Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Man setz­te sich und war­te­te. Auf dem Gan­ge über dem Zim­mer wur­den has­ti­ge Schrit­te ver­nehm­bar, die eine un­ge­wohn­te Un­ru­he ver­kün­de­ten. Die über­rasch­ten Schloss­be­woh­ner schie­nen sich ei­ligst um­zu­klei­den. Aber es dau­er­te doch lan­ge. Mehr­mals hör­te man eine Glo­cke, und dann wie­der ei­li­ge Schrit­te trepp­auf und trepp­ab.

Die Baro­nin wur­de durch die un­an­ge­neh­me Küh­le des Zim­mers fort­wäh­rend zum Nie­sen ge­reizt. Ju­li­us ging mit großen Schrit­ten auf und ab. Jo­han­na sass trau­rig ne­ben ih­rer Mut­ter. Der Baron stand am Ka­min ge­lehnt und ließ den Kopf hän­gen.

End­lich wur­de eine der ho­hen Flü­gel­tü­ren auf­ge­ris­sen und Vi­com­te und die Vi­com­tes­se de Bri­se­ville tra­ten ein. Sie wa­ren bei­de klein, von zier­li­cher Ge­stalt und hat­ten einen tän­zeln­den Gang. Ihr Al­ter war schwer zu be­stim­men; ihr Be­neh­men war ze­re­mo­ni­ell und ver­le­gen.

Der Ehe­mann trug einen präch­ti­gen Lei­b­rock; er grüss­te, in­dem er leicht das Knie beug­te. Sei­ne Nase, sei­ne Au­gen, sei­ne Zäh­ne, sei­ne po­ma­di­sier­ten Haa­re und sei­ne gan­ze präch­ti­ge Klei­dung hat­ten einen Glanz wie Sa­chen, die man mit großer Sorg­falt hegt und pflegt.

Nach­dem man die ers­ten Höf­lich­keits­for­meln von der Freu­de über den Be­such der lie­ben Nach­barn aus­ge­tauscht hat­te, fing das Ge­spräch be­reits zu sto­cken an. Dann wur­de es wie­der in Gang ge­bracht, in­dem man sich ge­gen­sei­tig Lie­bens­wür­dig­kei­ten sag­te, ohne recht den Grund da­für zu wis­sen. Man wür­de hof­fent­lich bei­der­seits die vor­treff­li­chen Be­zie­hun­gen zu ein­an­der fort­set­zen. Es wäre doch zu schön, sich öf­ters zu be­su­chen, wo man das gan­ze Jahr auf dem Lan­de woh­ne.

Die ei­si­ge Luft des Sa­lons drang al­len durch Mark und Bein. Die Baro­nin hus­te­te be­reits von hef­ti­gem Nie­sen zu­wei­len noch un­ter­bro­chen. Der Baron gab end­lich das Zei­chen zum Auf­bruch. Die Bri­se­vil­les pro­tes­tier­ten. »Wie? schon so ei­lig? Blei­ben Sie doch noch ein we­nig.« Aber Jo­han­na hat­te sich be­reits er­ho­ben trotz der Win­ke ih­res Man­nes, dem der Be­such zu kurz dünk­te.

Man woll­te dem Die­ner schel­len, um den Wa­gen vor­fah­ren zu las­sen; aber die Schel­le ging nicht. Der Haus­herr stürz­te selbst fort, und kam mit der Nach­richt zu­rück, dass die Pfer­de noch im Stal­le stän­den.

Man muss­te also war­ten. Je­der such­te nach ei­nem Wort, um die Un­ter­hal­tung nicht ein­schla­fen zu las­sen. Man sprach von dem reg­ne­ri­schen Win­ter. Jo­han­na frag­te mit heim­li­chem Grau­sen, was die bei­den so al­lein, den gan­zen Win­ter über mach­ten. Die Bri­se­vil­les wa­ren über die­se Fra­ge sehr er­staunt, denn sie be­schäf­tig­ten sich fort­wäh­rend, schrie­ben ih­ren durch ganz Frank­reich ver­streu­ten vor­neh­men Ver­wand­ten, brach­ten die Tage mit mi­kro­sko­pi­schen Un­ter­su­chun­gen zu, be­ob­ach­te­ten ge­gen­ein­an­der die­sel­be stei­fe Eti­ket­te wie ge­gen Frem­de und un­ter­hiel­ten sich fei­er­lich über die un­be­deu­tends­ten Din­ge.

Die­se bei­den Leut­chen, so klein, so sau­ber, so kor­rekt in ih­rer Hal­tung ka­men Jo­han­na un­ter dem Pla­fond des un­wohn­li­chen Sa­lons, wo al­les in Lein­wand ver­packt war, wie zwei in Vor­nehm­heit ein­ge­mach­te We­sen vor.

End­lich er­schi­en der Wa­gen mit sei­ner un­glei­chen Be­span­nung. Aber Ma­ri­us war nicht da­bei. Er hat­te ge­glaubt, bis zum Abend frei zu sein, und war zwei­felsoh­ne ein we­nig in die Nach­bar­schaft ge­gan­gen.

Ju­li­us bat wü­tend, man möge ihn zu Fuss zu­rück­sen­den. Nach vie­len Ab­schieds­grüs­sen hin und her schlug man end­lich den Rück­weg nach Peup­les ein.

