Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Gedanken des Oberst Laporte

»Mei­ner Treu«, sag­te der Co­lo­nel La­por­te, »ich bin alt, habe das Reis­sen, mei­ne Bei­ne sind steif wie zwei Tür­pfos­ten, aber wenn eine Frau, eine hüb­sche Frau na­tür­lich, mir be­föh­le, durch ein Na­delöhr zu schlüp­fen, ich wür­de sprin­gen, glau­be ich, wie ein Clown im Cir­kus. So wird es bis zu mei­nem Tode sein, das liegt mir ’mal im Blu­te. Ich bin ein al­ter Wei­ber­freund, aber noch ei­ner aus der al­ten Schu­le. Der An­blick ei­ner Frau, ei­ner hüb­schen na­tür­lich, geht mir bis in die Fuss­s­pit­zen. Das ist ’mal so. Üb­ri­gens, mei­ne Her­ren, sind wir hier in Frank­reich uns alle dar­in et­was ähn­lich. Wir sind alle Rit­ter; die Rit­ter der Lie­be und des Glücks, da man den Herr­gott, des­sen ei­gent­li­che Leib­gar­de wir wa­ren, ab­ge­setzt hat.


Aber die Frau! ja se­hen Sie, die Frau kann man uns nicht aus dem Her­zen reis­sen. Sie wohnt dar­in und da bleibt sie auch. Wir lie­ben sie, wer­den sie wei­ter lie­ben und jede Dumm­heit für sie be­ge­hen, so lan­ge es noch ein Frank­reich auf der Kar­te Eu­ro­pas gibt. Und wenn man auch Frank­reich ver­nich­tet, so wird es doch im­mer noch Fran­zö­sin­nen ge­ben.

Wenn ich vor ei­ner Frau, ei­ner hüb­schen na­tür­lich, ste­he, dann bin ich zu al­lem fä­hig. Der Tau­send auch! Wenn ich füh­le, wie ihr Blick mich durch­dringt, die­ser Sap­per­ments-Blick, der ei­nem Feu­er in die Adern giesst, dann kann ich mir nicht mehr hel­fen, dann muss ich ir­gen­det­was tun, mich mit Je­man­dem schla­gen, Streit an­fan­gen, Ti­sche und Stüh­le zer­bre­chen, kurz, ich muss zei­gen, dass ich der Stärks­te, Tap­fers­te, Kühns­te und Hin­ge­bends­te von Al­len bin.

Aber ich bin es doch nicht al­lein, wahr­haf­tig nicht, die gan­ze fran­zö­si­sche Ar­mee denkt wie ich, dar­auf schwö­re ich. Es geht uns Al­len so, so­lan­ge wir le­ben, vom jüngs­ten Lieu­ten­ant bis zum Ge­ne­ral, wenn es sich um eine Frau, eine hüb­sche na­tür­lich, han­delt. Denkt nur dran, wo­hin uns einst Jean­ne d’Arc ge­bracht hat. Glaubt nur, ich wet­te dar­auf, dass, wenn in der Schlacht bei Se­dan, nach­dem Mac-Ma­hon ver­wun­det war, uns eine Frau, na­tür­lich eine hüb­sche, ge­führt hät­te, wir si­cher­lich die preus­si­schen Li­ni­en durch­bro­chen und, der Teu­fel soll mich ho­len! un­se­ren Schnaps aus ih­ren Ka­no­nen ge­trun­ken hät­ten.

Wir hät­ten in Pa­ris kei­nen Tro­chu, son­dern eine hei­li­ge Ge­no­ve­va ge­braucht.

Da fällt mir ge­ra­de eine klei­ne Ge­schich­te aus dem Feld­zu­ge ein, die deut­lich be­weist, dass ei­ner Frau zu Lie­be wir zu al­lem fä­hig sind.

Ich war da­mals noch Ka­pi­tän, ein­fa­cher Ka­pi­tän, und führ­te ein De­ta­che­ment auf dem Rück­zu­ge vor den Preus­sen, die das gan­ze Land über­schwemmt hat­ten. Wir wa­ren ein­ge­schlos­sen, de­ci­miert, ab­stra­pa­ziert und stumpf ge­wor­den; da­bei star­ben wir vor Hun­ger und Mü­dig­keit.

Auf je­den Fall muss­ten wir vor An­bruch des an­de­ren Ta­ges Bar-sur-Tain ge­win­nen, wenn wir nicht voll­stän­dig ab­ge­schnit­ten und auf­ge­rie­ben wer­den woll­ten. Wie wir noch da­hin ge­lan­gen soll­ten, wuss­te ich wahr­haf­tig nicht mehr. Wir hat­ten we­nigs­tens noch zwölf Mei­len in der Nacht zu mar­schie­ren, zwölf Mei­len durch den Schnee und un­ter dem hef­tigs­ten Schnee­fall und stür­men­dem Win­de. »Es geht zu Ende«; dach­te ich bei mir, »die ar­men Teu­fel wer­den nie­mals hin­kom­men.«

Seit dem gest­ri­gen Tage hat­ten wir nichts mehr ge­ges­sen. Den gan­zen Tag blie­ben wir in ei­ner Scheu­ne ver­steckt, dicht an­ein­an­der­ge­drängt, um die Käl­te we­ni­ger zu ver­spü­ren, sprach­los und un­fä­hig, uns zu be­we­gen, schläf­rig vor Hun­ger und Er­mat­tung, wie man schläft, wenn einen die An­stren­gung über­wäl­tigt.

