Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Papa, Papa!« wie­der­hol­te sie im­mer wie­der la­chend »hast Du ge­hört, wie er stets be­ton­te: Zwan­zig­tau­send Fran­cs?«

Und Müt­ter­chen, der das La­chen stets eben so nahe war wie das Wei­nen, wur­de bei der Erin­ne­rung an das zor­ni­ge Ge­sicht ih­res Schwie­ger­soh­nes, an sei­ne wü­ten­den Aus­ru­fe, und an sei­ne hef­ti­ge Wei­ge­rung, dem von ihm ver­führ­ten Mäd­chen eine Sum­me zu ge­ben, die ihm noch gar nicht ge­hör­te, von je­nem sto­ss­wei­sen La­chen be­fal­len, das ihr stets die Trä­nen in die Au­gen trieb. Zu­gleich wirk­te ihre Freu­de über Jo­han­nas gute Lau­ne mit. Da konn­te auch der Baron sei­ner­seits der all­ge­mei­nen An­ste­ckung nicht mehr wi­der­ste­hen und wie in lus­ti­gen al­ten Zei­ten lach­ten alle drei, dass sie fast krank wur­den.

»Es ist merk­wür­dig,« sag­te Jo­han­na, als sie sich wie­der et­was be­ru­higt hat­ten, »dass mir so et­was gar kei­nen Ein­druck mehr macht. Ich be­trach­te ihn jetzt wie einen Frem­den. Ich kann gar nicht mehr glau­ben, dass ich sei­ne Frau sei. Ihr seht, ich amü­sie­re mich über sei­ne … sei­ne … Unz­art­hei­ten.«

Und ohne recht zu wis­sen warum, küss­ten sie sich zärt­lich und la­chend.

Aber zwei Tage spä­ter nach dem Früh­stück als Ju­li­us aus­ge­rit­ten war, trat ein großer Bur­sche von zwei bis vier­und­zwan­zig Jah­ren, in einen ganz neu­en blau­en, viel­fal­ti­gen Kit­tel mit bau­schi­gen Är­meln und Knöp­fen am Hand­ge­lenk, ge­klei­det, ängst­lich durch das Tor, als ob er dort schon seit Mor­gen ge­lau­ert hät­te. Er glitt längs dem Gra­ben des Couil­lard’­schen Pacht­ho­fes, ging um’s Schloss her­um und nä­her­te sich lang­sa­men Schrit­tes dem Baron und den bei­den Da­men, die wie im­mer un­ter der Pla­ta­ne sas­sen.

Als er sie be­merk­te, hat­te er sei­ne Müt­ze ab­ge­nom­men, und trat ver­le­gen grüs­send wie­der et­was nä­her.

»Ihr Die­ner Herr Baron, Ma­da­me und alle mit­ein­an­der« platz­te er los, als er nahe ge­nug war um ver­stan­den zu wer­den. »Ich bin De­siré Le­coq« ver­kün­de­te er so­dann, als nie­mand ihn an­re­de­te.

»Was gibts?« frag­te der Baron, den die­ser Name nicht ge­schei­ter mach­te. So ge­zwun­gen sei­ne An­ge­le­gen­heit deut­li­cher zu er­klä­ren wur­de der Bur­sche ganz ver­le­gen. Sei­ne Au­gen wan­der­ten un­ru­hig hin und her; bald haf­te­ten sie auf der Müt­ze in sei­ner Hand, bald weil­ten sie drü­ben auf dem Da­che des Schlos­ses.

»Der Herr Pfar­rer …« stam­mel­te er, »hat mir … et­was von der … Sa­che ge­steckt.«

Dann schwieg er wie­der, aus Furcht zu viel zu sa­gen und da­durch sein In­ter­es­se zu ver­let­zen.

»Von wel­cher Sa­che? Ich weiß wahr­haf­tig nichts« sag­te der Baron ver­ständ­nis­los.

»Die Sa­che mit dem Mäd­chen … mit Ro­sa­lie …« sag­te hier­auf der an­de­re mit halb­lau­ter Stim­me.

Jo­han­na, die halb und halb die Ge­schich­te er­ra­ten hat­te, stand auf und ent­fern­te sich mit dem Kind auf den Ar­men.

»Kommt her­an,« sag­te der Baron mit der Hand auf den Stuhl deu­tend, den sei­ne Toch­ter ver­las­sen hat­te.

»Sie sind sehr gü­tig,« mur­mel­te der Bau­er sich set­zend. Dann war­te­te er wie­der, als wenn er wei­ter nichts zu sa­gen hät­te. End­lich nach län­ge­rem Schwei­gen schi­en er einen Ent­schluss zu fas­sen und hef­te­te den Blick auf den blau­en Him­mel. »Wir ha­ben noch schö­nes Wet­ter für die­se Jah­res­zeit Scha­de, dass es dem Lan­de für die Aus­saat nicht mehr zu Gute kommt.« Dann schwieg er aber­mals.

»Ihr wollt also die Ro­sa­lie hei­ra­ten?« frag­te ihn der Baron ganz un­ver­mit­telt, nach­dem sei­ne Ge­duld zu Ende war.

Der Mann wur­de so­fort sehr un­ru­hig; sei­ner ge­wohn­ten nor­män­ni­schen Vor­sicht pass­te die­se Fra­ge nicht so recht. »Vi­el­leicht ja, wie es passt; viel­leicht auch nein, je nach­dem,« er­wi­der­te er leb­haft wenn auch im­mer noch sehr miss­trau­isch.

