Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Dann wur­de ich wie­der ganz Welt­mann, spiel­te den Lie­bens­wür­di­gen und Un­ter­hal­ten­den. Und nach ei­ner wei­te­ren Stun­de der an­ge­nehms­ten Plau­de­rei er­laub­te ich mir zu fra­gen:

»Wo spei­sen Sie?«

»Na­he­bei, in ei­nem klei­nen Re­stau­rant.«

»Ganz al­lei­ne?«

»Na­tür­lich.«

»Wol­len Sie nicht mit mir zu­sam­men spei­sen?«

»Wo denn?«

»In ei­nem gu­ten Bou­le­vard-Re­stau­rant.«

Sie zö­ger­te noch et­was, aber ich gab nicht nach. Sch­liess­lich wil­lig­te sie ein, in­dem sie sich gleich­sam vor sich selbst ent­schul­dig­te:

»Ich lang­wei­le mich sehr … ach so sehr! -- Je­den­falls muss ich aber eine hel­le­re Toi­let­te an­le­gen«, füg­te sie dann hin­zu.

Und sie ging in ihr Schlaf­zim­mer.

Als sie wie­der her­austrat, war sie in Halb­trau­er, rei­zend, zart und schlank; sie trug eine graue, sehr ein­fa­che Toi­let­te. Je­den­falls stand ihr die­se Ge­sell­schafts-Toi­let­te min­des­tens so gut, wie vor­her das Trau­er-Ko­stüm.

Das Di­ner ver­lief sehr lus­tig. Sie trank Cham­pa­gner, wur­de im­mer auf­ge­räum­ter und zu­tun­li­cher, und schliess­lich kehr­te ich mit ihr wie­der in ihre Woh­nung zu­rück.


Die­ses an den Grab­stät­ten ent­stan­de­ne Ver­hält­nis dau­er­te un­ge­fähr drei Wo­chen. Aber man wird schliess­lich al­les leid, auch die Frau­en. Ich trenn­te mich von ihr un­ter dem Vor­wan­de ei­ner un­auf­schieb­ba­ren Rei­se. Bei mei­nem Ab­schied be­wies ich mich so groß­mü­tig, dass sie des Dan­kes kein Ende fand. Ich muss­te ihr ver­spre­chen, ja schwö­ren, dass ich nach mei­ner Rück­kehr wie­der zu ihr kom­men wür­de; sie schi­en in der Tat et­was in mich ver­liebt zu sein.

Ich un­ter­hielt mich mit an­de­ren Ver­hält­nis­sen und es ver­ging un­ge­fähr ein Mo­nat, ohne dass ich dar­an dach­te, die­se klei­ne Grä­ber-Lieb­schaft wie­der zu er­neu­ern. Ver­ges­sen hat­te ich sie al­ler­dings noch nich … Die Erin­ne­rung an sie ver­folg­te mich wie ein Ge­heim­nis, wie ein psy­cho­lo­gi­sches Rät­sel, wie eine je­ner un­lös­ba­ren Fra­gen, die wir uns un­aus­ge­setzt zu ent­wir­ren quä­len.

Ei­nes Ta­ges hat­te ich das leb­haf­te Ge­fühl, ich weiß selbst nicht warum, dass ich sie auf dem Fried­hof Mont­mar­tre wie­der­fin­den wür­de, und ich be­gab mich kurz ent­schlos­sen dort­hin.

Lang­sam spa­zier­te ich dort her­um, ohne je­mand an­de­res an­zu­tref­fen, als die ge­wöhn­li­chen Be­su­cher die­ser Stät­te, Leu­te, die noch nicht alle Be­zie­hun­gen zu ih­ren To­ten ab­ge­bro­chen ha­ben. Auf dem Gra­be des in Ton­kin ge­fal­le­nen Ka­pi­täns war we­der eine trau­ern­de Dame zu ent­de­cken, noch auch Blu­men oder ein Kranz.