Ge­gen 5 Uhr wur­de es Nacht, eine blei­che Schne­e­nacht. Ich weck­te mei­ne Leu­te. Vie­le woll­ten, un­fä­hig sich zu be­we­gen oder sich auf den Bei­nen zu hal­ten, vor Käl­te und Er­mat­tung stumpf ge­wor­den, nicht mehr auf­ste­hen. Vor uns lag die Ebe­ne wie ein großes Lei­chen­tuch, auf dem der Schnee nie­der­fiel. Das schnei­te und schnei­te wie ein Vor­hang, die­se wei­ßen Flo­cken, die al­les in einen ei­si­gen Man­tel hüll­ten, des­sen Berüh­rung das Blut in den Adern ge­frie­ren ließ und al­les Le­ben er­star­ren mach­te. Das Ende der Welt schi­en da zu sein.

»Vor­wärts Marsch! mei­ne Kin­der!«

Sie sa­hen sich das al­les an, die wei­ße Mas­se, die vom Him­mel fiel, als wenn sie sa­gen woll­ten: »Es ist ge­nug; lie­ber gleich hier ster­ben.« Ich zog mei­nen Re­vol­ver:

»Den ers­ten, der zu­rück­bleibt, schies­se ich nie­der.«

Und nun setz­ten sie sich lang­sam in Marsch, wie Leu­te, de­nen die Glie­der nicht mehr ge­hor­chen.

Ich schick­te vier Mann zur Auf­klä­rung un­ge­fähr drei­hun­dert Me­ter vor­aus; dann folg­te der Rest in ei­nem re­gel­lo­sen Hau­fen, je nach­dem die Mü­dig­keit ihre Schrit­te ver­kürz­te. Ich nahm die Zu­ver­läs­si­ge­ren an die Queue, mit dem Be­fehl, die Zö­gern­den durch Ba­jo­nett-Stös­se … in den Rücken … vor­wärts zu trei­ben.

Es war als ob wir alle le­ben­dig im Schnee be­gra­ben wer­den soll­ten; er schmolz nicht, son­dern blieb auf Käp­pis und Män­teln haf­ten, so­dass wir einen ge­spens­ti­gen Ein­druck mach­ten und wie die Geis­ter ge­fal­le­ner Sol­da­ten aus­sa­hen.

»Nie­mals«, sag­te ich mir, »kom­men wir hier durch; es müss­te denn ein Wun­der ge­sche­hen.«

Öf­ters muss­te ich hal­ten las­sen, um den ganz Er­schöpf­ten ei­ni­ge Mi­nu­ten der Ruhe zu ge­wäh­ren. Dann hör­te man nichts, als dies un­be­stimm­te Geräusch des fal­len­den Schnees, und man glaub­te deut­lich wahr­zu­neh­men, wie die ein­zel­nen Flo­cken mit der den Bo­den schon be­de­cken­den Mas­se zu­sam­men­fro­ren.

Ei­ni­ge Leu­te such­ten den Schnee ab­zu­schüt­teln; die Meis­ten aber rühr­ten sich nicht.

Dann be­fahl ich den Wei­ter­marsch. Die Ge­weh­re wur­den ge­schul­tert und mit schlaf­fer Hal­tung schlepp­ten mei­ne Bra­ven sich wei­ter.

Plötz­lich duck­ten mei­ne Eclai­reurs sich nie­der; ir­gen­det­was schi­en sie zu be­un­ru­hi­gen. Sie mel­de­ten zu­rück, dass vor ih­nen Stim­men laut wür­den, und ich sand­te einen Ser­geant mit sechs Mann zur Un­ter­stüt­zung.

Nach­dem ich eine Zeit lang ge­war­tet hat­te, tön­te der schar­fe Schrei ei­ner weib­li­chen Stim­me durch die stil­le Nacht und ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter wur­den zwei Ge­fan­ge­ne, ein al­ter Mann und ein jun­ges Mäd­chen, ein­ge­bracht.

Ich frag­te sie mit lei­ser Stim­me aus. Sie wa­ren den Preus­sen ent­flo­hen, die am Abend vor­her ihr Heim be­setzt hat­ten und dort schlimm haus­ten. Der Va­ter hat­te für sei­ne Toch­ter ge­fürch­tet und war, ohne selbst sei­nen Leu­ten et­was zu sa­gen, heim­lich in der Nacht ent­wi­chen.

Ich er­kann­te so­fort, dass es Bür­gers­leu­te, viel­leicht so­gar noch et­was Bes­se­res, wa­ren.

»Sie wer­den uns be­glei­ten«, sag­te ich.

Der Marsch ging wei­ter; der alte Mann, der die Ge­gend kann­te, mach­te jetzt den Füh­rer.

Der Schnee­fall hör­te auf, die Ster­ne glänz­ten am Him­mel und der Frost wur­de jetzt fürch­ter­lich.

Die jun­ge Dame mar­schier­te am Arme ih­res Va­ters mit mü­dem hin­fäl­li­gen Schritt. »Ich füh­le mei­ne Füs­se nicht mehr«, sag­te sie öf­ters. Ich selbst litt noch mehr, wenn ich sah, wie das zar­te jun­ge We­sen sich so schreck­lich durch den tie­fen Schnee quä­len muss­te.

Plötz­lich stand sie still.

»Ich bin so matt, Va­ter, dass ich nicht mehr wei­ter­ge­hen kann«, sag­te sie.

