»Meiner Treu«, sagte der Colonel Laporte, »ich bin alt, habe das Reissen, meine Beine sind steif wie zwei Türpfosten, aber wenn eine Frau, eine hübsche Frau natürlich, mir beföhle, durch ein Nadelöhr zu schlüpfen, ich würde springen, glaube ich, wie ein Clown im Cirkus. So wird es bis zu meinem Tode sein, das liegt mir ’mal im Blute. Ich bin ein alter Weiberfreund, aber noch einer aus der alten Schule. Der Anblick einer Frau, einer hübschen natürlich, geht mir bis in die Fussspitzen. Das ist ’mal so. Übrigens, meine Herren, sind wir hier in Frankreich uns alle darin etwas ähnlich. Wir sind alle Ritter; die Ritter der Liebe und des Glücks, da man den Herrgott, dessen eigentliche Leibgarde wir waren, abgesetzt hat.
Aber die Frau! ja sehen Sie, die Frau kann man uns nicht aus dem Herzen reissen. Sie wohnt darin und da bleibt sie auch. Wir lieben sie, werden sie weiter lieben und jede Dummheit für sie begehen, so lange es noch ein Frankreich auf der Karte Europas gibt. Und wenn man auch Frankreich vernichtet, so wird es doch immer noch Französinnen geben.
Wenn ich vor einer Frau, einer hübschen natürlich, stehe, dann bin ich zu allem fähig. Der Tausend auch! Wenn ich fühle, wie ihr Blick mich durchdringt, dieser Sapperments-Blick, der einem Feuer in die Adern giesst, dann kann ich mir nicht mehr helfen, dann muss ich irgendetwas tun, mich mit Jemandem schlagen, Streit anfangen, Tische und Stühle zerbrechen, kurz, ich muss zeigen, dass ich der Stärkste, Tapferste, Kühnste und Hingebendste von Allen bin.
Aber ich bin es doch nicht allein, wahrhaftig nicht, die ganze französische Armee denkt wie ich, darauf schwöre ich. Es geht uns Allen so, solange wir leben, vom jüngsten Lieutenant bis zum General, wenn es sich um eine Frau, eine hübsche natürlich, handelt. Denkt nur dran, wohin uns einst Jeanne d’Arc gebracht hat. Glaubt nur, ich wette darauf, dass, wenn in der Schlacht bei Sedan, nachdem Mac-Mahon verwundet war, uns eine Frau, natürlich eine hübsche, geführt hätte, wir sicherlich die preussischen Linien durchbrochen und, der Teufel soll mich holen! unseren Schnaps aus ihren Kanonen getrunken hätten.
Wir hätten in Paris keinen Trochu, sondern eine heilige Genoveva gebraucht.
Da fällt mir gerade eine kleine Geschichte aus dem Feldzuge ein, die deutlich beweist, dass einer Frau zu Liebe wir zu allem fähig sind.
Ich war damals noch Kapitän, einfacher Kapitän, und führte ein Detachement auf dem Rückzuge vor den Preussen, die das ganze Land überschwemmt hatten. Wir waren eingeschlossen, decimiert, abstrapaziert und stumpf geworden; dabei starben wir vor Hunger und Müdigkeit.
Auf jeden Fall mussten wir vor Anbruch des anderen Tages Bar-sur-Tain gewinnen, wenn wir nicht vollständig abgeschnitten und aufgerieben werden wollten. Wie wir noch dahin gelangen sollten, wusste ich wahrhaftig nicht mehr. Wir hatten wenigstens noch zwölf Meilen in der Nacht zu marschieren, zwölf Meilen durch den Schnee und unter dem heftigsten Schneefall und stürmendem Winde. »Es geht zu Ende«; dachte ich bei mir, »die armen Teufel werden niemals hinkommen.«
Seit dem gestrigen Tage hatten wir nichts mehr gegessen. Den ganzen Tag blieben wir in einer Scheune versteckt, dicht aneinandergedrängt, um die Kälte weniger zu verspüren, sprachlos und unfähig, uns zu bewegen, schläfrig vor Hunger und Ermattung, wie man schläft, wenn einen die Anstrengung überwältigt.
