»Sehr gut«, sagte sie.
»Ja, es macht sich so sehr gut«, antwortete er.
Dann gingen sie wieder zu Bett. Sie löschte das Licht aus und bald schlief alles in beiden Etagen des Hauses.
Es war schon lichter Tag, als Caravan die Augen öffnete. Beim Erwachen war ihm anfangs etwas wirr im Kopfe, und erst allmählich kam ihm die Erinnerung an alles wieder. Diese Erinnerung gab ihm einen neuen Stich ins Herz und er sprang, dem Weinen wieder sehr nahe, aus dem Bett.
Schnell ging er nach oben und trat in das Zimmer, wo Rosalie noch in demselben tiefen Schlummer lag, in dem sie die ganze Nacht verbracht hatte. Nachdem er diese an ihre Arbeit geschickt hatte, steckte er neue Kerzen auf die Leuchter und betrachtete dann seine Mutter, während in seinem Gehirn jene vorübergehenden Spuren tieferer Gedanken, halb religiöse, halb philosophische Vorstellungen, auftauchten, welche selbst Leute von mittelmässigem Verstande beim Anblick des Todes zu empfinden pflegen.
Aber schon rief seine Frau wieder nach ihm und er stieg herunter. Sie hatte eine Liste von allem angefertigt, was am Morgen zu geschehen hätte, und überreichte nun dieses Verzeichnis ihrem verblüfften Gatten. Er las:
1. Auf der Mairie den Todesfall anzeigen;
2. den Leichenbeschauer herbei bitten;
3. den Sarg bestellen;
4. bei der Kirche vorbeigehen;
5. bei der Begräbnis-Anstalt alles bestellen;
6. bei der Druckerei Todesanzeigen bestellen;
7. zum Notar gehen;
8. den Verwandten telegrafieren.
Ferner noch eine Menge kleiner Besorgungen.
Nach kurzer Zeit nahm er seinen Hut und ging.
Dann, als die Nachricht sich verbreitet hatte, kamen allmählich die Nachbarinnen, um die Leiche zu sehen.
Beim Friseur im Erdgeschoss hatte zwischen diesem, der gerade einen Kunden rasierte, und seiner Frau über diesen Punkt sich eine kleine Szene abgespielt.
»Das war noch eine«, sagte die Frau, emsig ihren Strumpf strickend, »und eine Geizige dazu, wie es nicht leicht eine zweite gibt. Ich konnte sie nicht gut leiden, das ist wahr; aber ich werde doch wohl ’mal zu ihr hinaufgehen müssen.«
»Was für Ideen!« brummte ihr Mann, während er den Kunden einseifte. »Nur eine Frau kann auf so etwas kommen. Sie ärgern uns nicht nur, so lange sie leben; nein, auch noch im Tode müssen sie uns belästigen.«
»Es ist stärker wie ich«, entgegnete seine Frau, ohne sich um sein Gebrumme zu kümmern; »ich muss herauf! Es quält mich schon den ganzen Morgen. Ich müsste sonst zeitlebens daran denken; aber wenn ich mir ihr Gesicht gut eingeprägt habe, werde ich nachher Ruhe haben.«
Der Barbier zuckte mit den Achseln und flüsterte dem Herrn zu, dessen Backe er gerade bearbeitete:
»Ich bitte Sie, was das für Ideen sind; ja, diese Teufels-Frauen. Mir würde es wenig Freude machen, einen Toten anzuschauen.«
Aber seine Frau hatte es gehört und entgegnete munter:
»Es ist nun ’mal nicht anders.«
Dann legte sie ihren Strumpf fort und begab sich in die erste Etage hinauf.
Zwei Nachbarinnen befanden sich schon oben und plauderten mit Madame Caravan, welche ihnen genau alle Einzelnheiten erzählen musste.
Man begab sich ins Sterbezimmer. Die vier Frauen schlichen auf den Zehen herein, besprengten eine nach der andren die Bettdecke mit Weihwasser, knieten nieder, machten das Kreuzzeichen und sprachen ein kurzes Gebet; dann erhoben sie sich wieder und betrachteten lange mit weitaufgerissenen Augen, den Mund halb offen, die Leiche, während die Schwiegertochter der Toten sich bemühte, hinter ihrem vorgehaltenen Taschentuche ein herzzerbrechendes Schluchzen hervorzubringen.
