Man setzte sich und wartete. Auf dem Gange über dem Zimmer wurden hastige Schritte vernehmbar, die eine ungewohnte Unruhe verkündeten. Die überraschten Schlossbewohner schienen sich eiligst umzukleiden. Aber es dauerte doch lange. Mehrmals hörte man eine Glocke, und dann wieder eilige Schritte treppauf und treppab.
Die Baronin wurde durch die unangenehme Kühle des Zimmers fortwährend zum Niesen gereizt. Julius ging mit großen Schritten auf und ab. Johanna sass traurig neben ihrer Mutter. Der Baron stand am Kamin gelehnt und ließ den Kopf hängen.
Endlich wurde eine der hohen Flügeltüren aufgerissen und Vicomte und die Vicomtesse de Briseville traten ein. Sie waren beide klein, von zierlicher Gestalt und hatten einen tänzelnden Gang. Ihr Alter war schwer zu bestimmen; ihr Benehmen war zeremoniell und verlegen.
Der Ehemann trug einen prächtigen Leibrock; er grüsste, indem er leicht das Knie beugte. Seine Nase, seine Augen, seine Zähne, seine pomadisierten Haare und seine ganze prächtige Kleidung hatten einen Glanz wie Sachen, die man mit großer Sorgfalt hegt und pflegt.
Nachdem man die ersten Höflichkeitsformeln von der Freude über den Besuch der lieben Nachbarn ausgetauscht hatte, fing das Gespräch bereits zu stocken an. Dann wurde es wieder in Gang gebracht, indem man sich gegenseitig Liebenswürdigkeiten sagte, ohne recht den Grund dafür zu wissen. Man würde hoffentlich beiderseits die vortrefflichen Beziehungen zu einander fortsetzen. Es wäre doch zu schön, sich öfters zu besuchen, wo man das ganze Jahr auf dem Lande wohne.
Die eisige Luft des Salons drang allen durch Mark und Bein. Die Baronin hustete bereits von heftigem Niesen zuweilen noch unterbrochen. Der Baron gab endlich das Zeichen zum Aufbruch. Die Brisevilles protestierten. »Wie? schon so eilig? Bleiben Sie doch noch ein wenig.« Aber Johanna hatte sich bereits erhoben trotz der Winke ihres Mannes, dem der Besuch zu kurz dünkte.
Man wollte dem Diener schellen, um den Wagen vorfahren zu lassen; aber die Schelle ging nicht. Der Hausherr stürzte selbst fort, und kam mit der Nachricht zurück, dass die Pferde noch im Stalle ständen.
Man musste also warten. Jeder suchte nach einem Wort, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen. Man sprach von dem regnerischen Winter. Johanna fragte mit heimlichem Grausen, was die beiden so allein, den ganzen Winter über machten. Die Brisevilles waren über diese Frage sehr erstaunt, denn sie beschäftigten sich fortwährend, schrieben ihren durch ganz Frankreich verstreuten vornehmen Verwandten, brachten die Tage mit mikroskopischen Untersuchungen zu, beobachteten gegeneinander dieselbe steife Etikette wie gegen Fremde und unterhielten sich feierlich über die unbedeutendsten Dinge.
Diese beiden Leutchen, so klein, so sauber, so korrekt in ihrer Haltung kamen Johanna unter dem Plafond des unwohnlichen Salons, wo alles in Leinwand verpackt war, wie zwei in Vornehmheit eingemachte Wesen vor.
Endlich erschien der Wagen mit seiner ungleichen Bespannung. Aber Marius war nicht dabei. Er hatte geglaubt, bis zum Abend frei zu sein, und war zweifelsohne ein wenig in die Nachbarschaft gegangen.
Julius bat wütend, man möge ihn zu Fuss zurücksenden. Nach vielen Abschiedsgrüssen hin und her schlug man endlich den Rückweg nach Peuples ein.