Gegen 5 Uhr wurde es Nacht, eine bleiche Schneenacht. Ich weckte meine Leute. Viele wollten, unfähig sich zu bewegen oder sich auf den Beinen zu halten, vor Kälte und Ermattung stumpf geworden, nicht mehr aufstehen. Vor uns lag die Ebene wie ein großes Leichentuch, auf dem der Schnee niederfiel. Das schneite und schneite wie ein Vorhang, diese weißen Flocken, die alles in einen eisigen Mantel hüllten, dessen Berührung das Blut in den Adern gefrieren ließ und alles Leben erstarren machte. Das Ende der Welt schien da zu sein.
»Vorwärts Marsch! meine Kinder!«
Sie sahen sich das alles an, die weiße Masse, die vom Himmel fiel, als wenn sie sagen wollten: »Es ist genug; lieber gleich hier sterben.« Ich zog meinen Revolver:
»Den ersten, der zurückbleibt, schiesse ich nieder.«
Und nun setzten sie sich langsam in Marsch, wie Leute, denen die Glieder nicht mehr gehorchen.
Ich schickte vier Mann zur Aufklärung ungefähr dreihundert Meter voraus; dann folgte der Rest in einem regellosen Haufen, je nachdem die Müdigkeit ihre Schritte verkürzte. Ich nahm die Zuverlässigeren an die Queue, mit dem Befehl, die Zögernden durch Bajonett-Stösse … in den Rücken … vorwärts zu treiben.
Es war als ob wir alle lebendig im Schnee begraben werden sollten; er schmolz nicht, sondern blieb auf Käppis und Mänteln haften, sodass wir einen gespenstigen Eindruck machten und wie die Geister gefallener Soldaten aussahen.
»Niemals«, sagte ich mir, »kommen wir hier durch; es müsste denn ein Wunder geschehen.«
Öfters musste ich halten lassen, um den ganz Erschöpften einige Minuten der Ruhe zu gewähren. Dann hörte man nichts, als dies unbestimmte Geräusch des fallenden Schnees, und man glaubte deutlich wahrzunehmen, wie die einzelnen Flocken mit der den Boden schon bedeckenden Masse zusammenfroren.
Einige Leute suchten den Schnee abzuschütteln; die Meisten aber rührten sich nicht.
Dann befahl ich den Weitermarsch. Die Gewehre wurden geschultert und mit schlaffer Haltung schleppten meine Braven sich weiter.
Plötzlich duckten meine Eclaireurs sich nieder; irgendetwas schien sie zu beunruhigen. Sie meldeten zurück, dass vor ihnen Stimmen laut würden, und ich sandte einen Sergeant mit sechs Mann zur Unterstützung.
Nachdem ich eine Zeit lang gewartet hatte, tönte der scharfe Schrei einer weiblichen Stimme durch die stille Nacht und einige Minuten später wurden zwei Gefangene, ein alter Mann und ein junges Mädchen, eingebracht.
Ich fragte sie mit leiser Stimme aus. Sie waren den Preussen entflohen, die am Abend vorher ihr Heim besetzt hatten und dort schlimm hausten. Der Vater hatte für seine Tochter gefürchtet und war, ohne selbst seinen Leuten etwas zu sagen, heimlich in der Nacht entwichen.
Ich erkannte sofort, dass es Bürgersleute, vielleicht sogar noch etwas Besseres, waren.
»Sie werden uns begleiten«, sagte ich.
Der Marsch ging weiter; der alte Mann, der die Gegend kannte, machte jetzt den Führer.
Der Schneefall hörte auf, die Sterne glänzten am Himmel und der Frost wurde jetzt fürchterlich.
Die junge Dame marschierte am Arme ihres Vaters mit müdem hinfälligen Schritt. »Ich fühle meine Füsse nicht mehr«, sagte sie öfters. Ich selbst litt noch mehr, wenn ich sah, wie das zarte junge Wesen sich so schrecklich durch den tiefen Schnee quälen musste.