Dem Baron wur­den end­lich die­se aus­wei­chen­den Re­dens­ar­ten zu viel.

»Zum Teu­fel auch! So sprecht doch frisch von der Le­ber. Kommt ihr des­halb, oder nicht. Wollt ihr sie hei­ra­ten oder nicht?«

Der Mann starr­te ganz ver­le­gen im­mer nur auf sei­ne Füs­se.

»Wenn es so ist, wie der Pfar­rer sagt, nehm’ ich sie; wenn es aber so ist, wie Herr Ju­li­us sagt, nehm ich sie kei­nes­falls.

»Was hat euch Herr Ju­li­us ge­sagt?«

»Herr Ju­li­us hat mir ge­sagt, dass ich fünf­zehn­tau­send Fran­cs ha­ben soll­te; und der Herr Pfar­rer hat mir ge­sagt, es wä­ren zwan­zig­tau­send. Mit zwan­zig­tau­send neh­me ich sie, mit fünf­zehn­tau­send aber nicht.«

Die Baro­nin, wel­che in ih­rem Stuhl ver­sun­ken sass, stiess beim An­blick die­ses ängst­li­chen Men­schen ein kur­z­es La­chen aus. Der Bau­er sah sie von der Sei­te mit miss­ver­gnüg­ter Mie­ne an; er be­griff die­se plötz­li­che Hei­ter­keit nicht und war­te­te.

Dem Baron war die­ser Han­del un­be­quem.

»Ich habe dem Herrn Pfar­rer ge­sagt, dass ihr den Pacht­hof Bar­ville zeit­le­bens ha­ben sollt und dass er dann auf das Kind über­geht. Er ist zwan­zig­tau­send Fran­cs wert. Ich habe nur ein Wort. Ge­nügt euch das oder nicht?«

Der Mann lä­chel­te stumpf­sin­nig und be­frie­digt; jetzt wur­de er auf ein­mal ge­sprä­chig: »Ach, we­gen da­mals hät­te ich ja nicht nein ge­sagt. Das war es nicht, was mich ge­nier­te. Als der Herr Pfar­rer mit mir sprach, war ich, mei­ner Seel! auf der Stel­le ein­ver­stan­den, und es war mir ein Ver­gnü­gen, dem Herrn Baron ge­fäl­lig zu sein, der mir das schon ver­gel­ten wür­de, wie ich mir sag­te. Das bleibt wahr wenn man sich ge­gen­sei­tig ge­fäl­lig ist, so lohnt sich das für je­den. Aber Herr Ju­li­us such­te mich auf, und sprach nur von fünf­zehn­tau­send. »Da musst du selbst ein­mal schau­en,« dach­te ich bei mir und so kam ich her. Ich wuss­te ja schon Be­scheid, ich hat­te Ver­trau­en; aber ich woll­te wis­sen, wor­an ich war. Gute Ord­nung er­hält gute Freund­schaft; ist das nicht wahr Herr Baron?«

»Wann soll die Hoch­zeit sein?« frag­te ihn der Baron, als er einen Au­gen­blick Atem schöpf­te. Da wur­de der Mann plötz­lich wie­der ängst­lich, voll Ver­le­gen­heit. »Wol­len wir nicht erst ein klei­nes Pa­pier dar­über auf­set­zen?« frag­te er schliess­lich zö­gernd. Dies­mal wur­de der Baron är­ger­lich.

»Aber zum Kuckuck! Ihr habt doch an dem Hei­rats-Kon­trakt ge­nug. Das ist doch das si­chers­te Pa­pier.«

»Wir könn­ten in­des­sen im­mer noch et­was schrift­lich dar­über aus­ma­chen,« wand­te je­ner ein. »Das kann nichts scha­den.«

Der Baron stand auf, um ein Ende zu ma­chen. »Ant­wor­tet, ja oder nein. Wenn Ihr kei­ne Lust habt, so sag­t’s nur. Ich habe noch einen and­ren zur Hand.«

Da mach­te die Furcht vor ei­nem Ne­ben­buh­ler den schlau­en Nor­man­nen stut­zig. Er ent­schied sich schnell, er er­griff die Hand des Barons, wie beim Kuh­han­del und sag­te: »Topp! Herr Baron! Ab­ge­macht. Ein Narr, der noch zö­ger­te!«

Der Baron schlug ein und rief dann ›Lu­di­vi­ne!‹ Der Kopf der Kö­chin er­schi­en am Fens­ter. »Brin­gen Sie eine Fla­sche Wein.« Man be­goss die Sa­che mit der not­wen­di­gen Feuch­tig­keit. Spä­ter ent­fern­te sich der Bur­sche mit et­was be­flü­gel­te­rem Schrit­te, als wie er ge­kom­men war.

Ju­li­us sag­te man nichts von die­sem Be­su­che. In tiefs­ter Stil­le wur­de der Kon­trakt fer­tig ge­macht, und dann fand ei­nes mon­tags mor­gens die Hoch­zeit statt, nach­dem das Auf­ge­bot er­folgt war.

Eine Nach­ba­rin trug das Klei­ne hin­ter dem neu­en Paa­re her zur Kir­che, wie ein si­che­res Ver­mö­gens­pfand. Nie­mand in der Ge­mein­de wun­der­te sich; man be­nei­de­te höchs­tens De­siré Le­coq. Es sei ein hel­ler Kopf, sag­ten die Leu­te mit et­was bos­haf­tem Lä­cheln, aber ohne jede Spur von Ent­rüs­tung.