Als sie sich zum Herausgehen wandte, sah sie an der Türe Marie-Louise und Philipp-August stehen, beide im Hemd, welche neugierig zuschauten. Sie vergass ihren künstlich erzeugten Schmerz und ging mit hochgehobener Hand auf sie zu, indem sie ihnen zurief:
»Marsch hinaus mit Euch, Ihr infamen Rangen!«
Zehn Minuten später stieg sie mit einer neuen Schar Nachbarinnen abermals hinauf; man besprengte wiederum die Schwiegermutter mit Weihwasser, man betete und weinte. Aber plötzlich bemerkte sie, noch ganz mit ihren Aufgaben beschäftigt, abermals die beiden Kinder hinter sich. Sie verabreichte jedem gewissenhaft eine Schelle; aber das nächste Mal gab sie darum nicht besser Acht. Bei jeder Wiederholung der Besuche folgten ihr immer wieder die beiden Nichtsnutze, knieten ebenfalls in einer Ecke nieder und machten genau alles nach, was sie die Mutter tuen sahen.
Nachmittags verminderte sich die Schar der Neugierigen etwas; schliesslich kam niemand mehr. Madame Caravan zog sich in ihr Zimmer zurück, um alle Vorbereitungen für das Leichenbegängnis zu treffen und die Tote blieb wieder allein.
Das Fenster des Sterbezimmers stand offen; eine drückende Hitze drang mit einzelnen Staubwolken durch dasselbe ein. Die Flammen der vier Kerzen in der Nähe der Toten flackerten unruhig hin und her, und auf den Decken, über das Gesicht mit den geschlossenen Augen, über die gefalteten Hände krochen kleine Fliegen, flogen fort und kamen wieder, setzten sich bald hier, bald dorthin und schienen zu erwarten, dass die Stunde ihrer Mahlzeit bald kommen werde.
Marie-Louise und Philipp-August hatten sich herausbegeben und trieben sich auf der Strasse umher. Bald waren sie von einer Schar Spielgefährten umgeben, hauptsächlich kleinen Mädchen, die mit dem aufgeweckten Sinn der Kinder am schnellsten alle Neuigkeiten in der Stadt aufgriffen. Sie fragten genau wie Erwachsene: -- »Ist Deine Großmutter tot?« -- »Ja, seit gestern Abend.« -- »Wie ist das eigentlich, wenn jemand tot ist?« -- Und Marie-Louise erzählte ihnen alles, von den Lichtern, dem Weihwedel, von der Leiche selbst. Da erwachte natürlich eine große Neugierde bei den Kindern und sie verlangten sehnsüchtig, auch in das Zimmer zu der Leiche herauf zu können. Marie-Louise arrangierte alsbald eine erste Partie, fünf Mädchen und fünf Jungens, die grössten und kühnsten. Sie mussten, um nicht entdeckt zu werden, unten an der Treppe ihre Schuhe ausziehen; die kleine Gesellschaft schlich sich ins Haus und stahl sich leise, wie eine Schar Mäuse, die Treppe herauf.
Einmal im Zimmer, ahmte das kleine Mädchen seine Mutter nach und regelte das Zeremoniell. Es führte seine Spielgefährten feierlich herein, kniete nieder, machte das Kreuzzeichen, bewegte die Lippen, erhob sich, besprengte das Bett, und während die Kinder dicht zusammengedrängt sich ängstlich näherten, um mit neugierigem Schauer das Gesicht und die Hände zu betrachten, begann es plötzlich das Schluchzen nachzumachen, indem es die Augen mit seinem kleinen Taschentuche bedeckte. Dann schien es ebenso plötzlich wieder getröstet, indem es der draussen Wartenden gedachte und drängte schleunigst alle heraus, um gleich darauf eine zweite Schar und dann noch eine dritte hereinzuführen; denn die ganze liebe Strassenjugend bis auf die kleinen zerlumpten Bettelkinder rannte zu diesem neuartigen Vergnügen herbei. Jedes Mal inszenierte die Kleine von Neuem die ganze Ziererei, die sie mit vollkommener Sicherheit ihrer Mutter nachgemacht hatte.
Auf die Dauer hielt auch dieser Zeitvertreib nicht vor. Ein anderes Spiel riss die Kinder mit fort, und von Neuem blieb die alte Großmutter allein, ganz vergessen von aller Welt.
Dunkelheit erfüllte allmählich das Zimmer, und auf dem dürren runzeligen Gesicht der Leiche tanzten die Reflexe der auf- und niederflackernden Lichter.
