Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Lan­ge, end­los lan­ge, träum­te sie so fort, wäh­rend der Mond das Ende sei­ner Bahn er­reich­te und lang­sam ins Meer un­ter­zut­au­chen be­gann. Die Luft wur­de fri­scher. Im Os­ten bleich­te der Ho­ri­zont. Rechts auf der Farm kräh­te ein Hahn; von der an­de­ren Sei­te er­hielt er Ant­wort. Durch die Wän­de des Stal­les ge­dämpft schie­nen ihre Stim­men von sehr weit her zu kom­men. An dem un­er­mess­li­chen Him­mels­do­me, der sich im­mer mehr er­hell­te, ver­lösch­ten die Ster­ne.

Der Ruf ei­nes Vo­gels er­schall­te. Ein Zwit­schern, an­fangs schwach und ängst­lich, drang aus dem Ge­büsch; dann wur­de es lau­ter, zu­ver­sicht­li­cher freu­di­ger, und end­lich klang es ju­belnd wei­ter von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch.

Jo­han­na sah sich plötz­lich von strah­len­der Hel­le um­ge­ben; und als sie das Haupt hob, das bis da zwi­schen ih­ren Hän­den ge­ruht hat­te, schloss sie die Au­gen, ge­blen­det vom Wi­der­schein der Mor­gen­rö­te.

Ein pur­pur­far­be­nes Wol­ken­ge­bir­ge, zum Teil noch hin­ter der großen Pap­pel-Al­lee ver­steckt, warf blu­tig­ro­te Licht­strei­fen auf die wie­der­er­wach­te Erde.

Und lang­sam die Wol­ken tei­lend, die Bäu­me, die Wie­sen, den Ozean, den gan­zen Ho­ri­zont end­lich mit feu­ri­gem Lich­te über­flu­tend, ging der flam­men­de Son­nen­ball auf.

Jo­han­na war wie vom Glück be­rauscht.

Eine kin­di­sche Freu­de, eine zärt­li­che Be­wun­de­rung der herr­li­chen Na­tur durch­drang ihr Herz. Das war ihre Son­ne, ihr Mor­gen­rot! Der An­fang ih­res Le­bens! Das Er­ste­hen ih­rer Hoff­nun­gen! Sie brei­te­te ihre Arme ge­gen den Ho­ri­zont aus, als woll­te sie die Son­ne um­ar­men; sie woll­te spre­chen, ir­gen­det­was ru­fen, was eben­so er­ha­ben war, wie die­ser An­bruch des Ta­ges. Aber sie blieb wort­los, wie ge­bannt in ohn­mäch­ti­ger Be­geis­te­rung. Dann ver­hüll­te sie ihr Ant­litz mit den Hän­den, und Trä­nen, süs­se Trä­nen quol­len aus ih­ren Au­gen.

Als sie den Kopf wie­der er­hob, war der herr­li­che An­blick des an­bre­chen­den Ta­ges be­reits wie­der ver­schwun­den. Sie fühl­te sich be­ru­higt, et­was er­mat­tet und frös­tel­te leicht. Ohne je­doch das Fens­ter zu schlies­sen, leg­te sie sich zu Bett, träum­te noch ei­ni­ge Au­gen­bli­cke und schlief dann so fest ein, dass sie um acht Uhr nicht ein­mal von der Stim­me ih­res Va­ters er­weckt wur­de. Erst als die­ser ins Zim­mer trat, wach­te sie auf.

Er woll­te ihr die Ver­schö­ne­run­gen des Schlos­ses, »ih­res« Schlos­ses, zei­gen.

Die Faça­de, wel­che nach dem In­nern des Lan­des zu lag, war von dem Wege durch einen ge­räu­mi­gen, mit Obst­bäu­men be­pflanz­ten Hof ge­trennt. Die­ser Weg, der so­ge­nann­te Sei­ten­weg, führ­te zwi­schen Bau­ern­häu­sern hin­durch und er­reich­te eine hal­be Mei­le wei­ter die große Stras­se von Fe­camp nach Ha­vre. Eine schnur­ge­ra­de Al­lee führ­te von dem höl­zer­nen Git­ter bis zur Ram­pe des Schlos­ses. Die Wirt­schafts­ge­bäu­de, klei­ne Häu­ser aus Feld­stein, la­gen zu bei­den Sei­ten des Ho­fes längs der Grä­ben, wel­che die zwei Pacht­hö­fe von­ein­an­der trenn­ten.

