Jetzt bot Fett-Kloss mit freundlicher Miene den beiden Schwestern an, von ihrem Frühstück zu nehmen. Sie sträubten sich keinen Augenblick und begannen ohne den Blick zu erheben hastig zu essen, nachdem sie einige Dankesworte gestammelt hatten. Cornudet weigerte sich selbstredend nicht, das Anerbieten seiner Nachbarin auszuschlagen und man bildete mit den Ordensfrauen zusammen eine Art Tisch, indem man Zeitungen auf dem Schoss ausbreitete.
Man öffnete und schloss den Mund abwechselnd, schob ein Stück hinein, kaute und schluckte hastig. Loiseau war in seiner Ecke emsig bei der Arbeit; und redete leise seiner Frau zu, seinem Beispiele zu folgen. Sie wollte anfangs nicht recht daran, aber als ein Krampf ihr Inneres zusammenzog, gab sie nach. Ihr Ehemann bat die »liebenswürdige Reisegefährtin,« ob er nicht auch für seine Gattin ein Stückchen haben könnte. »Aber natürlich, gewiss mein Herr,« sagte sie, ihm mit liebenswürdigem Lächeln die Terrine reichend.
Eine kleine Verlegenheit entstand, als man die erste Flasche Bordeaux entkorkt hatte: Es gab nur einen Becher. Man wischte ihn eben vor dem Trinken aus. Nur Cornudet setzte ihn dort an den Mund, wo er noch feucht von den Lippen seiner Nachbarin war; zweifelsohne ein Akt der Höflichkeit gegen dieselbe.
Der Graf und die Gräfin Bréville, umgeben von essenden Menschen und den Geruch von Speisen fortwährend in der Nase, litten unterdessen ebenso wie Herr und Frau Carré-Lamadon wahre Tantalusqualen. Plötzlich stiess die junge Frau des Fabrikbesitzers einen Seufzer aus, sodass sich alles nach ihr umsah. Sie war bleich wie der Schnee draussen, ihre Augen waren geschlossen, der Kopf hing vornüber; sie hatte das Bewusstsein verloren. Ganz ausser sich bat ihr Gatte alle Welt um Hilfe. Man hatte völlig den Kopf verloren, als endlich die ältere von den beiden Ordensschwestern, die das Haupt der Ohnmächtigen stützte, den Becher von Fett-Kloss jener an die Lippen setzte und ihr einige Tropfen Wein einflösste. Die hübsche junge Frau erwachte, schlug die Augen auf, lächelte und erklärte mit leiser Stimme, dass sie sich jetzt wohler fühle. Aber um einen Rückfall zu vermeiden, nötigte ihr die Schwester ein volles Glas Bordeaux auf und fügte hinzu: »das macht nur der Hunger; weiter nichts.«
»Mein Himmel!« sagte jetzt Fett-Kloss, indem sie rot und verlegen die vier ausgehungerten Reisenden ansah, »vielleicht darf ich den Herren und Damen etwas anbieten.« … Dann schwieg sie, eine Ablehnung befürchtend. »Na, wahrhaftig,« ergriff jetzt Loiseau das Wort »in solchen Fällen gibt es keinen Unterschied und man muss sich gegenseitig helfen. Vorwärts, meine Damen, genieren Sie sich nicht; greifen Sie munter zu. Sie wissen nicht, ob wir überhaupt noch eine Nachtherberge finden. In diesem Tempo kommen wir vor Mitternacht nicht nach Tôtes.«
Man zögerte immer noch; niemand wollte zuerst »Ja« sagen. Endlich machte der Graf ein Ende. »Wir nehmen dankend an, Madame,« sagte er mit der ganzen Würde eines Edelmannes zu der schüchternen dicken Reisegefährtin.
Jetzt war der erste Schritt getan. Nachdem man nun einmal den Rubikon hinter sich hatte, verkehrte man ungezwungener. Der Reisekorb wurde geleert. Er enthielt noch eine Gänseleber- und eine Lerchen-Pastete, ein Stück geräucherte Zunge, Birnen von Crassanc, eine Torte von Pont-Levêque, allerlei kleines Gebäck und ein Glas mit Mixed-Pikles; Fett-Kloss liebte, wie alle ihresgleichen, das Pikante.
