Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Dann ka­men drei alte Chor­sän­ger, von de­nen ei­ner hin­k­te, dann der Or­ga­nist, end­lich der Pfar­rer, die gold­ge­stick­te Sto­la über der Brust ge­kreuzt. Er wünsch­te lä­chelnd durch ein Nei­gen des Haup­tes »Gu­ten Mor­gen.« Dann folg­te er mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen, ein Ge­bet auf den Lip­pen, das Ba­rett in die Stirn ge­drückt, sei­nem Sta­be, der sich nach dem Mee­re hin be­weg­te.

Am Stran­de um­stand eine dicht­ge­dräng­te Men­ge eine neue blu­men­ge­schmück­te Bar­ke. Ihr Mast, die Se­gel, das Tau­werk, wa­ren mit lan­gen Bän­dern ge­schmückt, die im Win­de flat­ter­ten. Am Steu­er­bord er­glänz­te in gol­di­gen Buch­sta­ben der Name »Jo­han­na.«

Papa Las­ti­que, der Pa­tron die­ses mit dem Gel­de des Barons er­bau­ten Schif­fes trat aus der Men­ge vor. Alle Men­schen ent­blöss­ten beim An­blick des Kreu­zes mit der­sel­ben Hand­be­we­gung gleich­zei­tig ihre Häup­ter und knie­ten in ei­ner drei­fa­chen Rei­he nie­der. Es war ein selt­sa­mer An­blick: Alle die­se An­däch­ti­gen, ein­gehüllt in die gleich­ar­ti­gen, wei­ten schwar­zen Schul­ter­män­tel.

Der Pfar­rer mit den bei­den Chor­kna­ben be­gab sich in das eine Ende des klei­nen Fahr­zeu­ges, wäh­rend an dem an­de­ren sich die drei al­ten Chor­sän­ger auf­stell­ten. Ihre wei­ßen Chor­hem­den wa­ren nicht mehr ganz sau­ber, das Kinn un­ra­siert; aber sie schau­ten mit ih­rer wich­tigs­ten Mie­ne in das Ge­sang­buch und de­to­nier­ten in Fol­ge der kla­ren Mor­gen­luft recht be­denk­lich.

Je­des Mal, wenn sie Atem schöpf­ten, setz­te der Küs­ter al­lein sei­nen Ge­sang fort, und sei­ne klei­nen grau­en Au­gen ver­schwan­den fast hin­ter den dick auf­ge­bla­se­nen Ba­cken. Sei­ne Stirn und sein Na­cken wa­ren von der An­stren­gung so rot ge­wor­den, dass man hät­te mei­nen kön­nen, die Haut wäre ihm dort ab­ge­zo­gen.

Das Meer selbst in sei­ner kla­ren un­be­weg­li­chen Ruhe schi­en an der Tau­fe sei­nes Fahr­zeu­ges Teil zu neh­men. Kaum eine leich­te Re­gung des Was­sers war zu be­mer­ken, lei­se nur knirsch­te der Kies des Ge­sta­des un­ter den Wel­len, die nicht ’mal eine Hand­breit hoch wa­ren. Und die großen wei­ßen Mö­ven zo­gen mit aus­ge­brei­te­ten Schwin­gen ihre Krei­se am blau­en Him­mel; bald schos­sen sie pfeil­schnell da­von, bald ka­men sie lang­sam durch die Luft ge­se­gelt auf die Men­ge der An­däch­ti­gen zu, als woll­ten sie schau­en, was es da ei­gent­lich gäbe.

Jetzt schloss der Ge­sang mit ei­nem mi­nu­ten­lan­gen Amen und der Pries­ter sprach mit tiefer Stim­me ein la­tei­ni­sches Ge­bet, von dem man im All­ge­mei­nen nur die schär­fer be­ton­ten End­sil­ben ver­stand.

Als­dann mach­te er einen Gang über die gan­ze Bar­ke und be­spreng­te sie mit Weih­was­ser; hier­auf sprach er das Pa­ter no­s­ter, wo­bei er an der Lang­sei­te des Schiff­chens den Tauf­pa­ten ge­ra­de ge­gen­über stand. Die­se blie­ben un­be­weg­lich Hand in Hand.

Der jun­ge Mann we­nigs­tens be­hielt ganz sei­ne erns­te wür­de­vol­le Mie­ne bei; aber die jun­ge Dame wur­de schliess­lich doch von ei­ner plötz­li­chen in­ne­ren Re­gung er­fasst und fühl­te sich so er­schüt­tert, dass ihr die Zäh­ne klap­per­ten. Der Traum, der sie schon so lan­ge ver­folg­te, nahm plötz­lich eine fes­te Ge­stalt an; we­nigs­tens glaub­te sie sei­ne Er­fül­lung vor sich zu se­hen. Man hat­te von ei­ner Hoch­zeit ge­spro­chen und ein Pries­ter war da, um zu seg­nen; from­me Lie­der und Ge­be­te tön­ten zum Him­mel. War das nicht in der Tat, als wenn es ihre Hoch­zeit wäre?

