Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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»Sehr gut«, sag­te sie.

»Ja, es macht sich so sehr gut«, ant­wor­te­te er.

Dann gin­gen sie wie­der zu Bett. Sie lösch­te das Licht aus und bald schlief al­les in bei­den Eta­gen des Hau­ses.

Es war schon lich­ter Tag, als Ca­ra­van die Au­gen öff­ne­te. Beim Er­wa­chen war ihm an­fangs et­was wirr im Kop­fe, und erst all­mäh­lich kam ihm die Erin­ne­rung an al­les wie­der. Die­se Erin­ne­rung gab ihm einen neu­en Stich ins Herz und er sprang, dem Wei­nen wie­der sehr nahe, aus dem Bett.

Schnell ging er nach oben und trat in das Zim­mer, wo Ro­sa­lie noch in dem­sel­ben tie­fen Schlum­mer lag, in dem sie die gan­ze Nacht ver­bracht hat­te. Nach­dem er die­se an ihre Ar­beit ge­schickt hat­te, steck­te er neue Ker­zen auf die Leuch­ter und be­trach­te­te dann sei­ne Mut­ter, wäh­rend in sei­nem Ge­hirn jene vor­über­ge­hen­den Spu­ren tiefe­rer Ge­dan­ken, halb re­li­gi­öse, halb phi­lo­so­phi­sche Vor­stel­lun­gen, auf­tauch­ten, wel­che selbst Leu­te von mit­tel­mäs­si­gem Ver­stan­de beim An­blick des To­des zu emp­fin­den pfle­gen.

Aber schon rief sei­ne Frau wie­der nach ihm und er stieg her­un­ter. Sie hat­te eine Lis­te von al­lem an­ge­fer­tigt, was am Mor­gen zu ge­sche­hen hät­te, und über­reich­te nun die­ses Ver­zeich­nis ih­rem ver­blüff­ten Gat­ten. Er las:

1. Auf der Mai­rie den To­des­fall an­zei­gen;

2. den Lei­chen­be­schau­er her­bei bit­ten;

3. den Sarg be­stel­len;

4. bei der Kir­che vor­bei­ge­hen;

5. bei der Be­gräb­nis-An­stalt al­les be­stel­len;

6. bei der Dru­cke­rei To­des­an­zei­gen be­stel­len;

7. zum No­tar ge­hen;

8. den Ver­wand­ten te­le­gra­fie­ren.

Fer­ner noch eine Men­ge klei­ner Be­sor­gun­gen.

Nach kur­z­er Zeit nahm er sei­nen Hut und ging.

Dann, als die Nach­richt sich ver­brei­tet hat­te, ka­men all­mäh­lich die Nach­ba­rin­nen, um die Lei­che zu se­hen.

Beim Fri­seur im Erd­ge­schoss hat­te zwi­schen die­sem, der ge­ra­de einen Kun­den ra­sier­te, und sei­ner Frau über die­sen Punkt sich eine klei­ne Sze­ne ab­ge­spielt.

»Das war noch eine«, sag­te die Frau, em­sig ih­ren Strumpf stri­ckend, »und eine Gei­zi­ge dazu, wie es nicht leicht eine zwei­te gibt. Ich konn­te sie nicht gut lei­den, das ist wahr; aber ich wer­de doch wohl ’mal zu ihr hin­auf­ge­hen müs­sen.«

»Was für Ide­en!« brumm­te ihr Mann, wäh­rend er den Kun­den ein­seif­te. »Nur eine Frau kann auf so et­was kom­men. Sie är­gern uns nicht nur, so lan­ge sie le­ben; nein, auch noch im Tode müs­sen sie uns be­läs­ti­gen.«

»Es ist stär­ker wie ich«, ent­geg­ne­te sei­ne Frau, ohne sich um sein Ge­brum­me zu küm­mern; »ich muss her­auf! Es quält mich schon den gan­zen Mor­gen. Ich müss­te sonst zeit­le­bens dar­an den­ken; aber wenn ich mir ihr Ge­sicht gut ein­ge­prägt habe, wer­de ich nach­her Ruhe ha­ben.«

Der Bar­bier zuck­te mit den Ach­seln und flüs­ter­te dem Herrn zu, des­sen Ba­cke er ge­ra­de be­ar­bei­te­te:

»Ich bit­te Sie, was das für Ide­en sind; ja, die­se Teu­fels-Frau­en. Mir wür­de es we­nig Freu­de ma­chen, einen To­ten an­zu­schau­en.«

Aber sei­ne Frau hat­te es ge­hört und ent­geg­ne­te mun­ter:

»Es ist nun ’mal nicht an­ders.«

Dann leg­te sie ih­ren Strumpf fort und be­gab sich in die ers­te Eta­ge hin­auf.