Der Va­ter woll­te sie tra­gen, aber er konn­te sie nicht ein­mal auf­he­ben, und mit ei­nem tie­fen Seuf­zer setz­te sie sich im Schnee nie­der.

Al­les stand um die bei­den her­um. Ich stampf­te vor Un­ge­duld mit den Füs­sen, denn ich wuss­te nicht was ich ma­chen soll­te; un­mög­lich konn­te ich die Un­glück­li­chen hier im Schnee ih­rem Schick­sal über­las­sen.

Plötz­lich rief ei­ner mei­ner Sol­da­ten, ein Pa­ri­ser, der den Spitz­na­men »Pfif­fi­kus« hat­te:

»Vor­wärts, Ka­me­ra­den, wir müs­sen das Fräu­lein tra­gen, oder wir sind, beim Teu­fel! kei­ne Fran­zo­sen.«

Ich wein­te bei­na­he, mei­ner Treu! vor Rüh­rung bei die­sen Wor­ten.

»Alle Wet­ter! das ist brav, mei­ne Kin­der; ich wer­de selbst mit tra­gen hel­fen.«

»Im Däm­mer­licht konn­te man links von uns die Bäu­me ei­nes klei­nen Ge­höl­zes er­ken­nen. Ei­ni­ge mei­ner Leu­te spran­gen hin und ka­men bald mit ei­ner Trag­bah­re aus Äs­ten und Zwei­gen zu­rück.

›Wer leiht sei­nen Man­tel her?‹ rief P­fif­fi­kus. ›Brü­der, es gilt für eine jun­ge Dame.‹


Im Nu la­gen zehn Män­tel zu Füs­sen des Spre­chers. So­fort wur­de die jun­ge Dame in die­sen war­men Klei­dungs­stücken ge­bet­tet und von sechs Schul­tern ge­tra­gen. Ich selbst ging rechts an der Spit­ze und freu­te mich, mei­ner Seel’! der süs­sen Last.

Jetzt ging es viel mun­te­rer und leb­haf­ter wei­ter, als hät­ten wir einen Schluck Wein ge­nos­sen; man hör­te so­gar ein­zel­ne Scherz­wor­te. Se­hen Sie, eine Frau ge­nügt, um einen Fran­zo­sen zu elek­tri­sie­ren.

So­gar die Marsch­ko­lon­ne wur­de wie­der ran­giert; es war als ob mei­ne Leu­te er­wärmt und neu­be­lebt wä­ren. Ein al­ter Franc­ti­reur, wel­cher der Bah­re folg­te, um den ers­ten, der er­mat­ten wür­de, zu er­set­zen, sag­te laut ge­nug, dass ich es hö­ren konn­te, zu sei­nem Ne­ben­mann:

 

›Ich bin nicht mehr jung, mei­ner Treu! aber ein Weib, mein Bursch, das macht ei­nem doch noch das Herz im Lei­be hüp­fen.‹

Bis 3 Uhr mor­gens mar­schier­ten wir fast ohne Auf­ent­halt wei­ter. Dann duck­ten sich un­se­re Eclai­reurs aber­mals plötz­lich nie­der und gleich dar­auf kau­er­te das gan­ze De­ta­che­ment im Schnee; es hob sich von dem­sel­ben kaum noch wie ein un­be­stimm­ter Schat­ten ab.

Ich gab mit lei­ser Stim­me mei­ne Be­feh­le und hör­te hin­ter mir das gleich­för­mi­ge me­tal­li­sche Klap­pern der Ver­schlüs­se in­fol­ge des La­dens.

Da un­ten in der Ebe­ne zeig­te sich eine auf­fal­len­de Be­we­gung; man hät­te glau­ben sol­len, ein un­ge­heu­res Tier käme da­her, wel­ches bald sich schlan­gen­ar­tig ver­län­ger­te, bald wie­der sich zu ei­ner Ku­gel zu­sam­men­ball­te und un­ter den wun­der­bars­ten Sprün­gen nach rechts und links bald ste­hen blieb und bald wie­der wei­ter­lief.

Plötz­lich kam die­se wan­deln­de Mas­se auf uns zu und ich er­kann­te jetzt, dass es ein Dut­zend ver­spreng­te Ula­nen wa­ren, die in flot­tem Tra­be, in der Ko­lon­ne zu ei­nem, die Stras­se zu ge­win­nen such­ten.

Sie wa­ren bald so nahe, dass ich deut­lich das Schnau­ben der Pfer­de, das Ras­seln der Sä­bel und so­gar das Knar­ren der Sät­tel un­ter­schei­den konn­te.

›Feu­er!‹ rief ich.

Fünf­zig Schüs­se knall­ten durch die stil­le Nacht, de­nen noch wei­te­re vier oder fünf und dann schliess­lich noch ein ein­zel­ner Schuss folg­te. Als der Pul­ver­dampf sich ver­zo­gen hat­te, sah man, dass die zwölf Ula­nen und neun ih­rer Pfer­de ge­fal­len wa­ren. Drei Tie­re rann­ten in vol­ler Kar­riè­re da­von, und das eine von ih­nen schlepp­te den Leich­nam sei­nes Rei­ters im Steig­bü­gel hin­ter sich her.

Ein Sol­dat hin­ter mir stiess ein häss­li­ches Ge­läch­ter aus, wäh­rend ein an­de­rer sag­te: ›Da gibt es Wit­wen‹. Er moch­te wohl selbst ver­hei­ra­tet sein. Ein Drit­ter rief; ›Das ging schnell‹.