So­bald sie in der Ka­le­sche sas­sen, be­gan­nen Jo­han­na und ihr Va­ter, trotz des Druckes, der noch von Ju­li­us’ Un­ge­zo­gen­heit auf ih­nen las­te­te, un­ter lau­tem Ge­läch­ter die Ma­nie­ren und die Sprach­wei­se der Bri­se­vil­les nach­zu­ma­chen. Der Baron ko­pier­te den Vi­com­te und Jo­han­na die Vi­com­tes­se. Aber die Baro­nin fand das un­pas­send und sag­te:

»Es ist sehr Un­recht, sich über sie lus­tig zu ma­chen. Die Leu­te sind sehr com­me il faut und von aus­ge­zeich­ne­ter Fa­mi­lie.«

Man schwieg, um Müt­ter­chen nicht zu ver­let­zen; aber un­will­kür­lich ver­fie­len bei­de wie­der von Zeit zu Zeit auf ihre al­ten Wit­ze. Er mach­te eine ze­re­mo­ni­el­le Ver­beu­gung und sag­te mit fei­er­li­chem Ton:

»Ihr Schloss Peup­les, Ma­da­me, muss sehr kalt sein, bei den hef­ti­gen Nord­win­den, die da im­mer we­hen.«

Sie nahm eine ge­schraub­te Mie­ne an und in­dem sie sich mit ei­nem leich­ten Schüt­teln des Kop­fes wie ein ba­den­der En­te­rich zier­te, ent­geg­ne­te sie:

»Oh, mein Herr, ich habe hier das gan­ze Jahr mei­ne Be­schäf­ti­gung. Dann ha­ben wir so vie­le Ver­wand­te, mit de­nen wir in Brief­wech­sel ste­hen. Und Herr von Bri­se­ville la­det mir al­les auf. Er treibt mit dem Abbé Pel­le zu­sam­men ge­lehr­te For­schun­gen. Sie schrei­ben ge­mein­schaft­lich die Kir­chen­ge­schich­te der Nor­man­die.«

Die Baro­nin lach­te nun doch, halb är­ger­lich, halb er­götzt und wie­der­hol­te: »Man soll­te sich doch nicht so über Stan­des­ge­nos­sen lus­tig ma­chen.«

Aber plötz­lich hielt der Wa­gen an; man hör­te Ju­li­us ir­gend­je­man­den nach rück­wärts et­was zu­ru­fen. Jo­han­na und der Baron, die sich aus dem Wa­gen ge­beugt hat­ten, be­merk­ten ein son­der­ba­res We­sen, das auf sie zu zu rol­len schi­en. Es war Ma­ri­us, der, so schnell ihn sei­ne Füs­se tru­gen, dem Wa­gen ge­folgt war. Sei­ne Bei­ne wa­ren durch die flie­gen­den Rock­schös­se sei­ner Li­vree be­hin­dert, sei­ne Au­gen blen­de­te der hin und her rut­schen­de Hut; er schwenk­te die Arme wie zwei Wind­müh­len­flü­gel, patsch­te in die großen Was­ser­la­chen, die er zu über­sprin­gen such­te, stol­per­te über alle Stei­ne im Wege, hüpf­te, schüt­tel­te sich, und war ganz mit Schmutz be­deckt.


So­bald er den Wa­gen er­reicht hat­te, beug­te Ju­li­us sich her­ab, fass­te ihn am Kra­gen, zog ihn zu sich her­auf und be­gann ihn mit Faust­schlä­gen zu trak­tie­ren, so­dass der Hut ihm bis auf die Schul­tern sank und es einen Ton wie eine Trom­mel gab. Der Bur­sche da­drun­ter heul­te, such­te sich los­zu­win­den und vom Sitz zu sprin­gen, wäh­rend sein Herr ihn mit der einen Hand fest­hielt und mit der an­de­ren lus­tig drauf los schlug.

»Papa … ach! Papa!« stam­mel­te Jo­han­na ent­setzt; und die Baro­nin er­griff voll Ent­rüs­tung den Arm ih­res Man­nes. »So halt ihn doch zu­rück, Ja­kob!« Da öff­ne­te der Baron schnell das Fens­ter vorn am Wa­gen und fass­te sei­nen Schwie­ger­sohn am Arm.

»Ha­ben Sie das Kind nun bald ge­nug ge­schla­gen …?« frag­te er mit zit­tern­der Stim­me.

»Se­hen Sie denn nicht, wie der Töl­pel sei­ne Li­vree zu­ge­rich­tet hat?« frag­te Ju­li­us är­ger­lich zu­rück.

»Ach, was hat denn das zu sa­gen!« ent­geg­ne­te der Baron, der den Kopf zwi­schen die bei­den ge­steckt hat­te. »So­weit kann die Roh­heit doch nicht ge­hen.«

»Las­sen Sie mich ge­fäl­ligst in Ruhe, das ist nicht Ihre Sa­che!« er­hitz­te sich Ju­li­us aufs Neue und hob aber­mals die Hand. Aber sein Schwie­ger­va­ter drück­te ihm die­sel­be mit sol­cher Kraft her­un­ter, dass er sie ge­gen das Holz des Sit­zes stiess.

»Wenn Sie nicht auf­hö­ren,« schrie er hef­tig, »stei­ge ich aus und wer­de Sie schon zur Ord­nung brin­gen; das wer­de ich …« Der Vi­com­te be­ru­hig­te sich plötz­lich und schlug ach­sel­zu­ckend, ohne ein Wort zu sa­gen, auf die Pfer­de ein, so­dass sie in schnel­lem Tra­be da­von­rann­ten.