Gegen acht Uhr kam Caravan herauf, schloss das Fenster und steckte neue Kerzen auf. Seine Haltung war jetzt ruhiger. Er hatte sich an den Anblick der Toten gewöhnt, als hätte sie schon seit Monaten da gelegen. Er überzeugte sich sogar, dass noch nicht die geringste Zersetzung sichtbar war und sprach dies auch seiner Frau gegenüber aus, als sie sich gerade zu Tische setzen wollten.
»Natürlich«, antwortete diese, »sie ist wie von Holz, sie würde sich ein ganzes Jahr so halten.«
Schweigend ass man die Suppe. Die Kinder, die man den ganzen Tag hatte sich herumtreiben lassen, schliefen auf ihren Stühlen ein und alles verhielt sich schweigsam.
Plötzlich fing die Lampe an niedriger zu brennen. Madame Caravan schraubte den Docht höher, aber die Schraube machte ein knirschendes Geräusch, die Flamme zuckte einige Male heftiger auf und dann verlöschte sie plötzlich ganz. Man hatte vergessen, Öl zu holen. Zum Krämer zu schicken hätte nur noch das Essen verzögert; man suchte nach Kerzen, aber es gab weiter keine als die, welche vorhin oben Herr Caravan frisch aufgesteckt hatte.
Madame Caravan sandte kurz entschlossen Marie-Louise herauf, um schnell zwei davon zu holen, und man sass so lange im Dunkeln.
Man konnte genau den Schritt des Kindes hören, welches die Treppe heraufstieg; dann dauerte es eine Weile und plötzlich kam das Kind eiligst wieder heruntergestürzt. Es öffnete die Tür, noch lebhafter und erregter als am Abend vorher, wo es den Unglücksfall angekündigt hatte und rief keuchend:
»Oh Papa! Großmama kleidet sich an!«
Caravan wandte sich so erschreckt um, dass sein Stuhl gegen die Wand fiel.
»Was sagst Du?« … stotterte er. »Was hast Du gesagt?« …
»Groß … Großma … Großmama … kleidet sich an … sie kommt gleich herunter« … stotterte Marie-Louise, halberstickt vor Erregung.
Er rannte wie närrisch die Treppe herauf, gefolgt von seiner halbbetäubten Frau; aber an der Tür des zweiten Stockes hielt er, von Aufregung überwältigt, einen Augenblick inne. Er wagte nicht einzutreten. Was würden seine Augen erblicken? Madame Caravan, beherzter wie er, drückte auf die Klinke und öffnete entschlossen die Türe.
Das Zimmer war noch finsterer als vorher, und in der Mitte desselben bewegte sich eine große hagere Gestalt. Sie war wieder lebendig geworden, die alte Frau; und indem sie aus ihrer Lethargie erwacht war, bevor ihr noch das Bewusstsein recht zurückkehrte, hatte sie sich zur Seite gewendet und, auf einen Ellnbogen gestützt, drei der Lichter, die in der Nähe des Totenbettes brannten, ausgelöscht. Dann gewann sie allmählich ihre Kräfte wieder und stand auf, um ihre Kleider zu suchen. Das Fehlen ihrer Kommode hatte sie anfangs in Verlegenheit gebracht, aber allmählich hatte sie ihre Sachen auf dem Boden des Holzkoffers gefunden und sich ruhig angekleidet. Nachdem sie dann das Gefäss mit Weihwasser ausgeleert, den Palmzweig wieder hinter den Spiegel gesteckt und die Stühle wieder an ihre Plätze gerückt hatte, wollte sie gerade heruntergehen, als ihr Sohn und ihre Schwiegertochter erschienen.
Caravan stürzte vor, ergriff ihre Hände und küsste sie mit Tränen in den Augen, während hinter ihm seine Frau trotz ihres verdriesslichen Gesichtes ein über das andere Mal ausrief:
»Welches Glück, oh, welches Glück!«
Aber die alte Frau erwiderte diese Zärtlichkeit nicht; sie schien gar kein Verständnis dafür zu haben. Steif wie eine Bildsäule mit stierem Auge fragte sie nur, ob das Essen bald bereit sei.