Sobald sie in der Kalesche sassen, begannen Johanna und ihr Vater, trotz des Druckes, der noch von Julius’ Ungezogenheit auf ihnen lastete, unter lautem Gelächter die Manieren und die Sprachweise der Brisevilles nachzumachen. Der Baron kopierte den Vicomte und Johanna die Vicomtesse. Aber die Baronin fand das unpassend und sagte:
»Es ist sehr Unrecht, sich über sie lustig zu machen. Die Leute sind sehr comme il faut und von ausgezeichneter Familie.«
Man schwieg, um Mütterchen nicht zu verletzen; aber unwillkürlich verfielen beide wieder von Zeit zu Zeit auf ihre alten Witze. Er machte eine zeremonielle Verbeugung und sagte mit feierlichem Ton:
»Ihr Schloss Peuples, Madame, muss sehr kalt sein, bei den heftigen Nordwinden, die da immer wehen.«
Sie nahm eine geschraubte Miene an und indem sie sich mit einem leichten Schütteln des Kopfes wie ein badender Enterich zierte, entgegnete sie:
»Oh, mein Herr, ich habe hier das ganze Jahr meine Beschäftigung. Dann haben wir so viele Verwandte, mit denen wir in Briefwechsel stehen. Und Herr von Briseville ladet mir alles auf. Er treibt mit dem Abbé Pelle zusammen gelehrte Forschungen. Sie schreiben gemeinschaftlich die Kirchengeschichte der Normandie.«
Die Baronin lachte nun doch, halb ärgerlich, halb ergötzt und wiederholte: »Man sollte sich doch nicht so über Standesgenossen lustig machen.«
Aber plötzlich hielt der Wagen an; man hörte Julius irgendjemanden nach rückwärts etwas zurufen. Johanna und der Baron, die sich aus dem Wagen gebeugt hatten, bemerkten ein sonderbares Wesen, das auf sie zu zu rollen schien. Es war Marius, der, so schnell ihn seine Füsse trugen, dem Wagen gefolgt war. Seine Beine waren durch die fliegenden Rockschösse seiner Livree behindert, seine Augen blendete der hin und her rutschende Hut; er schwenkte die Arme wie zwei Windmühlenflügel, patschte in die großen Wasserlachen, die er zu überspringen suchte, stolperte über alle Steine im Wege, hüpfte, schüttelte sich, und war ganz mit Schmutz bedeckt.
Sobald er den Wagen erreicht hatte, beugte Julius sich herab, fasste ihn am Kragen, zog ihn zu sich herauf und begann ihn mit Faustschlägen zu traktieren, sodass der Hut ihm bis auf die Schultern sank und es einen Ton wie eine Trommel gab. Der Bursche dadrunter heulte, suchte sich loszuwinden und vom Sitz zu springen, während sein Herr ihn mit der einen Hand festhielt und mit der anderen lustig drauf los schlug.
»Papa … ach! Papa!« stammelte Johanna entsetzt; und die Baronin ergriff voll Entrüstung den Arm ihres Mannes. »So halt ihn doch zurück, Jakob!« Da öffnete der Baron schnell das Fenster vorn am Wagen und fasste seinen Schwiegersohn am Arm.
»Haben Sie das Kind nun bald genug geschlagen …?« fragte er mit zitternder Stimme.
»Sehen Sie denn nicht, wie der Tölpel seine Livree zugerichtet hat?« fragte Julius ärgerlich zurück.
»Ach, was hat denn das zu sagen!« entgegnete der Baron, der den Kopf zwischen die beiden gesteckt hatte. »Soweit kann die Rohheit doch nicht gehen.«
»Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe, das ist nicht Ihre Sache!« erhitzte sich Julius aufs Neue und hob abermals die Hand. Aber sein Schwiegervater drückte ihm dieselbe mit solcher Kraft herunter, dass er sie gegen das Holz des Sitzes stiess.
»Wenn Sie nicht aufhören,« schrie er heftig, »steige ich aus und werde Sie schon zur Ordnung bringen; das werde ich …« Der Vicomte beruhigte sich plötzlich und schlug achselzuckend, ohne ein Wort zu sagen, auf die Pferde ein, sodass sie in schnellem Trabe davonrannten.
Die beiden Damen, ganz aufgelöst, rührten sich kaum und man hörte deutlich im Innern des Wagens den lauten Herzschlag der Baronin.