Die bei­den Da­men, ganz auf­ge­löst, rühr­ten sich kaum und man hör­te deut­lich im In­nern des Wa­gens den lau­ten Herz­schlag der Baro­nin.

Beim Di­ner war Ju­li­us lie­bens­wür­di­ger wie ge­wöhn­lich, als ob nichts vor­ge­fal­len wäre. Jo­han­na, ihr Va­ter und Ma­da­me Ade­laï­de, die in ih­rer Gut­mü­tig­keit schnell ver­gas­sen und froh wa­ren, ihn so lie­bens­wür­dig zu se­hen, stimm­ten sei­ner hei­te­ren Lau­ne zu, wie bei Je­man­dem, der sich auf der Bes­se­rung be­fin­det. Als Jo­han­na wie­der auf die Bri­se­vil­les zu spre­chen kam, stimm­te ihr Mann selbst in ihre Scher­ze ein; aber er füg­te dann schnell hin­zu: »Ganz egal, vor­neh­me Al­lü­ren ha­ben sie doch.«

Man mach­te kei­ne wei­te­ren Be­su­che, da je­des fürch­te­te, die Sze­ne mit Ma­ri­us könn­te sich wie­der­ho­len. Man be­schloss nur, zum Neu­jahrs­ta­ge den Nach­barn Kar­ten zu schi­cken und für den Be­such die ers­ten war­men Tage des nächs­ten Früh­lings ab­zu­war­ten.

Weih­nach­ten kam her­an. Man hat­te den Pfar­rer, den Maire und des­sen Frau zum Di­ner ein­ge­la­den und bat sie für Neu­jahr aber­mals zu dem­sel­ben. Dies wa­ren die ein­zi­gen Zer­streu­un­gen, wel­che die Ein­för­mig­keit der Tage un­ter­bra­chen.

Papa und Müt­ter­chen woll­ten Peup­les am 9. Ja­nu­ar ver­las­sen. Jo­han­na hät­te sie gern noch zu­rück­ge­hal­ten, aber Ju­li­us schi­en da­für we­ni­ger ein­ge­nom­men zu sein. Der Baron, der die im­mer mehr zu­neh­men­de Käl­te sei­nes Schwie­ger­soh­nes be­merk­te, ließ einen Post­wa­gen von Rou­en kom­men.

Am letz­ten Tage vor ih­rer Abrei­se, als man mit dem Pa­cken fer­tig war, be­schlos­sen Jo­han­na und ihr Va­ter bei dem kla­ren Frost­wet­ter einen Spa­zier­gang nach Yport zu ma­chen, wo sie seit ih­rer Rück­kehr von Cor­si­ka nicht mehr ge­we­sen wa­ren.

Sie ka­men durch das Ge­hölz, wo sie an ih­rem Hoch­zeits­ta­ge mit Ju­li­us ge­we­sen war. Da­mals war sie ganz auf­ge­gan­gen in den, des­sen Ge­fähr­tin sie fürs gan­ze Le­ben sein soll­te; in die­sem Hol­ze hat­te sie sei­ne ers­ten Zärt­lich­kei­ten emp­fan­gen, hat­te im ers­ten Lie­bes­schau­er ge­zit­tert, hat­te je­nen Sin­nes­ge­nuss vor­aus­ge­fühlt, den sie in Wirk­lich­keit erst in dem ro­man­ti­schen Ota-Tale, dort an der Quel­le kos­ten soll­te, als ihre Küs­se sich un­ter dem Was­ser ver­meng­ten.

 

Jetzt gab es kein Laub mehr, kei­ne spros­sen­den Kräu­ter; man hör­te nur noch das Knar­ren der Äste und je­nen tro­ckenen Ton, den die ent­laub­ten Zwei­ge im Win­ter von sich ge­ben.

Sie ka­men in das Dörf­chen. Die öden stil­len Stras­sen duf­te­ten nach Mee­res­luft, nach See­gras und Fi­schen. Die großen loh­far­be­nen Net­ze, die vor den Häu­sern hin­gen oder auf dem Bo­den aus­ge­brei­tet wa­ren, trock­ne­ten noch wie sonst an der Luft. Das graue kal­te Meer mit sei­nen ewig grol­len­den Schaum­wo­gen be­gann zu sin­ken; schon la­gen nach Fe­kamp zu die grün­li­chen Fel­sen am Fuss der Küs­te ent­blöst. Die großen um­ge­stülp­ten Käh­ne längs des Stran­des sa­hen wie mäch­ti­ge tote Fi­sche aus. Der Abend brach her­ein. Die Fi­scher ka­men in Grup­pen her­an, schwer­fäl­lig in ih­ren großen Was­sers­tie­feln da­hin­schrei­tend, den Kopf mit ei­nem Woll­tuch ver­hüllt, eine Brannt­wein­fla­sche in der einen Hand und in der an­de­ren die Boots­la­ter­ne. Lan­ge um­stan­den sie ihre um­ge­stülp­ten Fahr­zeu­ge, rück­ten sie dann zu­recht und lu­den mit echt nor­män­ni­scher Lang­sam­keit ihre Net­ze, ihre Bo­jen, ein dickes Brot, einen Topf But­ter und die Brannt­wein­fla­sche ein. Dann scho­ben sie die Bar­ke ans Was­ser, die mit großem Geräusch über den Kies roll­te, den Schaum auf­sprit­zen ließ und auf den Wo­gen schwamm. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke tanz­te sie hin und her, dann brei­te­te sie wie ein Vo­gel ihre großen brau­nen Flü­gel aus und all­mäh­lich ver­schwand ihr klei­nes Licht an der Spit­ze des Mast­bau­mes im Dun­kel der Nacht.