Man konnte doch unmöglich etwas von dieser Person annehmen, ohne auch mit ihr zu sprechen. So begann denn eine Unterhaltung; anfangs mit Reserve. Als sie sich aber ganz anständig benahm, ließ man sich schon mehr gehen. Die Damen Bréville und Carré-Lamadon benahmen sich mit zurückhaltender Liebenswürdigkeit, wie das bei ihrer guten Lebensart nicht anders zu erwarten war. Besonders die Gräfin zeigte jene liebenswürdige Herablassung aller vornehmen Damen, denen niemals eine Perle aus der Krone fallen kann. Nur die dicke Frau Loiseau, welche sich selbst etwas zu vergeben fürchtete, hielt sich zurück, sprach wenig und ass desto mehr.
Die Rede kam natürlich auf den Krieg. Man erzählte sich schreckliche Geschichten von den Preussen und wunderbare Heldentaten von den Franzosen. Bald berührte man auch persönliche Verhältnisse und Fett-Kloss erzählte mit aufrichtiger Erregung, mit jenen warmen Worten, die ihresgleichen zuweilen eigen sind, um ihre Gefühle auszudrücken, wie sie dazu kam, Rouen zu verlassen. »Ich glaubte anfangs, dass ich dort bleiben könnte. Ich hatte das Haus voll Lebensmittel und hätte lieber einige Soldaten verpflegt, als mich Gott weiß wohin begeben. Als ich aber sie gesehen habe, diese Preussen, da waren meine Gefühle stärker wie ich. Das Blut kochte mir vor Zorn in den Adern, und ich habe den ganzen Tag vor Scham geweint. Ach, wenn ich ein Mann wäre, wahrhaftig! Ich sah sie von meinem Fenster aus, diese großen Bestien mit ihren Pickelhauben. Mein Mädchen hat mich zurückhalten müssen, dass ich ihnen nicht mein Mobiliar auf den Kopf warf. Dann kam die Einquartierung, und ich bin gleich dem ersten an die Kehle gesprungen. Sie sind nicht schwerer zu erdrosseln, wie andere. Ich hätte es wahrhaftig fertig gebracht, wenn man mich nicht an den Haaren zurückgerissen hätte. Daraufhin musste ich mich verstecken, bis ich schliesslich die Gelegenheit hier fand, mich davon zu machen.«
Man beglückwünschte sie lebhaft. Sie wuchs entschieden im Ansehen bei ihren Reisegefährten, die sich nicht so mutig gezeigt hatten. Cornudet hörte ihr mit dem zustimmenden beifälligen Lächeln eines Apostels zu; denn die langbärtigen Demokraten bilden sich ein, ein Monopol auf den Patriotismus zu besitzen. Er sprach nun seinerseits in belehrendem Tone und kramte alle Weisheit aus, die er aus den täglichen Maueranschlägen geschöpft hatte und schloss mit einer großartigen Redewendung, indem er den Sturz dieser »Kanaille von Bonaparte« pries.
Aber Fett-Kloss wurde sofort ärgerlich, denn sie war Bonapartistin. »Ich hätte Sie wahrhaftig an seiner Stelle sehen mögen«; stammelte sie rot wie eine Kirsche, »Sie und die andren alle. Das müsste hübsch gewesen sein, wahrhaftig. Sie sind es, die diesen Mann verraten haben. Es bliebe einem weiter nichts übrig, als Frankreich zu verlassen, wenn es von solchen Leuten, wie Sie regiert würde.«
Cornudet verharrte in überlegenem verächtlichen Lächeln; aber man hatte das Gefühl, dass es noch zu gröberen Worten kommen würde. Deshalb legte sich der Graf ins Mittel. Nicht ohne Mühe beruhigte er das zornige Mädchen indem er hoheitsvoll erklärte, dass man die ehrliche Überzeugung eines jeden achten müsse. Die Gräfin und die Fabrikantensgattin, welche den blinden Hass aller vornehmen Leute gegen die Republik und die instinktive Vorliebe aller Frauen für eine pomphafte und despotische Regierungsform teilten, fühlten sich indessen unwillkürlich zu dieser Prostituierten hingezogen, deren Anschauungen den ihrigen so nahe standen.