Ju­li­us mach­te nach­träg­lich eine furcht­ba­re Sze­ne, wel­che die Abrei­se sei­ner Schwie­ger­el­tern von Peup­les be­schleu­nig­te. Jo­han­na sah sie ohne all­zu tie­fen Kum­mer schei­den, da Paul für sie eine un­er­schöpf­li­che Quel­le des Glücks ge­wor­den war.

*

IX.

Als Jo­han­na sich von ih­rer Nie­der­kunft ganz er­holt hat­te, ent­schloss man sich, den Be­such der Four­vil­les zu er­wi­dern und auch dem Mar­quis de Cou­te­lier einen Be­such zu ma­chen.

Ju­li­us hat­te auf ei­ner Auk­ti­on einen neu­en Wa­gen ge­kauft, ein Phae­ton, zu dem man nur ein Pferd be­durf­te; so konn­ten sie ein oder zwei­mal im Mo­nat be­quem aus­fah­ren.

An ei­nem schö­nen kla­ren De­zem­ber­ta­ge wur­de an­ge­spannt. Nach­dem sie zwei Stun­den durch Feld und Wie­sen ge­fah­ren wa­ren, be­gann der Weg in ein klei­nes Tal ab­zu­stei­gen, des­sen Rän­der be­wal­det wa­ren und des­sen Grund deut­li­che Spu­ren ei­ner sorg­fäl­ti­gen Kul­tur zeig­te.

Auf die be­sä­e­ten Fel­der folg­ten Wie­sen und auf die Wie­sen ein großer Sumpf. Das Schilf­rohr des­sel­ben war zu die­ser Jah­res­zeit schon dürr und sei­ne Blät­ter flat­ter­ten wie lan­ge gel­be Bän­der im Win­de.

Plötz­lich nach ei­ner schar­fen Bie­gung des Ta­les lag das Schloss la Vri­let­te vor ih­nen. Es lehn­te sich mit der einen Front an den be­wal­de­ten Tal­hang an, wäh­rend die Mau­er der and­ren sich in ei­nem Teich ver­lor, den auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te ein ho­hes Tan­nen­ge­hölz ab­schloss, das die­sen Teil des Ta­les be­deck­te.

Man muss­te über eine alte Zug­brücke, um dann durch ein ho­hes Por­tal im Sti­le Lud­wig XIII. in den Schloss­hof zu ge­lan­gen. Das Schloss war im glei­chen Sti­le aus Back­stein er­baut und von Türm­chen mit Schie­fer­dä­chern flan­kiert.

Ju­li­us er­klär­te Jo­han­na alle Ein­zeln­hei­ten des Bau­es, den er ge­nau zu ken­nen schi­en. Er pries sei­ne vollen­de­te Schön­heit, die er nicht ge­nug be­wun­dern konn­te. »Sieh nur dies Por­tal an! Ist das nicht eine herr­li­che Woh­nung, wie? Die gan­ze an­de­re Faça­de liegt im Tei­che, mit ei­ner wun­der­vol­len Ram­pe, die bis zum Was­ser her­un­ter führt. Vier Käh­ne lie­gen an de­ren Stu­fen be­fes­tigt, zwei für den Gra­fen und zwei für die Grä­fin. Dort un­ten rechts, wo Du die Pap­pel­rei­he siehst, ist das Ende des Tei­ches. Dort liegt der Fluss, der nach Fe­camp führt. Die Ge­gend ist von Was­ser­vö­geln be­lebt. Der Graf schwärmt lei­den­schaft­lich für die Jagd. Es ist ein rich­ti­ger Her­ren­sitz, das.«

 

Die Ein­gangs­tür öff­ne­te sich und die blei­che Grä­fin er­schi­en, den Be­su­chern mit ei­nem Lä­cheln auf den Lip­pen ent­ge­gen­kom­mend. Sie trug ein Schlepp­kleid wie eine Schloss­her­rin aus al­ter Zeit. Die schö­ne Dame vom See schi­en wie ge­bo­ren für die­ses Gra­fen­schloss.

Der acht­fenst­ri­ge Sa­lon ge­währ­te einen pracht­vol­len Aus­blick auf das Was­ser und das dunkle Fich­ten­holz, wel­ches an sei­nem jen­sei­ti­gen Ran­de em­por­stieg.

Das dunkle Laub im Hin­ter­grun­de ließ den Teich tief, fins­ter und trau­rig er­schei­nen; und wenn der Wind blies, so klang das Flüs­tern der Bäu­me wie seuf­zen­de Stim­men aus dem Sump­fe.

Die Grä­fin nahm bei­de Hän­de Jo­han­na’s, als hät­te sie eine Ju­gend­freun­din vor sich, bat sie Platz zu neh­men und setz­te sich ne­ben sie auf einen nied­ri­gen Stuhl, wäh­rend Ju­li­us, der seit fünf Mo­na­ten ganz wie­der der vor­neh­me Welt­mann von frü­her ge­wor­den war, in der ge­wand­tes­ten Wei­se un­ter ver­trau­li­chem stil­len Lä­cheln die Un­ter­hal­tung führ­te.

Die Grä­fin und er spra­chen von ih­ren Spa­zier­rit­ten. Sie lach­te ein we­nig über sei­ne Reit­kunst und nann­te ihn den »Stol­per-Rit­ter«, wäh­rend er sie la­chend »Die Ama­zo­nen-Kö­ni­gin« tauf­te. Der Knall ei­nes Ge­weh­res un­ter dem Fens­ter ent­lock­te Jo­han­na einen klei­nen Schrei. Es war der Graf, der eine Krick­en­te ge­schos­sen hat­te.