Die stark­kno­chi­gen Fi­scher­frau­en, de­ren dür­re Bei­ne un­ter den kur­z­en Rö­cken her­vor­sa­hen, kehr­ten, als der letz­te Fi­scher ab­ge­fah­ren war, in das öde Dorf zu­rück und er­füll­ten mit ih­ren krei­schen­den Stim­men die stil­le Ruhe der Nacht.

Schwei­gend be­trach­te­ten der Baron und Jo­han­na die Aus­fahrt die­ser Leu­te, wel­che sie jede Nacht un­ter­nah­men und bei der sie je­des Mal ihr Le­ben aufs Spiel setz­ten, um nicht vor Hun­ger zu ster­ben. Und doch ging es ih­nen so schlecht, dass sie nie­mals ein Stück Fleisch auf dem Ti­sche sa­hen.

»Das ist schreck­lich und schön zu­gleich«, sag­te der Baron mit ei­nem be­geis­ter­ten Blick auf den Ozean. »Die­ses Meer mit sei­ner Fins­ter­nis, auf dem so Man­cher sein Le­ben lässt. Groß­ar­tig, nicht wahr, Jo­han­na?«

»Aber doch noch nichts ge­gen das Mit­tel­län­di­sche Meer«, sag­te sie mit küh­lem Lä­cheln.

»Das Mit­tel­län­di­sche Meer?« sag­te ihr Va­ter fast ent­rüs­tet. »Was ist das? Öl, Zucker­was­ser, blau­es Was­ser in ei­nem Wasch­be­cken. Sieh nur die­ses hier, wie schreck­lich es ist mit sei­nen Schaum­wel­len. Und den­ke nur an alle die­se Leu­te, die da­drauf hin­aus­ge­fah­ren sind und die nie­mals zu­rück­keh­ren.«

»Nun ja, wie Du meinst«, sag­te Jo­han­na mit ei­nem Seuf­zer. Aber die­ses Wort »Mit­tel­län­di­sches Meer«, das ihr auf die Lip­pen ge­kom­men war, hat­te aufs neue ihr Herz ge­trof­fen, und sie in Ge­dan­ken wie­der in jene Ge­gen­den ver­setzt, die alle ihre Träu­me er­füll­ten.

Va­ter und Toch­ter kehr­ten nicht wie­der durch das Ge­hölz zu­rück, sie be­nutz­ten die Land­stras­se und stie­gen lang­sam die Küs­te hin­an, das Herz voll Trau­rig­keit ob der be­vor­ste­hen­den Tren­nung.

Zu­wei­len, wäh­rend sie den Grä­ben des Pacht­ho­fes ent­lang gin­gen, schlug ih­nen der Ge­ruch von zer­quetsch­ten Äp­feln, die­ser ei­gen­tüm­li­che Dunst von fri­schem Ci­der ins Ge­sicht, der zu die­ser Zeit über der gan­zen Nor­man­die zu la­gern scheint. Da­zwi­schen meng­te sich ein kräf­ti­ger Stall­dunst, je­ner ge­sun­de war­me Dunst, wie er aus dem Kuh­stall her­vor­dringt. Im Hin­ter­grun­de des Ho­fes zeig­te ein klei­nes er­leuch­te­tes Fens­ter die Stel­le an, wo das Wohn­haus stand.

Jo­han­na kam es vor, als ob ihr Herz sich er­wei­te­re und un­sicht­ba­re Din­ge um­fas­se. Die­se ein­zel­nen Lich­ter, die in der Ge­gend rings­um ver­streut wa­ren, schie­nen ihr das ge­treue Ab­bild der Ein­sam­keit je­ner We­sen, die stets für sich le­ben, stets von al­lem ge­trennt sind, und die al­les von je­nen ab­zieht, wel­che sie lie­ben wür­den.

»Das Le­ben ist nicht im­mer schön«, sag­te sie hier­auf in re­si­gnier­tem Tone.

»Was kann man ma­chen, Kind­chen?« seufz­te der Baron, »wir kön­nen es nicht än­dern.«

Am an­de­ren Mor­gen reis­ten die El­tern ab. Jo­han­na und Ju­li­us wa­ren nun al­lein.

*

VII.

Das Kar­ten­spiel fing jetzt an, im Le­ben des jun­gen Paa­res eine Rol­le zu spie­len. Je­den Tag nach dem zwei­ten Früh­stück spiel­te Ju­li­us meh­re­re Par­ti­en Be­sigue mit sei­ner Frau, wo­bei er fort­wäh­rend sei­ne Pfei­fe rauch­te und sich die Keh­le mit Co­gnak aus­spül­te, von dem er sechs bis sie­ben Gläs­chen trank. Hier­auf ging Jo­han­na in ihr Zim­mer, setz­te sich ans Fens­ter und stick­te läs­sig an dem Saum ei­nes Rockes, wäh­rend der Re­gen an die Fens­ter schlug und der Wind an den Lä­den rüt­tel­te. Hin und wie­der hob sie er­mat­tet den Blick und be­trach­te­te in der Fer­ne das to­ben­de Meer. Dann, nach­dem sie eine Wei­le so ins Lee­re ge­st­arrt hat­te, nahm sie un­mu­tig ihre Ar­beit wie­der auf.