»Aber gewiss, Mama! Wir warten nur auf Dich!« stotterte er, vollständig den Kopf verlierend. Und mit ungewohntem Eifer nahm er ihren Arm, während Madame Caravan jr. das Licht ergriff und langsam, Schritt für Schritt die Treppe herabgehend, vor ihnen her leuchtete, wie sie es in der letzten Nacht bei ihrem Manne getan hatte, als er die Marmorplatte trug.
Als sie an die erste Etage kam, hätte sie beinahe einige Leute umgerannt, die gerade die Treppe heraufstiegen. Es waren die Verwandten aus Charenton, Madame Braux, gefolgt von ihrem Gatten.
Die Frau war von ziemlicher Körpergrösse, dick, und in Folge von Wassersucht so aufgeschwollen, dass sie den Oberkörper immer zurücklehnen musste. Sie riss vor Schreck die Augen weit auf und wäre beinahe davon gelaufen. Ihr Gatte, ein sozialistisch angehauchter Schuhmacher, ein kleines haariges Männchen, welches viel Ähnlichkeit mit einem Affen hatte, murmelte kaltblütig:
»Was ist da weiter? Sie ist wieder lebendig geworden.«
Sobald Madame Caravan sie erblickte, machte sie ihnen allerhand Zeichen, sich nichts merken zu lassen; dann sagte sie sehr laut:
»Seht ’mal an! … Seid Ihr da? … Eine herrliche Überraschung!«
Aber Madame Braux, von Natur nicht sehr schlau, hatte sie nicht verstanden.
»Wir kamen auf Eure Depesche hin; wir meinten, es sei alles zu Ende«, sagte sie halblaut.
Ihr Mann gab ihr von rückwärts einen kleinen Rippenstoss, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Es war sehr liebenswürdig von Euch uns einzuladen«, sagte er, ein listiges Lächeln unter seinem dichten Bart verbergend, »wir sind, wie Ihr seht, sofort gekommen.«
Hierin lag zugleich eine kleine Anspielung auf das gespannte Verhältnis, das schon seit langer Zeit zwischen beiden Familien herrschte. Dann, als die alte Frau auf der letzten Stufe stand, ging er hastig auf sie zu, rieb seine haarige Wange an der ihrigen und schrie ihr wegen ihrer Taubheit ins Ohr:
»Es geht gut, Mama! immer munter, wie?«
Madame Braux war so erstaunt, die am Leben zu finden, die sie schon sicher totgeglaubt hatte, dass sie sie nicht einmal zu küssen wagte. Ihr hervorstehender Leib nahm den schmalen Flur so völlig ein, dass die anderen nicht weiter konnten.
Unruhig und misstrauisch musterte die Alte diese ganze Gesellschaft da vor ihr, aber sie sprach kein Wort. Sie heftete ihre kleinen grauen und stechenden Augen bald auf den einen, bald auf den anderen, und machte sich sichtlich allerlei Gedanken; ihren Kindern war das sehr fatal.
»Mama war etwas leidend«, sagte erläuternd Herr Caravan, »aber es geht jetzt schon wieder besser. Nicht wahr, Mama! es geht wieder gut?«
Da antwortete die alte Frau im Weitergehen mit ihrer dürren Stimme wie im Traume:
»Es war eine Ohnmacht; ich hörte Euch die ganze Zeit hindurch.«
Hierauf folgte ein verlegenes Schweigen. Man kam in das Speisezimmer und setzte sich zu einem schnell improvisierten Essen.
Herr Braux allein hatte seine Ruhe bewahrt. Mit seinem Gorilla-Gesicht schnitt er fortwährend Grimassen und ließ hin und wieder zweideutige Worte fallen, die sichtlich alle in Verlegenheit brachten.
Alle Augenblicke schellte es an der Vorsaaltüre, und Rosalie holte dann mit verlegener Miene Caravan heraus, der seine Serviette hinwarf und schleunigst fortstürzte. Sein Schwager fragte ihn schliesslich, ob er heute seinen Empfangsabend hätte.
»Nein, nur einige Bestellungen, sonst nichts«, stotterte er.
Als dann ein Packet gebracht wurde, welches er hastig öffnete, kamen die schwarzgeränderten Todesanzeigen zum Vorschein. Er wurde rot bis an die Ohren und schloss schleunigst den Umschlag, worauf er es in seine Brusttasche steckte.
Seine Mutter hatte es nicht bemerkt; sie heftete unausgesetzt ihre Augen auf ihre Uhr, deren vergoldetes Ballspiel auf dem Kaminsims sich hin- und herbewegte. Die Verlegenheit der ganzen Gesellschaft wurde immer grösser und gab sich in einem eisigen Schweigen kund.