Beim Diner war Julius liebenswürdiger wie gewöhnlich, als ob nichts vorgefallen wäre. Johanna, ihr Vater und Madame Adelaïde, die in ihrer Gutmütigkeit schnell vergassen und froh waren, ihn so liebenswürdig zu sehen, stimmten seiner heiteren Laune zu, wie bei Jemandem, der sich auf der Besserung befindet. Als Johanna wieder auf die Brisevilles zu sprechen kam, stimmte ihr Mann selbst in ihre Scherze ein; aber er fügte dann schnell hinzu: »Ganz egal, vornehme Allüren haben sie doch.«
Man machte keine weiteren Besuche, da jedes fürchtete, die Szene mit Marius könnte sich wiederholen. Man beschloss nur, zum Neujahrstage den Nachbarn Karten zu schicken und für den Besuch die ersten warmen Tage des nächsten Frühlings abzuwarten.
Weihnachten kam heran. Man hatte den Pfarrer, den Maire und dessen Frau zum Diner eingeladen und bat sie für Neujahr abermals zu demselben. Dies waren die einzigen Zerstreuungen, welche die Einförmigkeit der Tage unterbrachen.
Papa und Mütterchen wollten Peuples am 9. Januar verlassen. Johanna hätte sie gern noch zurückgehalten, aber Julius schien dafür weniger eingenommen zu sein. Der Baron, der die immer mehr zunehmende Kälte seines Schwiegersohnes bemerkte, ließ einen Postwagen von Rouen kommen.
Am letzten Tage vor ihrer Abreise, als man mit dem Packen fertig war, beschlossen Johanna und ihr Vater bei dem klaren Frostwetter einen Spaziergang nach Yport zu machen, wo sie seit ihrer Rückkehr von Corsika nicht mehr gewesen waren.
Sie kamen durch das Gehölz, wo sie an ihrem Hochzeitstage mit Julius gewesen war. Damals war sie ganz aufgegangen in den, dessen Gefährtin sie fürs ganze Leben sein sollte; in diesem Holze hatte sie seine ersten Zärtlichkeiten empfangen, hatte im ersten Liebesschauer gezittert, hatte jenen Sinnesgenuss vorausgefühlt, den sie in Wirklichkeit erst in dem romantischen Ota-Tale, dort an der Quelle kosten sollte, als ihre Küsse sich unter dem Wasser vermengten.
Jetzt gab es kein Laub mehr, keine sprossenden Kräuter; man hörte nur noch das Knarren der Äste und jenen trockenen Ton, den die entlaubten Zweige im Winter von sich geben.
Sie kamen in das Dörfchen. Die öden stillen Strassen dufteten nach Meeresluft, nach Seegras und Fischen. Die großen lohfarbenen Netze, die vor den Häusern hingen oder auf dem Boden ausgebreitet waren, trockneten noch wie sonst an der Luft. Das graue kalte Meer mit seinen ewig grollenden Schaumwogen begann zu sinken; schon lagen nach Fekamp zu die grünlichen Felsen am Fuss der Küste entblöst. Die großen umgestülpten Kähne längs des Strandes sahen wie mächtige tote Fische aus. Der Abend brach herein. Die Fischer kamen in Gruppen heran, schwerfällig in ihren großen Wasserstiefeln dahinschreitend, den Kopf mit einem Wolltuch verhüllt, eine Branntweinflasche in der einen Hand und in der anderen die Bootslaterne. Lange umstanden sie ihre umgestülpten Fahrzeuge, rückten sie dann zurecht und luden mit echt normännischer Langsamkeit ihre Netze, ihre Bojen, ein dickes Brot, einen Topf Butter und die Branntweinflasche ein. Dann schoben sie die Barke ans Wasser, die mit großem Geräusch über den Kies rollte, den Schaum aufspritzen ließ und auf den Wogen schwamm. Einige Augenblicke tanzte sie hin und her, dann breitete sie wie ein Vogel ihre großen braunen Flügel aus und allmählich verschwand ihr kleines Licht an der Spitze des Mastbaumes im Dunkel der Nacht.