Sei­ne Frau rief ihn so­fort her­bei. Man hör­te das Geräusch von Ru­dern, das An­stos­sen ei­nes Kahns an der Stein­trep­pe und als­bald er­schi­en der Graf in ho­hen Was­sers­tie­feln, ge­folgt von zwei trie­fen­den Hun­den, röt­lich wie ihr Herr, die sich’s auf dem Tep­pich an der Tür be­quem mach­ten.

Der Graf schi­en zu Hau­se bes­se­rer Lau­ne und über den nach­bar­li­chen Be­such sehr er­freut zu sein. Er ließ fri­sches Holz in den Ka­min le­gen, be­stell­te Ma­dei­ra und Bis­kuits. »Aber Sie wer­den mit uns es­sen, nicht wahr; ab­ge­macht?« rief er plötz­lich, Jo­han­na, de­ren Ge­dan­ken stets bei ih­rem Kin­de weil­ten, woll­te Ein­wen­dun­gen ma­chen; aber er ließ sie nicht gel­ten. Als sie noch im­mer zö­ger­te, mach­te Ju­li­us eine hef­ti­ge Be­we­gung der Un­ge­duld. Da be­fürch­te­te sie sei­ne schlech­te Lau­ne wie­der zu er­we­cken und wil­lig­te ein, ob­schon ihr der Ge­dan­ke furcht­bar war, Paul vor dem nächs­ten Tage nicht wie­der­zu­se­hen.

Es war ein sehr ver­gnüg­ter Nach­mit­tag. Man fuhr zu­nächst zu den Quel­len des Tei­ches, die am Fus­se ei­nes moos­be­wach­se­nen Fel­sens sich in ein kla­res Bas­sin er­gos­sen, des­sen Was­ser stets wie ko­chend auf­wir­bel­te. Dann be­weg­te sich der Kahn auf rich­ti­gen Was­ser­we­gen, die in dem Wal­de von tro­ckenem Schilf ein­ge­schnit­ten wa­ren. Der Graf, der zwi­schen sei­nen zwei Hun­den sass, die wit­ternd die Nase in die Luft streck­ten, führ­te die Ru­der. Je­der sei­ner Ru­der­schlä­ge brach­te den Kahn ein gu­tes Stück vor­wärts. Jo­han­na steck­te zu­wei­len die Hand in das fri­sche Was­ser und freu­te sich sei­ner ei­si­gen Küh­le, die ihr bis zum Her­zen drang. Ganz im Hin­ter­grun­de sas­sen, in Shaw­les ein­gehüllt, die Grä­fin und Ju­li­us. Sie lä­chel­ten wie zwei glück­li­che Men­schen, die für ihr Glück aber kei­ne Wor­te ha­ben.

Der Abend brach mit lang­ge­zo­ge­nen küh­len Schau­ern her­ein; der Nord­wind strich durch das wel­ke Schilf­rohr. Die Son­ne war hin­ter den Tan­nen zur Ruhe ge­gan­gen. Der röt­li­che Him­mel, mit schar­lach­far­be­nen und gro­tes­ken Wölk­chen be­deckt, ließ einen er­frie­ren, wenn man ihn nur an­schau­te.

Man kehr­te in den Sa­lon zu­rück, wo ein mäch­ti­ges Ka­min­feu­er brann­te. Schon beim Ein­tritt wur­de man warm und hei­ter ge­stimmt. Der Graf nahm in aus­ge­las­se­ner Lau­ne sei­ne Frau wie ein Kind auf sei­ne ath­le­ti­schen Arme, hob sie bis zum Mun­de em­por und drück­te ihr zwei herz­haf­te glück­li­che Küs­se auf bei­de Wan­gen.

Jo­han­na be­trach­te­te lä­chelnd die­sen gut­mü­ti­gen Rie­sen, den man le­dig­lich um sei­nes großen Schnurr­bar­tes wil­len einen Währ­wolf nann­te. »Wie man sich doch stets über die Leu­te täu­schen kann!« dach­te sie bei sich. Als sie dann fast un­will­kür­lich den Blick auf Ju­li­us rich­te­te, der furcht­bar bleich, das Auge starr auf den Gra­fen ge­hef­tet, in der Tür stand, nä­her­te sie sich ihm voll Be­sorg­nis. »Bist Du krank? Was fehlt Dir nur?« frag­te sie ihn lei­se. »Nichts«, ant­wor­te­te er zor­nig, »lass mich zu­frie­den. Ich frie­re.«

Als man sich in den Spei­se­saal be­gab, bat der Graf um die Er­laub­nis, sei­ne Hun­de mit­neh­men zu dür­fen. Sie ka­men als­bald her­bei und pflanz­ten sich rechts und links von sei­nem Stuh­le auf. Je­den Au­gen­blick gab er ih­nen einen Bis­sen von sei­nem Tel­ler und strei­chel­te ih­ren lan­gen sei­den­wei­chen Be­hang. Die präch­ti­gen Tie­re zeig­ten sich sehr emp­fäng­lich für sei­ne Lieb­ko­sun­gen, sie we­del­ten mit dem Schweif und zit­ter­ten vor freu­di­ger Er­re­gung.

