ein Mäd­chen be­ses­sen zu ha­ben, wie er sie bei sich zu Hau­se wohl sel­ten fin­den wird.«

Fett-Kloss ant­wor­te­te wie­der nichts und eil­te der Ge­sell­schaft nach.

So­bald sie wie­der zu Hau­se ka­men, flüch­te­te sie auf ihr Zim­mer und kam nicht wie­der zum Vor­schein. Un­ten war man in der höchs­ten Auf­re­gung«. Was wür­de sie be­gin­nen? Welch ein Miss­ge­schick, wenn sie sich end­gül­tig wei­gern wür­de.

Zu Di­ner-Stun­de er­war­te­te man sie ver­geb­lich. Herr Fol­len­vie er­schi­en und ver­kün­de­te, dass Fräu­lein Rous­set sich un­wohl füh­le und man sich nur zu Ti­sche set­zen möch­te. Al­les spitz­te die Ohren. »Ist es so weit?« frag­te der Graf den Wirt ganz lei­se. »Ja­wohl.« Er hü­te­te sich sei­nen Ge­fähr­ten laut et­was zu sa­gen; aber er mach­te ih­nen ein leich­tes Zei­chen mit dem Kop­fe. Ein Seuf­zer der Er­leich­te­rung ent­stieg je­der Brust; alle Ge­sich­ter hell­ten sich auf. »Sap­per­lot!« schrie Loi­seau »ich gebe Sekt, wenn es hier wel­chen gibt,« Ma­da­me Loi­seau fiel vor Schreck fast auf den Rücken, als gleich dar­auf der Wirt mit vier Fla­schen un­term Arm zu­rück­kam. Je­der war jetzt lus­tig und mit­teil­sam ge­wor­den; eine aus­ge­las­se­ne Freu­de be­weg­te al­ler Her­zen. Dem Gra­fen er­schi­en jetzt plötz­lich Frau Carré-La­ma­don rei­zend und der Fa­bri­kant sag­te der Grä­fin al­ler­lei Ar­tig­kei­ten. Die Un­ter­hal­tung wur­de leb­haft und mit al­ler­lei Scher­zen ge­würzt.

»Still!« rief plötz­lich Loi­seau mit ängst­li­cher Mie­ne die Hän­de auf­he­bend. Al­les schwieg über­rascht, bei­na­he er­schreckt. Dann spitz­te er die Ohren mach­te »Pst« mit bei­den Hän­den, hob die Au­gen zur De­cke em­por, lausch­te noch­mals und sag­te dann sei­ne ge­wöhn­li­che Mie­ne wie­der an­neh­mend: »Be­ru­hi­gen Sie sich; es geht al­les gut.«

Man ver­stand ihn zu­erst nicht; aber dann fing al­les an zu la­chen.

Nach ei­ner hal­b­en Stun­de wie­der­hol­te er den­sel­ben Witz und so mehr­mals noch im Ver­lau­fe des Abends. Er tat als ob er je­mand im obe­ren Stock an­rie­fe, ihm zwei­deu­ti­ge gute Ratschlä­ge gebe, wie sie in sei­nem Wein­rei­sen­den-Ge­hirn ent­stan­den. Zu­wei­len mur­mel­te er auch ein »Ar­mes Mäd­chen!« zwi­schen den Zäh­nen, oder er rief: »In­fa­mer Preus­se, pack Dich.« Hin und wie­der, wenn nie­mand dar­an dach­te, rief er mit zit­tern­der Stim­me: »Ge­nug, ge­nug!« und füg­te wie im Selbst­ge­spräch hin­zu: »Hof­fent­lich se­hen wir sie noch wie­der; wenn er sie nur nicht um­bringt, der Elen­de!«

Ob­schon die­se Scher­ze wahr­haf­tig recht ge­schmack­los wa­ren, so amü­sier­te sich doch al­les und kei­ner nahm sie ihm übel. Denn die Ent­rüs­tung rich­tet sich un­will­kür­lich nach der Um­ge­bung, und bei je­nen war die Luft all­mäh­lich mit zwei­deu­ti­ger Vor­stel­lun­gen ge­la­den.

Beim Des­sert fin­gen so­gar die Da­men an geist­rei­che pi­kan­te An­spie­lun­gen zu ma­chen, ihre Au­gen glänz­ten nach dem reich­li­chen Wein­ge­nus­se. Der Graf, der selbst bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten sein wür­de­vol­les Be­neh­men zu wah­ren wuss­te, brach­te einen geist­rei­chen Ver­gleich über das Ende ei­nes Win­ter­auf­ent­hal­tes am Nord­pol und die Freu­de der Schiff­brü­chi­gen, wel­che den Weg nach dem Sü­den wie­der of­fen sa­hen.