Sie hob den Kopf aus den schüt­zen­den Män­teln ›Was gib­t’s‹ frag­te sie, ›ein Ge­fecht?‹

›Es ist nichts, mein Fräu­lein!‹ ant­wor­te­te ich, ›wir ha­ben ein Dut­zend Preus­sen weg­ge­bla­sen‹.

›Die ar­men Leu­te‹ mur­mel­te sie und schlüpf­te frös­telnd wie­der un­ter ihre war­me Um­hül­lung.

Wir mar­schier­ten lang­sam und vor­sich­tig wei­ter. End­lich grau­te der Tag; der Schnee wur­de hel­ler, er fing an zu glit­zern und zu leuch­ten. Im Wes­ten zeig­te sich ein ro­si­ger Schim­mer.


Qui vive?‹ rief eine Stim­me von Wei­tem. Das gan­ze De­ta­che­ment mach­te Halt und ich ging vor, um uns zu er­ken­nen zu ge­ben.

Wir hat­ten die fran­zö­si­sche Pos­ten­ket­te er­reicht. Als mei­ne Leu­te vor dem Pos­ten vor­bei­ka­men, frag­te mich ein hö­he­rer Of­fi­zier zu Pfer­de, dem ich mei­ne Mel­dung mach­te, mit ei­ner Hand­be­we­gung auf die Bah­re deu­tend:

›Was ha­ben Sie denn da?‹

So­fort kam aus den Män­teln ein ro­si­ger Blond­kopf her­vor und ant­wor­te­te la­chend:

›Mei­ne We­nig­keit, mein Herr!‹

Un­ter den Mann­schaf­ten er­hob sich ein all­ge­mei­nes Ge­läch­ter und man sah ih­ren Ge­sich­tern die freu­di­ge Stim­mung an, die sie be­herrsch­te.

Pfif­fi­kus, der ne­ben der Bah­re ging, lüf­te­te sein Käp­pi und rief: ›Vi­ve la Fran­ce!‹

Ich für mei­ne Per­son war, ich weiß nicht recht warum, ganz ge­rührt; so hübsch und ga­lant fand ich dies. Es kam mir vor, als hät­ten wir das Va­ter­land ge­ret­tet, als hät­ten wir ir­gend eine Tat voll­bracht, die an­de­ren nicht be­schie­den war, ir­gend eine ein­fa­che und da­bei doch wahr­haft pa­trio­ti­sche Tat.

Ich wer­de die­ses nied­li­che Ge­sicht in mei­nem Le­ben nicht wie­der ver­ges­sen; und wenn ich mei­ne An­sicht über die Ab­schaf­fung der Tam­bours und Spi­el­leu­te äus­sern soll­te, ich wür­de vor­schla­gen, sie in je­dem Re­gi­ment durch ein hüb­sches Mäd­chen zu er­set­zen. Das wür­de noch bes­ser wir­ken, als der Klang der Mar­seil­lai­se. Teu­fel auch! wie das die Mann­schaf­ten be­le­ben wür­de, wenn sie ne­ben dem Oberst eine Ma­don­na wie die­se, eine wirk­li­che le­ben­de Ma­don­na se­hen wür­den.«

Er schwieg ei­ni­ge Mi­nu­ten, dann sag­te er, noch ein­mal mit ei­ner Mie­ne der volls­ten Über­zeu­gung den Kopf er­he­bend:

»Es bleibt da­bei, wir lie­ben die Frau­en: Un­ser zwei­tes Frank­reich.«

*

Bertha

Schon oft hat­te mein al­ter Freund (man hat zu­wei­len Freun­de, die viel äl­ter sind wie wir) der Dok­tor Bon­net, mich ein­ge­la­den, ei­ni­ge Zeit bei ihm in Riom zu­zu­brin­gen. Da ich die Au­ver­gne noch nicht kann­te, so ent­schloss ich mich end­lich, im Som­mer 1876 zu ihm zu ge­hen.

Als ich ei­nes Mor­gens mit dem Früh­zu­ge dort ein­traf, war die ers­te Ge­stalt, wel­che ich auf dem Per­ron be­merk­te, die des Dok­tors. Er trug einen grau­en An­zug und einen run­den schwar­zen Hut aus wei­chem Filz mit brei­tem Ran­de, des­sen ho­her Bo­den sich nach oben zu wie ein Ofen­rohr ver­eng­te; ein ech­ter Au­ver­gna­ten-Hut, der für einen Köh­ler ge­macht schi­en. So be­klei­det ließ der Dok­tor mit sei­nem schmäch­ti­gen Kör­per un­ter der hel­len Ge­wan­dung, auf dem sein di­cker Blond­kopf thron­te, auf den ers­ten Blick den al­ten Jung­ge­sel­len er­ken­nen.

Er um­arm­te mich mit je­ner auf­fal­len­den un­ge­stü­men Freu­de, mit wel­cher die Pro­vinz­ler die An­kunft lan­ger­sehn­ter Freun­de zu be­grüs­sen pfle­gen und rief voll Stolz, in­dem er mit weit­aus­ge­streck­ter Hand rings­um deu­te­te: »Schau, das ist die Au­ver­gne.« Ich sah wei­ter nichts Be­son­de­res, als eine Rei­he von Ber­gen vor mir, de­ren ab­ge­stumpf­te Ke­gel auf ehe­ma­li­ge Vul­ka­ne schlies­sen lies­sen.

