Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Dann kehr­te er zu­rück und schloss die Tür. Die Deut­schen stan­den mit lä­cheln­der Mie­ne und war­te­ten auf den Er­folg die­ser kin­di­schen Spie­le­rei. So­bald die Ex­plo­si­on im Schlos­se wie­der­hall­te, stürz­ten alle zu­gleich vor.

Mam­sell Fifi trat zu­erst ein und klatsch­te aus­ser sich vor Ver­gnü­gen in die Hän­de, als sie eine Ve­nus aus Ter­ra­cot­ta be­merk­te, der end­lich der Kopf ab­ge­sprun­gen war. Je­der nahm ir­gend ein Stück Por­zel­lan in die Hand und be­trach­te­te mit Er­stau­nen die selt­sa­men Ris­se, wel­che die Ex­plo­si­on her­vor­ge­ru­fen hat­te, prüf­te die neu­en Sprün­ge und stell­te ein­zel­ne Ver­let­zun­gen fest, die an­schei­nend schon von frü­he­ren Ex­plo­sio­nen her­rühr­ten. Mit vä­ter­li­cher Mie­ne be­sah sich der Ma­jor die Ver­wüs­tung, wel­che die­ses Scheu­sal von ei­nem zwei­ten Nero be­reits in dem großen Rau­me an­ge­rich­tet hat­te. »Dies­mal war die Wir­kung groß­ar­tig,« sag­te er wohl­wol­lend, als er beim Hin­aus­ge­hen noch einen letz­ten Blick auf das Trüm­mer­feld warf.

Im Spei­se­zim­mer war es in­des­sen kaum mehr zum Aus­hal­ten, denn eine un­ge­heu­re Dampf­wol­ke war durch die of­fe­ne Saal­tü­re ge­drun­gen und hat­te sich mit dem Ta­ba­krau­che ver­mischt. Der Ma­jor öff­ne­te das Fens­ter und alle Of­fi­zie­re, die zu ei­nem letz­ten Gla­se Co­gnak zu­rück­ge­kehrt wa­ren, eil­ten dort­hin.

Die feuch­te Luft drang in das Zim­mer und führ­te eine Art Was­ser­staub mit sich, der die Bär­te der Of­fi­zie­re näss­te, wäh­rend sie be­gie­rig den Duft der über­schwemm­ten Flu­ren ein­so­gen. Sie be­trach­te­ten die großen Bäu­me, die sich un­ter ih­rer Re­gen­last beug­ten, das wei­te Tal, wel­ches bei die­sem Er­guss der dunklen nied­ri­gen Wol­ken förm­lich dampf­te, und den Kirch­turm in der Fer­ne, des­sen graue Spit­ze sich dun­kel von dem Re­gen­schlei­er ab­hob.