Man hat­te die Dä­cher er­neu­ert, alle Schä­den aus­ge­bes­sert, die Mau­ern ge­flickt, Zim­mer neu ta­pe­ziert, das gan­ze In­ne­re des Schlos­ses von oben bis un­ten frisch an­ge­stri­chen. Das alte fins­te­re Ge­bäu­de hat­te an al­len Fens­tern wei­ße Blend­la­den er­hal­ten, die von wei­tem wie große Fle­cken aus­sa­hen; die große graue Faça­de war frisch ge­tüncht.

Von der an­de­ren Sei­te aus, wo­hin auch ein Fens­ter von Jo­han­nas Zim­mer ging, sah man über das Bos­quet und die le­ben­di­ge Mau­er der ge­knick­ten Ul­men hin­weg auf das Meer.

Jo­han­na und der Baron gin­gen Arm in Arm und sa­hen sich al­les an; auch der kleins­te Win­kel blieb nicht un­be­ach­tet. Dann wan­del­ten sie lang­sam in den lan­gen Pap­pel-Al­leen her­um, die den so­ge­nann­ten Park be­grenz­ten. Über­all brei­te­te sich un­ter den Bäu­men der üp­pig wu­chern­de Gras­tep­pich aus. Jo­han­na war ent­zückt, als sie jetzt die ver­schlun­ge­nen Pfa­de des dicht­be­laub­ten Bos­quets be­tra­ten. Ein plötz­lich auf­sprin­gen­der Hase ent­lock­te ihr un­will­kür­lich einen klei­nen Schre­ckens­schrei; dann aber schau­te sie ihm be­lus­tigt nach, wie er in großen Sät­zen durch das Ried­gras der Hü­gel­ket­te zu­eil­te.

Nach dem Früh­stück er­klär­te Ma­da­me Ade­laï­de, dass sie noch sehr er­schöpft sei und sich noch aus­ru­hen müs­se. Der Baron schlug da­her Jo­han­na einen Spa­zier­gang nach Yport vor.

Sie hat­ten bald das Dörf­chen Etou­ve­nt er­reicht, und die Land­leu­te, die ih­nen be­geg­ne­ten, grüss­ten sie wie alte Be­kann­te.

Jetzt be­tra­ten sie die Ge­höl­ze, wel­che sich, den Win­dun­gen ei­nes lang­sam ab­stei­gen­den Ta­les fol­gend, bis zur Küs­te hin­zie­hen.

Nach kur­z­er Zeit wa­ren sie bei Yport an­ge­langt. Ei­ni­ge Frau­en, die an der Türe ih­rer Woh­nun­gen sas­sen und Klei­dungs­stücke flick­ten, schau­ten ih­nen neu­gie­rig nach. Längs der ab­wärts füh­ren­den Stras­se floss ein klei­ner Bach. Zahl­rei­che Schmutz­hau­fen be­deck­ten den Bo­den; sie ström­ten einen kräf­ti­gen Ge­ruch aus, und die klei­nen Was­ser­tüm­pel, wel­che vor den Tü­ren der rau­chi­gen Häu­ser in der Son­ne trock­ne­ten, ver­ei­nig­ten ih­ren Dunst mit dem, der aus dem In­nern der dicht­be­wohn­ten Räu­me drang.

Ei­ni­ge Tau­ben such­ten am Ran­de des Ba­ches nach Nah­rung.

Jo­han­na be­trach­te­te al­les mit Neu­gier; es kam ihr vor wie die De­ko­ra­ti­on ei­nes Thea­ter­stückes.

Plötz­lich, als sie um eine Mau­er her­um­ka­men, lag das Meer vor ihr mit sei­nem ru­hi­gen tie­fen Blau so­weit das Auge reich­te.

Sie blie­ben ste­hen und be­trach­te­ten das ent­zücken­de Schau­spiel. In der Fer­ne tauch­ten ei­ni­ge Se­gel auf, weiß wie die Flü­gel ei­ner Möve. Rechts und links sah man die enor­men Fel­sen der Küs­te. Auf der einen Sei­te wur­de der Blick durch eine Art Vor­ge­bir­ge ge­hemmt, wäh­rend auf der an­de­ren Sei­te die Küs­te sich end­los aus­dehn­te, bis man nur noch einen schma­len lan­gen Strei­fen er­blick­te.