»Ich trin­ke auf un­se­re Be­frei­ung,« rief Loi­seau et­was an­ge­trun­ken sein Glas er­he­bend. Alle spran­gen auf und sties­sen an. Selbst die bei­den Or­dens­schwes­tern lies­sen sich durch die Hei­ter­keit der an­de­ren Da­men ver­lei­ten, von dem Cham­pa­gner zu kos­ten, den sie noch nie ge­trun­ken hat­ten. Sie mein­ten, er schme­cke wie Brau­se­li­mo­na­de, nur viel fei­ner.

»Scha­de, dass kein Kla­vier vor­han­den ist«; mein­te Loi­seau, »sonst könn­ten wir eine Qua­dril­le tan­zen.«

Cor­nu­det hat­te fast kein Wort ge­spro­chen und kaum eine Mie­ne ver­zo­gen. Er schi­en viel­mehr in erns­te Ge­dan­ken ver­sun­ken und zerr­te zu­wei­len mit grim­mi­ger Mie­ne an sei­nem großen Bar­te, als woll­te er ihn noch län­ger zie­hen. Als man end­lich um Mit­ter­nacht auf­brach, patsch­te ihm Loi­seau, der et­was tur­ke­lig war, auf den Bauch und sag­te lal­lend: »Sie sind heu­te nicht bei Lau­ne, Bür­ger; »Sie spre­chen ja kein Wort.« Cor­nu­det dreh­te sich un­wil­lig her­um, mass die Ge­sell­schaft mit ei­nem zor­ni­gen wil­den Blick und sag­te: »Ich er­klä­re Ih­nen of­fen, dass Sie eine große Ge­mein­heit be­gan­gen ha­ben.« Er stand auf, und ging hin­aus fort­wäh­rend »eine große Ge­mein­heit!« mur­melnd.

Im ers­ten Au­gen­blick war man ver­blüfft. Selbst Loi­seau stier­te mit dum­men Au­gen vor sich hin. Aber dann ge­wann er sei­ne mun­te­re Stim­mung wie­der und sag­te plötz­lich la­chend: »Sie sind zu sau­er, ja, zu sau­er.« Als man ihn nicht ver­stand, er­zähl­te er »die Ge­heim­nis­se des Gan­ges«, wo­bei er sich vor La­chen aus­schüt­ten woll­te. Auch die Da­men amü­sier­ten sich köst­lich. Der Graf und Frau Carré-La­ma­don lach­ten Trä­nen. Sie fan­den es un­glaub­lich.

»Wie? Sie wis­sen ge­wiss? Er woll­te …«

»Ich sage Ih­nen ja, dass ich es ge­se­hen habe.«

»Und sie hat sich ge­wei­gert?«

»Weil der Preus­se im Zim­mer ne­ben­an wohnt.«

»Un­mög­lich!«

»Mein Wort dar­auf.«

Der Graf er­stick­te fast; der Fa­bri­kant hielt sich den Bauch mit bei­den Hän­den.

»Und des­halb, wis­sen Sie«, fuhr Loi­seau fort, »ist er heu­te Abend nicht zu­frie­den mit ihr, durch­aus nicht zu­frie­den.«

Alle drei bra­chen auf, sie wa­ren krank vor La­chen und glaub­ten nicht mehr wei­ter zu kön­nen.

Oben trenn­te man sich. Beim Zu­bett­ge­hen mach­te Ma­da­me Loi­seau ih­ren Mann dar­auf auf­merk­sam, dass die­ses »Kücken,« wie Sie die klei­ne Ma­da­me Carré-La­ma­don nann­te, den gan­zen Abend vor Neid ver­gan­gen sei. »Du weißt, dass die Frau­en, die es nun ein­mal mit der Uni­form hal­ten, es eben so gern sich vom Preus­sen wie Fran­zo­sen ge­fal­len las­sen. Gro­ßer Gott! Ist das nicht eine Schan­de?«

Und die gan­ze Nacht durch hör­te man auf dem Gan­ge al­ler­hand leich­te, kaum wahr­nehm­ba­re Geräusche, wie Seuf­zer, wie das Tap­pen von blos­sen Füs­sen, wie ein lei­ses Knacken. Je­den­falls schi­en die Ge­sell­schaft spät ein­zu­schla­fen, denn noch lan­ge schim­mer­te Licht un­ter den Tür­rit­zen her. Der Cham­pa­gner hat so sei­ne Ei­gen­tüm­lich­kei­ten. Er soll einen un­ru­hi­gen Schlaf ver­ur­sa­chen.

Am an­de­ren Mor­gen strahl­te die Son­ne hell über die glän­zen­de Schnee­de­cke. Der Om­ni­bus stand nun end­lich be­spannt vor der Türe. Eine Schar wei­ßer Tau­ben, die dich­ten Fe­dern auf­wärts sträu­bend, mit ro­tem, in der Mit­te schwarz punk­tier­tem Auge, wan­del­te gra­vi­tä­tisch zwi­schen den Bei­nen der sechs Pfer­de um­her und such­te ihre Nah­rung in dem rau­chen­den Dün­ger der­sel­ben.