Im Üb­ri­gen gab es für sie wirk­lich nichts an­de­res zu tun; denn Ju­li­us hat­te die Lei­tung des gan­zen Haus­hal­tes an sich ge­ris­sen, um dem Be­dürf­nis­se sei­ner Herrsch­sucht und sei­nem Hang zur Spar­sam­keit zu ge­nü­gen. Er war von ei­nem ge­ra­de­zu lä­cher­li­chen Gei­ze be­seelt, gab nie­mals ein Trink­geld und be­schränk­te die Kost der Leu­te aufs Äus­sers­te. Selbst Jo­han­na muss­te dar­un­ter lei­den. Frü­her hat­te sie sich, so­lan­ge sie in Peup­les war, je­den Mor­gen durch den Bä­cker einen klei­nen nor­man­ni­schen We­cken brin­gen las­sen. Ju­li­us er­klär­te dies für Lu­xus und sie muss­te sich mit ge­rös­te­ten Brot­schnitt­chen be­gnü­gen.

Sie wag­te kei­ne Ein­wen­dun­gen, um den end­lo­sen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, De­bat­ten und Kla­gen zu ent­ge­hen; aber je­der neue Be­weis von dem Gei­ze ih­res Man­nes wirk­te auf sie wie ein Na­del­stich. Ihr, die in ei­ner At­mo­sphä­re groß ge­wor­den war, wo das Geld kei­ne Rol­le spiel­te, schi­en das nied­rig und ver­ab­scheu­ens­wert. »Das Geld ist doch da, dass man es aus­gibt«, hat­te sie ihre Mut­ter so oft sa­gen hö­ren; jetzt hiess es bei Ju­li­us: »Kannst Du Dir denn gar nicht ab­ge­wöh­nen, das Geld zum Fens­ter hin­aus­zu­wer­fen?« Und je­des Mal, wenn er von ei­ner Lohn­zah­lung oder ei­ner Rech­nung ei­ni­ge Sous ab­ge­zwackt hat­te, ließ er schmun­zelnd das Geld in die Ta­sche glei­ten, in­dem er sag­te: »Aus klei­nen Bä­chen flies­sen die großen Strö­me zu­sam­men.«

Zu­wei­len in­des­sen ver­fiel sie wie­der in ihre ge­lieb­te alte Träu­me­rei. Sie hör­te lang­sam auf zu ar­bei­ten, ihre Hän­de glit­ten in den Schos, und den Blick ver­sun­ken, gab sie sich den selbst­ge­spon­ne­nen Ro­ma­nen ih­rer Mäd­chen­zeit hin, in de­nen sie al­ler­hand nied­li­che Aben­teu­er im Geis­te er­leb­te. Aber plötz­lich weck­te sie dann die Stim­me ih­res Man­nes, der dem al­ten Papa Si­mon ir­gend einen Be­fehl gab, aus die­sen süs­sen Träu­men. »Es ist zu Ende«, sag­te sie dann, ihre Ar­beit wie­der auf­neh­mend, wäh­rend eine Trä­ne auf ihre Fin­ger fiel, die die Na­del führ­ten.

Auch Ro­sa­lie, die ehe­mals so ver­gnügt war und den gan­zen Tag über sang, hat­te sich voll­stän­dig ver­än­dert. Ihre einst so blü­hen­den vol­len Wan­gen hat­ten die fri­sche rote Far­be ver­lo­ren; sie schie­nen jetzt ein­ge­fal­len und zeig­ten zu­wei­len eine asch­graue Fär­bung.

»Bist Du krank, lie­bes Kind?« frag­te Jo­han­na sie öf­ters.

»Nein, Ma­da­me«, ant­wor­te­te das Mäd­chen stets, wo­bei ihr das Blut ins Ge­sicht stieg. Und dann ent­fern­te sie sich rasch.

Statt wie sonst leich­ten Schrit­tes da­hin­zu­flie­gen, schlepp­te sie sich jetzt müh­sam her­um. Sie hat­te ihre eins­ti­ge Schel­me­rei voll­stän­dig ver­lo­ren und mach­te kei­ne Ein­käu­fe mehr bei den Hau­sie­rern, die ihr um­sonst ihre sei­de­nen Tü­cher, ihre Kor­sets und ihre Par­fü­me­ri­en an­bo­ten.

Das Haus mit sei­ner re­gen ge­schwärz­ten Fassa­de mach­te einen fins­te­ren trau­ri­gen Ein­druck, und die Schrit­te der Men­schen wi­der­hall­ten in dem­sel­ben wie in ei­ner Gruft.

Ge­gen Ende Ja­nu­ar war star­ker Schnee­fall. Man sah von Wei­tem die großen schwe­ren Wol­ken aus Nor­den her über das schwar­ze Meer da­h­in­ja­gen, und dann be­gann der Flock­en­tanz. In ei­ner Nacht war die gan­ze Ge­gend in Schnee gehüllt und am an­de­ren Mor­gen tru­gen Bäu­me und Sträu­cher die be­kann­te wei­ße Ver­zie­rung.