Zwei Nach­ba­rin­nen be­fan­den sich schon oben und plau­der­ten mit Ma­da­me Ca­ra­van, wel­che ih­nen ge­nau alle Ein­zeln­hei­ten er­zäh­len muss­te.

Man be­gab sich ins Ster­be­zim­mer. Die vier Frau­en schli­chen auf den Ze­hen her­ein, be­spreng­ten eine nach der and­ren die Bett­de­cke mit Weih­was­ser, knie­ten nie­der, mach­ten das Kreuz­zei­chen und spra­chen ein kur­z­es Ge­bet; dann er­ho­ben sie sich wie­der und be­trach­te­ten lan­ge mit wei­tauf­ge­ris­se­nen Au­gen, den Mund halb of­fen, die Lei­che, wäh­rend die Schwie­ger­toch­ter der To­ten sich be­müh­te, hin­ter ih­rem vor­ge­hal­te­nen Ta­schen­tu­che ein herz­zer­bre­chen­des Schluch­zen her­vor­zu­brin­gen.

Als sie sich zum Her­aus­ge­hen wand­te, sah sie an der Türe Ma­rie-Loui­se und Phil­ipp-Au­gust ste­hen, bei­de im Hemd, wel­che neu­gie­rig zu­schau­ten. Sie ver­gass ih­ren künst­lich er­zeug­ten Schmerz und ging mit hoch­ge­ho­be­ner Hand auf sie zu, in­dem sie ih­nen zu­rief:

»Marsch hin­aus mit Euch, Ihr in­fa­men Ran­gen!«

Zehn Mi­nu­ten spä­ter stieg sie mit ei­ner neu­en Schar Nach­ba­rin­nen aber­mals hin­auf; man be­spreng­te wie­der­um die Schwie­ger­mut­ter mit Weih­was­ser, man be­te­te und wein­te. Aber plötz­lich be­merk­te sie, noch ganz mit ih­ren Auf­ga­ben be­schäf­tigt, aber­mals die bei­den Kin­der hin­ter sich. Sie ver­ab­reich­te je­dem ge­wis­sen­haft eine Schel­le; aber das nächs­te Mal gab sie dar­um nicht bes­ser Acht. Bei je­der Wie­der­ho­lung der Be­su­che folg­ten ihr im­mer wie­der die bei­den Nichts­nut­ze, knie­ten eben­falls in ei­ner Ecke nie­der und mach­ten ge­nau al­les nach, was sie die Mut­ter tuen sa­hen.

Nach­mit­tags ver­min­der­te sich die Schar der Neu­gie­ri­gen et­was; schliess­lich kam nie­mand mehr. Ma­da­me Ca­ra­van zog sich in ihr Zim­mer zu­rück, um alle Vor­be­rei­tun­gen für das Lei­chen­be­gäng­nis zu tref­fen und die Tote blieb wie­der al­lein.

Das Fens­ter des Ster­be­zim­mers stand of­fen; eine drücken­de Hit­ze drang mit ein­zel­nen Staub­wol­ken durch das­sel­be ein. Die Flam­men der vier Ker­zen in der Nähe der To­ten fla­cker­ten un­ru­hig hin und her, und auf den De­cken, über das Ge­sicht mit den ge­schlos­se­nen Au­gen, über die ge­fal­te­ten Hän­de kro­chen klei­ne Flie­gen, flo­gen fort und ka­men wie­der, setz­ten sich bald hier, bald dort­hin und schie­nen zu er­war­ten, dass die Stun­de ih­rer Mahl­zeit bald kom­men wer­de.