Ein Ha­fen und ei­ni­ge Häu­ser wur­den in ei­ner der nächs­ten Aus­buch­tun­gen sicht­bar; leich­te klei­ne Wel­len bra­chen sich am Ge­sta­de und um­ga­ben das Meer mit ei­nem schau­mi­gen wei­ßen Sau­me.

Fi­scher­bar­ken ruh­ten seit­wärts um­ge­stülpt auf den run­den Kie­seln des Stran­des; ihr mit grün­li­chem Moo­se be­deck­ter Kiel trock­ne­te in der Son­ne. Ei­ni­ge Fi­scher wa­ren mit der Her­rich­tung für die Zeit der abend­li­chen Flut be­schäf­tigt.

Ei­ner der­sel­ben nä­her­te sich ih­nen und bot Fi­sche zum Ver­kauf an. Jo­han­na nahm eine Gold­but­te, wel­che sie selbst nach Peup­les zu­rück­brin­gen woll­te.

Der Mann bot ih­nen dann noch sei­ne Diens­te für et­wai­ge Boots­fahr­ten an, in­dem er wie­der­holt sei­nen Na­men nann­te, da­mit sie ihn ja nicht ver­ges­sen möch­ten:

»Las­ti­que, Jo­se­phin Las­ti­que.«

Der Baron ver­sprach, an ihn zu den­ken.

Dann schlu­gen sie wie­der den Weg zum Schlos­se ein.

Da das Tra­gen des star­ken Fi­sches Jo­han­na er­mü­de­te, so scho­ben sie den Stock ih­res Va­ters durch sei­ne Kie­men und fass­ten je­der ein Ende des­sel­ben an. Ver­gnügt und hei­ter plau­dernd wie zwei Kin­der stie­gen sie den Weg nach Etou­ve­nt hin­an. Der leich­te See­wind um­spiel­te ihre Stir­nen, wäh­rend der Fisch, an dem sie ge­hö­rig zu tra­gen hat­ten, mit sei­nem fet­ten Schwan­ze hin und her schwank­te.

*

II.

Ein herr­li­ches frei­es Le­ben hat­te jetzt für Jo­han­na be­gon­nen. Sie las, träum­te und trieb sich ganz al­lein in der Um­ge­gend her­um. Bald wan­del­te sie lang­sa­men Schrit­tes traum­ver­lo­ren längs der Stras­se, bald hüpf­te sie wie ein jun­ges Reh durch die zahl­rei­chen klei­nen wildro­man­ti­schen Tä­ler. Der star­ke wür­zi­ge Duft, den die Blu­men im Gra­se aus­ström­ten, war ihr der liebs­te Par­fum, und stun­den­lang lausch­te sie, von den­sel­ben um­ge­ben, dem ein­schlä­fern­den Geräusch der in der Fer­ne rol­len­den Bran­dung.

Zu­wei­len, wenn sie bei der Bie­gung ei­nes Ta­les plötz­lich am Ran­de des grü­nen Ra­sen­strei­fens den bläu­li­chen Schim­mer des Mee­res be­merk­te, über wel­ches sich ein leich­ter Dunst­schlei­er la­ger­te, kam es über sie wie die Hoff­nung auf das Na­hen ir­gend ei­nes ge­heim­nis­vol­len Glückes.

Sie lieb­te die Ein­sam­keit in die­ser süs­sen er­qui­cken­den Fri­sche der Land­luft mit ih­rer ma­je­stä­ti­schen Ruhe. Oft sass sie so lan­ge auf dem Gip­fel ei­nes Hü­gels, dass die Ka­nin­chen ihre Furcht ver­gas­sen und sich lus­tig zu ih­ren Füs­sen tum­mel­ten.

Dann eil­te sie wie­der wie von ei­nem leicht­be­schwing­ten Lüft­chen ge­tra­gen an die Küs­te. Gleich den Fi­schen im Was­ser und den Schwal­ben in der Luft ge­noss sie in vol­len Zü­gen die Freu­de der frei­en Be­we­gung.

Über­all brach­te sie klei­ne Erin­ne­rungs­zei­chen an, je­ner Art von Erin­ne­run­gen, die bis zum Tode fest­wur­zeln. Es war ihr, als ver­steck­te sie ein Teil­chen ih­res ei­ge­nen Her­zens an all’ den ver­bor­ge­nen Plätz­chen die­ser stil­len Tä­ler.