Plötzlich stand sie still.
»Ich bin so matt, Vater, dass ich nicht mehr weitergehen kann«, sagte sie.
Der Vater wollte sie tragen, aber er konnte sie nicht einmal aufheben, und mit einem tiefen Seufzer setzte sie sich im Schnee nieder.
Alles stand um die beiden herum. Ich stampfte vor Ungeduld mit den Füssen, denn ich wusste nicht was ich machen sollte; unmöglich konnte ich die Unglücklichen hier im Schnee ihrem Schicksal überlassen.
Plötzlich rief einer meiner Soldaten, ein Pariser, der den Spitznamen »Pfiffikus« hatte:
»Vorwärts, Kameraden, wir müssen das Fräulein tragen, oder wir sind, beim Teufel! keine Franzosen.«
Ich weinte beinahe, meiner Treu! vor Rührung bei diesen Worten.
»Alle Wetter! das ist brav, meine Kinder; ich werde selbst mit tragen helfen.«
»Im Dämmerlicht konnte man links von uns die Bäume eines kleinen Gehölzes erkennen. Einige meiner Leute sprangen hin und kamen bald mit einer Tragbahre aus Ästen und Zweigen zurück.
›Wer leiht seinen Mantel her?‹ rief Pfiffikus. ›Brüder, es gilt für eine junge Dame.‹
Im Nu lagen zehn Mäntel zu Füssen des Sprechers. Sofort wurde die junge Dame in diesen warmen Kleidungsstücken gebettet und von sechs Schultern getragen. Ich selbst ging rechts an der Spitze und freute mich, meiner Seel’! der süssen Last.
Jetzt ging es viel munterer und lebhafter weiter, als hätten wir einen Schluck Wein genossen; man hörte sogar einzelne Scherzworte. Sehen Sie, eine Frau genügt, um einen Franzosen zu elektrisieren.
Sogar die Marschkolonne wurde wieder rangiert; es war als ob meine Leute erwärmt und neubelebt wären. Ein alter Franctireur, welcher der Bahre folgte, um den ersten, der ermatten würde, zu ersetzen, sagte laut genug, dass ich es hören konnte, zu seinem Nebenmann:
›Ich bin nicht mehr jung, meiner Treu! aber ein Weib, mein Bursch, das macht einem doch noch das Herz im Leibe hüpfen.‹
Bis 3 Uhr morgens marschierten wir fast ohne Aufenthalt weiter. Dann duckten sich unsere Eclaireurs abermals plötzlich nieder und gleich darauf kauerte das ganze Detachement im Schnee; es hob sich von demselben kaum noch wie ein unbestimmter Schatten ab.
Ich gab mit leiser Stimme meine Befehle und hörte hinter mir das gleichförmige metallische Klappern der Verschlüsse infolge des Ladens.
Da unten in der Ebene zeigte sich eine auffallende Bewegung; man hätte glauben sollen, ein ungeheures Tier käme daher, welches bald sich schlangenartig verlängerte, bald wieder sich zu einer Kugel zusammenballte und unter den wunderbarsten Sprüngen nach rechts und links bald stehen blieb und bald wieder weiterlief.
Plötzlich kam diese wandelnde Masse auf uns zu und ich erkannte jetzt, dass es ein Dutzend versprengte Ulanen waren, die in flottem Trabe, in der Kolonne zu einem, die Strasse zu gewinnen suchten.
Sie waren bald so nahe, dass ich deutlich das Schnauben der Pferde, das Rasseln der Säbel und sogar das Knarren der Sättel unterscheiden konnte.
›Feuer!‹ rief ich.
Fünfzig Schüsse knallten durch die stille Nacht, denen noch weitere vier oder fünf und dann schliesslich noch ein einzelner Schuss folgte. Als der Pulverdampf sich verzogen hatte, sah man, dass die zwölf Ulanen und neun ihrer Pferde gefallen waren. Drei Tiere rannten in voller Karrière davon, und das eine von ihnen schleppte den Leichnam seines Reiters im Steigbügel hinter sich her.