War das ner­vö­se Zu­cken ih­rer Hand, der er­reg­te Schlag ih­res Her­zens durch ihre Adern zum Her­zen ih­res Nach­barn ge­drun­gen? Ver­stand er sie, er­riet er ihre Ge­dan­ken; wur­de er wie sie von ei­nem Ge­fühl zärt­lichs­ter Lie­be be­seelt? Oder wuss­te er nur aus Er­fah­rung, dass kein weib­li­ches We­sen ihm zu wi­der­ste­hen ver­moch­te? Sie fühl­te plötz­lich, wie er ihre Hand drück­te, an­fangs ganz sanft, dann im­mer stär­ker, so­dass sie fast hät­te auf­schrei­en mö­gen. Und ohne im Min­des­ten sei­nen erns­ten Ge­sichts­aus­druck zu ver­än­dern, so­dass nie­mand es be­merk­te, sag­te er zu ihr, ja, er sag­te es ganz deut­lich:

»Ach, Jo­han­na, wenn Sie woll­ten, könn­te das un­se­re Ver­lo­bungs­fei­er wer­den!«

Sie neig­te ganz lang­sam das Haupt, so­dass es wie ein lei­ses »Ja« gel­ten konn­te; und in die­sem Au­gen­bli­cke fie­len ei­ni­ge Trop­fen des Weih­was­sers, wo­mit der Pries­ter sie be­spreng­te, auf ihre zu­sam­men­ge­press­ten Hän­de.

Die Ze­re­mo­nie war be­en­digt. Die Frau­en er­ho­ben sich von den Kni­en. Der Rück­weg wur­de in Un­ord­nung an­ge­tre­ten. Der Chor­kna­be trug das sil­ber­ne Kreuz nicht mehr fei­er­lich; das­sel­be schwank­te in sei­nen Hän­den bald nach rechts und links, bald neig­te es sich vorn­über, so­dass man fürch­ten muss­te, es fie­le hin. Der Pfar­rer eil­te jetzt ohne Ge­bet hin­ter dem Kna­ben drein; die Chor­sän­ger ver­schwan­den in ei­ner Sei­ten­gas­se, um sich schnel­ler aus­zie­hen zu kön­nen, und auch die Fi­scher stürm­ten grup­pen­wei­se da­von. Sie emp­fan­den schon im Voraus et­was wie einen gu­ten Kü­chen­duft, der ih­nen von der Nase bis zum Ma­gen drang, so­dass ih­nen das Was­ser im Mun­de zu­sam­men­lief und ein leich­tes kol­lern­des Geräusch in ih­rem In­nern er­tön­te.

In Peup­les er­war­te­te sie näm­lich ein gu­tes Früh­stück.

Auf dem Hofe un­ter den Obst­bäu­men war eine große Ta­fel ge­deckt, an der sech­zig Per­so­nen, Fi­scher und Land­leu­te, Platz nah­men. Die Baro­nin, wel­che in der Mit­te sass, hat­te die bei­den Pfar­rer von Yport und Etou­ve­nt rechts und links ne­ben sich. Der Baron sass ihr ge­gen­über zwi­schen dem Maire und des­sen Gat­tin. Es war dies eine ma­ge­re, be­reits et­was be­jahr­te Frau von länd­li­chen Sit­ten, die nach al­len Sei­ten leb­haft grüss­te. Ihr schma­les run­ze­li­ges Ge­sicht war ganz in ih­rer großen nor­män­ni­schen Müt­ze ver­steckt; ein rich­ti­ges Hüh­ner­ge­sicht mit ei­nem wei­ßen Kamm dar­über, un­ter dem ein run­des Auge stets ver­wun­dert und neu­gie­rig in die Welt schau­te. Sie ass mit klei­nen has­ti­gen Schlu­cken, als hät­te sie mit ih­rer Nase auf dem Tel­ler ge­pickt.

Jo­han­na schwelg­te an der Sei­te des Vi­com­te im vol­len Glücke. Sie sah und hör­te nichts; schwei­gend gab sie sich ih­ren se­li­gen Ge­dan­ken hin.

»Wie ist doch Ihr Vor­na­me?« frag­te sie end­lich den Vi­com­te.

»Ju­li­us«, sag­te er, »das wuss­ten Sie nicht?«

Aber sie gab kei­ne Ant­wort. »Wie oft wer­de ich mir die­sen Na­men im Stil­len wie­der­ho­len« war das ein­zi­ge, was sie dach­te.

Als das Mahl be­en­det war, über­liess man den Hof den Fi­schern und Land­leu­ten; die Üb­ri­gen be­ga­ben sich an die an­de­re Sei­te des Schlos­ses. Die Baro­nin schick­te sich, auf den Gat­ten ge­stützt und von den bei­den Geist­li­chen be­glei­tet, zu »ih­rer Übung« an, wäh­rend Jo­han­na und Ju­li­us zu dem Bos­quet gin­gen. Kaum hat­ten sie die ver­schlun­ge­nen Pfa­de des­sel­ben be­tre­ten, als der Vi­com­te ihre Hand er­griff und zu ihr sag­te:

»Jo­han­na, wol­len Sie mei­ne Gat­tin wer­den?« An­fangs senk­te sie das Köpf­chen; als aber der Vi­com­te sie noch­mals frag­te: »Ant­wor­ten Sie mir, ich bit­te Sie«, da hob sie sanft die Au­gen zu ihm auf und er konn­te die Ant­wort in ih­rem Bli­cke le­sen.

*

IV.

Ei­nes Mor­gens, noch ehe Jo­han­na auf­ge­stan­den war, trat der Baron in ihr Zim­mer und setz­te sich zu Füs­sen des Bet­tes.

»Der Vi­com­te de La­ma­re hat um Dei­ne Hand bei uns an­ge­hal­ten«, sag­te er fei­er­lich.

Sie hät­te am liebs­ten das Ge­sicht un­ter der De­cke ver­steckt.