Die starkknochigen Fischerfrauen, deren dürre Beine unter den kurzen Röcken hervorsahen, kehrten, als der letzte Fischer abgefahren war, in das öde Dorf zurück und erfüllten mit ihren kreischenden Stimmen die stille Ruhe der Nacht.
Schweigend betrachteten der Baron und Johanna die Ausfahrt dieser Leute, welche sie jede Nacht unternahmen und bei der sie jedes Mal ihr Leben aufs Spiel setzten, um nicht vor Hunger zu sterben. Und doch ging es ihnen so schlecht, dass sie niemals ein Stück Fleisch auf dem Tische sahen.
»Das ist schrecklich und schön zugleich«, sagte der Baron mit einem begeisterten Blick auf den Ozean. »Dieses Meer mit seiner Finsternis, auf dem so Mancher sein Leben lässt. Großartig, nicht wahr, Johanna?«
»Aber doch noch nichts gegen das Mittelländische Meer«, sagte sie mit kühlem Lächeln.
»Das Mittelländische Meer?« sagte ihr Vater fast entrüstet. »Was ist das? Öl, Zuckerwasser, blaues Wasser in einem Waschbecken. Sieh nur dieses hier, wie schrecklich es ist mit seinen Schaumwellen. Und denke nur an alle diese Leute, die dadrauf hinausgefahren sind und die niemals zurückkehren.«
»Nun ja, wie Du meinst«, sagte Johanna mit einem Seufzer. Aber dieses Wort »Mittelländisches Meer«, das ihr auf die Lippen gekommen war, hatte aufs neue ihr Herz getroffen, und sie in Gedanken wieder in jene Gegenden versetzt, die alle ihre Träume erfüllten.
Vater und Tochter kehrten nicht wieder durch das Gehölz zurück, sie benutzten die Landstrasse und stiegen langsam die Küste hinan, das Herz voll Traurigkeit ob der bevorstehenden Trennung.
Zuweilen, während sie den Gräben des Pachthofes entlang gingen, schlug ihnen der Geruch von zerquetschten Äpfeln, dieser eigentümliche Dunst von frischem Cider ins Gesicht, der zu dieser Zeit über der ganzen Normandie zu lagern scheint. Dazwischen mengte sich ein kräftiger Stalldunst, jener gesunde warme Dunst, wie er aus dem Kuhstall hervordringt. Im Hintergrunde des Hofes zeigte ein kleines erleuchtetes Fenster die Stelle an, wo das Wohnhaus stand.
Johanna kam es vor, als ob ihr Herz sich erweitere und unsichtbare Dinge umfasse. Diese einzelnen Lichter, die in der Gegend ringsum verstreut waren, schienen ihr das getreue Abbild der Einsamkeit jener Wesen, die stets für sich leben, stets von allem getrennt sind, und die alles von jenen abzieht, welche sie lieben würden.
»Das Leben ist nicht immer schön«, sagte sie hierauf in resigniertem Tone.
»Was kann man machen, Kindchen?« seufzte der Baron, »wir können es nicht ändern.«
Am anderen Morgen reisten die Eltern ab. Johanna und Julius waren nun allein.
*
Das Kartenspiel fing jetzt an, im Leben des jungen Paares eine Rolle zu spielen. Jeden Tag nach dem zweiten Frühstück spielte Julius mehrere Partien Besigue mit seiner Frau, wobei er fortwährend seine Pfeife rauchte und sich die Kehle mit Cognak ausspülte, von dem er sechs bis sieben Gläschen trank. Hierauf ging Johanna in ihr Zimmer, setzte sich ans Fenster und stickte lässig an dem Saum eines Rockes, während der Regen an die Fenster schlug und der Wind an den Läden rüttelte. Hin und wieder hob sie ermattet den Blick und betrachtete in der Ferne das tobende Meer. Dann, nachdem sie eine Weile so ins Leere gestarrt hatte, nahm sie unmutig ihre Arbeit wieder auf.