Seit ih­rer An­kunft hat­ten die Glo­cken des­sel­ben nicht mehr ge­läu­tet. Dies war aber auch das ein­zi­ge Zei­chen von Wi­der­stand, dem die Ein­dring­lin­ge sei­tens der Be­woh­ner der Um­ge­gend be­geg­net wa­ren. Der Pfar­rer hat­te sich nie­mals ge­wei­gert, preus­si­sche Sol­da­ten bei sich auf­zu­neh­men und zu ver­pfle­gen; er hat­te so­gar mehr­mals der Ein­la­dung zu ei­ner Fla­sche Bier oder Bor­deaux beim feind­li­chen Kom­man­deur ent­spro­chen, der sich öf­ters sei­ner wohl­wol­len­den Ver­mitt­lung be­dient hat­te. Nur um eins durf­te man ihn nicht er­su­chen, die Glo­cken zu läu­ten; lie­ber hät­te er sich er­schies­sen las­sen. Dies war so sei­ne Art, ge­gen den Ein­fall der Preus­sen zu pro­tes­tie­ren; ein still­schwei­gen­der Pro­test, der ein­zi­ge, wie er zu sa­gen pfleg­te, der dem Pries­ter als Mann des Frie­dens zu­käme. Und auf zehn Mei­len in der Kun­de rühm­te alle Welt die Fes­tig­keit und den Hel­den­mut des Abbé Chan­ta­voi­ne, der es wag­te, den Schmerz des Vol­kes in die­ser Wei­se zu ver­kün­den, ihm durch den stum­men Wi­der­stand sei­ner Kir­che Aus­druck zu ver­lei­hen. Das gan­ze Dorf, be­geis­tert durch die­sen Wi­der­stand, wäre be­reit ge­we­sen, sei­nen Hir­ten bis zum Äus­sers­ten zu un­ter­stüt­zen; denn es be­trach­te­te die­sen stum­men Wi­der­stand wie eine Ret­tung der na­tio­na­len Ehre. Es schi­en den Land­leu­ten, dass sie sich hier­durch eben­so um’s Va­ter­land ver­dient ge­macht hät­ten, wie Bel­fort oder Strass­burg; dass sie ein eben­so glän­zen­des Bei­spiel ge­ge­ben und den Na­men ih­res Dor­fes un­s­terb­lich ge­macht hät­ten. Mit Aus­nah­me des Glo­cken­ge­läu­tes ver­wei­ger­ten sie den preus­si­schen Sie­gern nichts.

Der Kom­man­dant und sei­ne Of­fi­zie­re lach­ten herz­lich über die­sen Wi­der­stand; und da im Üb­ri­gen das gan­ze Land sich ent­ge­gen­kom­mend und ge­fäl­lig zeig­te, so dul­de­ten sie gern die­sen stum­men Be­weis von Pa­trio­tis­mus.

Nur der klei­ne Frei­herr von Ey­rich hät­te gar zu gern das Läu­ten der Glo­cke er­zwun­gen. Er är­ger­te sich über die höf­li­che Rück­sicht­nah­me sei­nes Vor­ge­setz­ten ge­gen­über dem Pries­ter. Je­den Tag bat er den Ma­jor ihn doch ein­mal »Bim Bam« ma­chen zu las­sen, nur ein ein­zi­ges klei­nes Weil­chen, um doch ein­mal ein we­nig la­chen zu kön­nen. Er er­bat sich das mit kat­zen­ar­ti­ger Schmei­che­lei, mit der Ko­ket­te­rie ei­nes Wei­bes, mit der süs­sen Spra­che ei­ner durch Ei­fer­sucht ge­pei­nig­ten Buh­le­rin. Aber der Ma­jor blieb un­er­bitt­lich und Mam­sell Fifi leg­te, um sich zu ent­schä­di­gen im Schlos­se dann eine klei­ne Mine.

Die fünf Her­ren stan­den so ei­ni­ge Mi­nu­ten mit Be­ha­gen die feuch­te Luft ein­at­mend zu­sam­men am Fens­ter. End­lich sag­te der Lieu­ten­ant Fritz mit mat­tem Lä­cheln: »Die Da­men ha­ben ent­schie­den kein gu­tes Rei­se­wet­ter.« Dann trenn­te man sich und je­der ging sei­nem Diens­te nach. Der Haupt­mann hat­te alle Hän­de voll zu tun, um mit sei­nen Vor­be­rei­tun­gen für das Sou­per fer­tig zu wer­den.

Als sie sich bei sin­ken­der Nacht wie­der zu­sam­men­fan­den bra­chen sie ins­ge­samt in lau­tes Ge­läch­ter aus. Je­der mus­ter­te den an­de­ren, wie er sich fein ge­macht hat­te und nun in ta­del­lo­ses­ter Toi­let­te da­stand wie am Abend ei­nes Gar­ni­sons­bal­les. Selbst die Haa­re des Herrn Ma­jor schie­nen we­ni­ger grau wie am Mor­gen, und der Herr Haupt­mann hat­te sich ra­siert, so­dass nur sein Schnurr­bart wie eine rote Flam­me un­ter sei­ner Nase her­vor­starr­te.