Ein Soldat hinter mir stiess ein hässliches Gelächter aus, während ein anderer sagte: ›Da gibt es Witwen‹. Er mochte wohl selbst verheiratet sein. Ein Dritter rief; ›Das ging schnell‹.
Sie hob den Kopf aus den schützenden Mänteln ›Was gibt’s‹ fragte sie, ›ein Gefecht?‹
›Es ist nichts, mein Fräulein!‹ antwortete ich, ›wir haben ein Dutzend Preussen weggeblasen‹.
›Die armen Leute‹ murmelte sie und schlüpfte fröstelnd wieder unter ihre warme Umhüllung.
Wir marschierten langsam und vorsichtig weiter. Endlich graute der Tag; der Schnee wurde heller, er fing an zu glitzern und zu leuchten. Im Westen zeigte sich ein rosiger Schimmer.
Qui vive?‹ rief eine Stimme von Weitem. Das ganze Detachement machte Halt und ich ging vor, um uns zu erkennen zu geben.
Wir hatten die französische Postenkette erreicht. Als meine Leute vor dem Posten vorbeikamen, fragte mich ein höherer Offizier zu Pferde, dem ich meine Meldung machte, mit einer Handbewegung auf die Bahre deutend:
›Was haben Sie denn da?‹
Sofort kam aus den Mänteln ein rosiger Blondkopf hervor und antwortete lachend:
›Meine Wenigkeit, mein Herr!‹
Unter den Mannschaften erhob sich ein allgemeines Gelächter und man sah ihren Gesichtern die freudige Stimmung an, die sie beherrschte.
Pfiffikus, der neben der Bahre ging, lüftete sein Käppi und rief: ›Vive la France!‹
Ich für meine Person war, ich weiß nicht recht warum, ganz gerührt; so hübsch und galant fand ich dies. Es kam mir vor, als hätten wir das Vaterland gerettet, als hätten wir irgend eine Tat vollbracht, die anderen nicht beschieden war, irgend eine einfache und dabei doch wahrhaft patriotische Tat.
Ich werde dieses niedliche Gesicht in meinem Leben nicht wieder vergessen; und wenn ich meine Ansicht über die Abschaffung der Tambours und Spielleute äussern sollte, ich würde vorschlagen, sie in jedem Regiment durch ein hübsches Mädchen zu ersetzen. Das würde noch besser wirken, als der Klang der Marseillaise. Teufel auch! wie das die Mannschaften beleben würde, wenn sie neben dem Oberst eine Madonna wie diese, eine wirkliche lebende Madonna sehen würden.«
Er schwieg einige Minuten, dann sagte er, noch einmal mit einer Miene der vollsten Überzeugung den Kopf erhebend:
»Es bleibt dabei, wir lieben die Frauen: Unser zweites Frankreich.«
*
Schon oft hatte mein alter Freund (man hat zuweilen Freunde, die viel älter sind wie wir) der Doktor Bonnet, mich eingeladen, einige Zeit bei ihm in Riom zuzubringen. Da ich die Auvergne noch nicht kannte, so entschloss ich mich endlich, im Sommer 1876 zu ihm zu gehen.
Als ich eines Morgens mit dem Frühzuge dort eintraf, war die erste Gestalt, welche ich auf dem Perron bemerkte, die des Doktors. Er trug einen grauen Anzug und einen runden schwarzen Hut aus weichem Filz mit breitem Rande, dessen hoher Boden sich nach oben zu wie ein Ofenrohr verengte; ein echter Auvergnaten-Hut, der für einen Köhler gemacht schien. So bekleidet ließ der Doktor mit seinem schmächtigen Körper unter der hellen Gewandung, auf dem sein dicker Blondkopf thronte, auf den ersten Blick den alten Junggesellen erkennen.
Er umarmte mich mit jener auffallenden ungestümen Freude, mit welcher die Provinzler die Ankunft langersehnter Freunde zu begrüssen pflegen und rief voll Stolz, indem er mit weitausgestreckter Hand ringsum deutete: »Schau, das ist die Auvergne.« Ich sah weiter nichts Besonderes, als eine Reihe von Bergen vor mir, deren abgestumpfte Kegel auf ehemalige Vulkane schliessen liessen.