Jo­han­na und Ju­li­us mach­ten nach dem Di­ner Mie­ne, fort­zu­fah­ren; al­lein der Graf hielt sie zu­rück, um ih­nen einen Fisch­fang bei Fa­ckel­schein zu zei­gen.

Sie muss­ten sich mit der Grä­fin auf der Ram­pe auf­stel­len, die zum Tei­che führ­te, wäh­rend er, von ei­nem Die­ner mit bren­nen­der Fa­ckel und Wurf­netz be­glei­tet, in sei­nen Kahn stieg. Die Nacht war klar und scharf; der Him­mel mit Mil­li­ar­den von Ster­nen be­sä­et.

Die Fa­ckel warf selt­sa­me le­ben­di­ge Feu­er­strah­len auf das Was­ser; ihr Licht er­zit­ter­te im Schilf­rohr und brach sich an dem Ran­de des dich­ten Tan­nen­ge­höl­zes. Plötz­lich bei ei­ner Wen­dung des Kah­nes hob sich ein rie­si­ger ge­spens­ti­ger Schat­ten, der Schat­ten ei­nes Men­schen, an die­sem hel­ler­leuch­te­ten Wald­ran­de ab. Sein Haupt rag­te über die Bäu­me hin­aus und ver­lor sich im Äther, wäh­rend die Füs­se im Was­ser zu ste­hen schie­nen. Dann er­hob die­ses un­er­mess­li­che We­sen sei­ne Arme, als woll­te es die Ster­ne vom Him­mel ho­len. Sie schnell­ten plötz­lich em­por, die­se Arme, und san­ken eben­so schnell wie­der her­ab. Gleich­zei­tig hör­te man ein leich­tes Geräusch, wie wenn das Was­ser ge­peitscht wür­de.

Wäh­rend die Bar­ke lang­sam da­hing­litt, schi­en die wun­der­ba­re Ge­stalt längs dem er­leuch­te­ten Hol­ze hin­zu­lau­fen. Dann ver­schwand sie in dem un­sicht­ba­ren Ho­ri­zont, um plötz­lich wie­der auf­zut­au­chen. Sie war we­ni­ger groß aber ge­nau­er in ih­ren Um­ris­sen; ihre Be­we­gun­gen wur­den im­mer deut­li­cher, als sie sich jetzt auf der Faça­de des Schlos­ses ab­spie­gel­te.

»Ich habe acht ge­fan­gen, Gil­ber­te«, rief die ge­wal­ti­ge Stim­me des Gra­fen.

Die Ru­der knirsch­ten auf dem Grun­de. Der rie­si­ge Schat­ten stand jetzt un­be­weg­lich an der Mau­er und wur­de im­mer klei­ner und schma­ler. Sein Haupt schi­en her­ab­zu­sin­ken, sein Kör­per ab­zu­ma­gern; und als Herr de Four­ville die Stu­fen der Ram­pe her­auf­schritt, stets von dem Die­ner mit der Fa­ckel ge­folgt, war sei­ne Fi­gur wie­der auf ih­ren ge­wöhn­li­chen Um­fang zu­sam­men­ge­schmol­zen, wäh­rend das Licht alle sei­ne Be­we­gun­gen auf dem Mau­er­werk wie­der­gab.

In sei­nem Netz trug er acht große zap­peln­de Fi­sche.

»Welch ein gu­ter Mann, die­ser Rie­se!« sag­te Jo­han­na un­ter­wegs, als sie bei­de in war­me Män­tel und De­cken gehüllt, die man ih­nen ge­lie­hen hat­te, nach Peup­les zu­rück­fuh­ren. »Al­ler­dings«, ent­geg­ne­te Ju­li­us, der die Zü­gel führ­te, »nur scha­de, dass er sich in Ge­sell­schaft zu­wei­len so ge­hen lässt.«

Acht Tage spä­ter fuh­ren sie zu den Cou­te­liers, wel­che dem ers­ten Adel des Lan­des an­ge­hör­ten. Ihr Wohn­sitz Re­mi­nil stiess an den Fle­cken Cany. Das neue Schloss, un­ter Lud­wig XIV. er­baut, lag ganz ver­steckt in ei­nem herr­li­chen, von Mau­ern um­ge­be­nen Par­ke. Auf ei­ner An­hö­he sah man die Rui­nen des al­ten Schlos­ses. Reich ga­lo­nier­te Die­ner ge­lei­te­ten den Be­such in einen im­po­san­ten Saal. In der Mit­te des­sel­ben stand auf ei­ner Art Säu­le eine un­ge­heu­re Vase aus Sèvres; und in dem So­ckel war un­ter ei­ner Kris­tall­plat­te ein ei­gen­hän­di­ger Brief des Kö­nigs ver­wahrt, mit­tels wel­chen der­sel­be dem Mar­quis Leo­pold, Her­vé, Jo­seph, Ger­mer de Var­ne­ville de Rol­le­bosc de Cou­te­lier die­ses wahr­haft kö­nig­li­che Ge­schenk über­sand­te.

Jo­han­na und Ju­li­us wa­ren noch in der Be­trach­tung die­ses Pracht­stückes ver­sun­ken, als der Mar­quis und die Mar­qui­se ein­tra­ten. Die Dame war stark ge­pu­dert, lie­bens­wür­dig aus Ge­wohn­heit und ge­ziert in dem Be­stre­ben her­ab­las­send zu sein. Der Herr, stark von Fi­gur mit blon­den ge­ra­deauf ste­hen­den Haa­ren, leg­te in alle sei­ne Be­we­gun­gen, in sei­ne Spra­che und in sei­ne gan­ze Hal­tung et­was Ge­mes­se­nes, um die Er­ha­ben­heit sei­ner Per­son dar­zu­tun.