Im Übrigen gab es für sie wirklich nichts anderes zu tun; denn Julius hatte die Leitung des ganzen Haushaltes an sich gerissen, um dem Bedürfnisse seiner Herrschsucht und seinem Hang zur Sparsamkeit zu genügen. Er war von einem geradezu lächerlichen Geize beseelt, gab niemals ein Trinkgeld und beschränkte die Kost der Leute aufs Äusserste. Selbst Johanna musste darunter leiden. Früher hatte sie sich, solange sie in Peuples war, jeden Morgen durch den Bäcker einen kleinen normannischen Wecken bringen lassen. Julius erklärte dies für Luxus und sie musste sich mit gerösteten Brotschnittchen begnügen.
Sie wagte keine Einwendungen, um den endlosen Auseinandersetzungen, Debatten und Klagen zu entgehen; aber jeder neue Beweis von dem Geize ihres Mannes wirkte auf sie wie ein Nadelstich. Ihr, die in einer Atmosphäre groß geworden war, wo das Geld keine Rolle spielte, schien das niedrig und verabscheuenswert. »Das Geld ist doch da, dass man es ausgibt«, hatte sie ihre Mutter so oft sagen hören; jetzt hiess es bei Julius: »Kannst Du Dir denn gar nicht abgewöhnen, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen?« Und jedes Mal, wenn er von einer Lohnzahlung oder einer Rechnung einige Sous abgezwackt hatte, ließ er schmunzelnd das Geld in die Tasche gleiten, indem er sagte: »Aus kleinen Bächen fliessen die großen Ströme zusammen.«
Zuweilen indessen verfiel sie wieder in ihre geliebte alte Träumerei. Sie hörte langsam auf zu arbeiten, ihre Hände glitten in den Schos, und den Blick versunken, gab sie sich den selbstgesponnenen Romanen ihrer Mädchenzeit hin, in denen sie allerhand niedliche Abenteuer im Geiste erlebte. Aber plötzlich weckte sie dann die Stimme ihres Mannes, der dem alten Papa Simon irgend einen Befehl gab, aus diesen süssen Träumen. »Es ist zu Ende«, sagte sie dann, ihre Arbeit wieder aufnehmend, während eine Träne auf ihre Finger fiel, die die Nadel führten.
Auch Rosalie, die ehemals so vergnügt war und den ganzen Tag über sang, hatte sich vollständig verändert. Ihre einst so blühenden vollen Wangen hatten die frische rote Farbe verloren; sie schienen jetzt eingefallen und zeigten zuweilen eine aschgraue Färbung.
»Bist Du krank, liebes Kind?« fragte Johanna sie öfters.
»Nein, Madame«, antwortete das Mädchen stets, wobei ihr das Blut ins Gesicht stieg. Und dann entfernte sie sich rasch.
Statt wie sonst leichten Schrittes dahinzufliegen, schleppte sie sich jetzt mühsam herum. Sie hatte ihre einstige Schelmerei vollständig verloren und machte keine Einkäufe mehr bei den Hausierern, die ihr umsonst ihre seidenen Tücher, ihre Korsets und ihre Parfümerien anboten.
Das Haus mit seiner regen geschwärzten Fassade machte einen finsteren traurigen Eindruck, und die Schritte der Menschen widerhallten in demselben wie in einer Gruft.
Gegen Ende Januar war starker Schneefall. Man sah von Weitem die großen schweren Wolken aus Norden her über das schwarze Meer dahinjagen, und dann begann der Flockentanz. In einer Nacht war die ganze Gegend in Schnee gehüllt und am anderen Morgen trugen Bäume und Sträucher die bekannte weiße Verzierung.
Julius, in hohen Stiefeln, das Gesicht in Falten, verbrachte seine Zeit damit, dass er, im Hintergrunde des Bosquets in einem Graben kauernd, der nach der Heide zu mündete, auf Zugvögel schoss. Von Zeit zu Zeit hallte ein Flintenknall durch das eisige Schweigen der Flur; Scharen von aufgescheuchten Krähen erhoben sich in die Luft, um sich dann wieder auf den umstehenden Bäumen niederzulassen.