Dann wies er mit dem Finger auf den Namen der Station, der am Bahnhofe angebracht war, und sagte feierlich:
»Riom, die Heimat der Beamten, der Stolz des Beamtentums, welches in kürzester Zeit mehr noch die Heimat der Ärzte sein dürfte.«
»Wieso?« fragte ich.
»Wieso?« antwortete er lachend. »Drehen Sie den Namen um, dann haben Sie mori, morituri … Sehen Sie, lieber Freund, weshalb ich mich hier niedergelassen habe.«
Und sich entzückt über diesen Scherz die Hände reibend, zog er mich mit sich fort.
Sobald ich eine Tasse heissen Kaffee getrunken hatte, ging es an die Besichtigung der alten Stadt. Ich bewunderte das Haus des Arztes und die übrigen sehenswerten Häuser; sie waren alle schwarz, sahen aber im Übrigen mit ihren Façaden aus gehauenem Stein ganz hübsch aus, wie kleine Nippessachen. Ich bewunderte weiter die Statue der heil. Jungfrau, der Schutzpatronin der Fleischer, und erfuhr hierbei die Geschichte eines niedlichen Abenteuers, welche ich vielleicht später ’mal erzählen werde. Dann sagte mir Doktor Bonnet:
»Jetzt bitte ich mich für fünf Minuten zu einem Krankenbesuche zu entschuldigen; dann werde ich Sie auf den Hügel Chatel-Guyon führen und Ihnen noch vor dem Frühstück den Gesamt-Anblick der Stadt und der ganzen Puy-de-Dome-Kette zeigen. Sie können mich auf dem Trottoir erwarten, ich gehe nur herauf und herunter.«
Er verliess mich, als wir uns einem jener alten, finsteren, stummen und traurigen Häuser gegenüber befanden, wie man sie noch öfters in den kleinen Provinzstädten findet. Dieses hier schien mir übrigens noch ein ganz besonders finsteres Aussehen zu haben, und die Ursache hiervon hatte ich bald entdeckt. Alle großen Fenster der ersten Etage waren zur Hälfte mit massiven hölzernen Laden geschlossen. Nur die obere Hälfte war zu öffnen, als wollte man alle Leute, die sich in diesem großen steinernen Sarge befanden, hindern, auf die Strasse zu sehen.
Als der Doktor wieder erschien, teilte ich ihm meine Beobachtung mit.
»Sie haben sich nicht getäuscht«, sagte er, »das arme Wesen, welches dort drüben eingeschlossen ist, darf nicht sehen, was auf der Strasse vor sich geht. Es ist eine Irrsinnige, oder besser gesagt eine Idiotin, oder um es ganz richtig zu bezeichnen, eine Einfältige, was Ihr anderen, Ihr Normannen, eine ›Null‹ nennen würdet. Ja, sehen Sie ’mal; das ist eine traurige Geschichte und zugleich ein merkwürdiger pathologischer Fall. Soll ich Ihnen erzählen?«
Selbstredend bejahte ich.
»Nun gut!« fuhr er fort. »Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass die Eigentümer dieses Hauses, meine Kundschaft übrigens, ein Kind hatten, ein Mädchen wie jedes andere Mädchen auch.
Aber ich bemerkte bald, dass, während der Körper dieses kleinen Wesens sich wunderbar entwickelte, sein Verstand völlig zurückblieb.
Es lernte sehr frühzeitig gehen, sprach aber kein Wort. Ich schob dies anfangs nur auf einfache Dummheit; dann stellte ich fest, dass es sehr gut hörte, aber nichts verstand. Bei heftigem Geräusch fing es an zu zittern, ohne sich über die Ursachen desselben klar zu werden.