»Wir ha­ben un­se­re Ant­wort noch et­was ver­scho­ben.«

Jo­han­na at­me­te kaum noch vor in­ne­rer Er­re­gung.

»Wir woll­ten näm­lich kei­ne Ent­schei­dung ohne Dich tref­fen«, fuhr der Baron nach ei­ner kur­z­en Pau­se lä­chelnd fort. »Dei­ne Mut­ter und ich ha­ben ge­gen die­se Hei­rat nichts ein­zu­wen­den, ohne Dich in­des zwin­gen zu wol­len. Du bist viel rei­cher wie er; aber wenn es sich um das Glück des Le­bens han­delt, muss man nicht nach dem Gel­de schau­en. Er hat kei­ne El­tern mehr; wenn Du ihn hei­ra­ten soll­test, so wür­de er als Sohn in un­se­re Fa­mi­lie ein­tre­ten. Bei ei­nem an­de­ren wäre es um­ge­kehrt; da wür­dest Du, un­ser Kind, zu frem­den Leu­ten ge­hen. Der jun­ge Mann ge­fällt uns. Ich weiß nicht, ob er Dir ge­fällt …?«

»Ach ja, Papa!« stam­mel­te sie, über und über rot.

»Ich war mir noch nicht ganz klar dar­über« sag­te ihr Va­ter, nach­dem er ihr eine Wei­le, im­mer lä­chelnd, tief in die Au­gen ge­se­hen hat­te.

Sie leb­te bis zum Abend in ei­nem Tau­mel, ohne zu wis­sen, was sie tat. Mecha­nisch nahm sie bald die­sen, bald je­nen Ge­gen­stand zur Hand; in all ih­ren Glie­dern fühl­te sie eine wei­che Er­schlaf­fung, ohne dass sie einen grös­se­ren Spa­zier­gang ge­macht hät­te.

Ge­gen sechs Uhr, als sie mit der Mut­ter un­ter der großen Pla­ta­ne sass, er­schi­en der Vi­com­te.

Jo­han­nas Herz klopf­te zum Zer­sprin­gen. Der jun­ge Mann nä­her­te sich ih­nen, ohne be­son­ders er­regt zu schei­nen. Als er vor ih­nen stand, er­griff er die Hand der Baro­nin und führ­te sie an die Lip­pen. Dann nahm er die Jo­han­nas und drück­te einen lan­gen Kuss voll Zärt­lich­keit und Dank­bar­keit dar­auf …

Und nun be­gann die wun­der­ba­re Zeit des Braut­stan­des. Sie plau­der­ten zu­sam­men in ir­gend ei­ner Ecke des Sa­lons oder auf der Ra­sen­bank hin­ten im Bos­quet, vor sich die wei­te Hei­de.

Zu­wei­len spa­zier­ten sie mit der Mama in »ih­rer Al­lee« und spra­chen von der Zu­kunft, wo­bei Jo­han­na nach­denk­lich den Blick auf die stau­bi­gen Fuss­s­pu­ren der Mut­ter hef­te­te.

 

Nach­dem die Sa­che nun ein­mal ent­schie­den war, woll­te man auch den Aus­gang be­schleu­ni­gen. So kam man über­ein, dass in sechs Wo­chen, am 15. Au­gust, die Ver­mäh­lung statt­fin­den soll­te und gleich dar­auf das jun­ge Paar sei­ne Hoch­zeits­rei­se an­tre­ten wür­de. Jo­han­na, um ihre An­sicht ge­fragt, ent­schied sich da­für, dass man Kor­si­ka be­su­chen wol­le. Dort wür­de man un­ge­stör­ter sein, als in den viel­be­such­ten und be­leb­ten Städ­ten Ita­li­ens.

Sie er­war­te­ten den fest­ge­setz­ten Tag ih­rer Ver­bin­dung ohne all­zu große Un­ge­duld, aber be­seelt und ge­tra­gen von ei­ner in­ni­gen Zärt­lich­keit. Sie durch­kos­te­ten alle die zahl­lo­sen klei­nen Freu­den des Braut­stan­des, die Hän­de­drücke, die lie­be­vol­len lan­gen Bli­cke, bei de­nen die See­len sich in ein­an­der zu ver­schmel­zen schei­nen. Nur hin und wie­der heg­ten bei­de das hef­ti­ge Ver­lan­gen nach Been­di­gung die­ser Zeit, um sich dann ganz an­ge­hö­ren zu kön­nen.

Es wur­de be­schlos­sen, Nie­man­den zur Hoch­zeit ein­zu­la­den aus­ser der Tan­te Li­son, der Schwes­ter der Baro­nin, die als eine Art Pen­sio­nä­rin in ei­nem Klos­ter bei Ver­sail­les leb­te.

Nach dem Tode ih­res Va­ters hat­te die Baro­nin ihre Schwes­ter zu sich neh­men wol­len; aber das ält­li­che Fräu­lein hat­te die fixe Idee, dass es al­ler Welt zur Last sei, dass es zu Nichts zu ge­brau­chen und nir­gend gern ge­se­hen wäre. So zog es sich in ei­nes je­ner Or­dens­häu­ser zu­rück, die ein­sam und al­lein ste­hen­den Per­so­nen Zim­mer ver­mie­ten.

Von Zeit zu Zeit brach­te sie ein oder zwei Mo­na­te in der Fa­mi­lie zu.