Johanna, von Langeweile gequält, trat hin und wieder auf die Schlossrampe heraus. Nur von Weitem widerhallte lebendiges Treiben durch die schläfrige Ruhe, die über dem öden traurigen Schneetuche lag.
Sonst hörte sie nichts als das entfernte Grollen des Meeres und das unbestimmte fortgesetzte Geräusch des fallenden Schnees.
Dichter und dichter hüllte sich die Erde in diesen weißen flockigen Mantel ein.
An einem dieser öden Wintermorgen sass Johanna am Kamin und wärmte sich die Füsse, während Rosalie, stets mehr und mehr verändert, langsam das Bett machte. Plötzlich hörte die junge Frau hinter sich einen tiefen Seufzer.
»Was hast Du nur?« fragte sie ohne sich umzusehen.
»Nichts, Madame«, antwortete das Mädchen wie immer. Aber ihre Stimme schien zitternd und kläglich.
Johanna dachte schon wieder an etwas anderes, als ihr plötzlich auffiel, dass sie kein Geräusch mehr von dem jungen Mädchen hörte. »Rosalie!« rief sie; aber nichts rührte sich. »Rosalie!« rief sie lauter, weil sie glaubte, das Mädchen sei herausgegangen. Schon streckte sie die Hand nach dem Glockenzuge neben ihr aus, als ein tiefer Seufzer ganz dicht hinter ihr sie veranlasste, sich erschreckt umzuwenden.
Die Kammerzofe sass bleich mit verstörtem Blick auf dem Boden, den Rücken an das Bett gelehnt.
»Was hast Du; was fehlt Dir?« rief Johanna vortretend.
Jene sprach kein Wort, machte keine Bewegung. Sie heftete den verwirrten Blick auf ihre Herrin und stöhnte, wie von furchtbaren Schmerzen gepeinigt. Dann plötzlich krümmte sich ihr ganzer Körper, sie glitt auf den Rücken und stiess zwischen den zusammengebissenen Zähnen einen entsetzlichen Schrei hervor.
Dann regte sich etwas unter ihren Röcken zwischen den auseinander gesperrten Schenkeln. Ein seltsamer Ton, ein Kollern, ein ersticktes Gurgeln drang hervor. Plötzlich klang es wie das langverhaltene Miauen einer Katze, wie ein leises klägliches Gewimmer; der erste Schmerzensschrei eines neugeborenen Kindes.
Johanna begriff plötzlich alles; sie verlor völlig den Kopf, und »Julius! Julius!« rufend, stürzte sie an die Treppe.
»Was gibt’s denn?« antwortete Jener von unten her.
»Ach … komm nur ’mal … Rosalie hat …« konnte sie kaum hervorbringen.
Zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte Julius herauf, trat eiligst ins Zimmer, lüftete mit einem Ruck die Kleider des Mädchens und entdeckte ein schauderhaft elendes, runzliges, wimmerndes, verschrumpftes und schmutziges Wurm, das zwischen den entblössten Beinen lag.
Er wandte sich zornig um, schob seine entsetzte Frau zur Tür hinaus und sagte:
»Das ist nichts für Dich. Geh hinunter und schick mir Ludivine und Papa Simon.«
Johanna stieg zitternd in die Küche herunter. Sie wagte nicht wieder heraufzugehen und trat in den Salon, der seit der Abreise ihrer Eltern nicht mehr geheizt worden war. Dort wartete sie ängstlich auf weitere Nachrichten.
Bald sah sie den alten Diener eiligst über den Hof laufen und kurze Zeit darauf mit der Witwe Dentu, der Hebamme des Ortes, zurückkehren. Dann gab es ein großes Geräusch auf der Treppe, als ob man einen Verwundeten hinuntertrüge. Julius kam herein und sagte ihr, sie könnte wieder heraufgehen.
Sie zitterte, als hätte sie Zeugin eines furchtbaren Ereignisses sein müssen. »Wie geht es ihr?« fragte sie, sich wieder ans Feuer setzend.
Julius ging zerstreut und aufgeregt im Zimmer auf und ab; er schien sogar zornig zu sein. Zuerst antwortete er gar nichts und setzte seinen Spaziergang durchs Zimmer fort.