Trotz des Re­gens hat­te man das Fens­ter of­fen ge­las­sen und alle Au­gen­bli­cke lausch­te ei­ner von ih­nen in die Nacht hin­aus. Zehn Mi­nu­ten nach sechs ver­kün­de­te der Ma­jor fer­nes Wa­gen­ge­ras­sel. Alle stürz­ten vor, und bald sah man den großen Wa­gen her­an­rol­len. Die Pfer­de wa­ren im­mer noch in Ga­lopp und beim Schei­ne der La­ter­nen konn­te man be­ob­ach­ten, dass sie über und über mit Kot be­spritzt wa­ren, wäh­rend ein heis­ser Dampf von ih­ren zit­tern­den Flan­ken auf­stieg.

Un­ter der großen Pla­ne kro­chen fünf Frau­en­zim­mer her­vor, fünf hüb­sche Kin­der, mit Sorg­falt von ei­nem Freun­de des Haupt­manns aus­ge­wählt, dem der Quar­tier­meis­ter ein Bil­let des­sel­ben über­bracht hat­te.

In der Voraus­sicht gu­ter Be­zah­lung hat­ten sie sich nicht lan­ge bit­ten las­sen. Sie kann­ten üb­ri­gens ja nun die »Prus­si­ens« seit den drei Mo­na­ten, wo sie in der Ge­gend wa­ren und zo­gen ih­ren Vor­teil von den Men­schen, wie es ge­ra­de kam. »Das Ge­schäft bringt das mit sich«, sag­ten sie sich un­ter­wegs, um sich ge­wis­ser­mas­sen vor ei­nem letz­ten Rest ih­res ei­ge­nen Ge­wis­sens zu ent­schul­di­gen.

Man führ­te sie so­fort in den Spei­se­saal. Der­sel­be mach­te mit sei­ner Ver­wüs­tung bei Licht einen noch trau­ri­ge­ren Ein­druck, wie am Tage. Der Tisch war mit Spei­sen, Fla­schen und Glä­sern so­wie mit dem in­zwi­schen ent­deck­ten Sil­ber­schat­ze reich be­la­den und das Gan­ze glich der Her­ber­ge von Ban­di­ten, die sich nach ei­nem glück­li­chen Raub­zug güt­lich tun. Der Haupt­mann be­mäch­tig­te sich als ein in sol­chen Din­gen er­fah­re­ner Mann so­fort der Mäd­chen, in­dem er sie mit den Au­gen mass, sie küss­te, sie beroch und auf ih­ren Wert als Dir­nen schätz­te. Als die drei jün­ge­ren Her­ren sich je­der eine neh­men woll­ten, wehr­te er es ih­nen nach­drück­lich und be­hielt sich die Ver­tei­lung vor, die streng nach Recht und Ge­rech­tig­keit dem Ran­ge ge­mä­ss er­fol­gen soll­te, um nur ja nicht die mi­li­tä­ri­sche Dis­zi­plin zu ver­let­zen.

Dann stell­te er sie um je­den Zank und Streit und je­den Ver­dacht der Par­tei­lich­keit zu ver­mei­den, der Grös­se nach ne­ben­ein­an­der auf und frag­te, einen be­feh­len­den Ton an­schla­gend die gröss­te von ih­nen: »Dein Name?«

»Pa­me­la« ant­wor­te­te die­se mit kräf­ti­ger Stim­me.

»Num­mer eins, ge­nannt Pa­me­la«, er­klär­te er hier­auf mit lau­ter Stim­me »kom­man­diert zum Herrn Ma­jor.«

Nach­dem er hier­auf »Blon­di­ne«, die zwei­te ge­küsst hat­te, zum Zei­chen, dass sie ihm ge­hö­re, teil­te er dem Lieu­ten­ant Otto die di­cke »Aman­da« zu, dem Se­kon­de­lieu­ten­ant Fritz »Eva, ge­nannt der Lie­bes­ap­fel«, und dem zar­ten Wil­helm von Ey­rich dem jüngs­ten Of­fi­zier die kleins­te von al­len, Na­mens Ra­hel, eine noch ganz jun­ge Brü­net­te mit Au­gen so schwarz wie Koh­le; eine Jü­din, de­ren Stumpf­na­se zeig­te, dass auch bei die­ser Ras­se ein­mal eine Aus­nah­me von dem her­kömm­li­chen krum­men Schna­bel statt­fin­den kann.