Dann wies er mit dem Fin­ger auf den Na­men der Sta­ti­on, der am Bahn­ho­fe an­ge­bracht war, und sag­te fei­er­lich:

»Riom, die Hei­mat der Be­am­ten, der Stolz des Be­am­ten­tums, wel­ches in kür­zes­ter Zeit mehr noch die Hei­mat der Ärz­te sein dürf­te.«

»Wie­so?« frag­te ich.

»Wie­so?« ant­wor­te­te er la­chend. »Dre­hen Sie den Na­men um, dann ha­ben Sie mori, mo­ri­tu­ri … Se­hen Sie, lie­ber Freund, wes­halb ich mich hier nie­der­ge­las­sen habe.«

Und sich ent­zückt über die­sen Scherz die Hän­de rei­bend, zog er mich mit sich fort.

So­bald ich eine Tas­se heis­sen Kaf­fee ge­trun­ken hat­te, ging es an die Be­sich­ti­gung der al­ten Stadt. Ich be­wun­der­te das Haus des Arz­tes und die üb­ri­gen se­hens­wer­ten Häu­ser; sie wa­ren alle schwarz, sa­hen aber im Üb­ri­gen mit ih­ren Faça­den aus ge­haue­nem Stein ganz hübsch aus, wie klei­ne Nip­pessa­chen. Ich be­wun­der­te wei­ter die Sta­tue der heil. Jung­frau, der Schutz­pa­tro­nin der Flei­scher, und er­fuhr hier­bei die Ge­schich­te ei­nes nied­li­chen Aben­teu­ers, wel­che ich viel­leicht spä­ter ’mal er­zäh­len wer­de. Dann sag­te mir Dok­tor Bon­net:

»Jetzt bit­te ich mich für fünf Mi­nu­ten zu ei­nem Kran­ken­be­su­che zu ent­schul­di­gen; dann wer­de ich Sie auf den Hü­gel Cha­tel-Guy­on füh­ren und Ih­nen noch vor dem Früh­stück den Ge­samt-An­blick der Stadt und der gan­zen Puy-de-Dome-Ket­te zei­gen. Sie kön­nen mich auf dem Trot­toir er­war­ten, ich gehe nur her­auf und her­un­ter.«

Er ver­liess mich, als wir uns ei­nem je­ner al­ten, fins­te­ren, stum­men und trau­ri­gen Häu­ser ge­gen­über be­fan­den, wie man sie noch öf­ters in den klei­nen Pro­vinz­städ­ten fin­det. Die­ses hier schi­en mir üb­ri­gens noch ein ganz be­son­ders fins­te­res Aus­se­hen zu ha­ben, und die Ur­sa­che hier­von hat­te ich bald ent­deckt. Alle großen Fens­ter der ers­ten Eta­ge wa­ren zur Hälf­te mit mas­si­ven höl­zer­nen La­den ge­schlos­sen. Nur die obe­re Hälf­te war zu öff­nen, als woll­te man alle Leu­te, die sich in die­sem großen stei­ner­nen Sar­ge be­fan­den, hin­dern, auf die Stras­se zu se­hen.

Als der Dok­tor wie­der er­schi­en, teil­te ich ihm mei­ne Beo­b­ach­tung mit.

»Sie ha­ben sich nicht ge­täuscht«, sag­te er, »das arme We­sen, wel­ches dort drü­ben ein­ge­schlos­sen ist, darf nicht se­hen, was auf der Stras­se vor sich geht. Es ist eine Irr­sin­ni­ge, oder bes­ser ge­sagt eine Idio­tin, oder um es ganz rich­tig zu be­zeich­nen, eine Ein­fäl­ti­ge, was Ihr an­de­ren, Ihr Nor­man­nen, eine ›Null‹ nen­nen wür­det. Ja, se­hen Sie ’mal; das ist eine trau­ri­ge Ge­schich­te und zu­gleich ein merk­wür­di­ger pa­tho­lo­gi­scher Fall. Soll ich Ih­nen er­zäh­len?«

Selbst­re­dend be­jah­te ich.

»Nun gut!« fuhr er fort. »Es ist jetzt zwan­zig Jah­re her, dass die Ei­gen­tü­mer die­ses Hau­ses, mei­ne Kund­schaft üb­ri­gens, ein Kind hat­ten, ein Mäd­chen wie je­des an­de­re Mäd­chen auch.

Aber ich be­merk­te bald, dass, wäh­rend der Kör­per die­ses klei­nen We­sens sich wun­der­bar ent­wi­ckel­te, sein Ver­stand völ­lig zu­rück­b­lieb.

Es lern­te sehr früh­zei­tig ge­hen, sprach aber kein Wort. Ich schob dies an­fangs nur auf ein­fa­che Dumm­heit; dann stell­te ich fest, dass es sehr gut hör­te, aber nichts ver­stand. Bei hef­ti­gem Geräusch fing es an zu zit­tern, ohne sich über die Ur­sa­chen des­sel­ben klar zu wer­den.