Ma­rie-Loui­se und Phil­ipp-Au­gust hat­ten sich her­aus­be­ge­ben und trie­ben sich auf der Stras­se um­her. Bald wa­ren sie von ei­ner Schar Spiel­ge­fähr­ten um­ge­ben, haupt­säch­lich klei­nen Mäd­chen, die mit dem auf­ge­weck­ten Sinn der Kin­der am schnells­ten alle Neu­ig­kei­ten in der Stadt auf­grif­fen. Sie frag­ten ge­nau wie Er­wach­se­ne: -- »Ist Dei­ne Groß­mut­ter tot?« -- »Ja, seit ges­tern Abend.« -- »Wie ist das ei­gent­lich, wenn je­mand tot ist?« -- Und Ma­rie-Loui­se er­zähl­te ih­nen al­les, von den Lich­tern, dem Weih­we­del, von der Lei­che selbst. Da er­wach­te na­tür­lich eine große Neu­gier­de bei den Kin­dern und sie ver­lang­ten sehn­süch­tig, auch in das Zim­mer zu der Lei­che her­auf zu kön­nen. Ma­rie-Loui­se ar­ran­gier­te als­bald eine ers­te Par­tie, fünf Mäd­chen und fünf Jun­gens, die gröss­ten und kühns­ten. Sie muss­ten, um nicht ent­deckt zu wer­den, un­ten an der Trep­pe ihre Schu­he aus­zie­hen; die klei­ne Ge­sell­schaft schlich sich ins Haus und stahl sich lei­se, wie eine Schar Mäu­se, die Trep­pe her­auf.

Ein­mal im Zim­mer, ahm­te das klei­ne Mäd­chen sei­ne Mut­ter nach und re­gel­te das Ze­re­mo­ni­ell. Es führ­te sei­ne Spiel­ge­fähr­ten fei­er­lich her­ein, knie­te nie­der, mach­te das Kreuz­zei­chen, be­weg­te die Lip­pen, er­hob sich, be­spreng­te das Bett, und wäh­rend die Kin­der dicht zu­sam­men­ge­drängt sich ängst­lich nä­her­ten, um mit neu­gie­ri­gem Schau­er das Ge­sicht und die Hän­de zu be­trach­ten, be­gann es plötz­lich das Schluch­zen nach­zu­ma­chen, in­dem es die Au­gen mit sei­nem klei­nen Ta­schen­tu­che be­deck­te. Dann schi­en es eben­so plötz­lich wie­der ge­trös­tet, in­dem es der draus­sen War­ten­den ge­dach­te und dräng­te schleu­nigst alle her­aus, um gleich dar­auf eine zwei­te Schar und dann noch eine drit­te her­ein­zu­füh­ren; denn die gan­ze lie­be Stras­sen­ju­gend bis auf die klei­nen zer­lump­ten Bet­tel­kin­der rann­te zu die­sem neu­ar­ti­gen Ver­gnü­gen her­bei. Je­des Mal in­sze­nier­te die Klei­ne von Neu­em die gan­ze Zie­re­rei, die sie mit voll­kom­me­ner Si­cher­heit ih­rer Mut­ter nach­ge­macht hat­te.


Auf die Dau­er hielt auch die­ser Zeit­ver­treib nicht vor. Ein an­de­res Spiel riss die Kin­der mit fort, und von Neu­em blieb die alte Groß­mut­ter al­lein, ganz ver­ges­sen von al­ler Welt.

Dun­kel­heit er­füll­te all­mäh­lich das Zim­mer, und auf dem dür­ren run­ze­li­gen Ge­sicht der Lei­che tanz­ten die Re­fle­xe der auf- und nie­der­fla­ckern­den Lich­ter.

Ge­gen acht Uhr kam Ca­ra­van her­auf, schloss das Fens­ter und steck­te neue Ker­zen auf. Sei­ne Hal­tung war jetzt ru­hi­ger. Er hat­te sich an den An­blick der To­ten ge­wöhnt, als hät­te sie schon seit Mo­na­ten da ge­le­gen. Er über­zeug­te sich so­gar, dass noch nicht die ge­rings­te Zer­set­zung sicht­bar war und sprach dies auch sei­ner Frau ge­gen­über aus, als sie sich ge­ra­de zu Ti­sche set­zen woll­ten.