Sie war klein von Sta­tur, sprach sehr we­nig, zog sich sehr zu­rück und er­schi­en ei­gent­lich nur bei den Mahl­zei­ten, nach de­nen sie so­fort wie­der ver­schwand, um sich die üb­ri­ge Zeit auf ih­rem Zim­mer ein­zu­sch­lies­sen.

Ihr Ge­sichts­aus­druck deu­te­te auf Her­zens­gü­te. Trotz ih­rer zwei­und­vier­zig Jah­re mach­te sie aber einen viel äl­te­ren Ein­druck. Ihr Blick war sanft und trau­rig; sie war von je­her in der Fa­mi­lie als eine Null be­trach­tet wor­den.

Als Kind war sie we­der hübsch noch an­zie­hend; nie­mand gab ihr einen Kuss. Ru­hig und be­schei­den hock­te sie in ih­rem Win­kel. Seit­dem war sie un­be­ach­tet ge­blie­ben, selbst als jun­ges Mäd­chen.

Sie war so eine Art Fa­mi­li­en-An­häng­sel, ein le­ben­des Mö­bel, wel­ches man je­des Jahr zu se­hen ge­wohnt war, um das sich aber im Üb­ri­gen nie­mand groß küm­mer­te.

Ihre Schwes­ter be­trach­te­te sie gleich al­len im El­tern­hau­se, wie ein et­was schwach­sin­ni­ges, durch­aus un­be­deu­ten­des We­sen. Man be­han­del­te sie mit un­ge­zwun­ge­ner Ver­trau­lich­keit, in der aber man­ches­mal et­was her­ab­las­sen­de Güte lag. Sie hiess Lie­se, aber die­ser schmu­cke ju­gend­li­che Name schi­en ihr selbst mit­un­ter un­be­quem zu sein. Als man sah, dass sie kei­nen Mann fand und auch wohl si­cher war, dass sie nie­mals einen fin­den wür­de, tauf­te man sie in Li­son um. Seit Jo­han­nas Ge­burt war sie zur »Tan­te Li­son« avan­ciert. Aber sie blieb die un­be­deu­ten­de über­all zu­rück­ge­setz­te Ver­wand­te, die sich vor Al­len fürch­te­te, selbst vor ih­rer Schwes­ter und ih­rem Schwa­ger, ob­gleich die­se ihr zu­ge­tan wa­ren. Es fehl­te die­ser Zu­nei­gung in­des­sen der war­me herz­li­che Aus­druck; sie hat­te viel­mehr et­was von Mit­leid und na­tür­li­chem Wohl­wol­len an sich.

Wenn die Baro­nin zu­wei­len von fern­lie­gen­de­ren Er­eig­nis­sen aus ih­rer Ju­gend­zeit sprach, be­merk­te sie zur Be­zeich­nung ei­nes Da­tums: »Das war, als Li­son ih­ren Ein­fall hat­te.« Man sprach nie mehr dar­über; und so blieb die­ser »Ein­fall« stets in ein ge­wis­ses Dun­kel gehüllt.

Ei­nes Abends näm­lich hat­te Lise, als sie un­ge­fähr zwan­zig Jahr alt war, sich ins Was­ser ge­stürzt, ohne dass man den Grund da­für er­ra­ten konn­te. Nichts in ih­rer Le­bens­wei­se, in ih­rem gan­zen Ge­ba­ren ließ die­ses Er­eig­nis vor­her­se­hen. Halb­tot hat­te man sie aus dem Was­ser ge­zo­gen, und die El­tern ho­ben er­staunt und ent­rüs­tet die Arme in die Höhe. Aber statt nach der ge­heim­nis­vol­len Ur­sa­che die­ses Schrit­tes zu for­schen, be­schränk­ten sie sich dar­auf, von Li­ses »Ein­fall« zu spre­chen, wie sie von dem Un­fall des Pfer­des »Coco« spra­chen, das kurz vor­her in ei­nem Wa­ge­ge­lei­se das Bein ge­bro­chen hat­te und in­fol­ge­des­sen ge­tö­tet wer­den muss­te.

Seit­dem galt Lise und spä­ter Li­son als schwach­sin­nig. Die mil­de Herab­las­sung, mit der ihre Ver­wand­ten sie be­han­del­ten, über­trug sich lang­sam auch auf ihre sons­ti­ge Um­ge­bung. Selbst die klei­ne Jo­han­na hat­te in ih­rer Ju­gend mit dem na­tür­li­chen In­stinkt der Kin­der bald her­aus, dass es sich nicht loh­ne, ihr viel Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Nie­mals kam sie auf ihr Zim­mer, nie­mals schmieg­te sie sich zärt­lich an sie, oder stieg sie auf ihr Bett, um sie zu küs­sen. Nur die Kam­mer­zo­fe Ro­sa­lie, wel­che ihr Zim­mer be­sorg­te, schi­en zu wis­sen, wo ihr Bett stand.

Wenn Tan­te Li­son zum Früh­stück im Spei­se­zim­mer er­schi­en, so ging die Klei­ne ge­wohn­heits­mäs­sig hin, um ihr die Stirn zum Kus­se zu bie­ten; aber das war auch so ziem­lich al­les.

Wenn man sie spre­chen woll­te, so schick­te man einen Dienst­bo­ten um sie. Im Üb­ri­gen be­schäf­tig­te man sich in ih­rer Ab­we­sen­heit nicht viel mit ihr. Nie­mals wur­de an sie ge­dacht und nie­mals wür­de man ge­hört ha­ben, dass je­mand etwa mit Be­sorg­nis ge­fragt hät­te: Wo nur Li­son die­sen Mor­gen bleibt?