Mit Lei­den­schaft ba­de­te sie in der See; kräf­tig und mu­tig wie sie war, dach­te sie an kei­ne Furcht und tauch­te häu­fig tief un­ter. Das kla­re blaue Was­ser, wel­ches sie schau­kelnd auf sei­nem Rücken trug, tat ihr mit sei­ner er­qui­cken­den Fri­sche un­end­lich wohl. War sie weit ge­nug vom Ufer, so leg­te sie sich auf den Rücken, kreuz­te die Arme über der Brust und starr­te traum­ver­lo­ren zum azur­far­be­nen Him­mel em­por, an dem pfeil­schnell die Schwal­ben oder wei­ße Mö­ven vor­über­schos­sen. Nur von Wei­tem hör­te sie das Mur­meln der Wel­len am Stran­de und das un­be­stimm­te Geräusch des vom Was­ser ge­streif­ten Kie­ses. Dann dreh­te sie sich oft rasch um und teil­te jauch­zend mit kräf­ti­gen Ar­men die Flut.

 

Hin und wie­der, wenn sie sich all­zu weit vor­ge­wagt hat­te, fuhr wohl ein Fi­scher mit sei­ner Bar­ke her­aus, sie zu­rück­zu­ho­len.

Bleich vor Hun­ger, aber er­leich­tert und ge­kräf­tigt, ein Lä­cheln auf den Lip­pen und mit ei­nem Strahl des Glückes in den Au­gen kehr­te sie dann ins Schloss zu­rück.

Der Baron sei­ner­seits war mit großen land­wirt­schaft­li­chen Un­ter­neh­mun­gen be­schäf­tigt. Er woll­te neue Ver­su­che an­stel­len, Ver­bes­se­run­gen ein­füh­ren, neue Ma­schi­nen an­schaf­fen, sei­nen Vieh­be­stand durch frem­de Ras­sen ver­voll­komm­nen. Ei­nen Teil des Ta­ges brach­te er in Ge­sprä­chen hier­über mit sei­nen Päch­tern und Nach­barn zu, wel­che meis­tens un­gläu­big zu sei­nen Plä­nen mit den Ach­seln zuck­ten.

Zu­wei­len fuhr er auch mit den Fi­schern von Yport auf die See. Nach­dem er die Grot­ten, Quel­len und Hü­gel der Um­ge­bung hin­rei­chend ken­nen ge­lernt hat­te, woll­te er auch ’mal wie ein ein­fa­cher Fi­scher rich­tig fi­schen.

Wenn eine güns­ti­ge Bri­se weh­te, wenn die Bar­ke mit ge­bläh­tem Se­gel über die Wo­gen da­hin zog und auf je­der Sei­te über den Mee­res­grun­de die große Lei­ne schlepp­te, der die Scha­ren von Ma­kre­len fol­gen, dann hielt er mit auf­ge­regt zit­tern­der Hand die klei­ne Schnur, de­ren Zu­cken so­fort an­zeigt, dass ein ge­fan­ge­ner Fisch zap­pelt.

Im Mond­schein fuhr er aus, um die Net­ze auf­zu­neh­men, die man tags zu­vor aus­ge­wor­fen hat­te. Er er­götz­te sich an dem Knar­ren des Mas­tes und er­quick­te sich an dem fri­schen küh­len­den Hau­che des Nacht­win­des. Wenn er dann lan­ge ge­kreuzt hat­te, um die Bo­jen wie­der auf­zu­fin­den, in­dem er sich nach ei­ner Felss­pit­ze, nach dem Da­che ei­nes Kirch­turms und dem Leucht­turm von Fe­camp ein­rich­te­te, mach­te es ihm ein Haupt­ver­gnü­gen, das ers­te Auf­leuch­ten der Son­ne zu be­trach­ten, de­ren Strah­len den schlei­mi­gen Rücken der Ro­chen und den fet­ten Bauch der See­zun­gen auf dem Bo­den der Bar­ke ver­gol­de­ten.

Bei je­der Rück­kehr er­zähl­te er aufs Neue mit Be­geis­te­rung von sei­nen Aus­fahr­ten. Müt­ter­chen ih­rer­seits schil­der­te dann, wie viel­mal sie die lan­ge Pap­pel-Al­lee auf- und ab­ge­gan­gen sei. Sie hat­te die zur Rech­ten nach dem Pacht­hof der Couil­lards zu ge­wählt, weil die an­de­re links nicht son­nig ge­nug war.