»Na­tür­lich«, ant­wor­te­te die­se, »sie ist wie von Holz, sie wür­de sich ein gan­zes Jahr so hal­ten.«

Schwei­gend ass man die Sup­pe. Die Kin­der, die man den gan­zen Tag hat­te sich her­um­trei­ben las­sen, schlie­fen auf ih­ren Stüh­len ein und al­les ver­hielt sich schweig­sam.

Plötz­lich fing die Lam­pe an nied­ri­ger zu bren­nen. Ma­da­me Ca­ra­van schraub­te den Docht hö­her, aber die Schrau­be mach­te ein knir­schen­des Geräusch, die Flam­me zuck­te ei­ni­ge Male hef­ti­ger auf und dann ver­lösch­te sie plötz­lich ganz. Man hat­te ver­ges­sen, Öl zu ho­len. Zum Krä­mer zu schi­cken hät­te nur noch das Es­sen ver­zö­gert; man such­te nach Ker­zen, aber es gab wei­ter kei­ne als die, wel­che vor­hin oben Herr Ca­ra­van frisch auf­ge­steckt hat­te.

Ma­da­me Ca­ra­van sand­te kurz ent­schlos­sen Ma­rie-Loui­se her­auf, um schnell zwei da­von zu ho­len, und man sass so lan­ge im Dun­keln.

 

Man konn­te ge­nau den Schritt des Kin­des hö­ren, wel­ches die Trep­pe her­auf­stieg; dann dau­er­te es eine Wei­le und plötz­lich kam das Kind ei­ligst wie­der her­un­ter­ge­stürzt. Es öff­ne­te die Tür, noch leb­haf­ter und er­reg­ter als am Abend vor­her, wo es den Un­glücks­fall an­ge­kün­digt hat­te und rief keu­chend:

»Oh Papa! Groß­ma­ma klei­det sich an!«

Ca­ra­van wand­te sich so er­schreckt um, dass sein Stuhl ge­gen die Wand fiel.

»Was sagst Du?« … stot­ter­te er. »Was hast Du ge­sagt?« …

»Groß … Groß­ma … Groß­ma­ma … klei­det sich an … sie kommt gleich her­un­ter« … stot­ter­te Ma­rie-Loui­se, hal­b­er­stickt vor Er­re­gung.

Er rann­te wie när­risch die Trep­pe her­auf, ge­folgt von sei­ner halb­be­täub­ten Frau; aber an der Tür des zwei­ten Stockes hielt er, von Auf­re­gung über­wäl­tigt, einen Au­gen­blick inne. Er wag­te nicht ein­zu­tre­ten. Was wür­den sei­ne Au­gen er­bli­cken? Ma­da­me Ca­ra­van, be­herz­ter wie er, drück­te auf die Klin­ke und öff­ne­te ent­schlos­sen die Türe.

Das Zim­mer war noch fins­te­rer als vor­her, und in der Mit­te des­sel­ben be­weg­te sich eine große ha­ge­re Ge­stalt. Sie war wie­der le­ben­dig ge­wor­den, die alte Frau; und in­dem sie aus ih­rer Lethar­gie er­wacht war, be­vor ihr noch das Be­wusst­sein recht zu­rück­kehr­te, hat­te sie sich zur Sei­te ge­wen­det und, auf einen Elln­bo­gen ge­stützt, drei der Lich­ter, die in der Nähe des To­ten­bet­tes brann­ten, aus­ge­löscht. Dann ge­wann sie all­mäh­lich ihre Kräf­te wie­der und stand auf, um ihre Klei­der zu su­chen. Das Feh­len ih­rer Kom­mo­de hat­te sie an­fangs in Ver­le­gen­heit ge­bracht, aber all­mäh­lich hat­te sie ihre Sa­chen auf dem Bo­den des Holz­kof­fers ge­fun­den und sich ru­hig an­ge­klei­det. Nach­dem sie dann das Ge­fäss mit Weih­was­ser aus­ge­leert, den Palm­zweig wie­der hin­ter den Spie­gel ge­steckt und die Stüh­le wie­der an ihre Plät­ze ge­rückt hat­te, woll­te sie ge­ra­de her­un­ter­ge­hen, als ihr Sohn und ihre Schwie­ger­toch­ter er­schie­nen.