Der Korb war nun leer; zu Zehnen war das allerdings kein großes Kunststück und man bedauerte, dass es nicht mehr gewesen war. Das Geplauder setzte sich noch eine Weile fort, wenn auch nicht mehr so lebhaft, als während des Essens.
Der Abend brach herein, die Dunkelheit nahm immer mehr zu und Fett-Kloss fühlte sich infolge der Kälte, die während der Verdauung immer fühlbarer ist, trotz ihrer Wohlbeleibtheit erschauern. Da bot ihr Madame de Bréville ihren Wärmapparat an, dessen Kohle im Laufe des Tages mehrfach erneuert waren; sie nahm ihn gern an, denn ihre Füsse waren eiskalt. Die Damen Carré-Lamadon und Loiseau gaben die ihrigen den beiden Ordensschwestern.
Der Kutscher hatte seine Laternen angezündet. Ihr helles Licht brach sich an einer Dampfwolke die über den Kruppen der schweißtriefenden Pferde schwebte und beleuchtete zu beiden Seiten des Wagens den Schnee, der bei den lebhaften Reflexen sich aufzurollen schien. Im Wagen konnte man schon nichts mehr unterscheiden; aber plötzlich entstand eine Bewegung zwischen Fett-Kloss und Cornudet. Loiseau glaubte in der Dämmerung zu bemerken, dass der Mann mit dem großen Barte sich etwas plötzlich zur Seite beugte, als habe er ohne viel Geräusch einen gutsitzenden Schlag erhalten.
Vorn auf der Strasse zeigten sich einzelne Lichter; es war Tôtes. Wenn man zu den elf Stunden Fahrt noch die drei Stunden Rast rechnete, die man den Pferden zu ihrem Futter gegönnt hatte, so waren die Reisenden vierzehn Stunden unterwegs gewesen. Endlich fuhr man durch das Stadttor und hielt vor dem Hôtel de Commerce an.
Die Türe wurde aufgerissen und ein wohlbekanntes Geräusch ließ alle Reisenden erzittern; eine Säbelscheide klirrte auf dem Boden. Man hörte einige deutsche Worte rufen.
Obschon am Haltepunkt angekommen, stieg keiner von den Reisenden aus; als ob sie erwartet hätten, da draussen sofort niedergesäbelt zu werden. Da erschien der Kutscher und leuchtete mit einer Laterne bis in den hintersten Eck des Wagens. Ihr Schein fiel auf zwei Reihen furchtstarrender Gesichter mit offenem Munde und ängstlich dreinschauender Augen.
Beim vollen Licht der Laterne sah man neben dem Kutscher einen deutschen Offizier, einen hochgewachsenen auffallend schlanken blonden jungen Mann, der in seiner Uniform wie in ein Korset eingezwängt war. Auf dem Kopfe trug er eine flache runde Mütze wie ein Laufbursche in den englischen Hôtels. Sein langer kerzengrader Schnurrbart wurde zum Schluss zu immer dünner, bis er fast nur noch aus einem blonden Haar bestand, dessen Ende man nicht mehr unterscheiden konnte. Er schien auf seiner Oberlippe aufgeklebt zu sein und drohte bei jeder Bewegung der Backenmuskel herunter zu fallen.
»Bitte auszusteigen, meine Herren und Damen,« forderte der Offizier in schlechtem Elsässer Französisch brüsk die Reisenden auf.
Die beiden Ordenschwestern folgten zuerst mit jener sanften Ergebenheit, die gottgeweihte Jungfrauen in allen Lebenslagen zeigen. Dann kamen der Graf und die Gräfin, gefolgt von dem Fabrikanten und seiner Frau, hierauf Loiseau mit seiner besseren Hälfte. »Guten Abend, mein Herr,« sagte der Weinhändler, mehr der Klugheit als der Höflichkeit folgend zu dem Offizier, während er den Fuss auf den Boden setzte. Jener, anmassend wie alle, in deren Händen die Gewalt liegt, sah ihn an, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.