Alle fünf wa­ren im Üb­ri­gen hüb­sche mun­te­re Mäd­chen ohne be­son­ders aus­ge­präg­te Phy­sio­gno­mi­en; ihre täg­li­che Be­schäf­ti­gung im Lie­bes­hand­werk und das Zu­sam­men­le­ben in ei­nem öf­fent­li­chen Hau­se hat­te ih­nen in Hal­tung und Äus­se­ren einen ziem­lich ge­mein­schaft­li­chen Cha­rak­ter auf­ge­prägt.

Die drei jün­ge­ren Her­ren woll­ten so­fort ihre Mäd­chen auf ihr Zim­mer neh­men un­ter dem Vor­wan­de ih­nen Ge­le­gen­heit zu ge­ben, sich et­was von den Ein­flüs­sen der Wa­gen­fahrt zu rei­ni­gen. Aber der Haupt­mann gab dies vor­sich­ti­ger Wei­se nicht zu. Sie sei­en sau­ber ge­nug, mein­te er, um sich mit ih­nen zu Tisch zu set­zen. Die Her­ren wür­den, wenn sie her­un­ter­kämen, die Da­men wech­seln wol­len; und das wür­de die all­ge­mei­ne Ord­nung stö­ren. Er schi­en das aus Er­fah­rung zu ken­nen. Nun be­gann ein all­ge­mei­nes, er­war­tungs­vol­les, sehn­süch­ti­ges Küs­sen.

Plötz­lich be­kam Ra­hel einen Er­sti­ckungs­an­fall, sie hus­te­te, dass ihr die Trä­nen über die Ba­cken lie­fen, wäh­rend ihr Rauch aus Nase und Mund drang. Herr von Ey­rich hat­te ihr beim Küs­sen eine Dampf­wol­ke ins Ge­sicht ge­bla­sen. Sie ließ sich äus­ser­lich nichts mer­ken und sag­te kein Wort; aber ein zor­ni­ger Blick aus ih­ren schwar­zen Au­gen traf ih­ren Be­sit­zer.

Man setz­te sich. Der Ma­jor schi­en ganz aus­ge­zeich­net gu­ter Din­ge zu sein. Er nahm Pa­me­la zu sei­ner Rech­ten und Blon­di­ne zu sei­ner Lin­ken. »Das war eine bril­lan­te Idee von Ih­nen, Herr Haupt­mann!«, sag­te er sei­ne Ser­vi­et­te ent­fal­tend.

 

Die Lieu­ten­ants Otto und Fritz setz­ten ihre Nach­ba­rin­nen et­was da­durch in Ver­le­gen­heit, dass sie die­sel­ben wie an­stän­di­ge Da­men be­han­del­ten. Aber der Baron von Hel­fen­stein, ganz in sei­nem Ele­ment, schwa­dro­nier­te wie ein Husar, stiess al­ler­hand fri­vo­le Wor­te aus, und schi­en mit sei­ner ro­ten Haar­kro­ne ganz Feu­er und Flam­me zu sein. Er sprach ein schau­der­haf­tes Fran­zö­sisch und die plum­pen Lie­bens­wür­dig­kei­ten, die er den Mäd­chen zu­flüs­ter­te, spru­del­ten mit ei­nem wah­ren Spei­chel­re­gen zwi­schen sei­nen Zahn­lücken her­vor.