Es wuchs her­an, war hübsch aber stumm; stumm aus Ver­stan­des­man­gel. Ich ver­such­te mit al­len er­denk­li­chen Mit­teln in sei­nem Kop­fe auch nur den Schim­mer ei­nes Ge­dan­kens zu er­we­cken, aber es half al­les nichts. Ich glaub­te zu be­mer­ken, dass es sei­ne Er­näh­re­rin er­ken­ne, aber so­bald es ent­wöhnt war, kann­te es die Mut­ter nicht mehr. Nie­mals konn­te es die­ses Wort aus­spre­chen, wel­ches die Kin­der als ers­tes stam­meln und die auf dem Schlacht­feld ster­ben­den Sol­da­ten als letz­tes mur­meln, das Wort ›Mut­ter‹. Es ver­such­te ei­ni­ge Male et­was zu stot­tern, ei­ni­ge lee­re Ver­su­che, und dann war es nichts mehr.

War das Wet­ter schön, so lach­te sie die gan­ze Zeit und stiess da­bei leich­te Schreie aus, dem Zwit­schern der Vö­gel ver­gleich­bar; reg­ne­te es, so wein­te und seufz­te sie in ei­ner ganz trau­ri­gen herz­zer­bre­chen­den Wei­se, ähn­lich wie Hun­de kla­gen, die an ei­ner Lei­che heu­len.

Sie wälz­te sich gern im Gra­se nach Art der jun­gen Tie­re und lief wie toll um­her; je­den Mor­gen, wenn die Son­ne in ihr Zim­mer schi­en, klatsch­te sie vor Ver­gnü­gen mit den Hän­den. Das­sel­be tat sie auch, wenn man das Fens­ter öff­ne­te, da­mit man sie nur schnell an­zie­hen möch­te.

Im Üb­ri­gen schi­en sie kei­nen Un­ter­schied zwi­schen den Leu­ten zu ma­chen, we­der zwi­schen ih­rer Mut­ter noch ih­rer Wär­te­rin, zwi­schen ih­rem Va­ter oder mir, zwi­schen dem Kut­scher und der Kö­chin.

Da ich ihre un­glück­li­chen El­tern sehr gern hat­te, so kam ich fast je­den Tag zu ih­nen, und speis­te auch oft bei den­sel­ben. Hier­bei glaub­te ich zu be­mer­ken, dass Ber­t­ha (dies war ihr Tauf­na­me) die Ge­rich­te zu un­ter­schei­den und das eine dem and­ren vor­zu­zie­hen schi­en.

Sie war da­mals zwölf Jah­re alt, viel grös­ser als ich und hät­te ih­rer gan­zen Er­schei­nung nach für acht­zehn­jäh­rig gel­ten kön­nen.

So kam ich auf den Ge­dan­ken, ih­ren Ge­schmacks­sinn zu er­we­cken und mit­tels des­sel­ben zu ver­su­chen, ih­rem Geis­tes­le­ben Ab­wechs­lung zu brin­gen. Ich woll­te sie durch Ver­schie­den­heit der Ap­pe­tits-Äus­se­run­gen durch die gan­ze Stu­fen­lei­ter von Ge­schmacks-Rich­tun­gen, wenn auch nicht ge­ra­de zu be­wuss­ten oder über­leg­ten Ent­sch­lies­sun­gen, so doch we­nigs­tens zu in­stink­ti­ven Un­ter­schei­dun­gen brin­gen, bei de­nen sich dann doch im­mer­hin eine Art ma­te­ri­el­ler Ge­dan­ken­ar­beit voll­zog.

Wenn man so ihre Nei­gun­gen reiz­te, so konn­te man viel­leicht, na­ment­lich bei sorg­fäl­ti­ger Berück­sich­ti­gung der­je­ni­gen, die am aus­ge­spro­chens­ten auf­tra­ten, eine um­ge­kehr­te Wir­kung des Kör­pers auf den Ver­stand er­zie­len und all­mäh­lich ihr Ge­hirn aus sei­ner bis­he­ri­gen Un­tä­tig­keit auf­we­cken.

Ich stell­te also ei­nes Ta­ges zwei Schüs­seln, die eine mit Sup­pe und die an­de­re mit sehr süs­sem Va­nil­le-Crê­me vor ihr hin, und ließ sie ab­wech­selnd von bei­den kos­ten Dann über­liess ich ihr die Wahl und sie ass den Crê­me auf.

In kur­z­er Zeit war sie sehr wäh­le­risch ge­wor­den, so­dass sie ei­gent­lich nur noch den Ge­dan­ken ans Es­sen oder bes­ser ge­sagt, das Ver­lan­gen da­nach im Kop­fe hat­te. Sie er­kann­te die Schüs­seln ganz ge­nau, streck­te die Hän­de nach de­nen aus, die sie wünsch­te, und ver­zehr­te al­les mit Gier. Sie wein­te, wenn man es ihr fort­nahm.

 

Nun ver­such­te ich sie auf den Klang der Tisch­glo­cke ein­zuü­ben; es dau­er­te lan­ge, ge­lang aber auch. Es bil­de­te sich zwei­fel­los bei ihr ein un­be­wus­s­ter Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Glo­cken­zei­chen und ih­rem Ap­pe­tit, also eine Art Be­zie­hung zwi­schen zwei Sin­nen, eine Wir­kung des einen auf den and­ren und fol­ge­rich­tig ein Ide­en-Zu­sam­men­hang -- wenn man die­se Art von in­stink­ti­vem Zu­sam­men­wir­ken zwei­er or­ga­ni­scher Funk­tio­nen als Idee be­zeich­nen kann.

Mei­ne Hoff­nung wuchs, und ich dehn­te mei­ne Ver­su­che nun dar­auf aus, ihr die Stun­de der Mahl­zeit auf dem Zif­fer­blatt der Wand­uhr -- und mit wel­cher Mühe! -- be­greif­lich zu ma­chen.