Sie ge­hör­ten zu je­ner Art von stei­fen Leu­ten, de­ren Geist, de­ren Ge­müt und Re­dens­ar­ten stets auf Stel­zen zu ge­hen schei­nen.

Sie führ­ten al­lein das Wort, ohne lan­ge auf Ant­wor­ten zu war­ten, mit ei­nem in­dif­fe­ren­ten Lä­cheln; es war, als be­trach­te­ten sie es als eine ih­nen durch Ge­burt auf­er­leg­te Pf­licht, die klei­nen Edel­leu­te der Um­ge­gend höf­lich bei sich auf­zu­neh­men.

Jo­han­na und Ju­li­us wa­ren wie er­starrt, be­müh­ten sich aber höf­lich zu sein. Es war ih­nen un­be­quem, lan­ge zu blei­ben und doch konn­ten sie den ge­eig­ne­ten Au­gen­blick zum Auf­bruch nicht fin­den. Sch­liess­lich mach­te die Mar­qui­se ih­rer­seits dem Be­such ein Ende in­dem sie mit un­ge­zwun­ge­ner na­tür­li­cher Hal­tung das Ge­spräch be­schloss, wie eine Kö­ni­gin die in höf­li­cher Form eine Au­di­enz auf­hebt.

»Wenn es Dir recht ist,« mein­te Ju­li­us auf dem Heim­we­ge, »so ma­chen wir dort kei­nen Be­such wie­der; mir für mei­ne Per­son ge­nü­gen die Four­vil­les.« Jo­han­na stimm­te ihm völ­lig bei.

Der De­zem­ber, die­ser fins­te­re Mo­nat, die­ses dunkle Loch am Ende des Jah­res, ging lang­sam zur Nei­ge. Das ein­sa­me Le­ben be­gann wie­der wie im vo­ri­gen Jah­re. Jo­han­na lang­weil­te sich in­des­sen kei­nes­wegs; sie war un­aus­ge­setzt mit Paul be­schäf­tigt, den Ju­li­us von der Sei­te mit un­ru­hi­ger miss­ver­gnüg­ter Mie­ne be­trach­te­te.

Zu­wei­len, wenn die Mut­ter ihn auf den Ar­men hielt und ihn mit je­nen zärt­li­chen Schmei­che­lei­en lieb­ko­se­te, die jede Mut­ter für ihr Kind hat, zeig­te sie ihn auch dem Va­ter und sag­te: »So küs­se ihn doch mal; man soll­te wirk­lich den­ken, Du möch­test ihn nicht.« Dann be­rühr­te er ganz von Wei­tem mit sei­nen Lip­pen die glat­te Stirn des Ba­bys; aber er schnitt ein wi­der­wil­li­ges Ge­sicht dazu und beug­te sich weit vor um nur nicht die klei­nen leb­haft grei­fen­den Händ­chen an­zu­rüh­ren. Hier­auf ging er so­fort her­aus; man hät­te den­ken kön­nen, dass ein Ekel ihn fort­trie­be.

Hin und wie­der ka­men der Maire, der Pfar­rer und der Dok­tor zum Es­sen. Zu­wei­len stell­ten sich auch die Four­vil­les ein, mit de­nen man sich im­mer mehr an­freun­de­te.

Der Graf schi­en eine in­ni­ge Zu­nei­gung zu Paul ge­fasst zu ha­ben. Er hat­te ihn fort­wäh­rend auf dem Schos­se, selbst wenn der Be­such den gan­zen Nach­mit­tag dau­er­te. Er schau­kel­te ihn vor­sich­tig auf sei­nen großen Rie­sen­fäus­ten, kit­zel­te ihm die Na­sen­spit­ze mit sei­nen lan­gen Schnurr­bar­ten­den und küss­te ihn un­zäh­li­ge Male mit ei­ner Lei­den­schaft­lich­keit, wie eine Mut­ter sie nicht grös­ser ha­ben konn­te. Er litt un­aus­sprech­lich dar­un­ter, dass sei­ne ei­ge­ne Ehe kin­der­los blieb.

Im März be­gann das Wet­ter, klar, tro­cken und bei­na­he mil­de zu wer­den. Grä­fin Gil­ber­te be­gann aufs neue von den Spa­zier­rit­ten zu spre­chen, die sie zu Vie­ren un­ter­neh­men woll­ten. Jo­han­na, die der lan­gen Aben­de und Näch­te und der eben­so mo­no­to­nen Tage doch et­was müde war, gab ganz ver­gnügt die­sem Pla­ne ihre Zu­stim­mung. Eine gan­ze Wo­che lang be­schäf­tig­te sie sich mit der Zu­rich­tung ih­res Reit­klei­des.

Dann be­gan­nen die Spa­zier­rit­te. Sie rit­ten im­mer zu zwei­en, die Grä­fin mit Ju­li­us vor­aus, Jo­han­na und der Graf hun­dert Schrit­te da­hin­ter. Letz­te­re plau­der­ten harm­los wie Freun­de; denn sie wa­ren Freun­de ge­wor­den durch die Berüh­rung ih­res red­li­chen Ge­mü­tes, ih­rer ein­fa­chen See­len. Jene da­ge­gen spra­chen lei­se mit­ein­an­der, lach­ten zu­wei­len laut auf, und sa­hen sich plötz­lich an, als ob ihre Au­gen sich et­was er­zäh­len woll­ten, was der Mund nicht aus­spre­chen konn­te. Dann spreng­ten sie wie­der im Ga­lopp da­von, als woll­ten sie weit, recht weit flie­hen.