Weil man ihr emp­foh­len hat­te, einen »rich­ti­gen Spa­zier­gang« zu ma­chen, war sie ganz er­picht dar­auf. So­bald die fri­sche Mor­gen­luft et­was nach­ge­las­sen hat­te, stieg sie, auf Ro­sa­li­ens Arm ge­stützt, die Trep­pe hin­ab, in einen Man­tel und zwei Shawls gehüllt, auf dem Kop­fe einen dich­ten Hut, über den sie noch ein ro­tes Tuch ge­schla­gen hat­te. Dann be­gann sie eine end­lo­se Rei­se auf ge­ra­der Li­nie im­mer zwi­schen der Um­zäu­nung des Schloss­ho­fes und den ers­ten Sträu­chern des Bos­quets. Den lin­ken Fuss, der et­was an­ge­schwol­le­ner war, schlepp­te sie hier­bei nach, und es hat­ten sich in Fol­ge des­sen auf der gan­zen Stre­cke des We­ges zwei Strei­fen ge­bil­det, der eine vom Hin- und der an­de­re vom Zu­rück­ge­hen, auf de­nen das Gras völ­lig ab­ge­stor­ben war. An je­dem Ende die­ser Pro­me­na­de hat­te sie eine Bank an­brin­gen las­sen, und alle fünf Mi­nu­ten mach­te sie Halt, in­dem sie zu ih­rer gu­ten ge­dul­di­gen Beglei­te­rin sag­te: »Wir wol­len uns set­zen, lie­bes Kind, ich bin et­was müde.«

Und bei je­dem Halt leg­te sie auf eine der Bän­ke bald das Kopf­tuch ab, bald einen Shawl, dann den an­de­ren, fer­ner den Hut und schliess­lich den Man­tel, so­dass Ro­sa­lie auf ih­rem frei­ge­blie­be­nen Arm ein ganz an­sehn­li­ches Packet zu tra­gen hat­te, bis man zum Früh­stück ins Schloss zu­rück­kehr­te.


Nach­mit­tags be­gann die Baro­nin ih­ren Spa­zier­gang aufs Neue, nur et­was we­ni­ger has­tig und mit grös­se­ren Ru­he­pau­sen. Sie leg­te hin und wie­der wohl auch ein Schlum­mer­stünd­chen ein, wel­ches sie auf ei­ner Chai­se­longue ver­brach­te, die man nach draus­sen ge­rollt hat­te.

Sie nann­te das »ihre Übung« ma­chen, wie sie auch stets von »ih­rer Hy­per­tro­phie« sprach.

Vor zehn Jah­ren hat­te sie einen Arzt we­gen ih­rer Be­klem­mun­gen ge­fragt, und die­ser hat­te je­nes Wort zum ers­ten Male ge­braucht. Ohne den Aus­druck rich­tig zu ver­ste­hen, hat­te sie seit­dem sich das Wort »Hy­per­tro­phie« völ­lig zu ei­gen ge­macht. Hart­nä­ckig ließ sie den Baron, ihre Toch­ter und Ro­sa­lie nach ih­rem Her­zen füh­len, des­sen Schlag nie­mand mehr ent­de­cken konn­te; so sehr war es durch die Fett­bil­dung ih­res Ober­kör­pers ver­deckt. Da­ge­gen lehn­te sie es ener­gisch ab, sich von ei­nem zwei­ten Arz­te un­ter­su­chen zu las­sen, aus Furcht, die­ser könn­te ir­gend ein an­de­res Übel ent­de­cken. So blieb sie da­bei, je­der­zeit von »ih­rer« Hy­per­tro­phie zu spre­chen, so­dass man glau­ben konn­te, es sei dies ihre be­son­de­re Krank­heit, ihre Spe­zia­li­tät so­zu­sa­gen, auf die nie­mand an­de­res ein An­recht hät­te.

Der Baron sag­te »die Hy­per­tro­phie mei­ner Frau« und Jo­han­na sprach von »Ma­mas Hy­per­tro­phie«, wie wenn man von den Klei­dern, Hü­ten oder dem Re­gen­schirm der Baro­nin ge­spro­chen hät­te.