Üb­ri­gens ver­stan­den die Mäd­chen von al­lem nur die Hälf­te; ihr Be­griffs­ver­mö­gen schi­en erst zu er­wa­chen, als er an­fing schmut­zi­ge, durch sei­ne Auss­pra­che ver­stüm­mel­te Zo­ten her­vor­zu­stos­sen. Da fin­gen alle an wie toll durch­ein­an­der zu la­chen; sie leg­ten sich über den Schoss ih­rer Nach­barn und wie­der­hol­ten die Aus­drücke des Haupt­manns, die die­ser dann noch mehr ver­dreh­te, da­mit sie recht schmut­zig klan­gen. Sie ta­ten ihm bald die­sen Ge­fal­len, nach­dem ih­nen ein­mal die ers­te Fla­sche zu Kop­fe ge­stie­gen war; ihre wah­re Na­tur of­fen­bar­te sich in ih­ren Re­den und Ge­bär­den. Sie küss­ten die Schnurr­bär­te ih­rer Nach­barn rechts und links, knif­fen sie in die Arme, schri­en aus­ge­las­sen, tran­ken aus al­len Glä­sern, san­gen fran­zö­si­sche Cou­plets und Bruch­stücke deut­scher Lie­der, die sie durch den täg­li­chen Ver­kehr mit den Fein­den ge­lernt hat­ten.

Bald wur­den auch die Her­ren durch die­se Wei­ber­kör­per vor ih­ren Au­gen und ih­ren Ar­men ver­rückt. Sie schri­en, lach­ten und zer­schlu­gen Tel­ler und Glä­ser, wäh­rend hin­ter ih­nen die Sol­da­ten sie, ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen, still­schwei­gend be­dien­ten.

Nur der Ma­jor be­wahr­te sei­ne ru­hi­ge Hal­tung Mam­sell Fifi hat­te Ra­hel auf den Schoss ge­nom­men und reg­te sich un­nütz an ihr auf. Bald küss­te er wie toll die ra­ben­schwar­zen Här­chen auf ih­rem Na­cken wo­bei er durch den en­gen Spalt zwi­schen Kleid und Haut die lin­de Wär­me, ver­mischt mit den ei­gen­tüm­li­chen Duft ih­res Kör­pers ein­sog. Bald wie­der er­griff ihn sei­ne wil­de Rad­au­sucht, und mit wü­ten­der Lüs­tern­heit kniff er sie durch den Stoff hin­durch, dass sie laut auf­schrie. Er um­fass­te sie und press­te sie an sich, als woll­te er sich mit ihr ver­ei­nen; er drück­te sei­nen Mund in­nig auf die fri­schen Lip­pen der Jü­din, und küss­te sie, dass sie fast den Atem ver­lor. Plötz­lich biss er so fest zu, dass ein Blut­fa­den über das Kinn des Mäd­chens rann und auf die Tail­le tropf­te.

»Das zahl ich Dir heim!« zisch­te sie, ihn aber­mals scharf an­se­hend, wäh­rend sie das Blut ab­wisch­te.

»Wenn’s wei­ter nichts ist!« lach­te er mit har­tem Blick.

Zum Nach­tisch wur­de Sekt ein­ge­schenkt. Der Ma­jor er­hob sich, und mit dem­sel­ben Tone mit dem er das Hoch auf ir­gend eine fürst­li­che Per­sön­lich­keit aus­ge­bracht ha­ben wür­de, sag­te er:

»Auf das Wohl der Da­men!«

Eine gan­ze Rei­he von Toas­ten be­gann jetzt, Toas­te mit der Galan­te­rie be­trun­ke­ner Lieu­ten­ants ver­mengt voll schmut­zi­ger Wit­ze, die bei der schlech­ten Auss­pra­che noch ro­her klan­gen. Ei­ner nach dem and­ren er­hob sich und such­te et­was geist­rei­ches und ko­mi­sches zu sa­gen. Die Wei­ber, trun­ken bis zum Um­fal­len, klatsch­ten je­des Mal mit ver­glas­ten Au­gen und gei­fern­den Lip­pen wie toll ih­ren Bei­fall.

Der Haupt­mann woll­te sicht­lich der Or­gie einen ga­lan­ten An­strich ge­ben.