Endlich wandte die Alte ihr runzeliges Hexen-Gesicht ihrer Tochter zu und sagte mit einem deutlichen Schimmer von Bosheit:
»Montag kannst Du mir ’mal Deine Kleine bringen; ich möchte sie sehen.«
»Gern, liebe Mama«, sagte Madame Braux mit strahlendem Gesicht, während Madame Caravan jr., die vor Angst verging, ganz bleich wurde.
Die beiden Männer fingen unterdessen allmählich doch zu plaudern an und begaben sich, in Ermangelung eines sonstigen Stoffes, auf das politische Gebiet. Braux, der die revolutionären und kommunistischen Ideen vertrat, geriet bald in Eifer; seine Augen glänzten unter den buschigen Brauen.
»Eigentum, Herr!« rief er, »ist ein Diebstahl an der Arbeit; -- Erbschaft ist eine Schmach und Schande! …«
Aber hier brach er plötzlich ab; er wurde verlegen, wie jemand, der gerade etwas recht Dummes gesagt hat.
»Aber ich dächte, es wäre jetzt nicht der Augenblick, um über solche Dinge zu streiten«, fügte er in verbindlicherem Tone hinzu.
Die Türe öffnete sich und der »Doktor« Chenet trat ein. Im ersten Augenblick war er sehr überrascht, aber er fasste sich schnell wieder und näherte sich der alten Frau.
»Ah, sieh da, die Mutter!« sagte er. »Es geht gut heute? Ja, ja, ich zweifelte keinen Augenblick und sagte, als ich die Treppe herunterging, zu mir selbst: Ich wette, sie kommt wieder hoch, die Großmutter.«
»Sie hält ebenso viel aus wie die Pont-Neuf«, fügte er hinzu, sie auf die Schulter klopfend. »Wir werden sehen, sie begräbt uns alle noch.«
Er setzte sich und schlürfte behaglich von dem dargebotenen Kaffee; dann mischte er sich in die Unterhaltung der beiden Männer, wobei er als alter Kommunard natürlich vollständig den Ansichten des Herrn Braux beipflichtete.
Die alte Frau fühlte sich müde und wünschte heraufzugehen. Caravan stürzte herbei, ihr seinen Arm zu geben. Da sah sie ihn fest an und sagte:
»Du, Du bringst mir sofort meine Kommode und meine Uhr wieder herauf.«
Während er hierzu ein verlegenes »Jawohl Mama!« stammelte, nahm sie den Arm ihrer Tochter und verschwand mit dieser.
Bestürzt und stumm, in heilloser Verwirrung, blieb das Ehepaar Caravan zurück, während Braux seinen Kaffee schlürfte und sich dazwischen behaglich die Hände rieb.
Plötzlich stürzte Madame Caravan, ausser sich vor Wut, auf ihn zu.
»Sie sind ein Dieb«, brüllte sie, »ein Lump, eine Kanaille … ich könnte Ihnen die Augen auskratzen … ich könnte Ihnen …« Ihre Stimme erstickte im Zorn, sie wusste keine Worte mehr zu finden; er dagegen lachte und trank munter weiter.
Dann, als seine Frau zurückkam, stürzte jene sich auf ihre Schwägerin, und alle beide überschütteten sich gegenseitig mit einer wahren Flut von Grobheiten. Es war ein komischer Anblick: die eine mit ihrem aufgetriebenen drohend hervorstehenden Leibe und der ganzen robusten Gestalt, die andere mit diesen schwächlichen, krankhaften Aussehen, klein und mager. Die Stimmen der beiden Frauen wurden kreischend, während ihre Hände vor Wut zitterten.
Chenet und Braux legten sich ins Mittel, letzterer griff seine bessere Hälfte bei den Schultern und schob sie zur Tür hinaus.
»Geh doch, Kamel!« sagte er, »Du schreist zu toll!«
Von der Strasse her vernahm man noch den Lärm, wie sie sich gegenseitig die schönsten Grobheiten sagten.
Auch Herr Chenet empfahl sich.
Das Ehepaar Caravan war nun wieder allein. Schliesslich warf sich der Gatte in einen Sessel und sagte, während der kalte Schweiß ihm von der Stirn rann:
»Was soll ich nun aber morgen meinem Chef sagen?«
*