Fett-Kloss und Cornudet, obwohl der Tür zunächst, stiegen doch als die letzten aus; sie trugen Angesichts des Feindes eine ernste hochfahrende Miene zur Schau. Die wohlbeleibte Donna suchte sich zu beherrschen und ruhig zu bleiben. Der Demokrat strich in theatralischer Weise mit etwas zitternder Hand seinen roten Schnurrbart. Sie suchten ihre Würde zu wahren, weil sie sich bewusst waren, dass bei solchen Begnügungen jeder einzelne das ganze Vaterland vertritt. Zudem ärgerte sie das höfliche Benehmen ihrer Reisegefährten. Fett-Kloss suchte daher stolzer aufzutreten als die vornehmen ehrbaren Damen, während in Cornudets Haltung sich der ganze Widerstands-Geist ausprägte, der mit der Aufwühlung der Strassen vor Rouen begonnen hatte.
Man trat in den geräumigen Flur des Hôtels und der Offizier ließ sich den Erlaubnisschein des kommandierenden Generals zeigen, auf dem der Name, der Stand und die Personalbeschreibung jedes einzelnen genau verzeichnet war. Nachdem er alle Anwesenden genau gemustert und ihr Äusseres mit der Beschreibung verglichen hatte sagte er kurz: »Es ist gut,« worauf er verschwand.
Man atmete erleichtert auf. Da der Hunger sich aufs neue geltend machte, so wurde noch ein Abendessen bestellt. Eine halbe Stunde musste man jedoch noch warten und die Reisenden musterten inzwischen die für sie bestimmten Zimmer. Sie lagen alle nebeneinander auf einem langen Gange an dessen Ende sich eine Glastüre mit einer allgemein bekannten Ziffer befand.
Als man sich endlich zu Tische setzte, erschien der Wirt selber, ein alter Pferdehändler, ein dicker kurzatmiger Mann, aus dessen Kehle fortgesetzt ein rasselnder zischender verschleimter Ton erklang. Sein Name war Follenvie.
»Ist Fräulein Eliesabeth Rousset hier?« fragte er.
»Das bin ich,« wandte sich Fett-Kloss erschreckt um.
»Der preussische Offizier möchte Sie sogleich sprechen, Fräulein.«
»Mich?«
»Jawohl, wenn Sie wirklich Fräulein Rousset sind.«
Einen Augenblick dachte sie unschlüssig nach, dann erklärte sie entschieden:
»Möglich, dass er mich sprechen will, aber ich werde nicht kommen.«
Es entstand eine Bewegung an der Tafel; man sprach über diesen Befehl und suchte seine Ursache zu ergründen. Der Graf näherte sich ihr.
»Sie tuen Unrecht Madame. Ihre Weigerung könnte fatale Schwierigkeiten hervorrufen, nicht nur für Sie, sondern für uns alle. Man muss dem Stärkeren immer nachgeben. Dieser Schritt kann keineswegs gefährlich sein. Es handelt sich jedenfalls um eine Formalität, die vergessen wurde.«
Alle übrigen vereinigten sich mit ihm, um sie zu bitten und sie zu drängen; schliesslich gelang es ihrer gemeinschaftlichen Überredung, sie zu überzeugen. Alle fürchteten die Verwicklungen, die aus ihrer Hartnäckigkeit entspringen könnten.
»Wenn ich es tue, so geschieht es sicherlich nur um Ihretwillen,« sagte sie endlich.
»Und wir danken Ihnen dafür,« entgegnete die Gräfin ihr die Hand reichend.
Sie ging hinaus und man wartete mit dem Essen auf sie. Ein jeder bedauerte im Herzen, nicht selbst statt dieses zornmütigen heftigen Mädchens herausgerufen zu sein und überlegte sich allerlei Liebenswürdigkeiten für den Fall, dass die Reihe an ihn käme.
Nach zehn Minuten kam sie wieder, keuchend, ganz ausser sich, rot zum Ersticken. »Ah, diese Kanaille! diese Kanaille!« stammelte sie.