Aber als ich mich ge­ra­de in ein an­de­res Vier­tel die­ser großen To­ten­stadt be­ge­ben woll­te, be­merk­te ich plötz­lich am Ende ei­ner schma­len von Kreu­zen ein­ge­fass­ten Gas­se ein Paar, Herr und Dame, in tiefer Trau­er auf mich zu­kom­men. Wer be­schreibt mein Er­stau­nen, als ich die sich Nä­hern­den er­kann­te? Sie war es!

Als sie mich be­merk­te, wur­de sie feu­er­rot, und als ich sie im Vor­bei­ge­hen streif­te, mach­te sie mir ein klei­nes Zei­chen, ein Zwin­kern mit dem Auge, als ob sie sa­gen woll­te: »Tue nicht, als ob Du mich kenn­test!« aber auch zu­gleich: »Komm bald wie­der mal zu mir, mein Schatz!«

Der Herr sah an­stän­dig vor­nehm und ele­gant aus; er trug das Band der Ehren­le­gi­on im Knopf­loch und moch­te un­ge­fähr fünf­zig Jah­re alt sein.

Er stütz­te sie im Ge­hen, wie ich selbst sie ge­stützt hat­te, als wir zu­sam­men den Kirch­hof ver­lies­sen.

Ganz ver­blüfft ging ich von dan­nen und frag­te mich nach al­lem dem ver­geb­lich, zu wel­cher Sor­te von Men­schen wohl die­se Kirch­hof-Pflan­ze ge­hö­ren möch­te. War es ein­fach eine Dir­ne, eine fin­di­ge Don­na, die ihre Kun­den an den Grä­bern un­ter Män­nern such­te, die noch um eine Frau, eine Braut oder eine Freun­din trau­ern und die ver­schwun­de­nen Lie­bes­freu­den noch nicht ver­ges­sen kön­nen? War sie die ein­zi­ge? Gibt es de­ren meh­re­re? Etwa eine gan­ze Zunft? Treibt man es jetzt auf den Kirch­hö­fen wie auf der Gas­se? Ach! so­gar die Grä­ber! Oder war sie viel­mehr doch die Ein­zi­ge ge­we­sen, die die­se wun­der­ba­re Idee aus­ge­heckt hat­te und mit schlau­em Ver­ständ­nis den Schmerz über ver­lo­re­nes Lie­bes­glück aus­beu­te­te, der hier an die­ser Stät­te un­will­kür­lich neu er­wacht?

Ei­nes hät­te ich al­ler­dings noch gern er­fah­ren mö­gen, näm­lich: »Wes­sen Wit­we sie wohl an je­nem Abend ge­spielt hat.«

*

Auf dem Wasser

Im letz­ten Som­mer hat­te ich ein klei­nes Land­haus am Ufer der Sei­ne, ei­ni­ge Mei­len von Pa­ris, ge­mie­tet und fuhr je­den Abend hin­aus, um die Nacht dort zu ver­brin­gen. Nach ei­ni­gen Ta­gen lern­te ich mei­nen Nach­bar, einen Mann von dreis­sig bis vier­zig Jah­ren ken­nen, den ko­mischs­ten Kauz, den ich je ge­se­hen habe. Es war ein al­ter Schiffs­mann, aber ein lei­den­schaft­li­cher, wie man nur einen fin­den kann, stets beim Was­ser, auf dem Was­ser und im Was­ser. Er hät­te ei­gent­lich in ei­nem Boot zur Welt kom­men sol­len; und dass er noch ein­mal in ei­nem Boo­te sein Le­ben be­schlies­sen wür­de, stand bei mir fest.

Ei­nes Abends, als wir am Sei­ne-Ufer spa­zie­ren gin­gen, bat ich ihn, mir ei­ni­ge Ge­schich­ten aus sei­nem Schif­fer­le­ben zu er­zäh­len. Da war der gute Mann mit ei­nem Male le­ben­dig und wie um­ge­wan­delt; er wur­de red­se­lig und bei­na­he poe­tisch an­ge­haucht. Für ihn gab es eben nur eine große, bren­nen­de un­wi­der­steh­li­che Lei­den­schaft: den Fluss.