»Was denkst Du mit dem Mädchen anzufangen?« fragte er dann nach einiger Zeit.
Sie sah ihn verständnislos an.
»Wie? Was wolltest Du sagen? Ich kenne mich nicht aus.«
»Wir können doch keinen Bastard in unserem Hause behalten,« schrie er plötzlich zornig auf.
Johanna war anfangs ganz verwirrt.
»Aber, mein Lieber, vielleicht könnte man das Kind in Pflege geben,« sagte sie dann nach längerem Schweigen.
»Und wer soll das bezahlen?« unterbrach er sie. »Du wohl jedenfalls, nicht wahr?«
Sie dachte lange über eine Lösung nach.
»Aber das wird doch der Vater des Kindes tun,« sagte sie dann. »Und wenn er Rosalie heiratet, dann sind ja weiter keine Schwierigkeiten.«
»Der Vater? … der Vater? …« rief Julius wie am Ende seiner Geduld ganz ausser sich. »Kennst Du ihn denn, … den Vater? … Nein … natürlich nicht … Nun also, was? …«
»Aber er kann doch das Mädchen nicht so im Stich lassen,« sagte sie entrüstet. »Das wäre eine Feigheit. Wir wollen nach seinem Namen fragen, ihn aufsuchen und er muss sich erklären.«
Julius hatte sich beruhigt und begann wieder auf und ab zu gehen.
»Aber meine Liebe, sie will ihn nicht nennen, den Namen dieses Mannes; sie wird Dir auch nicht mehr bekennen, wie mir … und wenn er nichts von ihr wissen will, der Vater …? Wir können doch unmöglich eine Mutter mit ihrem Bankert unter unserem Dache behalten. Begreifst Du das?«
»Dann ist es ein Elender, dieser Mensch,« sagte Johanna entrüstet. »Aber wir müssen ihn herauszubekommen suchen, und dann soll er Rede und Antwort stehen.«
»Aber … angenommen …« erhitzte sich Julius, aufs neue sehr rot werdend.
»Was schlägst Du denn vor?« unterbrach sie ihn, nicht wissend, wofür sie sich entscheiden sollte.
»Nun, was mich betrifft,« sagte er schnell, »so ist die Sache sehr einfach. Ich würde ihr einiges Geld geben und sie mit ihrem Balg zum Kuckuck jagen.«
Aber die junge Frau widersetzte sich ganz empört.
»Das geschieht niemals,« sagte sie. »Dieses Mädchen ist meine Milchschwester; wir sind zusammen aufgewachsen. Sie hat einen Fehltritt getan, allerdings; aber ich werde sie deshalb nicht vor die Türe setzen. Und wenn es nötig ist, so werde ich das Kind aufziehen.«
»Und wir werden in ein schönes Gerede kommen«, brach Julius los, »wir anderen, mit unserem Namen und unseren Beziehungen! Überall wird es heissen, dass wir das Laster beschützen, dass wir das Gesindel warm halten. Anständige Leute werden den Fuss nicht mehr in unser Haus setzen. Woran denkst Du nur eigentlich? Du musst von Sinnen sein?«
»Ich werde Rosalie niemals hinauswerfen lassen«, sagte sie ruhig bleibend. »Wenn Du sie nicht hier behalten willst, so wird meine Mutter sie zu sich nehmen. Wir werden schliesslich doch den Namen des Vaters herausbekommen müssen.«
Da ging er wütend hinaus, schlug krachend die Tür zu und rief:
»Die Weiber sind verrückt mit ihren Ideen!«
Nachmittags ging Johanna zu der Wöchnerin herunter. Die Zofe, von Frau Dentu gepflegt, lag regungslos im Bett, während die Wärterin das neugeborene Kind auf den Armen wiegte.
Sobald sie ihre Herrin bemerkte, fing Rosalie an zu schluchzen und bedeckte von Scham gepeinigt das Gesicht mit dem Betttuch. Johanna wollte sie küssen, aber sie wehrte sich und ließ das Tuch nicht fahren. Da legte sich die Wärterin ins Mittel und zog das Tuch fort. Schliesslich ließ sie sich’s gefallen und weinte nur noch still vor sich hin.