Man überstürzte sich mit Fragen; aber sie sagte nichts. Als der Graf in sie drang, sagte sie mit großer Würde: »Nein, das kann Sie nicht kümmern; ich kann es nicht sagen.«
Nun versammelte man sich um die große Suppenschüssel, aus der ein kräftiger Duft von Kohl emporstieg. Trotz der Eile, mit der es angerichtet war, war das Essen vorzüglich. Der Cider, den das Ehepaar Loiseau und die Schwestern aus Sparsamkeits-Rücksichten bestellt hatten, mundete vortrefflich. Die übrigen hatten Wein, Cornudet dagegen Bier bestellt. Letzterer hatte eine eigene Art die Flasche zu entkorken, einzuschenken und die schäumende Flüssigkeit zu betrachten, indem er das Glas etwas schräg hielt, und es alsdann zwischen sich und das Lampenlicht brachte, um die Farbe des Stoffes zu prüfen. Sein gleichfarbiger großer Bart schien beim Trinken vor Vergnügen zu zittern, seine Augen schielten, um den Anblick des Schoppens nicht zu verlieren, und man merkte, dass dies die eigentliche Beschäftigung sei, für die er geboren war. Man bemerkte, dass in seinem Innern eine Annäherung, eine Art geistiger Verbindung zwischen den beiden großen Leidenschaften stattfand, die ihn beseelten: dem Pale Ale und der Republik. Sicherlich konnte er das eine nicht kosten ohne an die andere zu denken.
Herr und Frau Follenvie assen am oberen Ende der Tafel mit. Er, mit seinem ewig rasselnden Kehlkopf hatte zu viel Brustklemmung, um während des Essens reden zu können; aber seine Frau machte dies reichlich wieder gut. Sie schilderte alle ihre Eindrücke bei der Ankunft der Preussen, was sie trieben, was sie sagten; sie verwünschte dieselben einmal, weil sie ihr viel Geld kosteten, sodann, weil sie zwei Söhne bei der Armee hatte. Ihre Anrede galt vor allem der Gräfin, weil es ihr sehr schmeichelte mit einer vornehmen Dame sich zu unterhalten.
Dann senkte sie etwas die Stimme, um von delikateren Sachen zu sprechen, während ihr Mann sie zuweilen mit den Worten unterbrach; »Sprich lieber nicht davon, Madame Follenvie.« Aber sie achtete nicht auf ihn und fuhr fort:
»Ja, Madame, diese Leute essen nichts, wie Kartoffeln mit Schweinebraten und dann wieder Schweinebraten mit Kartoffeln. Man muss nur nicht denken, dass sie reinlich seien. Oh nein. Überall machen sie ihren Schmutz hin, mit Erlaubnis zu sagen. Und wenn Sie erst mal ihre Übung ansehen würden den ganzen lieben Tag lang; sie sind da in einem Lager – vorwärts, rückwärts marschieren, rechts – um, links – um! Wenn sie wenigstens noch das Land bebauten, oder die Strassen verbesserten. Aber nein, Madame; diese Soldaten nützen zu gar nichts. Das arme Volk muss sie nur ernähren, damit sie das Abschlachten richtig lernen. – Ich bin nur eine alte einfache Frau, das muss ich sagen; aber wenn ich sie so ansehe, wie sie so den ganzen Tag mit den Beinen strampeln, so spreche ich oft zu mir selbst: Wie es Leute gibt, die so viele Erfindungen machen zum Wohle der Menschheit, so gibt es auch solche die zum Schaden derselben auf Böses sinnen. Ist es denn wirklich nicht ein Gräuel, dass sich die Leute gegenseitig umbringen, bloß weil sie Preussen, Engländer, Polen oder Franzosen sind? Wenn man sich an Jemandem für ein Unrecht zu rächen sucht, so ist das böse und wird verdammt; aber wenn man unsre jungen Burschen wie die Hasen niederknallt, so ist das gut und man zeichnet den aus, der das Meiste darin leistet. Nein, sehen Sie, das werde ich nie verstehen.«
»Der Krieg« warf Cornudet laut ein »ist eine Barbarei, sobald man den friedlichen Nachbar angreift; aber er ist eine heilige Pflicht, sobald es sich um die Verteidigung des Vaterlandes handelt.«
Die alte Frau senkte den Kopf.