Sie war in ih­rer Ju­gend sehr hübsch und schlan­ker wie ein Schilf­rohr ge­we­sen. Nach­dem sie der Rei­he nach mit al­len Waf­fen­gat­tun­gen des Kai­ser­rei­ches ge­tanzt hat­te, las sie ei­nes Ta­ges »Co­rin­ne«, wor­über sie zu Trä­nen ge­rührt wur­de. Von da an stand sie ganz un­ter dem Ein­flus­se die­ses Ro­mans.

In dem Mas­se wie ihre Tail­le an Um­fang zu­nahm, wur­de der Schwung ih­rer See­le im­mer poe­ti­scher. Je mehr ihre Fett­lei­big­keit sie an das Pols­ter fes­sel­te, umso häu­fi­ger schwelg­te ihre Fan­ta­sie in al­ler­lei zärt­li­chen Aben­teu­ern, de­ren Hel­din sie war. Ei­ni­ge der­sel­ben wur­den von ihr be­son­ders be­vor­zugt und kehr­ten in ih­ren Träu­me­rei­en öf­ters wie­der, wie ein Mu­sik­stück, des­sen Me­lo­die ei­nem un­auf­hör­lich durch den Kopf summt. Alle die blu­men­rei­chen Ro­man­zen, in de­nen von Ge­fan­ge­nen und Schwal­ben die Rede war, ver­an­lass­ten sie un­will­kür­lich zu wei­che­ren Re­gun­gen; selbst ge­wis­se Lie­der von Beran­ger lieb­te sie we­gen des Schmer­zes, der sich trotz al­ler Lus­tig­keit dar­in aus­sprach.

Stun­den­lang konn­te sie so in ih­ren Träu­me­rei­en ver­lo­ren da­sit­zen; und der Auf­ent­halt in Peup­les ge­fiel ihr des­halb aus­ser­or­dent­lich, weil er ih­ren ro­man­ti­schen Ide­en, so­wohl durch die Wäl­der der Um­ge­gend, als auch durch die Hei­de­flä­chen und na­ment­lich durch die Nähe des Mee­res, stets wie­der die Wer­ke Wal­ter Scot­t’s ins Ge­dächt­nis rief, mit de­nen sie sich seit ei­ni­gen Mo­na­ten be­schäf­tig­te.

An Re­gen­ta­gen schloss sie sich in ihr Zim­mer ein, um ihre so­ge­nann­ten »Re­li­qui­en« durch­zu­stö­bern, näm­lich die al­ten Brie­fe, die sie von ih­ren El­tern, von ih­rem Man­ne als Bräu­ti­gam emp­fan­gen hat­te, und aus­ser­dem noch ei­ni­ge an­de­re. Die­sel­ben wa­ren in ei­nem Schreib­tisch aus Ma­ha­go­ni ein­ge­schlos­sen, an des­sen Ecken sich bron­ze­ne Sphynx­fi­gu­ren be­fan­den. Wenn Ro­sa­lie die Brie­fe ho­len soll­te, so pfleg­te die Baro­nin mit ei­gen­tüm­li­cher Be­to­nung zu sa­gen: »Bring mir die Schieb­la­de mit mei­nen Ju­gen­derin­ne­run­gen, Kind!«

Die Zofe öff­ne­te dann den Schreib­tisch, nahm die Schieb­la­de her­aus und stell­te sie auf einen Stuhl ne­ben ihre Her­rin, wel­che den In­halt lang­sam Stück für Stück durch­las, wo­bei hin und wie­der sich eine Trä­ne aus ih­rem Auge stahl.

Bei den Spa­zier­gän­gen muss­te Jo­han­na zu­wei­len Ro­sa­lie er­set­zen und Müt­ter­chen er­zähl­te ihr dann von ih­ren Ju­gen­derin­ne­run­gen. Das jun­ge Mäd­chen fand sich selbst dar­in wie­der; sie war er­staunt über die Ähn­lich­keit ih­rer Ge­dan­ken und die Gleich­heit ih­rer Wün­sche. Bil­det sich doch je­des Herz ein, al­lein vor al­len an­de­ren un­ter dem Ein­druck je­ner Emp­fin­dun­gen ge­seufzt zu ha­ben, un­ter dem schon die Her­zen der ers­ten Men­schen hö­her schlu­gen, und un­ter dem die Her­zen der letz­ten Men­schen und na­ment­lich Frau­en hö­her schla­gen wer­den.