Lan­ge Zeit hat­te sie für die Be­we­gung der Zei­ger ab­so­lut kein Ver­ständ­nis; aber es ge­lang mir, ihr den Stun­den­schlag ein­zu­prä­gen. Die Sa­che war sehr ein­fach. Ich ließ das Läu­ten der Tisch­glo­cke ein­stel­len, da­ge­gen stan­den wir alle auf, um zu Tisch zu ge­hen, so­bald als der klei­ne Ham­mer des Uhr­werks zum An­schla­gen der Mit­tags­stun­de aus­hob.

So streng­te ich mich z. B. ver­geb­lich an, ihr das Zäh­len der Schlä­ge bei­zu­brin­gen. Sie stürz­te je­des Mal auf die Türe zu, so­bald sie über­haupt die Uhr schla­gen hör­te, aber all­mäh­lich wur­de es ihr doch klar, dass alle Schlä­ge der Uhr doch, nicht die Es­sens­stun­de an­zeig­ten, und so fing sie an, das Auge, vom Ge­hör un­ter­stützt, mehr wie sonst auf das Zif­fer­blatt zu len­ken.

Als ich dies be­merk­te, trug ich Sor­ge, je­den Tag zur Mit­tags­stun­de und um 6 Uhr mei­nen Fin­ger auf die Zahl 12 und 6 zu rich­ten, so­bald der so sehn­lich von ihr er­war­te­te Au­gen­blick ein­ge­tre­ten war. Ich konn­te bald be­ob­ach­ten, dass sie an­fing, auf­merk­sam den Be­we­gun­gen der klei­nen bron­ze­nen Zei­ger zu fol­gen, die ich in ih­rer Ge­gen­wart so oft hat­te um das Zif­fer­blatt lau­fen las­sen.

Sie hat­te es also be­grif­fen; ich möch­te viel­mehr sa­gen, sie hat­te es sich ge­merkt. Es war mir ge­lun­gen, das Be­wusst­sein oder noch bes­ser die Emp­fin­dung der Stun­de in ihr zu er­we­cken, wie man dies, al­ler­dings ohne Hil­fe ei­ner Uhr, bei den Kar­pfen er­reicht, in­dem man ih­nen je­den Tag ge­nau zu der­sel­ben Zeit Fut­ter wirft.

Nach­dem wir nun ein­mal so­weit wa­ren, er­reg­te jede Art von Zeit­mes­ser, die im Hau­se nur exis­tier­te, ihre Auf­merk­sam­keit in ganz be­son­de­rer Wei­se. Sie ver­brach­te ihre Zeit da­mit, sie zu be­trach­ten, sie zu hö­ren und auf die Glo­cken­schlä­ge zu war­ten.

Ein­mal pas­sier­te so­gar et­was sehr Ko­mi­sches. Das Schlag­werk ei­ner klei­nen ein­ge­leg­ten Uhr aus der Zeit Lud­wigs XVI., wel­che man am Kop­fen­de ih­res Bet­tes auf­ge­hängt hat­te, war in Un­ord­nung ge­ra­ten. Sie be­merk­te es wohl und war­te­te seit zwan­zig Mi­nu­ten, das Auge un­ver­wandt auf die Zei­ger ge­hef­tet, dass die Uhr zehn schla­gen soll­te. Aber als der Zei­ger die Zahl über­schrit­ten hat­te, war sie ganz ver­wun­dert, nichts zu hö­ren; der­art ver­wun­dert, dass sie sich hin­setz­te, ohne Zwei­fel von ei­ner ähn­li­chen Ge­müts­be­we­gung er­grif­fen, wie wir sie beim An­blick ir­gend ei­nes großen Er­eig­nis­ses ha­ben. Sie hat­te die auf­fal­len­de Ge­duld, vor dem klei­nen Ding bis elf Uhr zu war­ten, um zu se­hen, was sich dann er­eig­nen wür­de. Sie hör­te na­tür­lich wie­der nichts; da er­griff sie, ent­we­der im hef­ti­gen Zorn dar­über, ent­täuscht und be­tro­gen zu sein, oder im ers­ten Dran­ge der Be­stür­zung über ein furcht­ba­res Ge­heim­nis, oder schliess­lich von ra­sen­der Un­ge­duld dar­über ver­zehrt, dass ihr ein Hin­der­nis ent­ge­gen­trat, die Ofenzan­ge, und schlug mit sol­cher Ge­walt auf die Uhr los, dass sie im nächs­ten Au­gen­blick in Trüm­mer ging.


Ihr Ge­hirn funk­tio­nier­te also, es über­leg­te; wenn auch, wie ich zu­ge­ben muss, nur in sehr un­kla­rer Wei­se und in sehr be­schränk­tem Mas­se. Denn ich konn­te sie nicht dazu brin­gen, die Per­so­nen eben­so wie die Stun­den zu un­ter­schei­den. Man muss­te, um eine Re­gung ih­res geis­ti­gen Be­wusst­seins zu er­zie­len, an ihre Lei­den­schaf­ten im wah­ren Sin­ne des Wor­tes ap­pel­lie­ren.

Hier­für er­hiel­ten wir bald einen and­ren, lei­der sehr schreck­li­chen Be­weis.