Es wuchs heran, war hübsch aber stumm; stumm aus Verstandesmangel. Ich versuchte mit allen erdenklichen Mitteln in seinem Kopfe auch nur den Schimmer eines Gedankens zu erwecken, aber es half alles nichts. Ich glaubte zu bemerken, dass es seine Ernährerin erkenne, aber sobald es entwöhnt war, kannte es die Mutter nicht mehr. Niemals konnte es dieses Wort aussprechen, welches die Kinder als erstes stammeln und die auf dem Schlachtfeld sterbenden Soldaten als letztes murmeln, das Wort ›Mutter‹. Es versuchte einige Male etwas zu stottern, einige leere Versuche, und dann war es nichts mehr.
War das Wetter schön, so lachte sie die ganze Zeit und stiess dabei leichte Schreie aus, dem Zwitschern der Vögel vergleichbar; regnete es, so weinte und seufzte sie in einer ganz traurigen herzzerbrechenden Weise, ähnlich wie Hunde klagen, die an einer Leiche heulen.
Sie wälzte sich gern im Grase nach Art der jungen Tiere und lief wie toll umher; jeden Morgen, wenn die Sonne in ihr Zimmer schien, klatschte sie vor Vergnügen mit den Händen. Dasselbe tat sie auch, wenn man das Fenster öffnete, damit man sie nur schnell anziehen möchte.
Im Übrigen schien sie keinen Unterschied zwischen den Leuten zu machen, weder zwischen ihrer Mutter noch ihrer Wärterin, zwischen ihrem Vater oder mir, zwischen dem Kutscher und der Köchin.
Da ich ihre unglücklichen Eltern sehr gern hatte, so kam ich fast jeden Tag zu ihnen, und speiste auch oft bei denselben. Hierbei glaubte ich zu bemerken, dass Bertha (dies war ihr Taufname) die Gerichte zu unterscheiden und das eine dem andren vorzuziehen schien.
Sie war damals zwölf Jahre alt, viel grösser als ich und hätte ihrer ganzen Erscheinung nach für achtzehnjährig gelten können.
So kam ich auf den Gedanken, ihren Geschmackssinn zu erwecken und mittels desselben zu versuchen, ihrem Geistesleben Abwechslung zu bringen. Ich wollte sie durch Verschiedenheit der Appetits-Äusserungen durch die ganze Stufenleiter von Geschmacks-Richtungen, wenn auch nicht gerade zu bewussten oder überlegten Entschliessungen, so doch wenigstens zu instinktiven Unterscheidungen bringen, bei denen sich dann doch immerhin eine Art materieller Gedankenarbeit vollzog.
Wenn man so ihre Neigungen reizte, so konnte man vielleicht, namentlich bei sorgfältiger Berücksichtigung derjenigen, die am ausgesprochensten auftraten, eine umgekehrte Wirkung des Körpers auf den Verstand erzielen und allmählich ihr Gehirn aus seiner bisherigen Untätigkeit aufwecken.
Ich stellte also eines Tages zwei Schüsseln, die eine mit Suppe und die andere mit sehr süssem Vanille-Crême vor ihr hin, und ließ sie abwechselnd von beiden kosten Dann überliess ich ihr die Wahl und sie ass den Crême auf.
In kurzer Zeit war sie sehr wählerisch geworden, sodass sie eigentlich nur noch den Gedanken ans Essen oder besser gesagt, das Verlangen danach im Kopfe hatte. Sie erkannte die Schüsseln ganz genau, streckte die Hände nach denen aus, die sie wünschte, und verzehrte alles mit Gier. Sie weinte, wenn man es ihr fortnahm.
Nun versuchte ich sie auf den Klang der Tischglocke einzuüben; es dauerte lange, gelang aber auch. Es bildete sich zweifellos bei ihr ein unbewusster Zusammenhang zwischen dem Glockenzeichen und ihrem Appetit, also eine Art Beziehung zwischen zwei Sinnen, eine Wirkung des einen auf den andren und folgerichtig ein Ideen-Zusammenhang -- wenn man diese Art von instinktivem Zusammenwirken zweier organischer Funktionen als Idee bezeichnen kann.
Meine Hoffnung wuchs, und ich dehnte meine Versuche nun darauf aus, ihr die Stunde der Mahlzeit auf dem Zifferblatt der Wanduhr -- und mit welcher Mühe! -- begreiflich zu machen.