Ju­li­us, in ho­hen Stie­feln, das Ge­sicht in Fal­ten, ver­brach­te sei­ne Zeit da­mit, dass er, im Hin­ter­grun­de des Bos­quets in ei­nem Gra­ben kau­ernd, der nach der Hei­de zu mün­de­te, auf Zug­vö­gel schoss. Von Zeit zu Zeit hall­te ein Flin­ten­knall durch das ei­si­ge Schwei­gen der Flur; Scha­ren von auf­ge­scheuch­ten Krä­hen er­ho­ben sich in die Luft, um sich dann wie­der auf den um­ste­hen­den Bäu­men nie­der­zu­las­sen.

Jo­han­na, von Lan­ge­wei­le ge­quält, trat hin und wie­der auf die Schloss­ram­pe her­aus. Nur von Wei­tem wi­der­hall­te le­ben­di­ges Trei­ben durch die schläf­ri­ge Ruhe, die über dem öden trau­ri­gen Schnee­tu­che lag.

Sonst hör­te sie nichts als das ent­fern­te Grol­len des Mee­res und das un­be­stimm­te fort­ge­setz­te Geräusch des fal­len­den Schnees.

Dich­ter und dich­ter hüll­te sich die Erde in die­sen wei­ßen flo­cki­gen Man­tel ein.

An ei­nem die­ser öden Win­ter­mor­gen sass Jo­han­na am Ka­min und wärm­te sich die Füs­se, wäh­rend Ro­sa­lie, stets mehr und mehr ver­än­dert, lang­sam das Bett mach­te. Plötz­lich hör­te die jun­ge Frau hin­ter sich einen tie­fen Seuf­zer.

»Was hast Du nur?« frag­te sie ohne sich um­zu­se­hen.

»Nichts, Ma­da­me«, ant­wor­te­te das Mäd­chen wie im­mer. Aber ihre Stim­me schi­en zit­ternd und kläg­lich.

Jo­han­na dach­te schon wie­der an et­was an­de­res, als ihr plötz­lich auf­fiel, dass sie kein Geräusch mehr von dem jun­gen Mäd­chen hör­te. »Ro­sa­lie!« rief sie; aber nichts rühr­te sich. »Ro­sa­lie!« rief sie lau­ter, weil sie glaub­te, das Mäd­chen sei her­aus­ge­gan­gen. Schon streck­te sie die Hand nach dem Glo­cken­zu­ge ne­ben ihr aus, als ein tiefer Seuf­zer ganz dicht hin­ter ihr sie ver­an­lass­te, sich er­schreckt um­zu­wen­den.


Die Kam­mer­zo­fe sass bleich mit ver­stör­tem Blick auf dem Bo­den, den Rücken an das Bett ge­lehnt.

»Was hast Du; was fehlt Dir?« rief Jo­han­na vor­tre­tend.

Jene sprach kein Wort, mach­te kei­ne Be­we­gung. Sie hef­te­te den ver­wirr­ten Blick auf ihre Her­rin und stöhn­te, wie von furcht­ba­ren Schmer­zen ge­pei­nigt. Dann plötz­lich krümm­te sich ihr gan­zer Kör­per, sie glitt auf den Rücken und stiess zwi­schen den zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen einen ent­setz­li­chen Schrei her­vor.

Dann reg­te sich et­was un­ter ih­ren Rö­cken zwi­schen den aus­ein­an­der ge­sperr­ten Schen­keln. Ein selt­sa­mer Ton, ein Kol­lern, ein er­stick­tes Gur­geln drang her­vor. Plötz­lich klang es wie das lang­ver­hal­te­ne Mi­au­en ei­ner Kat­ze, wie ein lei­ses kläg­li­ches Ge­wim­mer; der ers­te Schmer­zens­schrei ei­nes neu­ge­bo­re­nen Kin­des.

Jo­han­na be­griff plötz­lich al­les; sie ver­lor völ­lig den Kopf, und »Ju­li­us! Ju­li­us!« ru­fend, stürz­te sie an die Trep­pe.

»Was gib­t’s denn?« ant­wor­te­te Je­ner von un­ten her.

»Ach … komm nur ’mal … Ro­sa­lie hat …« konn­te sie kaum her­vor­brin­gen.

Zwei Stu­fen auf ein­mal neh­mend stürm­te Ju­li­us her­auf, trat ei­ligst ins Zim­mer, lüf­te­te mit ei­nem Ruck die Klei­der des Mäd­chens und ent­deck­te ein schau­der­haft elen­des, runz­li­ges, wim­mern­des, ver­schrumpf­tes und schmut­zi­ges Wurm, das zwi­schen den ent­blöss­ten Bei­nen lag.

Er wand­te sich zor­nig um, schob sei­ne ent­setz­te Frau zur Tür hin­aus und sag­te:

»Das ist nichts für Dich. Geh hin­un­ter und schick mir Lu­di­vi­ne und Papa Si­mon.«

Jo­han­na stieg zit­ternd in die Kü­che her­un­ter. Sie wag­te nicht wie­der her­auf­zu­ge­hen und trat in den Sa­lon, der seit der Abrei­se ih­rer El­tern nicht mehr ge­heizt wor­den war. Dort war­te­te sie ängst­lich auf wei­te­re Nach­rich­ten.

 

Bald sah sie den al­ten Die­ner ei­ligst über den Hof lau­fen und kur­ze Zeit dar­auf mit der Wit­we Den­tu, der Heb­am­me des Or­tes, zu­rück­keh­ren. Dann gab es ein großes Geräusch auf der Trep­pe, als ob man einen Ver­wun­de­ten hin­un­ter­trü­ge. Ju­li­us kam her­ein und sag­te ihr, sie könn­te wie­der her­auf­ge­hen.