»Auf un­se­re Sie­ge über die weib­li­chen Her­zen!« rief er, noch­mals das Glas er­he­bend.

Da sprang der Lieu­ten­ant Otto auf, ein rech­ter deut­scher Bär, dem der Wein den Kopf ver­dreht hat­te.

»Auf un­se­re Sie­ge über Frank­reich!« brüll­te er von trun­ke­nem Pa­trio­tis­mus hin­ge­ris­sen.

Trotz ih­rer Trun­ken­heit schwie­gen die Wei­ber die­ses­mal; Ra­hel zuck­te zu­sam­men.

»Du hör mal,« wand­te sie sich zu ihm, »ich ken­ne Fran­zo­sen, vor de­nen Du so was nicht sa­gen wür­dest.«

Der klei­ne Frei­herr, auf des­sen Schos­se sie noch im­mer sass, schlug eine un­bän­di­ge La­che auf; der Wein mach­te ihn aus­ge­las­sen.

»Ach, warum nicht gar?« rief er. »Ich habe noch kei­nen ge­se­hen! So­bald wir kom­men, reis­sen sie aus.«

»Das lügst Du, Lump!« schrie ihm Ra­hel wü­tend ins Ge­sicht.

Eine Se­kun­de lang ruh­te sein kal­ter, har­ter Blick auf ihr, wie er auf den Ge­mäl­den ruh­te, nach de­nen er spä­ter mit dem Re­vol­ver schoss.

»Na, mein Schatz, da­von wol­len wir lie­ber nicht wei­ter re­den,« fing er dann wie­der la­chend an. »Säs­sen wir viel­leicht hier, wenn sie Kou­ra­ge hät­ten?« Er wur­de leb­haf­ter.

»Aber wir sind jetzt die Her­ren!« rief er. »Uns ge­hört Frank­reich.«

Mit ei­nem Ruck war sie von sei­nem Schoss her­un­ter und tau­mel­te auf ih­rem Stuhl. Er aber sprang auf, hob sein Glas über den Tisch und wie­der­hol­te:

»Uns ge­hört Frank­reich mit sei­nen Be­woh­nern, mit sei­nen Wäl­dern, Häu­sern und Fel­dern!«

Die Üb­ri­gen eben so plötz­lich von ei­ner un­sin­ni­gen mi­li­tä­ri­schen Be­geis­te­rung er­fasst, ho­ben eben­falls in ih­rer ro­hen Trun­ken­heit die Glä­ser.

»Es lebe Preus­sen!« brüll­ten sie wie aus ei­nem Mun­de. Und sie leer­ten die Glä­ser mit ei­nem Zuge.

Schwei­gend, von Furcht er­grif­fen, wag­ten die Mäd­chen kei­nen Wi­der­spruch. Selbst Ra­hel schwieg, un­fä­hig, et­was zu er­wi­dern.

Da setz­te der klei­ne Frei­herr sein frisch ge­füll­tes Sekt­glas auf den Kopf der Jü­din und schrie:

»Uns ge­hö­ren auch alle Frau­en Frank­reichs.« Sie sprang so schnell auf, dass die Kris­tall­scha­le um­kipp­te und klir­rend auf dem Bo­den zer­sprang, wäh­rend der gol­di­ge Schaum­wein wie zur Tau­fe ihre schwar­zen Haa­re durch­tränk­te. Mit be­ben­den Lip­pen trotz­te sie dem Bli­cke des noch im­mer lä­cheln­den Of­fi­zie­res.

»Das … das … das ist nicht wahr, ver­stehst Du! Die fran­zö­si­schen Frau­en be­kommt Ihr nicht!«

Er setz­te sich und schüt­tel­te sich vor La­chen.

»Die Klei­ne ist wirk­lich naiv,« stam­mel­te er. »Zu was bist Du denn sonst hier, mein Schatz?«

An­fangs schwieg sie fas­sungs­los, weil sie in ih­rer Ver­wir­rung den Sinn sei­ner Wor­te nicht ver­stand. Dann aber, als sie sei­ne Fra­ge be­grif­fen hat­te, schrie sie ihm em­pört ins Ge­sicht.