»Ach« sag­te er, »wie vie­le Erin­ne­run­gen knüp­fen sich für mich an die­sen Fluss, den Sie da zu un­sern Füs­sen rol­len se­hen. Sie an­de­ren, Stras­sen­be­woh­ner, wis­sen gar nicht, was das zu be­deu­ten hat, ein Fluss. Aber hö­ren Sie nur mal einen Fi­scher die­ses Wort aus­spre­chen! Für ihn ist der Fluss et­was Ge­heim­nis­vol­les, Tie­fes, Un­be­kann­tes, das Ge­biet der Wun­der und Ge­s­pens­ter, wo man bei Nacht Din­ge sieht, die es gar nicht gibt, und Töne hört, die nie­mand kennt, wo man zit­tert, ohne zu wis­sen, warum, als wenn man auf ei­nem Kirch­hof wäre. Und in der Tat! ist dies nicht der trau­rigs­te al­ler Kirch­hö­fe, auf dem man nicht ein­mal einen Grab­stein hat.

Das Land ist dem Fi­scher zu eng; aber der Fluss ist ihm selbst in fins­te­rer Nacht, wenn kein Mond­licht leuch­tet, ein un­be­grenz­tes Ge­biet. Der See­mann hat nicht die glei­che Emp­fin­dung auf der See. Die­se ist oft wild und un­ge­ber­dig, al­ler­dings; aber sie seufzt, sie stöhnt und tobt vor­her, sie be­nimmt sich also ehr­lich. Der Fluss hin­ge­gen ist stumm und hin­ter­lis­tig. Er grollt nicht, er fliesst ge­räusch­los Tag für Tag da­hin, und ge­ra­de die­se ewig gleich­mäs­si­ge Be­we­gung des da­hin­flies­sen­den Was­sers ist für mich viel er­grei­fen­der, als die turm­ho­hen Wo­gen des Ozeans.

Schwär­mer be­haup­ten, dass sich auf dem tiefs­ten Grun­de des Mee­res un­er­mess­lich große bläu­li­che Fel­sen be­fän­den, auf de­nen die Er­trun­ke­nen mit­ten zwi­schen den großen Fi­schen durch das Ge­zwei­ge selt­sa­mer Wäl­der in kris­tal­le­ne Grot­ten ge­wälzt wür­den. Der Fluss hat nur schwar­ze Un­tie­fen, auf de­ren Grun­de man ver­fault. Aber er ist doch schön, wenn er von der auf­ge­hen­den Son­ne be­strahlt wird und lei­se mur­melnd mit sei­nen Wel­len am schilf­be­deck­ten Ufer plät­schert.

Der Dich­ter singt vom Ozean:

O Wo­gen, die Ihr schau­er­vol­le Din­ge wisst,

Ob de­ren Graus so man­cher Mut­ter Trä­ne fliesst,

Auf Eu­rem Weg von hier durchs wei­te große Meer

Er­zählt Ihr’s Euch, und kommt Ihr abends wie­der her,

Be­weint Ihr selbst mit tie­fem jam­mer­vol­len Ton

Der Mut­ter Schmerz, der Ihr ent­risst den letz­ten Sohn.

Nun gut; ich bin über­zeugt, dass die Ge­schich­ten, wel­che die schlan­ken Schilf­roh­re mit ih­ren zar­ten, lei­sen Stimm­chen er­zäh­len, oft noch viel grau­si­ger klin­gen, als die selt­sa­men Schau­er­mär­chen, die aus dem Ge­brüll der Wo­gen wi­der­hal­len.

Aber da Sie mich ge­ra­de nach Erin­ne­run­gen fra­gen, so will ich Ih­nen ein selt­sa­mes Aben­teu­er er­zäh­len, wel­ches mir hier vor un­ge­fähr zehn Jah­ren pas­siert ist.