Sie füll­te eben kei­nen Platz im Le­ben aus; sie war ei­nes je­ner We­sen, die selbst ih­ren An­ver­wand­ten fremd blei­ben, weil sich nie­mand die Mühe gibt, sie zu er­for­schen. Ihr Tod hät­te kei­ne Lücke im Fa­mi­li­en­krei­se zu­rück­ge­las­sen; sie ver­stand es we­der sich in das Le­ben, noch in die Ge­wohn­heit, noch selbst in die Zu­nei­gung je­ner ein­zu­füh­ren, wel­che mit ihr zu­sam­men leb­ten.

Wenn von »Tan­te Li­son« die Rede war, so be­rühr­ten die­se Wor­te so­zu­sa­gen kei­ne wär­me­re Stel­le in Je­man­des Her­zen. Es war ge­ra­de so, als wenn vom »Cafétier« oder vom »Zucker­bä­cker« die Rede ge­we­sen wäre.

Sie ging stets mit kur­z­en lei­sen Schrit­ten, ohne Geräusch zu ma­chen, stiess nir­gends an oder schi­en doch we­nigs­tens die Ei­gen­schaft zu ha­ben, kei­nem Ge­gen­stand einen Ton zu ent­lo­cken. Ihre Hän­de muss­ten wie von Wat­te sein; so zart und leicht be­han­del­te sie al­les, was sie an­fass­te.

Ge­gen Mit­te Juli traf sie die­ses Mal in Peup­les ein, ganz über­rascht durch den Ge­dan­ken an die­se Hei­rat, und mit Ge­schen­ken be­la­den, die, weil von ihr her­rüh­rend, fast un­be­ach­tet blie­ben. Seit dem Mon­ta­ge, wo sie an­ge­kom­men war, wuss­te man kaum, dass sie da sei.

Aber in ih­rem ei­ge­nen In­nern voll­zog sich eine aus­ser­ge­wöhn­li­che Be­we­gung, und sie wand­te ihre Au­gen kaum von dem Braut­paa­re. Mit ganz ei­gen­tüm­li­cher, fast fie­ber­haf­ter Ener­gie wid­me­te sie sich dem Trous­seau Jo­han­nas und ar­bei­te­te wie eine ein­fa­che Näh­mam­sell den gan­zen Tag dar­an auf ih­rem Zim­mer, wo­hin nie­mand kam, sich nach ihr um­zu­se­hen.

Je­den Au­gen­blick brach­te sie der Baro­nin selbst­ge­säum­te Ta­schen­tü­cher, Ser­vi­et­ten, in de­nen sie die Mo­no­gram­me ein­ge­stickt hat­te und frag­te: »Ist das gut so, Ade­laï­de?« Und in­dem die Baro­nin al­les mit gleich­gül­ti­ger Mie­ne mus­ter­te, ant­wor­te­te sie: »Gib Dir doch nicht so viel Mühe, Li­son!«

Einst­mals ge­gen Ende des Mo­nats stieg nach ei­nem sehr heis­sen Tage der Mond in ei­ner je­ner kla­ren lau­en Som­mer­näch­te auf, wel­che un­will­kür­lich zum Her­zen ge­hen und zärt­li­che Re­gun­gen, wun­der­sa­me Ge­füh­le, mit ei­nem Wort die gan­ze ge­hei­me Poe­sie der See­le in dem­sel­ben er­we­cken. Von den Fel­dern her drang ein lau­er wür­zi­ger Duft in den Sa­lon. Die Baro­nin und ihr Gat­te spiel­ten beim Lam­pen­licht eine Par­tie Kar­ten; Tan­te Li­son sass bei ih­nen und hä­kel­te, wäh­rend die jun­gen Leu­te vom Fens­ter aus den in vol­ler Klar­heit da­lie­gen­den Gar­ten be­trach­te­ten. Die Lin­de und die Pla­ta­ne war­fen ihre Schat­ten auf den großen Ra­sen­platz, der sich mit sei­nem fah­len Schim­mer bis zu dem ganz dunklen Bos­quet da­hin­ter aus­dehn­te.

Der sanf­te Reiz die­ser Nacht mit der duf­ti­gen Be­leuch­tung von Bäu­men und Häu­sern zog Jo­han­na mäch­tig an.

»Mama, wir möch­ten einen Gang auf dem Ra­sen hier vorn ma­chen«, wand­te sie sich zu ih­ren El­tern.

»Geht nur, lie­be Kin­der«, sag­te der Baron, ohne von sei­nem Spiel auf­zu­se­hen.

Sie gin­gen fort und wan­del­ten lang­sam auf der großen lich­ten Flä­che bis zum klei­nen Ge­hölz im Hin­ter­grun­de.

Die Zeit ver­rann, ohne dass sie an die Rück­kehr dach­ten. Die Baro­nin spür­te Mü­dig­keit und wünsch­te zu Bett zu ge­hen.


»Wir möch­ten doch un­ser Pär­chen her­ein­ru­fen«, mein­te sie.

Der Baron ließ sei­nen Blick durch den großen Park schwei­fen, wo die bei­den Schat­ten sanft da­hing­lit­ten.

»Lasst sie nur«, ent­geg­ne­te er, »es ist so hübsch da draus­sen. Li­son wird schon auf sie war­ten; nicht wahr, Li­son?«

Das alte Fräu­lein schlug die Au­gen ängst­lich auf und sag­te mit furcht­sa­men Tone:

»Ge­wiss, ich wer­de schon war­ten.«

Pa­pa­chen stütz­te die Baro­nin.