Ein schwaches Feuer brannte im Kamin; es war kalt und das Kleine begann zu weinen. Johanna wagte nicht von ihm zu sprechen, aus Furcht, bei der Mutter abermals eine Erschütterung hervorzurufen. Sie hatte die Hand derselben ergriffen und sagte immer nur:
»Es hat nichts zu bedeuten, wirklich nicht.«
Das arme Mädchen blickte verstohlen auf die Wärterin und zuckte bei jedem Schrei des kleinen Würmchens zusammen. Von Zeit zu Zeit brach sie von Schmerz und Scham gepeinigt in krampfhaftes Schluchzen aus, während die zurückgehaltenen Tränen ein rasselndes Geräusch in ihrer Kehle hervorriefen.
Johanna küsste sie abermals und flüsterte ihr leise ins Ohr:
»Wir werden schon gut für das Kind sorgen.« Dann entfernte sie sich schnell, als ein neuer Tränenstrom im Anzug war.
Täglich ging sie zur Wöchnerin herunter, und jedes Mal brach Rosalie beim Anblick ihrer Herrin in Tränen aus.
Das Kind wurde bei einer Nachbarin in Pflege gegeben.
Julius sprach kaum noch ein Wort mit seiner Frau; es war, als hegte er einen großen Zorn gegen sie, dass sie die Zofe nicht entlassen wollte. Eines Tages kam er wieder auf dieses Thema zurück; aber sie zog einen Brief der Baronin aus der Tasche, worin dieselbe verlangte, dass man ihr sofort das Mädchen sende, falls es nicht in Peuples bleiben könnte.
»Deine Mutter ist ebenso verrückt wie Du«, schrie er erbost. Aber er bestand nicht weiter auf seinem Verlangen.
Drei Wochen später konnte die Wöchnerin sich wieder erheben und ihren früheren Dienst versehen.
Eines Morgens hiess Johanna sie Platz nehmen, ergriff ihre Hände und sagte, ihr forschend ins Auge schauend:
»Nun, Kind, sage mir alles.«
»Was denn, Madame?« stammelte Rosalie zitternd.
»Wem gehört es, das Kind?«
Da wurde das arme Mädchen von Verzweiflung ergriffen; ängstlich suchte es die Hände frei zu bekommen, um ihr Antlitz damit zu bedecken.
Aber Johanna küsste sie wider ihren Willen und sagte tröstend:
»Es ist ein Unglück; was soll man machen, Kind? Du bist schwach gewesen, aber das passiert anderen auch. Wenn der Vater Dich heiratet, wird sich niemand mehr darum kümmern. Und wir werden ihn mit Dir in unseren Dienst nehmen.«
Rosalie seufzte wie unter furchtbaren Qualen und machte von Zeit zu Zeit den Versuch loszukommen und davonzulaufen.
»Ich begreife Dein Schamgefühl völlig«, begann Johanna wieder, »aber Du siehst, dass ich Dir nicht böse bin, dass ich Dir im Guten zurede. Ich frage Dich nach dem Namen des Mannes nur zu Deinem Besten, weil ich mit Dir den Schmerz empfinde, dass er Dich im Stich lässt. Das möchte ich verhindern. Julius wird ihn schon finden, weißt Du; und wir werden ihn zwingen, Dich zu heiraten. Und da wir Euch dann beide unter den Augen haben, so werden wir auch dafür sorgen, dass er Dich glücklich macht.«
Diesmal machte Rosalie eine so krampfhafte Anstrengung, dass es ihr gelang, die Hände frei zu bekommen, worauf sie wie besessen zum Zimmer hinaus rannte.
»Ich wollte Rosalie bestimmen, mir den Namen ihres Verführers zu nennen«, sagte Johanna abends beim Diner zu ihrem Gatten, »aber ich habe keinen Erfolg gehabt. Versuche Du es doch noch einmal, damit wir den Elenden zwingen, sie zu heiraten.«