Lange Zeit hatte sie für die Bewegung der Zeiger absolut kein Verständnis; aber es gelang mir, ihr den Stundenschlag einzuprägen. Die Sache war sehr einfach. Ich ließ das Läuten der Tischglocke einstellen, dagegen standen wir alle auf, um zu Tisch zu gehen, sobald als der kleine Hammer des Uhrwerks zum Anschlagen der Mittagsstunde aushob.
So strengte ich mich z. B. vergeblich an, ihr das Zählen der Schläge beizubringen. Sie stürzte jedes Mal auf die Türe zu, sobald sie überhaupt die Uhr schlagen hörte, aber allmählich wurde es ihr doch klar, dass alle Schläge der Uhr doch, nicht die Essensstunde anzeigten, und so fing sie an, das Auge, vom Gehör unterstützt, mehr wie sonst auf das Zifferblatt zu lenken.
Als ich dies bemerkte, trug ich Sorge, jeden Tag zur Mittagsstunde und um 6 Uhr meinen Finger auf die Zahl 12 und 6 zu richten, sobald der so sehnlich von ihr erwartete Augenblick eingetreten war. Ich konnte bald beobachten, dass sie anfing, aufmerksam den Bewegungen der kleinen bronzenen Zeiger zu folgen, die ich in ihrer Gegenwart so oft hatte um das Zifferblatt laufen lassen.
Sie hatte es also begriffen; ich möchte vielmehr sagen, sie hatte es sich gemerkt. Es war mir gelungen, das Bewusstsein oder noch besser die Empfindung der Stunde in ihr zu erwecken, wie man dies, allerdings ohne Hilfe einer Uhr, bei den Karpfen erreicht, indem man ihnen jeden Tag genau zu derselben Zeit Futter wirft.
Nachdem wir nun einmal soweit waren, erregte jede Art von Zeitmesser, die im Hause nur existierte, ihre Aufmerksamkeit in ganz besonderer Weise. Sie verbrachte ihre Zeit damit, sie zu betrachten, sie zu hören und auf die Glockenschläge zu warten.
Einmal passierte sogar etwas sehr Komisches. Das Schlagwerk einer kleinen eingelegten Uhr aus der Zeit Ludwigs XVI., welche man am Kopfende ihres Bettes aufgehängt hatte, war in Unordnung geraten. Sie bemerkte es wohl und wartete seit zwanzig Minuten, das Auge unverwandt auf die Zeiger geheftet, dass die Uhr zehn schlagen sollte. Aber als der Zeiger die Zahl überschritten hatte, war sie ganz verwundert, nichts zu hören; derart verwundert, dass sie sich hinsetzte, ohne Zweifel von einer ähnlichen Gemütsbewegung ergriffen, wie wir sie beim Anblick irgend eines großen Ereignisses haben. Sie hatte die auffallende Geduld, vor dem kleinen Ding bis elf Uhr zu warten, um zu sehen, was sich dann ereignen würde. Sie hörte natürlich wieder nichts; da ergriff sie, entweder im heftigen Zorn darüber, enttäuscht und betrogen zu sein, oder im ersten Drange der Bestürzung über ein furchtbares Geheimnis, oder schliesslich von rasender Ungeduld darüber verzehrt, dass ihr ein Hindernis entgegentrat, die Ofenzange, und schlug mit solcher Gewalt auf die Uhr los, dass sie im nächsten Augenblick in Trümmer ging.
Ihr Gehirn funktionierte also, es überlegte; wenn auch, wie ich zugeben muss, nur in sehr unklarer Weise und in sehr beschränktem Masse. Denn ich konnte sie nicht dazu bringen, die Personen ebenso wie die Stunden zu unterscheiden. Man musste, um eine Regung ihres geistigen Bewusstseins zu erzielen, an ihre Leidenschaften im wahren Sinne des Wortes appellieren.
Hierfür erhielten wir bald einen andren, leider sehr schrecklichen Beweis.