»Ich wer­de mich auch schla­fen le­gen«, sag­te er, von der Hit­ze des Ta­ges selbst et­was an­ge­grif­fen.

Nun er­hob sich Tan­te Li­son ih­rer­seits, leg­te die an­ge­fan­ge­ne Ar­beit, ihre Wol­le und die große Hä­kel­na­del auf einen Ses­sel und beug­te sich zum Fens­ter in die lieb­li­che Som­mer­nacht hin­aus.

Die bei­den Ver­lob­ten gin­gen ohne Un­ter­lass über den Ra­sen vom Bos­quet zur Ram­pe und von der Ram­pe wie­der zum Bos­quet. Sie drück­ten sich die Hän­de ohne viel zu spre­chen, gleich als ob die See­le den Kör­per ver­las­sen hät­te, um sich mit dem poe­ti­schen Reiz die­ser kla­ren Som­mer­nacht zu ver­schmel­zen.

Plötz­lich be­merk­te Jo­han­na die Ge­stalt des al­ten Fräu­leins, wel­che sich von der Hel­le des Zim­mers deut­lich im Fens­ter­rah­men ab­hob.

»Sieh nur«, sag­te sie, »Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns!«

»Ja, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns«, sag­te der Vi­com­te nach ei­nem flüch­ti­gen Bli­cke, ge­dan­ken­los, mit gleich­gül­ti­gem Tone.

Und sie setz­ten traum­ver­lo­ren ih­ren Spa­zier­gang fort.

Als der Tau zu fal­len be­gann und es merk­lich küh­ler wur­de, sag­te sie:

»Wir wol­len doch lie­ber her­ein­ge­hen.«

Und sie kehr­ten heim.

Als sie den Sa­lon be­tra­ten, sass Tan­te Li­son wie­der bei ih­rer Hä­ke­lei, den Kopf tief über ihre Ar­beit ge­beugt. Ihre ma­ge­ren Fin­ger zit­ter­ten leicht wie von Über­mü­dung.

»Es wird Zeit zum Schla­fen­ge­hen, Tan­te«, sag­te Jo­han­na, sich ihr nä­hernd.

Das alte Fräu­lein schlug die Au­gen auf; sie wa­ren wie vom Wei­nen ge­rötet. Die Ver­lob­ten hat­ten kein Acht dar­auf; viel­mehr be­trach­te­te der jun­ge Mann mit ängst­li­chem Blick die fei­nen Schüh­chen sei­ner Braut, die ganz mit Tau be­deckt wa­ren.

»Hast Du nicht kalt an Dei­nen lie­ben klei­nen Füss­chen?« frag­te er zärt­lich.

Die Fin­ger der Tan­te wur­den plötz­lich von so hef­ti­gem Zit­tern be­fal­len, dass ihr die Ar­beit ent­sank; der Woll­knäu­el roll­te weit über das Par­kett. Sie barg das Ge­sicht in den Hän­den und be­gann plötz­lich krampf­haft zu schluch­zen.

Er­staunt sa­hen die bei­den Ver­lob­ten sie an, ohne ein Wort zu sa­gen. Dann aber sank Jo­han­na auf die Knie, um­schlang sie mit ih­ren Ar­men und frag­te tief er­grif­fen:

»Aber was hast Du nur, Tan­te Li­son; was fehlt Dir doch nur?«

»Ach, als er Dich frag­te«, stam­mel­te die Ärms­te mit trä­nen­er­stick­ter Stim­me und kon­vul­si­vi­schem Zu­cken, »ob Du … an … Dei­nen … lie­ben … klei­nen … Füs­sen … nicht kalt hät­test … Mir hat man … so et­was … nie ge­sagt … ach nie … nie …!«

Jo­han­na war so über­rascht von die­sem Ge­fühls­aus­bruch, dass sie bei dem Ge­dan­ken an einen Lieb­ha­ber, der Tan­te Li­son Zärt­lich­kei­ten zu­flüs­ter­te, er­bar­mungs­los bei­na­he laut auf­ge­lacht hät­te. Der Vi­com­te wand­te sich ab, um sei­ne Hei­ter­keit zu ver­ber­gen.

 

Dann er­hob sich die Tan­te plötz­lich, ließ ihre Ar­beit im Stich und such­te im Dun­keln mit tas­ten­den Schrit­ten die Trep­pe zu ih­rem Zim­mer.

Al­lein ge­las­sen, sa­hen sich die bei­den jun­gen Leu­te lus­tig und zärt­lich zu­gleich an.

»Die arme Tan­te! …« mur­mel­te Jo­han­na.

»Sie muss heu­te Abend nicht ganz bei Trost sein«, mein­te Ju­li­us.

Es wur­de ih­nen schwer sich zu tren­nen; sie drück­ten sich im­mer wie­der die Hän­de, und lei­se, ganz lei­se ga­ben sie sich den ers­ten Kuss vor dem großen Ses­sel, den Tan­te Li­son so­eben ver­las­sen hat­te.

Am an­de­ren Tage dach­ten sie schon nicht mehr an die Trä­nen des al­ten Fräu­leins.

Die bei­den letz­ten Wo­chen vor der Hoch­zeit ver­brach­te Jo­han­na ziem­lich still und ru­hig, als wenn sie von den süs­sen Re­gun­gen des Braut­stan­des er­mü­det sei.