Sie war äus­ser­lich wun­der­schön ge­wor­den, in der Tat eine ty­pi­sche Er­schei­nung, eine Art be­wun­derns­wer­te aber geist­lo­se Ve­nus.

Sie war jetzt sech­zehn Jah­re alt, und sel­ten habe ich in dem Al­ter eine ähn­li­che Fül­le der For­men, eine ähn­li­che Fein­heit und Vollen­dung der Züge ge­se­hen. Ich nann­te sie eine Ve­nus, und sie war es in der Tat: Blond, zart­ge­run­det, eben­mäs­sig, mit großen, hel­len, träu­me­ri­schen Au­gen, de­ren Bläue der Hanf­blü­te glich; der Mund ge­schwun­gen, mit vol­len run­den Lip­pen, ein lieb­li­cher, sinn­li­cher Mund, ein Mund zum Küs­sen.

Da trat ei­nes Ta­ges ihr Va­ter bei mir ein; er mach­te ein erns­tes Ge­sicht und setz­te sich, ohne mei­nen Gruss zu er­wi­dern.


»Ich muss et­was ganz Wich­ti­ges mit Ih­nen be­spre­chen«, sag­te er. »Wür­de es mög­lich sein … kann man … Ber­t­ha ver­hei­ra­ten?«

Ich war starr vor Er­stau­nen und rief:

»Ber­t­ha ver­hei­ra­ten? … aber das ist ja un­mög­lich!«

»Ich weiß«, sag­te er … »ja … aber den­ken Sie … Dok­tor … es könn­te … viel­leicht … wir ha­ben ge­dacht … wenn sie Kin­der hät­te … das wäre für sie eine große Ge­müts­be­we­gung, ein Glück und … wer weiß, ob die Mut­ter­freu­den ih­ren Geist nicht er­we­cken wür­den? …«

Ich war ganz ver­blüfft; das war nicht so un­rich­tig. Mög­li­cher­wei­se ver­moch­te die­se ganz neue Lage, die­ser wun­der­ba­re Mut­ter-In­stinkt, der im wil­den Tie­re eben­so wohnt wie im Her­zen der Frau, und der die Hen­ne sich dem Hun­de ent­ge­gen­stel­len lässt, um ihre Küch­lein zu ver­tei­di­gen, auch in die­sem fühl­lo­sen Men­schen­kop­fe eine be­son­de­re Er­re­gung, eine voll­stän­di­ge Um­wäl­zung her­vor­zu­brin­gen und den bis­her un­be­weg­li­chen Ge­dan­ken-Mecha­nis­mus in Gang zu set­zen.

Mir fiel so­fort ein Bei­spiel aus mei­ner ei­ge­nen Er­fah­rung ein. Ich hat­te ei­ni­ge Jah­re vor­her eine klei­ne Jagd­hün­din ge­habt, die so un­ge­leh­rig war, dass ich nichts mit ihr an­fan­gen konn­te. Kaum hat­te sie ein­mal Jun­ge ge­wor­fen, als sie so­zu­sa­gen von heu­te auf mor­gen, wenn auch nicht ge­ra­de her­vor­ra­gend, so doch vie­len mit­tel­mäs­sig ent­wi­ckel­ten Hun­den ähn­lich wur­de.

Kaum hat­te ich die­se Mög­lich­keit er­wo­gen, als der Wunsch, Ber­t­ha ver­hei­ra­tet zu se­hen, in mir im­mer re­ger wur­de, wenn auch, of­fen ge­stan­den, nicht so sehr aus Freund­schaft für sie und ihre ar­men El­tern, als aus wis­sen­schaft­li­chem In­ter­es­se. Wie wür­de es aus­fal­len? Das war ’mal wirk­lich ein merk­wür­di­ges Pro­blem!

»Vi­el­leicht ha­ben Sie Recht …« ant­wor­te­te ich dem­ge­mä­ss dem Va­ter, »man könn­te den Ver­such ma­chen … Ver­su­chen Sie es … aber … aber … Sie wer­den nie­mals einen Mann fin­den, der sich dar­auf ein­lässt.«

»Ich habe schon einen«, sag­te er halb­laut.

Aufs Neue be­trof­fen stam­mel­te ich:

»Ei­nen ge­eig­ne­ten?… Ei­nen aus … Ihren Krei­sen?«

»Ja«, ant­wor­te­te er, »voll­kom­men.«

»Ach! Und … darf ich sei­nen Na­men wis­sen?«

»Ich woll­te ihn ge­ra­de Ih­nen nen­nen und Sie um Ihre An­sicht über ihn bit­ten. Er heisst Gas­ton du Boys de Lu­cel­les!«

»Der Elen­de!« hät­te ich bei­na­he aus­ge­ru­fen, aber ich be­zwang mich noch recht­zei­tig, und nach kur­z­em Schwei­gen sag­te ich:

»Ja … sehr gut. Ich sehe kein Hin­der­nis.«

Der arme Mann drück­te mir die Hand:

»Die Hoch­zeit wird nächs­ten Mo­nat sein« sag­te er.

*

Gas­ton du Boys de Lu­cel­les war ein Tau­ge­nichts aus gu­ter Fa­mi­lie, der, nach­dem er sein vä­ter­li­ches Erb­teil ver­zehrt und sich eine hüb­sche An­zahl zum Teil sehr be­denk­li­cher Schul­den auf­ge­la­den hat­te, nach ir­gend ei­ner Ge­le­gen­heit such­te, um sich aufs Neue Geld zu be­schaf­fen.