»Jawohl, wenn man sich verteidigt, das ist etwas anderes. Aber müsste man dann nicht alle Könige umbringen, die so etwas nur zum Vergnügen treiben?«
»Bravo, Bürgerin!« rief Cornudet flammenden Auges. Herr Carré-Lamadon war in tiefes Nachdenken versunken. Obschon er für den Kriegsruhm schwärmte, so stellte er sich doch nach den Worten dieser einfachen Frau den Wohlstand vor, den so viele tausende, jetzt arbeitslose und deshalb kostspielige Hände dem Lande bringen müssten; wie viele Kraft, die man jetzt ungenützt erhalten müsste liesse sich da zu industriellen Zwecken verwenden, deren Bewältigung jetzt Jahrzehnte erforderte.
Loiseau hatte unterdessen seinen Platz verlassen und sich zu dem Wirt gesetzt. Der dicke Mann lachte, hustete und spuckte abwechselnd; sein dicker Bauch wackelte vor Vergnügen bei den Witzen seines Nachbarn. Er kaufte ihm sechs Fass Bordeaux ab zum nächsten Frühjahr, wenn die Preussen wieder abgezogen wären.
Das Souper war kaum zu Ende, als alle, von Müdigkeit überwältigt, ihre Zimmer aufsuchten.
Loiseau, der auf alles ein Auge hatte, ließ indessen seine Frau zu Bett gehen, während er selbst bald sein Auge bald sein Ohr an’s Schlüsselloch brachte, um »die Geheimnisse des Ganges,« wie er sie nannte, zu erforschen.
Nach Verlauf einer Stunde hörte er ein Geräusch, blickte schnell hindurch und gewahrte Fett-Kloss, die in einem spitzenbesetzten Schlafrock aus blauem Kaschmir noch unförmlicher aussah. Sie trug ein Nachtlicht und ging auf die Tür mit der bekannten Nummer am Ende des Ganges zu. Als sie nach einigen Minuten von dort zurück kam, öffnete sich seitwärts eine andere Türe. Cornudet nur im Hemd und Beinkleid kam hinter ihr her. Sie sprachen leise miteinander und blieben endlich stehen. Fett-Kloss schien ihm energisch den Eintritt in ihr Zimmer zu verwehren. Leider konnte Loiseau nicht alles verstehen; er fing nur einige Worte auf, als sie schliesslich doch lauter wurde. Cornudet drängte lebhaft.
»Gehen Sie doch!« sagte er, »seien sie nicht närrisch; was macht das Ihnen denn?«
»Nein, nein, Wertester«, sagte sie mit entrüsteter Miene, »es gibt Augenblicke, wo man so was nicht macht. Und dann, hier an diesem Orte wäre es geradezu eine Schmach.«
Er verstand sie entschieden nicht und fragte um den Grund.
»Warum?« sagte sie, mit noch erhobenerer Stimme. »Sie begreifen nicht, warum? Weil Preussen hier im Hause sind, vielleicht gleich im Zimmer nebenan.«
Er schwieg. Diese patriotische Scham einer Prostituierten, die unter den Augen des Feindes sozusagen, sich nicht preisgeben wollte, mochte doch in seinem Herzen noch einen Rest von Schamgefühl erwecken; denn er küsste sie nur und ging dann mit Katzentritten wieder auf sein Zimmer.
Loiseau war sehr erregt. Er verliess das Schlüsselloch, rannte im Zimmer hin und her, zog sein Nachthemd an, und lüftete die Decke, unter der seine Ehehälfte ruhte. »Hast Du mich lieb, Schatz?« fragte er sie mit einem Kusse weckend.