Am Mor­gen des ent­schei­den­den Ta­ges war es ihr nicht mehr mög­lich, über ir­gen­det­was kla­re Ge­dan­ken zu fas­sen. Sie fühl­te et­was wie eine große Lee­re in ih­rem gan­zen Kör­per; es war, als ob ihr gan­zes In­ne­re, ihr Herz, ihr Hirn, ihre Ge­bei­ne selbst den Dienst ver­sag­ten. Wenn sie et­was an­fass­te, so fühl­te sie, dass sie hef­tig zit­ter­te.

Erst im Chor der Kir­che vor Be­ginn des Got­tes­diens­tes fand sie ihre Selbst­be­herr­schung wie­der.

Ver­hei­ra­tet! So war sie also ver­hei­ra­tet! Al­les was sie seit Ta­ge­s­an­bruch ge­dacht, er­lebt und emp­fun­den hat­te, er­schi­en ihr wie ein Traum. In sol­chen Mo­men­ten kommt ei­nem al­les wie aus­ge­wech­selt vor; die Be­we­gun­gen und Mie­nen ge­win­nen eine an­de­re Be­deu­tung, ja selbst die Stun­den schei­nen nicht mehr in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge zu sein.

Sie war ver­wirrt und über al­les er­staunt. Am Abend vor­her war noch al­les beim Al­ten ge­we­sen; höchs­tens hat­te sie ge­fühlt, dass das, was sie er­hoff­te, nun ganz nahe, bei­na­he greif­bar sei. Als jun­ges Mäd­chen war sie ein­ge­schla­fen, jetzt war sie eine jun­ge Frau.

Sie hat­te also die Schran­ke über­schrit­ten, jen­seits wel­cher die Zu­kunft mit all’ ih­ren Freu­den, all’ ih­rem er­träum­ten Glücke lag. Vor ihr schi­en eine Tür of­fen zu ste­hen; sie trat durch die­sel­be ein in das er­war­te­te Pa­ra­dies.

Die Fei­er­lich­keit war zu Ende. Da nie­mand ein­ge­la­den war, so be­tra­ten sie fast al­lein die Sa­kris­tei.

Als sie beim Ver­las­sen der Kir­che un­ter dem Por­ta­le er­schie­nen, stutz­te die jun­ge Frau vor ei­nem mäch­ti­gen Krach, der die Luft er­schüt­ter­te und der Baro­nin einen Schrei er­press­te. Die Land­leu­te hat­ten eine Sal­ve ab­ge­feu­ert, de­ren Wi­der­hall, im­mer wie­der durch neue Schüs­se ge­weckt, sich bis zum Schlos­se Peup­les fort­setz­te.

Für die Fa­mi­lie, die bei­den Pfar­rer, den Maire und ei­ni­ge Zeu­gen, die man un­ter den grös­se­ren Guts­be­sit­zern der Um­ge­gend aus­ge­sucht hat­te, war im Schlos­se ein Früh­stück an­ge­rich­tet.

Nach dem­sel­ben wur­de vor dem Di­ner ein Spa­zier­gang ge­macht; der Baron, die Baro­nin, Tan­te Li­son, der Maire und der Abbé Pi­cot durch­wan­der­ten die Al­lee der Mama, wäh­rend in der ge­gen­über­lie­gen­den der an­de­re Pfar­rer, mit großen Schrit­ten auf- und ab­wan­delnd, sein Bre­vier be­te­te.

Von der an­de­ren Sei­te des Schlos­ses ver­nahm man den aus­ge­las­se­nen Ju­bel der Land­leu­te und Fi­scher, die un­ter den Obst­bäu­men mit Ci­der re­ga­liert wur­den. Die gan­ze Um­ge­gend war hier im Sonn­tags­staat ver­sam­melt; die Bur­schen und jun­gen Mäd­chen trie­ben al­ler­lei mun­te­re Spie­le.

Jo­han­na und Ju­li­us gin­gen zu­sam­men durch das Bos­quet, stie­gen die klei­ne An­hö­he hin­an und be­trach­te­ten das aus­ge­brei­te­te Meer. Trotz der Au­gust­son­ne weh­te ein küh­les Lüft­chen; aber der Him­mel er­glänz­te in lich­tem rei­nen Blau.

Die jun­gen Leut­chen durch­schrit­ten die Hei­de, um zu dem lieb­li­chen Tale zu ge­lan­gen, wel­ches sich mit sei­nem Ge­hölz bis Yport er­streck­te. So­bald sie das­sel­be be­tre­ten hat­ten, war kaum noch ein Luft­zug zu ver­spü­ren. Sie ver­lies­sen den Haupt­weg und ver­folg­ten einen schma­len Pfad, der sich un­ter dem Ge­büsch ver­lor. Es war hier kaum noch Platz für Zweie und Jo­han­na fühl­te plötz­lich, wie ein Arm sich lang­sam um ihre Tail­le leg­te.

Sie sag­te nichts; nur ihr kur­z­er Atem und das Klop­fen ih­res Her­zens ga­ben Kun­de von ih­ren Ge­füh­len. Die nied­ri­gen Zwei­ge streif­ten ihre Stirn, so­dass sie die­sel­ben oft­mals zur Sei­te bie­gen muss­ten. Als sie ein Blatt ab­ge­ris­sen hat­te, be­merk­te sie un­ter dem­sel­ben ein Paar Mut­ter­got­tes­kä­fer­chen, die sich wie zwei klei­ne rote Schne­cken dort fest­ge­klam­mert hiel­ten.

»Sieh’ mal, Mann und Frau!« sag­te sie un­schul­dig.