Ihr Spa­zier­gang voll­zog sich eben­so lang­sam wie die Er­zäh­lung, wel­che hin und wie­der von Be­klem­mun­gen un­ter­bro­chen wur­de. In sol­chen Pau­sen schweif­ten Jo­han­nas Ge­dan­ken der an­ge­fan­ge­nen Ge­schich­te vor­aus; ihr Herz schwelg­te in zu­künf­ti­gen Freu­den und Hoff­nun­gen.

Ei­nes Nach­mit­tags, als sie auf der Bank am Ein­gang der Al­lee sas­sen, be­merk­ten sie plötz­lich am Ende der­sel­ben die be­leib­te Ge­stalt ei­nes Geist­li­chen, der auf sie zu­kam. Er grüss­te schon von Wei­tem, nahm eine lä­cheln­de Mie­ne an, grüss­te auf drei Schritt noch­mals und rief ziem­lich laut:

»Ah, die gnä­di­ge Frau Baro­nin! Wie geht es denn?« Es war der Dorf­pfar­rer.

Die Mama, die in der Zeit der Phi­lo­so­phen ge­bo­ren und von ei­nem ziem­lich un­gläu­bi­gen Va­ter wäh­rend der Re­vo­lu­ti­ons­zeit er­zo­gen war, be­such­te die Kir­che nie­mals, ob­schon sie die Geist­lich­keit mit ei­ner Art re­li­gi­ösem In­stinkt der Frau­en ganz gern hat­te.

Sie hat­te bis da­hin ih­ren Pfar­rer, den Abbé Pi­cot, ganz ver­ges­sen und er­rö­te­te jetzt un­will­kür­lich. Sie ent­schul­dig­te sich, dass sie sei­nem Be­su­che nicht zu­vor­ge­kom­men sei, aber der gute Mann war durch­aus nicht ver­letzt. Er sah Jo­han­na an, grüss­te sie mit freund­li­cher Mie­ne, setz­te sich, leg­te sei­nen Drei­spitz auf die Knie und wisch­te sich die Stirn ab. Er war sehr stark, sehr rot und schwitz­te sehr. Je­den Au­gen­blick zog er ein mäch­ti­ges kar­rier­tes und schon ganz feuch­tes Ta­schen­tuch her­vor, mit dem er sich Ge­sicht und Na­cken ab­wisch­te. Aber kaum hat­te er es wie­der in sei­ne ge­räu­mi­ge Ta­sche ver­senkt, als schon wie­der neue Trop­fen auf sei­ner Stirn stan­den und auf die her­vor­ste­hen­den Tei­le sei­ner Sou­ta­ne ran­nen, wo sie sich mit dem dort an­ge­sam­mel­ten Stau­be zu klei­nen Fle­cken ver­ban­den.

Er war hei­ter, ge­sprä­chig, nach­sich­tig; ein ech­ter Land­pries­ter. Er er­zähl­te al­ler­lei Ge­schich­ten, sprach von den Land­leu­ten und ließ sich nicht im Ge­rings­ten mer­ken, dass er sei­ne bei­den Pfarr­kin­der noch nicht in der Kir­che ge­se­hen hat­te. Bei der Baro­nin schob er dies auf eine na­tür­li­che Fol­ge ih­rer ver­schwom­me­nen re­li­gi­ösen Ide­en; bei Jo­han­na auf die ganz er­klär­li­che Freu­de, dem Klos­ter ent­ron­nen zu sein, wo man sie in An­dachts­übun­gen ge­ra­de­zu er­stickt hat­te.

Jetzt er­schi­en auch der Baron, der als Pan­the­ist sich den Dog­men ge­gen­über völ­lig in­dif­fe­rent ver­hielt. Er war sehr lie­bens­wür­dig ge­gen den Pfar­rer, den er ober­fläch­lich kann­te, und lud ihn ein, zu Tisch zu blei­ben.

Der Pries­ter war ein­sich­tig ge­nug, in kei­ner Wei­se an­zu­stos­sen. Er hat­te durch sei­ne lang­jäh­ri­ge Er­fah­rung als See­len­füh­rer sich jene Zu­rück­hal­tung an­ge­eig­net, wel­che die an­de­ren nie­mals un­nö­tig füh­len lässt, dass man be­ru­fen ist, über sie einen be­son­de­ren Ein­fluss aus­zuü­ben.

Die Baro­nin ver­hät­schel­te ihn; viel­leicht moch­te sie sich un­will­kür­lich durch eine Art geis­ti­ge Ver­wandt­schaft zu ihm hin­ge­zo­gen füh­len. Das voll­blü­ti­ge Ge­sicht und der kur­ze Atem des Pfar­rers er­in­ner­te sie an ihr ei­ge­nes Lei­den.