Dann wurde es still in ganzem Hause. Aber bald erhob sich irgendwo, aus einer unbestimmten Richtung, entweder aus dem Keller oder aus dem Söller kommend, ein mächtiges einförmiges gleichmässiges Schnarchen. Es wechselte mit kurzen und langen Tönen ab, wie ein unter Druck erzitternder Dampfkessel. Herr Follenvie schlief.
Da man beschlossen hatte, am anderen Morgen um 8 Uhr abzureisen, so fand sich früh alles pünktlich im Gastzimmer ein; aber der Wagen, dessen Dach mit Schnee bedeckt war, stand einsam, ohne Kutscher und Pferde im Hofe. Vergeblich suchte man ersteren in den Ställen, im Futterraum, in den Remisen. Da beschloss man etwas spazieren zu gehen, um sich den Ort anzusehen. Sie befanden sich auf dem Platze, in dessen Hintergrunde die Kirche lag mit niedrigen Häusern auf beiden Seiten, in denen man preussische Soldaten bemerkte. Der erste, den sie sahen, klaubte Kartoffeln aus; der zweite reinigte den Laden eines Barbiers. Ein dritter, bärtig bis unter die Augen, küsste ein weinendes Baby und schaukelte es auf den Knien, um es zu beruhigen. Dicke Bäuerinnen, deren Männer bei der »mobilen Armee« waren, zeigten den gutwilligen Siegern durch Gebärden, was sie zu tun hätten. Da gab es Holz zu spalten, Suppe zu kochen, Kaffee zu mahlen; ja einer wusch sogar das Leinenzeug seiner Hauswirtin, einer ganz hilflosen Alten.
Erstaunt fragte der Graf den Küster, der gerade aus der Sakristei kam. »Ja, diese da,« sagte die alte Kirchenratte, »sind wackere Kerle. Es sind keine Preussen was man so sagt. Sie sind von weiter her, ich weiß nicht wo. Sie haben alle Frauen und Kinder daheim, und der Krieg macht ihnen wahrhaftig kein Vergnügen. Bei ihnen zu Hause wird man sicher auch nach den Männern jammern, und die Ihrigen werden nicht besser dran sein, wie bei uns. Hier ist man übrigens augenblicklich ganz zufrieden. Sie betragen sich gut und arbeiten so gut wie bei sich zu Hause. Sehen Sie, mein Herr, arme Leute müssen sich gegenseitig helfen … Die Großen sind es nur, die den Krieg führen …«
Cornudet, sehr entrüstet über dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten, ging heim; er zog es vor im Hôtel zu bleiben. »Sie bevölkern wieder,« sagte Loiseau scherzend. »Sie machen manches wieder gut,« entgegnete Herr Carré-Lamadon erregt. Der Kutscher war nirgends zu finden. Schliesslich entdeckte man ihn in einer Kaffeeschenke, wo er sich mit dem Burschen des Offiziers freundschaftlich zusammen niedergelassen hatte.
»Hat man Ihnen denn nicht befohlen, um 8 Uhr anzuspannen?« fragte ihn der Graf.
»Ganz recht; aber nachher hat man anders befohlen.«
»Was?«
»Überhaupt nicht anzuspannen?«
»Wer hat das verboten?«
»Nun, der preussische Offizier.«
»Warum denn?«
»Ich weiß von nichts. Fragen Sie ihn. Man verbietet mir anzuspannen; nun so spann ich eben nicht an … Selbstredend.«
»Hat er Ihnen selbst das gesagt?«
»Nein, mein Herr; der Wirt hat mir seinen Befehl überbracht.«
»Wann denn?
»Gestern Abend, als ich schlafen ging.«
Die drei Herren gingen sehr beunruhigt heim. Man fragte nach Herrn Follenvie, aber das Mädchen erklärte, dass der Herr wegen seines Asthma’s nie vor zehn Uhr aufstände. Er hatte sogar ausdrücklich verboten ihn früher zu wecken; ausser im Falle eines Brandes.
Man wünschte den Offizier zu sprechen; aber das war absolut unmöglich, obschon er im Hôtel wohnte. Er verhandelte in Zivil-Angelegenheiten nur mit Herrn Follenvie. So musste man denn warten. Die Damen begaben sich wieder auf ihre Zimmer und suchten sich die Zeit zu vertreiben, so gut es ging.