Ca­ra­van stürz­te vor, er­griff ihre Hän­de und küss­te sie mit Trä­nen in den Au­gen, wäh­rend hin­ter ihm sei­ne Frau trotz ih­res ver­driess­li­chen Ge­sich­tes ein über das an­de­re Mal aus­rief:

»Wel­ches Glück, oh, wel­ches Glück!«

Aber die alte Frau er­wi­der­te die­se Zärt­lich­keit nicht; sie schi­en gar kein Ver­ständ­nis da­für zu ha­ben. Steif wie eine Bild­säu­le mit stie­rem Auge frag­te sie nur, ob das Es­sen bald be­reit sei.

»Aber ge­wiss, Mama! Wir war­ten nur auf Dich!« stot­ter­te er, voll­stän­dig den Kopf ver­lie­rend. Und mit un­ge­wohn­tem Ei­fer nahm er ih­ren Arm, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van jr. das Licht er­griff und lang­sam, Schritt für Schritt die Trep­pe her­ab­ge­hend, vor ih­nen her leuch­te­te, wie sie es in der letz­ten Nacht bei ih­rem Man­ne ge­tan hat­te, als er die Mar­mor­plat­te trug.

Als sie an die ers­te Eta­ge kam, hät­te sie bei­na­he ei­ni­ge Leu­te um­ge­rannt, die ge­ra­de die Trep­pe her­auf­stie­gen. Es wa­ren die Ver­wand­ten aus Cha­ren­ton, Ma­da­me Braux, ge­folgt von ih­rem Gat­ten.

Die Frau war von ziem­li­cher Kör­per­grös­se, dick, und in Fol­ge von Was­ser­sucht so auf­ge­schwol­len, dass sie den Ober­kör­per im­mer zu­rück­leh­nen muss­te. Sie riss vor Schreck die Au­gen weit auf und wäre bei­na­he da­von ge­lau­fen. Ihr Gat­te, ein so­zia­lis­tisch an­ge­hauch­ter Schuh­ma­cher, ein klei­nes haa­ri­ges Männ­chen, wel­ches viel Ähn­lich­keit mit ei­nem Af­fen hat­te, mur­mel­te kalt­blü­tig:

»Was ist da wei­ter? Sie ist wie­der le­ben­dig ge­wor­den.«

So­bald Ma­da­me Ca­ra­van sie er­blick­te, mach­te sie ih­nen al­ler­hand Zei­chen, sich nichts mer­ken zu las­sen; dann sag­te sie sehr laut:

»Seht ’mal an! … Seid Ihr da? … Eine herr­li­che Über­ra­schung!«

Aber Ma­da­me Braux, von Na­tur nicht sehr schlau, hat­te sie nicht ver­stan­den.

»Wir ka­men auf Eure De­pe­sche hin; wir mein­ten, es sei al­les zu Ende«, sag­te sie halb­laut.

Ihr Mann gab ihr von rück­wärts einen klei­nen Rip­pen­sto­ss, um sie zum Schwei­gen zu brin­gen.

»Es war sehr lie­bens­wür­dig von Euch uns ein­zu­la­den«, sag­te er, ein lis­ti­ges Lä­cheln un­ter sei­nem dich­ten Bart ver­ber­gend, »wir sind, wie Ihr seht, so­fort ge­kom­men.«

Hie­rin lag zu­gleich eine klei­ne An­spie­lung auf das ge­spann­te Ver­hält­nis, das schon seit lan­ger Zeit zwi­schen bei­den Fa­mi­li­en herrsch­te. Dann, als die alte Frau auf der letz­ten Stu­fe stand, ging er has­tig auf sie zu, rieb sei­ne haa­ri­ge Wan­ge an der ih­ri­gen und schrie ihr we­gen ih­rer Taub­heit ins Ohr:

»Es geht gut, Mama! im­mer mun­ter, wie?«

Ma­da­me Braux war so er­staunt, die am Le­ben zu fin­den, die sie schon si­cher tot­ge­glaubt hat­te, dass sie sie nicht ein­mal zu küs­sen wag­te. Ihr her­vor­ste­hen­der Leib nahm den schma­len Flur so völ­lig ein, dass die an­de­ren nicht wei­ter konn­ten.