Beim Des­sert hat­te der lie­bens­wür­di­ge Mann alle Mühe, sich der Auf­merk­sam­keit zu er­weh­ren, mit der die Baro­nin ihm im­mer wie­der vor­le­gen ließ.

Plötz­lich rief er wie je­mand, dem eine glück­li­che Idee durch den Kopf schiesst:

»Den­ken Sie nur, ich habe ein neu­es Pfarr­kind, das ich Ih­nen not­wen­dig vor­stel­len muss. Es ist der Herr Vi­com­te de La­ma­re.«

Die Baro­nin, wel­che den gan­zen Adel der Pro­vinz an den Fin­gern auf­zäh­len konn­te, frag­te:

»Ei­ner von den La­ma­re’s von Eure?«

»Zu die­nen, Ma­da­me«; sag­te der Pries­ter, sich ver­beu­gend, »der Sohn des letzthin ver­stor­be­nen Vi­com­te Jo­hann de La­ma­re.«

Ma­da­me Ade­laï­de, die für den Adel über­aus schwärm­te, rich­te­te nun eine Men­ge Fra­gen an ihn und er­fuhr, dass der jun­ge Mann, um die vä­ter­li­chen Schul­den zu be­zah­len, sein Schloss ver­kauft und sich im Erd­ge­schoss ei­nes der drei Pacht­hö­fe, die er noch in der Ge­mein­de Etou­ve­nt be­sass, ein­ge­rich­tet hat­te. Sei­ne Ein­künf­te be­tru­gen al­les in al­lem fünf bis sechs Tau­send Fran­cs. Aber der jun­ge Mann war sehr ver­nünf­tig und spar­sam. Er woll­te zwei oder drei Jah­re ganz ein­fach und be­schei­den hier auf dem Lan­de woh­nen und sich so viel zu­rück­le­gen, dass er dann, ohne Schul­den zu ma­chen oder sei­ne Pacht­hö­fe zu be­las­ten, eine Rol­le in der Welt spie­len konn­te. Das End­ziel sei­ner Wün­sche war na­tür­lich eine vor­teil­haf­te Hei­rat.

 

»Es ist ein vor­treff­li­cher cha­rak­ter­vol­ler jun­ger Mann«, setz­te der Pfar­rer hin­zu, »so wohl­er­zo­gen, so gut­mü­tig. Aber er lang­weilt sich na­tür­lich et­was hier auf dem Lan­de.«

»Brin­gen Sie ihn zu uns, Herr Abbé!« sag­te der Baron, »viel­leicht kön­nen wir ihm et­was Zer­streu­ung bie­ten.«

Dann sprach man von an­de­ren Din­gen.

Als man im Sa­lon den Kaf­fee ein­ge­nom­men hat­te, bat der Pries­ter um die Er­laub­nis, eine klei­ne Pro­me­na­de im Gar­ten ma­chen zu dür­fen; er habe die Ge­wohn­heit, sich nach der Mahl­zeit et­was Be­we­gung zu ver­schaf­fen. Der Baron be­glei­te­te ihn. Sie gin­gen lang­sam längs der wei­ßen Fa­ca­de des Schlos­ses, kehr­ten wie­der um und be­gan­nen ih­ren Spa­zier­gang aufs Neue.

Ihre Schat­ten, der eine ma­ger, der an­de­re rund und wie ein fla­cher Pilz, folg­ten ih­nen bald, bald eil­ten sie ih­nen vor­aus, je nach­dem sie das Mond­licht im Rücken oder vor sich hat­ten. Der Pfar­rer rauch­te eine Art Zi­ga­ret­te, die er aus der Ta­sche ge­zo­gen hat­te. Er setz­te den Nut­zen der­sel­ben dem Baron in der frei­en Art der Leu­te vom Lan­de aus­ein­an­der: »Es be­för­dert die Ver­dau­ung, da ich oft an star­ken Blä­hun­gen lei­de«, sag­te er.

Dann stand er plötz­lich still und sag­te, den kla­ren Ster­nen­him­mel be­trach­tend:

»Man wird doch nie­mals müde, das an­zu­schau­en.« Hier­auf kehr­te er zu­rück, um sich von den Da­men zu ver­ab­schie­den.

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