Sie zit­ter­te, als hät­te sie Zeu­gin ei­nes furcht­ba­ren Er­eig­nis­ses sein müs­sen. »Wie geht es ihr?« frag­te sie, sich wie­der ans Feu­er set­zend.

Ju­li­us ging zer­streut und auf­ge­regt im Zim­mer auf und ab; er schi­en so­gar zor­nig zu sein. Zu­erst ant­wor­te­te er gar nichts und setz­te sei­nen Spa­zier­gang durchs Zim­mer fort.

»Was denkst Du mit dem Mäd­chen an­zu­fan­gen?« frag­te er dann nach ei­ni­ger Zeit.

Sie sah ihn ver­ständ­nis­los an.

»Wie? Was woll­test Du sa­gen? Ich ken­ne mich nicht aus.«

»Wir kön­nen doch kei­nen Ba­stard in un­se­rem Hau­se be­hal­ten,« schrie er plötz­lich zor­nig auf.

Jo­han­na war an­fangs ganz ver­wirrt.

»Aber, mein Lie­ber, viel­leicht könn­te man das Kind in Pfle­ge ge­ben,« sag­te sie dann nach län­ge­rem Schwei­gen.

»Und wer soll das be­zah­len?« un­ter­brach er sie. »Du wohl je­den­falls, nicht wahr?«

Sie dach­te lan­ge über eine Lö­sung nach.

»Aber das wird doch der Va­ter des Kin­des tun,« sag­te sie dann. »Und wenn er Ro­sa­lie hei­ra­tet, dann sind ja wei­ter kei­ne Schwie­rig­kei­ten.«

»Der Va­ter? … der Va­ter? …« rief Ju­li­us wie am Ende sei­ner Ge­duld ganz aus­ser sich. »Kennst Du ihn denn, … den Va­ter? … Nein … na­tür­lich nicht … Nun also, was? …«

»Aber er kann doch das Mäd­chen nicht so im Stich las­sen,« sag­te sie ent­rüs­tet. »Das wäre eine Feig­heit. Wir wol­len nach sei­nem Na­men fra­gen, ihn auf­su­chen und er muss sich er­klä­ren.«

Ju­li­us hat­te sich be­ru­higt und be­gann wie­der auf und ab zu ge­hen.

»Aber mei­ne Lie­be, sie will ihn nicht nen­nen, den Na­men die­ses Man­nes; sie wird Dir auch nicht mehr be­ken­nen, wie mir … und wenn er nichts von ihr wis­sen will, der Va­ter …? Wir kön­nen doch un­mög­lich eine Mut­ter mit ih­rem Ban­kert un­ter un­se­rem Da­che be­hal­ten. Be­greifst Du das?«

»Dann ist es ein Elen­der, die­ser Mensch,« sag­te Jo­han­na ent­rüs­tet. »Aber wir müs­sen ihn her­aus­zu­be­kom­men su­chen, und dann soll er Rede und Ant­wort ste­hen.«

»Aber … an­ge­nom­men …« er­hitz­te sich Ju­li­us, aufs neue sehr rot wer­dend.

»Was schlägst Du denn vor?« un­ter­brach sie ihn, nicht wis­send, wo­für sie sich ent­schei­den soll­te.

»Nun, was mich be­trifft,« sag­te er schnell, »so ist die Sa­che sehr ein­fach. Ich wür­de ihr ei­ni­ges Geld ge­ben und sie mit ih­rem Balg zum Kuckuck ja­gen.«

Aber die jun­ge Frau wi­der­setz­te sich ganz em­pört.

»Das ge­schieht nie­mals,« sag­te sie. »Die­ses Mäd­chen ist mei­ne Milch­schwes­ter; wir sind zu­sam­men auf­ge­wach­sen. Sie hat einen Fehl­tritt ge­tan, al­ler­dings; aber ich wer­de sie des­halb nicht vor die Türe set­zen. Und wenn es nö­tig ist, so wer­de ich das Kind auf­zie­hen.«

»Und wir wer­den in ein schö­nes Ge­re­de kom­men«, brach Ju­li­us los, »wir an­de­ren, mit un­se­rem Na­men und un­se­ren Be­zie­hun­gen! Über­all wird es heis­sen, dass wir das Las­ter be­schüt­zen, dass wir das Ge­sin­del warm hal­ten. An­stän­di­ge Leu­te wer­den den Fuss nicht mehr in un­ser Haus set­zen. Woran denkst Du nur ei­gent­lich? Du musst von Sin­nen sein?«

»Ich wer­de Ro­sa­lie nie­mals hin­aus­wer­fen las­sen«, sag­te sie ru­hig blei­bend. »Wenn Du sie nicht hier be­hal­ten willst, so wird mei­ne Mut­ter sie zu sich neh­men. Wir wer­den schliess­lich doch den Na­men des Va­ters her­aus­be­kom­men müs­sen.«

Da ging er wü­tend hin­aus, schlug kra­chend die Tür zu und rief:

»Die Wei­ber sind ver­rückt mit ih­ren Ide­en!«

Nach­mit­tags ging Jo­han­na zu der Wöch­ne­rin her­un­ter. Die Zofe, von Frau Den­tu ge­pflegt, lag re­gungs­los im Bett, wäh­rend die Wär­te­rin das neu­ge­bo­re­ne Kind auf den Ar­men wieg­te.