 

Hin und wie­der schi­en Gil­ber­te sehr reiz­bar zu sein. Der Wind trug ihre lau­te Stim­me bis zu den Ohren der lang­sam hin­ter­drein Rei­ten­den. »Sie ist nicht im­mer gut ge­launt, mei­ne Frau«, sag­te der Graf als­dann lä­chelnd zu Jo­han­na.

Ei­nes Abends auf dem Heim­we­ge, ha­ran­guier­te die Grä­fin ihre Stu­te be­son­ders; bald stach sie ihr den Sporn in die Flan­ke, bald riss sie hef­tig am Zü­gel. Man konn­te deut­lich hö­ren, wie Ju­li­us ihr mehr­mals sag­te: »Ge­ben Sie Acht, ge­ben Sie Acht, sie wird Ih­nen durch­ge­hen.«

»Ei­ner­lei; das geht Sie nichts an«, ant­wor­te­te sie so herb und scharf, dass die Wor­te deut­lich über­’s Feld hall­ten als sei­en sie in der Luft auf­ge­hängt.

Das mu­ti­ge Tier bäum­te sich schliess­lich hoch auf und biss schäu­mend auf die Stan­ge. »Gib doch Acht, Gil­ber­te«, rief der Graf aus vol­ler Lun­ge. Da hieb sie wie in ei­nem An­fall von Ra­se­rei, die nichts zu­rück­hält, zor­nig mit ih­rer Ger­te das Tier ge­ra­de zwi­schen bei­de Ohren. Die Stu­te stieg ker­zen­ge­ra­de in die Höhe, schlug einen Au­gen­blick die Luft mit den Vor­der­füs­sen, fass­te dann wie­der Bo­den, mach­te einen furcht­ba­ren Satz, und rann­te mit Auf­bie­tung al­ler Kräf­te wie toll da­von.

Zu­erst ging es über eine Wie­se, dann über einen Sturz­a­cker, wo­bei eine Wol­ke von Staub und Schmutz sie ein­hüll­te. Sie rann­te so flüch­tig, dass man Ross und Rei­te­rin kaum noch von­ein­an­der un­ter­schei­den konn­te.

»Ma­da­me, Ma­da­me!« rief Ju­li­us, der ganz ver­zwei­felt und ver­wirrt hal­ten blieb.

Der Graf ließ ein lei­ses Brum­men ver­neh­men, beug­te sich über den Hals sei­nes Pfer­des, nach­dem er es mit sei­nem gan­zen Kör­per­ge­wicht vor­ge­drückt hat­te und spreng­te da­von. Er hob es mit sol­cher Kraft, trieb es mit Peit­sche Spo­re und Zu­ruf so ener­gisch vor­wärts, dass es aus­sah, als trü­ge der rie­si­ge Rei­ter das Tier zwi­schen sei­nen Schen­keln da­von. So ging es mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit hin­ter ein­an­der her. Jo­han­na sah, wie ganz weit hin­ten die Schat­ten der bei­den Ehe­leu­te da­hin­flo­gen, wie sie im­mer klei­ner wur­den, bald ver­schwan­den, bald wie­der auf­tauch­ten gleich zwei Vö­geln, die sich ver­fol­gen, um end­lich sich ganz im Äther zu ver­lie­ren.

Ju­li­us nä­her­te sich ihr, im­mer noch im Schritt und sag­te mit ganz ver­stör­ter Mie­ne: »Ich glau­be, sie ist von Sin­nen heu­te.«

Sie rit­ten nun hin­ter ih­ren Freun­den her, die durch eine Erd­wel­le ver­deckt wa­ren.

Nach Ver­lauf ei­ner Vier­tel­stun­de sa­hen sie die­sel­ben zu­rück­kom­men; und bald traf man wie­der zu­sam­men.

Der Graf, noch rö­ter wie sonst, in Schweiß ge­ba­det, aber la­chend, mit zu­frie­de­ner tri­um­phie­ren­der Mie­ne führ­te mit sei­ner kräf­ti­gen Faust, das Pferd sei­ner Gat­tin am Zü­gel. Ihr schmerz­lich ver­zerr­tes Ant­litz war bleich wie der Kalk an der Wand und sie hat­te sich mit der einen Hand um den Na­cken ih­res Man­nes ge­hängt, als fühl­te sie ihre Kräf­te schwin­den.

Jo­han­na be­griff an die­sem Tag, dass der Graf sei­ne Gat­tin un­aus­sprech­lich lieb­te.

Wäh­rend der nächs­ten Zeit zeig­te sich die Grä­fin so ver­gnügt, wie sie noch nie zu­vor ge­we­sen war. Sie kam noch öf­ter wie sonst nach Peup­les, lach­te un­auf­hör­lich und küss­te Jo­han­na un­ter wah­ren Stür­men von Zärt­lich­keit. Man hät­te sa­gen kön­nen, dass eine ge­heim­nis­vol­le Ver­zückung über sie ge­kom­men wäre. Ihr Mann, selbst über­glück­lich, wand­te kein Auge von ihr, und such­te mit ver­dop­pel­ter Zärt­lich­keit je­den Au­gen­blick ihre Hand oder we­nigs­tens eine Fal­te ih­res Klei­des zu er­ha­schen.