Cornudet setzte sich an den Herd in der Küche, wo ein mächtiges Feuer brannte. Er ließ sich dort einen kleinen Kaffeetisch und eine Flasche Bier hinbringen; dann zog er seine Pfeife hervor die bei den Demokraten beinahe ebenso in Ansehen stand, wie er selbst; als ob sie dem Vaterlande diente, weil Cornudet sie im Gebrauch hatte. Es war eine prächtige Meerschaumpfeife, herrlich angeraucht, ebenso schwarz wie die Zähne ihres Herrn, wohlriechend, gekrümmelt, glänzend, handlich und ganz zu seinem Gesicht passend. So sass er still vor sich hin, die Augen bald auf das Herdfeuer bald auf den Schaum in seinem Glase geheftet. Jedes Mal wenn er getrunken hatte, fuhr er sich mit seinen langen hageren Fingern befriedigt durch das lange fettige Haar, und wischte sich dann den Schaum aus dem Schnurrbart.
Loiseau begab sich unter dem Vorwand, sich Bewegung zu machen hinaus und versuchte bei den Kneipwirten des Ortes seinen Wein anzubringen. Der Graf und der Fabrikant unterhielten sich über Politik; ihr Gespräch drehte sich um die Zukunft Frankreichs. Der eine baute seine Hoffnungen auf die Orleans der andere auf irgend einen unbekannten Retter, einen Held, der ihnen im letzten Augenblick der Verzweiflung entstehen würde: Einen du Guesclin, eine Jeanne d’Arc etwa, oder einen zweiten Napoleon. Ja, wenn der kaiserliche Prinz nicht noch so jung wäre. Cornudet hörte ihnen mit dem Lächeln eines Mannes zu, der weiter in die Zukunft blickt. Der Dampf seiner Pfeife hüllte die Küche ein.
Als es zehn Uhr schlug, erschien Follenvie. Man bestürmte ihn mit Fragen; aber er wiederholte drei bis viermal genau dieselbe Geschichte. »Herr Follenvie,« hat der Offizier zu mir gesagt. »Sie werden verbieten, dass man morgen den Wagen dieser Reisenden anspannt. Ich will nicht, dass sie ohne meine Erlaubnis abreisen; verstehen Sie? Gut also.«
Nun wollte man den Offizier aufsuchen. Der Graf schickte ihm seine Karte, auf der auch Herr Carré-Lamadon seinen Namen samt allen Titeln und Würden vermerkte. Der Preusse ließ zurücksagen, dass er den beiden Herrn gestatten würde, ihn nach seinem Frühstück, d. h. um ein Uhr aufzusuchen.
Die Damen erschienen wieder und trotz der allgemeinen Misstimmung nahm man etwas zu sich. Fett-Kloss schien krank und sichtlich sehr verwirrt.
Als man mit dem Kaffee fertig war, erschien eine Ordonanz, um die Herrn zu holen, denen sich Loiseau als dritter anschloss. Cornudet dagegen, den man um der Sache mehr Feierlichkeit zu geben, ebenfalls zur Beteiligung aufforderte, erklärte entschieden, dass er keine Beziehungen mit den Preussen zu haben wünsche. Er zog sich wieder an seinen Kamin zurück und bestellte eine neue Flasche.
Die drei Herrn gingen hinauf und wurden in das schönste Zimmer des Gasthofs geführt, wo sie der Offizier, auf einem Sessel ruhend, die Füsse am Kamin ausgestreckt und eine lange Porzellanpfeife im Munde, empfing. Ein greller Zimmerrock, ohne Zweifel aus der verlassenen Wohnung irgend eines Spiessbürgers geraubt, dessen schlechter Geschmack sich an ihm bekundete, umgab ihn statt der Uniform. Er erhob sich weder, noch begrüsste er sonst die Herrn; er würdigte sie nicht einmal eines Blickes. Es schien als wollte er ihnen mal eine Probe von der den siegreichen Soldaten eigenen Roheit geben.
»Was wünschen Sie?« fragte er nach einiger Zeit endlich.