Un­ru­hig und miss­trau­isch mus­ter­te die Alte die­se gan­ze Ge­sell­schaft da vor ihr, aber sie sprach kein Wort. Sie hef­te­te ihre klei­nen grau­en und ste­chen­den Au­gen bald auf den einen, bald auf den an­de­ren, und mach­te sich sicht­lich al­ler­lei Ge­dan­ken; ih­ren Kin­dern war das sehr fa­tal.

»Mama war et­was lei­dend«, sag­te er­läu­ternd Herr Ca­ra­van, »aber es geht jetzt schon wie­der bes­ser. Nicht wahr, Mama! es geht wie­der gut?«

Da ant­wor­te­te die alte Frau im Wei­ter­ge­hen mit ih­rer dür­ren Stim­me wie im Trau­me:

»Es war eine Ohn­macht; ich hör­te Euch die gan­ze Zeit hin­durch.«

Hier­auf folg­te ein ver­le­ge­nes Schwei­gen. Man kam in das Spei­se­zim­mer und setz­te sich zu ei­nem schnell im­pro­vi­sier­ten Es­sen.

Herr Braux al­lein hat­te sei­ne Ruhe be­wahrt. Mit sei­nem Go­ril­la-Ge­sicht schnitt er fort­wäh­rend Gri­mas­sen und ließ hin und wie­der zwei­deu­ti­ge Wor­te fal­len, die sicht­lich alle in Ver­le­gen­heit brach­ten.

Alle Au­gen­bli­cke schell­te es an der Vor­saal­tü­re, und Ro­sa­lie hol­te dann mit ver­le­ge­ner Mie­ne Ca­ra­van her­aus, der sei­ne Ser­vi­et­te hin­warf und schleu­nigst fort­stürz­te. Sein Schwa­ger frag­te ihn schliess­lich, ob er heu­te sei­nen Empfangs­abend hät­te.

»Nein, nur ei­ni­ge Be­stel­lun­gen, sonst nichts«, stot­ter­te er.

Als dann ein Packet ge­bracht wur­de, wel­ches er has­tig öff­ne­te, ka­men die schwarz­ge­rän­der­ten To­des­an­zei­gen zum Vor­schein. Er wur­de rot bis an die Ohren und schloss schleu­nigst den Um­schlag, wor­auf er es in sei­ne Brust­ta­sche steck­te.

Sei­ne Mut­ter hat­te es nicht be­merkt; sie hef­te­te un­aus­ge­setzt ihre Au­gen auf ihre Uhr, de­ren ver­gol­de­tes Ball­spiel auf dem Ka­min­sims sich hin- und her­be­weg­te. Die Ver­le­gen­heit der gan­zen Ge­sell­schaft wur­de im­mer grös­ser und gab sich in ei­nem ei­si­gen Schwei­gen kund.

End­lich wand­te die Alte ihr run­ze­li­ges He­xen-Ge­sicht ih­rer Toch­ter zu und sag­te mit ei­nem deut­li­chen Schim­mer von Bos­heit:

»Mon­tag kannst Du mir ’mal Dei­ne Klei­ne brin­gen; ich möch­te sie se­hen.«

»Gern, lie­be Mama«, sag­te Ma­da­me Braux mit strah­len­dem Ge­sicht, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van jr., die vor Angst ver­ging, ganz bleich wur­de.

Die bei­den Män­ner fin­gen un­ter­des­sen all­mäh­lich doch zu plau­dern an und be­ga­ben sich, in Er­man­ge­lung ei­nes sons­ti­gen Stof­fes, auf das po­li­ti­sche Ge­biet. Braux, der die re­vo­lu­tio­nären und kom­mu­nis­ti­schen Ide­en ver­trat, ge­riet bald in Ei­fer; sei­ne Au­gen glänz­ten un­ter den bu­schi­gen Brau­en.

»Ei­gen­tum, Herr!« rief er, »ist ein Dieb­stahl an der Ar­beit; -- Erb­schaft ist eine Schmach und Schan­de! …«

Aber hier brach er plötz­lich ab; er wur­de ver­le­gen, wie je­mand, der ge­ra­de et­was recht Dum­mes ge­sagt hat.