So­bald sie ihre Her­rin be­merk­te, fing Ro­sa­lie an zu schluch­zen und be­deck­te von Scham ge­pei­nigt das Ge­sicht mit dem Bett­tuch. Jo­han­na woll­te sie küs­sen, aber sie wehr­te sich und ließ das Tuch nicht fah­ren. Da leg­te sich die Wär­te­rin ins Mit­tel und zog das Tuch fort. Sch­liess­lich ließ sie sich’s ge­fal­len und wein­te nur noch still vor sich hin.

Ein schwa­ches Feu­er brann­te im Ka­min; es war kalt und das Klei­ne be­gann zu wei­nen. Jo­han­na wag­te nicht von ihm zu spre­chen, aus Furcht, bei der Mut­ter aber­mals eine Er­schüt­te­rung her­vor­zu­ru­fen. Sie hat­te die Hand der­sel­ben er­grif­fen und sag­te im­mer nur:

»Es hat nichts zu be­deu­ten, wirk­lich nicht.«

Das arme Mäd­chen blick­te ver­stoh­len auf die Wär­te­rin und zuck­te bei je­dem Schrei des klei­nen Würm­chens zu­sam­men. Von Zeit zu Zeit brach sie von Schmerz und Scham ge­pei­nigt in krampf­haf­tes Schluch­zen aus, wäh­rend die zu­rück­ge­hal­te­nen Trä­nen ein ras­seln­des Geräusch in ih­rer Keh­le her­vor­rie­fen.

Jo­han­na küss­te sie aber­mals und flüs­ter­te ihr lei­se ins Ohr:

»Wir wer­den schon gut für das Kind sor­gen.« Dann ent­fern­te sie sich schnell, als ein neu­er Trä­nen­strom im An­zug war.

Täg­lich ging sie zur Wöch­ne­rin her­un­ter, und je­des Mal brach Ro­sa­lie beim An­blick ih­rer Her­rin in Trä­nen aus.

Das Kind wur­de bei ei­ner Nach­ba­rin in Pfle­ge ge­ge­ben.

Ju­li­us sprach kaum noch ein Wort mit sei­ner Frau; es war, als heg­te er einen großen Zorn ge­gen sie, dass sie die Zofe nicht ent­las­sen woll­te. Ei­nes Ta­ges kam er wie­der auf die­ses The­ma zu­rück; aber sie zog einen Brief der Baro­nin aus der Ta­sche, worin die­sel­be ver­lang­te, dass man ihr so­fort das Mäd­chen sen­de, falls es nicht in Peup­les blei­ben könn­te.

»Dei­ne Mut­ter ist eben­so ver­rückt wie Du«, schrie er er­bost. Aber er be­stand nicht wei­ter auf sei­nem Ver­lan­gen.

Drei Wo­chen spä­ter konn­te die Wöch­ne­rin sich wie­der er­he­ben und ih­ren frü­he­ren Dienst ver­se­hen.

Ei­nes Mor­gens hiess Jo­han­na sie Platz neh­men, er­griff ihre Hän­de und sag­te, ihr for­schend ins Auge schau­end:

»Nun, Kind, sage mir al­les.«

»Was denn, Ma­da­me?« stam­mel­te Ro­sa­lie zit­ternd.

»Wem ge­hört es, das Kind?«

Da wur­de das arme Mäd­chen von Verzweif­lung er­grif­fen; ängst­lich such­te es die Hän­de frei zu be­kom­men, um ihr Ant­litz da­mit zu be­de­cken.

Aber Jo­han­na küss­te sie wi­der ih­ren Wil­len und sag­te trös­tend:

»Es ist ein Un­glück; was soll man ma­chen, Kind? Du bist schwach ge­we­sen, aber das pas­siert an­de­ren auch. Wenn der Va­ter Dich hei­ra­tet, wird sich nie­mand mehr dar­um küm­mern. Und wir wer­den ihn mit Dir in un­se­ren Dienst neh­men.«

Ro­sa­lie seufz­te wie un­ter furcht­ba­ren Qua­len und mach­te von Zeit zu Zeit den Ver­such los­zu­kom­men und da­von­zu­lau­fen.

»Ich be­grei­fe Dein Scham­ge­fühl völ­lig«, be­gann Jo­han­na wie­der, »aber Du siehst, dass ich Dir nicht böse bin, dass ich Dir im Gu­ten zu­re­de. Ich fra­ge Dich nach dem Na­men des Man­nes nur zu Dei­nem Bes­ten, weil ich mit Dir den Schmerz emp­fin­de, dass er Dich im Stich lässt. Das möch­te ich ver­hin­dern. Ju­li­us wird ihn schon fin­den, weißt Du; und wir wer­den ihn zwin­gen, Dich zu hei­ra­ten. Und da wir Euch dann bei­de un­ter den Au­gen ha­ben, so wer­den wir auch da­für sor­gen, dass er Dich glück­lich macht.«

Dies­mal mach­te Ro­sa­lie eine so krampf­haf­te An­stren­gung, dass es ihr ge­lang, die Hän­de frei zu be­kom­men, wor­auf sie wie be­ses­sen zum Zim­mer hin­aus rann­te.

»Ich woll­te Ro­sa­lie be­stim­men, mir den Na­men ih­res Ver­füh­rers zu nen­nen«, sag­te Jo­han­na abends beim Di­ner zu ih­rem Gat­ten, »aber ich habe kei­nen Er­folg ge­habt. Ver­su­che Du es doch noch ein­mal, da­mit wir den Elen­den zwin­gen, sie zu hei­ra­ten.«