»Heu­te Abend wirst Du auch mei­ne Frau sein« flüs­ter­te Ju­li­us ihr ins Ohr.

Ob­schon sie wäh­rend ih­res Le­bens auf dem Lan­de schon man­ches ge­se­hen und ge­hört hat­te, fass­te sie doch noch die Lie­be rein von der poe­ti­schen Sei­te auf. Sei­ne Wor­te über­rasch­ten sie. Sei­ne Frau? war sie das denn nicht schon?

Jetzt über­häuf­te er sie plötz­lich mit un­zäh­li­gen Küs­sen auf Stirn und Na­cken, dort wo ihre Haa­re an­fin­gen. Un­ter dem Ein­druck die­ser un­ge­wohn­ten stür­mi­schen Zärt­lich­keit ei­nes Man­nes neig­te sie un­will­kür­lich den Kopf zur Sei­te, um den Küs­sen aus­zu­wei­chen, die ihr aber doch so wohl ta­ten.

Sie be­fan­den sich jetzt am Ran­de des Ge­höl­zes. Er­schreckt über die wei­te Ent­fer­nung vom Hau­se blieb Jo­han­na ste­hen. Was soll­te man nur den­ken?

»Lass uns um­keh­ren« sag­te sie.

Er zog den Arm von ih­rer Tail­le fort, und in­dem sie sich um­wand­ten, stan­den sie bei­de so nahe ge­gen­über, dass sie fast ih­ren Atem spür­ten. Sie sa­hen sich an und zwar mit ei­nem je­ner star­ren Bli­cke, die al­les durch­drin­gen und der Ver­schmel­zung zwei­er See­len glei­chen. Ihre Her­zen such­ten sich in ih­ren Au­gen, hin­ter den­sel­ben, als woll­ten sie ein We­sen er­grün­den, das ih­nen noch un­be­kannt, un­durch­dring­lich bis da­hin ge­blie­ben war. Sie prüf­ten sich ge­gen­sei­tig mit die­ser stum­men aber doch so aus­drucks­vol­len Fra­ge. Was wür­den sie sich sein? Wie wür­de sich das Le­ben ge­stal­ten, das sie jetzt mit­ein­an­der be­gan­nen? Wel­che Freu­den, wel­ches Glück oder wel­che Ent­täu­schung wür­de eins dem an­de­ren in die­sem lan­gen Zu­sam­men­sein ei­ner un­lös­li­chen Ehe be­rei­ten? Und es schi­en ih­nen bei­den, als hät­ten sie sich vor­her noch nie ge­se­hen.

Plötz­lich leg­te Ju­li­us bei­de Hän­de auf die Schul­tern sei­ner Frau und drück­te einen vol­len Kuss auf ihre Lip­pen, wie sie ihn bis da noch nicht emp­fan­gen hat­te. Er weil­te nicht auf ih­ren Lip­pen, die­ser Kuss, er pflanz­te sich durch ihr gan­zes In­ne­re fort, durch Mark und Bein. Sie fühl­te einen sol­chen ge­heim­nis­vol­len Schau­er, dass sie halb von Sin­nen mit bei­den Ar­men Ju­li­us zu­rück­dräng­te, wo­bei sie bei­na­he hin­ten­über ge­fal­len wäre. »Lass uns ge­hen, lass uns ge­hen« stam­mel­te sie ver­wirrt.

Er ant­wor­te­te nichts und er­griff ihre bei­den Hän­de, die er den gan­zen Weg über nicht wie­der los­liess.

Bis zu Hau­se wech­sel­ten sie kein Wort mehr. Der Rest des Nach­mit­tags er­schi­en ih­nen sehr lang.

Ge­gen Abend setz­te man sich zu Ti­sche. Das Di­ner war, ganz ge­gen die sons­ti­gen Ge­bräu­che in der Nor­man­die, kurz und ein­fach. Es lag wie eine Art Ver­le­gen­heit auf al­len Teil­neh­mern. Nur die bei­den Pfar­rer, der Maire und die vier ge­la­de­nen Land­leu­te zeig­ten ei­ni­ger­mas­sen eine ge­wis­se aus­ge­las­se­ne hoch­zeit­li­che Stim­mung.

Wenn sie zu la­chen auf­hör­ten, so reiz­te sie ein Witz des Mai­res aufs Neue dazu. Ge­gen neun Uhr un­ge­fähr nahm man den Kaf­fee ein. Draus­sen un­ter den Obst­bäu­men im ers­ten Hofe be­gann der länd­li­che Rei­gen. Durch die of­fe­nen Fens­ter konn­te man den Fest­platz über­se­hen. An den Bäu­men wa­ren Pa­pier­la­ter­nen auf­ge­hängt und lies­sen den gan­zen Raum in grün­lich-gel­bem Lich­te er­schim­mern. Männ­lein und Weib­lein hüpf­ten beim Klan­ge ei­nes ei­gen­ar­ti­gen nor­man­ni­schen Lie­des in der Run­de, zu dem zwei Vio­li­nen und eine Kla­ri­net­te auf ei­nem als Tri­bü­ne die­nen­den Kü­chen­ti­sche eine et­was dün­ne Beglei­tung spiel­ten. Der lau­te Ge­sang der Tan­zen­den über­tön­te voll­stän­dig die In­stru­men­te; nur hin und wie­der klan­gen ihre ma­ge­ren Töne durch das Ge­joh­le hin­durch, als wenn sie von Oben her dazu auf­spiel­ten.