»Ich … ich? … Ich bin kei­ne Frau, ich bin eine Dir­ne. So eine ist ge­ra­de gut ge­nug für Euch Preus­sen!«

Kaum hat­te sie aus­ge­spro­chen, als er ihr mit vol­ler Kraft eine Ohr­fei­ge ver­setz­te. Als er aber dann sinn­los vor Wut zu ei­nem zwei­ten Schla­ge aus­hol­te, er­griff sie vom Ti­sche ein Des­sert­mes­ser mit sil­ber­ner Klin­ge und stiess es ihm in den Hals, ge­nau in die Höh­lung, wo die Brust an­setzt. Das voll­zog sich so schnell, dass man es kaum ge­wahr wur­de.

Ein Wort, das er ge­ra­de noch spre­chen woll­te, blieb ihm im Hal­se ste­cken. Zit­ternd sass er da, mit ei­nem furcht­ba­ren Blick im Auge.

Alle sties­sen einen lau­ten Schrei aus und spran­gen wirr durch­ein­an­der. Aber Ra­hel warf dem Lieu­ten­ant Otto ih­ren Stuhl zwi­schen die Bei­ne, dass er der Län­ge nach hin­fiel. Dann lief sie an’s Fens­ter, riss es auf, und ehe man ihr fol­gen konn­te, hat­te sie sich hin­aus­ge­schwun­gen in die fins­te­re Nacht, in den im­mer noch strö­men­den Re­gen.

Mam­sell Fifi war nach zwei Mi­nu­ten tot. Da grif­fen Schön­burg und Groß­ling nach ih­ren Waf­fen, um die Wei­ber nie­der­zu­ste­chen. Nur mit Mühe konn­te der Ma­jor ein Blut­bad ver­hin­dern. Er ließ die vier be­stürz­ten Mäd­chen un­ter Be­wa­chung von zwei Mann in ein Zim­mer sper­ren. Dann ver­teil­te er sei­ne Leu­te wie zum Ge­fecht, und ord­ne­te die Ver­fol­gung der Flüch­ti­gen an, die er si­cher zu er­wi­schen hoff­te.

Fünf­zig Mann wur­den mit den strengs­ten Be­feh­len in den Park ge­sandt. Zwei­hun­dert an­de­re soll­ten die Ge­höl­ze und alle Häu­ser des Ta­les durch­su­chen.

Der in ei­nem Au­gen­bli­cke ab­ge­deck­te Tisch diente jetzt als To­ten­bett, und die vier Of­fi­zie­re blie­ben er­nüch­tert, starr, mit erns­ter Dienst­mie­ne am Fens­ter ste­hen und lausch­ten in die Nacht hin­aus.

Der hef­ti­ge Re­gen ström­te wei­ter. Ein un­aus­ge­setz­tes Plät­schern hall­te durch die Fins­ter­nis, ein lei­ses Mur­meln von nie­der­rau­schen­dem, ab­flies­sen­dem, trop­fen­dem und zu­rück­sprü­hen­dem Was­ser.

Plötz­lich fiel ein Schuss, dann weit ent­fernt ein zwei­ter; und so hör­te man vier Stun­den lang hier und dort bald nä­her, bald ent­fern­ter Schüs­se fal­len, Sam­mel­ru­fe, selt­sa­me Wor­te, die wie ein An­ruf aus tiefer Brust klan­gen.

Ge­gen Mor­gen rück­te al­les wie­der ein. Zwei Sol­da­ten wa­ren bei dem Ei­fer der Ver­fol­gung und der Über­stür­zung die­ser nächt­li­chen Jagd von den ei­ge­nen Ka­me­ra­den er­schos­sen wor­den; drei wei­te­re wa­ren ver­wun­det.

Aber Ra­hel hat­te man nicht ent­de­cken kön­nen.