»Aber ich däch­te, es wäre jetzt nicht der Au­gen­blick, um über sol­che Din­ge zu strei­ten«, füg­te er in ver­bind­li­che­rem Tone hin­zu.

Die Türe öff­ne­te sich und der »Dok­tor« Che­net trat ein. Im ers­ten Au­gen­blick war er sehr über­rascht, aber er fass­te sich schnell wie­der und nä­her­te sich der al­ten Frau.

»Ah, sieh da, die Mut­ter!« sag­te er. »Es geht gut heu­te? Ja, ja, ich zwei­fel­te kei­nen Au­gen­blick und sag­te, als ich die Trep­pe her­un­ter­ging, zu mir selbst: Ich wet­te, sie kommt wie­der hoch, die Groß­mut­ter.«

»Sie hält eben­so viel aus wie die Pont-Neuf«, füg­te er hin­zu, sie auf die Schul­ter klop­fend. »Wir wer­den se­hen, sie be­gräbt uns alle noch.«

Er setz­te sich und schlürf­te be­hag­lich von dem dar­ge­bo­te­nen Kaf­fee; dann misch­te er sich in die Un­ter­hal­tung der bei­den Män­ner, wo­bei er als al­ter Kom­mu­nard na­tür­lich voll­stän­dig den An­sich­ten des Herrn Braux beipflich­te­te.

Die alte Frau fühl­te sich müde und wünsch­te her­auf­zu­ge­hen. Ca­ra­van stürz­te her­bei, ihr sei­nen Arm zu ge­ben. Da sah sie ihn fest an und sag­te:

»Du, Du bringst mir so­fort mei­ne Kom­mo­de und mei­ne Uhr wie­der her­auf.«

Wäh­rend er hier­zu ein ver­le­ge­nes »Ja­wohl Mama!« stam­mel­te, nahm sie den Arm ih­rer Toch­ter und ver­schwand mit die­ser.

Be­stürzt und stumm, in heil­lo­ser Ver­wir­rung, blieb das Ehe­paar Ca­ra­van zu­rück, wäh­rend Braux sei­nen Kaf­fee schlürf­te und sich da­zwi­schen be­hag­lich die Hän­de rieb.

Plötz­lich stürz­te Ma­da­me Ca­ra­van, aus­ser sich vor Wut, auf ihn zu.

»Sie sind ein Dieb«, brüll­te sie, »ein Lump, eine Ka­nail­le … ich könn­te Ih­nen die Au­gen aus­krat­zen … ich könn­te Ih­nen …« Ihre Stim­me er­stick­te im Zorn, sie wuss­te kei­ne Wor­te mehr zu fin­den; er da­ge­gen lach­te und trank mun­ter wei­ter.

Dann, als sei­ne Frau zu­rück­kam, stürz­te jene sich auf ihre Schwä­ge­rin, und alle bei­de über­schüt­te­ten sich ge­gen­sei­tig mit ei­ner wah­ren Flut von Grob­hei­ten. Es war ein ko­mi­scher An­blick: die eine mit ih­rem auf­ge­trie­be­nen dro­hend her­vor­ste­hen­den Lei­be und der gan­zen ro­bus­ten Ge­stalt, die an­de­re mit die­sen schwäch­li­chen, krank­haf­ten Aus­se­hen, klein und ma­ger. Die Stim­men der bei­den Frau­en wur­den krei­schend, wäh­rend ihre Hän­de vor Wut zit­ter­ten.


Che­net und Braux leg­ten sich ins Mit­tel, letz­te­rer griff sei­ne bes­se­re Hälf­te bei den Schul­tern und schob sie zur Tür hin­aus.

»Geh doch, Ka­mel!« sag­te er, »Du schreist zu toll!«

Von der Stras­se her ver­nahm man noch den Lärm, wie sie sich ge­gen­sei­tig die schöns­ten Grob­hei­ten sag­ten.

Auch Herr Che­net emp­fahl sich.

Das Ehe­paar Ca­ra­van war nun wie­der al­lein. Sch­liess­lich warf sich der Gat­te in einen Ses­sel und sag­te, wäh­rend der kal­te Schweiß ihm von der Stirn rann:

»Was soll ich nun aber mor­gen mei­nem Chef sa­gen?«

*