Sie war äusserlich wunderschön geworden, in der Tat eine typische Erscheinung, eine Art bewundernswerte aber geistlose Venus.
Sie war jetzt sechzehn Jahre alt, und selten habe ich in dem Alter eine ähnliche Fülle der Formen, eine ähnliche Feinheit und Vollendung der Züge gesehen. Ich nannte sie eine Venus, und sie war es in der Tat: Blond, zartgerundet, ebenmässig, mit großen, hellen, träumerischen Augen, deren Bläue der Hanfblüte glich; der Mund geschwungen, mit vollen runden Lippen, ein lieblicher, sinnlicher Mund, ein Mund zum Küssen.
Da trat eines Tages ihr Vater bei mir ein; er machte ein ernstes Gesicht und setzte sich, ohne meinen Gruss zu erwidern.
»Ich muss etwas ganz Wichtiges mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Würde es möglich sein … kann man … Bertha verheiraten?«
Ich war starr vor Erstaunen und rief:
»Bertha verheiraten? … aber das ist ja unmöglich!«
»Ich weiß«, sagte er … »ja … aber denken Sie … Doktor … es könnte … vielleicht … wir haben gedacht … wenn sie Kinder hätte … das wäre für sie eine große Gemütsbewegung, ein Glück und … wer weiß, ob die Mutterfreuden ihren Geist nicht erwecken würden? …«
Ich war ganz verblüfft; das war nicht so unrichtig. Möglicherweise vermochte diese ganz neue Lage, dieser wunderbare Mutter-Instinkt, der im wilden Tiere ebenso wohnt wie im Herzen der Frau, und der die Henne sich dem Hunde entgegenstellen lässt, um ihre Küchlein zu verteidigen, auch in diesem fühllosen Menschenkopfe eine besondere Erregung, eine vollständige Umwälzung hervorzubringen und den bisher unbeweglichen Gedanken-Mechanismus in Gang zu setzen.
Mir fiel sofort ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung ein. Ich hatte einige Jahre vorher eine kleine Jagdhündin gehabt, die so ungelehrig war, dass ich nichts mit ihr anfangen konnte. Kaum hatte sie einmal Junge geworfen, als sie sozusagen von heute auf morgen, wenn auch nicht gerade hervorragend, so doch vielen mittelmässig entwickelten Hunden ähnlich wurde.
Kaum hatte ich diese Möglichkeit erwogen, als der Wunsch, Bertha verheiratet zu sehen, in mir immer reger wurde, wenn auch, offen gestanden, nicht so sehr aus Freundschaft für sie und ihre armen Eltern, als aus wissenschaftlichem Interesse. Wie würde es ausfallen? Das war ’mal wirklich ein merkwürdiges Problem!
»Vielleicht haben Sie Recht …« antwortete ich demgemäss dem Vater, »man könnte den Versuch machen … Versuchen Sie es … aber … aber … Sie werden niemals einen Mann finden, der sich darauf einlässt.«
»Ich habe schon einen«, sagte er halblaut.
Aufs Neue betroffen stammelte ich:
»Einen geeigneten?… Einen aus … Ihren Kreisen?«
»Ja«, antwortete er, »vollkommen.«
»Ach! Und … darf ich seinen Namen wissen?«
»Ich wollte ihn gerade Ihnen nennen und Sie um Ihre Ansicht über ihn bitten. Er heisst Gaston du Boys de Lucelles!«
»Der Elende!« hätte ich beinahe ausgerufen, aber ich bezwang mich noch rechtzeitig, und nach kurzem Schweigen sagte ich:
»Ja … sehr gut. Ich sehe kein Hindernis.«
Der arme Mann drückte mir die Hand:
»Die Hochzeit wird nächsten Monat sein« sagte er.
*
Gaston du Boys de Lucelles war ein Taugenichts aus guter Familie, der, nachdem er sein väterliches Erbteil verzehrt und sich eine hübsche Anzahl zum Teil sehr bedenklicher Schulden aufgeladen hatte, nach irgend einer Gelegenheit suchte, um sich aufs Neue Geld zu beschaffen.