Nun wur­den die Be­woh­ner be­droht, in den Häu­sern das obers­te zu un­terst ge­kehrt, die gan­ze Ge­gend durch­streift und ab­ge­trie­ben. Ver­ge­bens! Die Jü­din schi­en bei ih­rer Flucht nicht die lei­ses­te Spur hin­ter­las­sen zu ha­ben.

Auf die er­folg­te Mel­dung hin be­fahl der Ge­ne­ral die Sa­che nie­der­zu­schla­gen, um der Ar­mee kein schlech­tes Bei­spiel zu ge­ben. Der Ma­jor er­hielt eine Dis­zi­pli­nar­stra­fe und be­straf­te sei­ner­seits wie­der sei­ne Un­ter­ge­be­nen. Man führt nicht Krieg um Kurzweil zu trei­ben und sich mit öf­fent­li­chen Dir­nen zu amü­sie­ren,« hat­te der Ge­ne­ral ge­schrie­ben; und der Graf Farls­berg, zor­nig über die­sen Ver­weis, be­schloss, sich an den Ein­woh­nern zu rä­chen.

Um einen pas­sen­den Vor­wand zu fin­den, ließ er den Pfar­rer ru­fen und be­fahl ihm, beim Be­gräb­nis des Frei­herrn von Ey­rich, die Glo­cke läu­ten zu las­sen.

Wi­der Er­war­ten füg­te sich der Pfar­rer ganz un­ter­wür­fig und war zu al­lem be­reit. Und als Mam­sell Fi­fi’s ent­seel­ter Kör­per un­ter dem Ge­leit von Sol­da­ten mit ge­la­de­nem Ge­wehr Schloss Uville ver­liess, um zum Kirch­hof ge­bracht zu wer­den, ließ die Glo­cke zum ers­ten Male ihr fei­er­li­ches To­ten­ge­läu­te er­tö­nen. Fast hei­ter hall­ten ihre Töne, als ob eine freund­li­che Hand sie ge­strei­chelt hät­te.

Abends er­klang sie wie­der und am an­de­ren Mor­gen eben­so; kei­nen Tag setz­te sie jetzt mehr aus. So oft man nur woll­te, er­tön­te sie. So­gar nachts manch­mal setz­te sie sich ganz von selbst in Be­we­gung und tat lang­sam zwei oder drei Schlä­ge in der Fins­ter­nis. Es war als ob sie, er­wacht ohne zu wis­sen wo­durch, von ei­ner selt­sa­men Freu­de er­grif­fen wäre. Die Dorf­be­woh­ner glaub­ten ein­stim­mig, sie sei ver­hext, und nie­mand aus­ser dem Pfar­rer und dem Mess­ner, wag­te sich nach dem Glock­en­tur­me zu nä­hern.

Da dro­ben aber leb­te ein ar­mes Mäd­chen in Not und Angst, wel­ches die bei­den Män­ner heim­lich dort ver­sorg­ten.

Sie blieb dort bis zum Ab­zug der deut­schen Trup­pen. Dann lieh sich ei­nes Abends der Pfar­rer den Korb­wa­gen des Bäckers und brach­te sel­ber sei­nen Schütz­ling bis an die Tore von Rou­en. Dort an­ge­kom­men nahm er mit ei­ner vä­ter­li­chen Umar­mung von ihr Ab­schied. Sie stieg vom Wa­gen und schritt has­tig dem öf­fent­li­chen Hau­se zu, des­sen In­ha­be­rin sie längst für tot ge­hal­ten hat­te.

Ein vor­ur­teils­frei­er Pa­tri­ot, der sie an­fangs we­gen ih­rer schö­nen Tat und spä­ter um ih­rer selbst wil­len lieb­ge­won­nen hat­te, nahm sie ei­ni­ge Zeit dar­auf von dort her­aus und hei­ra­te­te sie. Sie wur­de eine Dame und ge­noss ihr An­se­hen so gut wie vie­le an­de­re.

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