»Wir sind jetzt wirk­lich glück­lich«, sag­te er ei­nes Abends zu Jo­han­na. »Gil­ber­te war noch nie so lie­bens­wür­dig wie jetzt. Sie kennt kei­nen Zorn und kei­ne schlech­te Lau­ne mehr. Ich füh­le, dass sie mich liebt. Bis da­hin war ich des­sen noch nicht ge­wiss.«

Auch Ju­li­us schi­en ver­än­dert, ver­gnüg­ter, ohne Zei­chen von Un­ge­duld; als wenn die Freund­schaft zwi­schen den bei­den Fa­mi­li­en ei­ner je­den von ih­nen Frie­den und Freu­de zu­rück­ge­bracht hät­te.

Der Früh­ling war aus­ser­or­dent­lich schön und warm. Von den lieb­li­chen Mor­gen­stun­den bis zum mil­den lau­en Abend sand­te die Son­ne ihre wär­me­n­den al­les be­le­ben­den Strah­len auf die Erde her­ab. Es war ein plötz­li­ches und mäch­ti­ges Er­wa­chen der gan­zen Erde zu glei­cher Zeit, je­nes un­wi­der­steh­li­che Trei­ben des Saf­tes, je­ner Drang zum Neu­er­ste­hen, den die Na­tur zu­wei­len in ganz be­son­ders be­vor­zug­ten Jah­ren zeigt, wo man an eine Ver­jün­gung der Welt glau­ben möch­te.

Jo­han­na fühl­te sich durch die­ses gä­ren­de Le­ben selt­sam be­wegt und ver­wirrt. Beim An­blick ei­ner klei­nen Blu­me im Gra­se konn­te sie plötz­lich zu Trä­nen ge­rührt wer­den, sie hat­te Stun­den voll selt­sa­mer Me­lan­cho­lie, voll wei­cher Emp­fin­dun­gen.

Dann über­fie­len sie die zärt­li­chen Erin­ne­run­gen der ers­ten Zeit ih­rer Lie­be. Nicht als ob ihre Zu­nei­gung zu Ju­li­us sich er­neu­ert hät­te; nein! das war aus, für im­mer aus! Aber der laue Früh­lings­wind, der lin­de Früh­lings­duft um­schmei­chel­ten ihre Haut und dran­gen ihr bis zum Her­zen, wo sie ein un­be­wuss­tes Er­wa­chen, wie auf ir­gend ei­nem ge­heim­nis­vol­len Ruf hin, her­vor­zau­ber­ten.

Es mach­te ihr Freu­de, al­lein zu sein, sich bei der war­men Son­ne an ir­gend ein stil­les Plätz­chen zu­rück­zu­zie­hen; die­se un­be­stimm­ten, won­ni­gen und hei­te­ren Emp­fin­dun­gen woll­te sie mit Nie­man­dem tei­len.

Ei­nes Mor­gens, als sie so vor sich hin­träum­te, be­schäf­tig­te sie plötz­lich ein Bild aus ver­gan­ge­ner Zeit, das Bild je­ner klei­nen, son­ni­gen Lich­tung, in­mit­ten des dunklen Lau­bes in dem klei­nen Hol­ze bei Etre­tat. Dort hat­te sie zum ers­ten Male emp­fun­den, wie ihr Kör­per ne­ben dem jun­gen Man­ne zit­ter­te, den sie da­mals lieb­te. Dort hat­te er zum ers­ten Mal, wenn auch nur stam­melnd, dem Ver­lan­gen sei­nes Her­zens Aus­druck ver­lie­hen. Dort hat­te sie ja plötz­lich ge­glaubt, die köst­li­che Ver­wirk­li­chung ih­rer Hoff­nun­gen vor sich zu se­hen.

Und sie woll­te die­ses Ge­hölz wie­der­se­hen; sie woll­te dort­hin eine Pil­ger­fahrt ma­chen, von der sie mit aber­gläu­bi­scher Sen­ti­men­ta­li­tät ir­gend eine Än­de­rung ih­res bis­he­ri­gen Le­bens­we­ges er­war­ten zu müs­sen ver­mein­te.

Ju­li­us war seit Ta­ge­s­an­bruch fort­ge­rit­ten; sie wuss­te nicht wo­hin. Sie ließ also den klei­nen Schim­mel der Mar­tins sat­teln, den sie jetzt zu­wei­len be­stieg, und ritt fort.

Es war ein Tag so ru­hig, dass sich nichts, kein Gras­halm, kein Blatt, zu re­gen schi­en. Al­les schi­en für im­mer er­starrt, als ob der Wind er­stor­ben wäre. Selbst die In­sek­ten schie­nen ver­schwun­den zu sein.

Eine heis­se ma­je­stä­ti­sche Ruhe ging von der Son­ne aus, die un­emp­find­lich ge­gen al­les, in Gold ge­taucht schi­en. Jo­han­na ritt im Schritt ih­res We­ges, hei­ter, fast glück­lich. Von Zeit zu Zeit hob sie den Blick, um ein klei­nes wei­ßes Wölk­chen zu be­trach­ten, das nicht grös­ser war wie ein Wat­te-Flöck­chen, oder wie ein leich­ter Dampf­hauch, der ver­ges­sen, ganz al­lein dort oben mit­ten am blau­en Him­mels­zelt haf­ten ge­blie­ben war.