Ich wohn­te da­mals, wie heu­te noch, im Hau­se der Mut­ter La­fon, und ei­ner mei­ner bes­ten Ka­me­ra­den, Lud­wig Ber­net, der jetzt auf sei­ne Käh­ne, sein Schiffs­zeug und sei­ne Frei­heit ver­zich­tet hat, um Mit­glied des Staats­ra­tes zu wer­den, hat­te sich da­mals im Dor­fe C…, zwei Mei­len wei­ter ab­wärts, nie­der­ge­las­sen. Wir as­sen je­den Tag zu­sam­men, bald bei mir, bald bei ihm.

Ei­nes Abends, als ich ganz al­lein und ziem­lich müde zu­rück­kam und mein großes Boot, einen wah­ren Ozean von zwölf Fuss Län­ge, des­sen ich mich nachts ge­wöhn­lich be­dien­te, nur müh­sam fort­brach­te, mach­te ich einen Au­gen­blick in der Nähe der schilf­be­wach­se­nen Ecke da un­ten, un­ge­fähr hun­dert Me­ter vor der Ei­sen­bahn­brücke, Halt, um et­was Atem zu schöp­fen. Es war herr­li­ches Wet­ter, der Mond leuch­te­te mit sei­nem sanf­ten ru­hi­gen Licht, der Fluss glänz­te weit­hin und die Luft war lind und ru­hig. Die­se Ruhe steck­te mich an; ich dach­te mir, es müs­se sich an die­sem stil­len Plätz­chen herr­lich ein Pfeif­chen rau­chen las­sen. Ge­sagt, ge­tan! ich er­griff mei­nen An­ker und warf ihn aus.

Die Ket­te spiel­te sich, da das Boot mit dem Stro­me fuhr, bis zum letz­ten Glie­de ab; dann hing ich fest. Ich mach­te es mir im Hin­ter­teil des Boo­tes auf mei­nem Schaf­fell so be­quem wie mög­lich. Man hör­te Nichts, rein gar Nichts; nur hin und wie­der glaub­te ich, ein lei­ses, fast un­hör­ba­res Plät­schern des Was­sers am Ufer zu ver­neh­men und ich sah, dass ei­ni­ge hö­her em­por­ra­gen­de Schilf­hal­me ein ei­gen­tüm­li­ches Aus­se­hen an­nah­men und sich zeit­wei­lig et­was be­weg­ten.

 

Der Fluss war voll­kom­men ru­hig, aber ich fühl­te mich selt­sam von die­sem Schwei­gen be­wegt, wel­ches mich um­gab. Alle Tie­re schwie­gen; selbst die Frösche und Un­ken, die nächt­li­chen Sän­ger der Sümp­fe. Plötz­lich quak­te rechts vor mir ein Frosch; dann schwieg er wie­der und ich hör­te wei­ter Nichts mehr. Um mich zu zer­streu­en, setz­te ich mei­ne Pfei­fe aufs Neue in Brand, aber, ob­schon ich ein lei­den­schaft­li­cher Rau­cher war, so konn­te ich doch nicht auf den rich­ti­gen Ge­schmack kom­men. Nach ei­ni­gen Zü­gen krampf­te sich mein In­ne­res zu­sam­men und ich hör­te auf. Ich stimm­te ein Lied­chen an, aber der Klang mei­ner Stim­me miss­fiel mir. Dann leg­te ich mich auf den Bo­den hin und starr­te zum Him­mel hin­auf. Eine Zeit lang lag ich so ru­hig da, bis eine leich­te Be­we­gung des Kah­nes mich aufs Neue be­un­ru­hig­te. Es war mir, als be­schrie­be er große Bo­gen und sties­se wäh­rend des­sen an bei­den Ufern an; dann glaub­te ich, dass ein un­sicht­ba­res We­sen oder ir­gend eine ver­bor­ge­ne Ge­walt ihn sanft auf den Grund des Was­sers zöge und ihn gleich dar­auf em­por­schnel­le, um ihn zu­rück­fal­len zu las­sen. Ich fühl­te mich um­her­ge­schleu­dert wie bei ei­nem hef­ti­gen Stur­me; ich hör­te um mich her­um al­ler­hand son­der­ba­re Töne. Mit ei­nem Sat­ze sprang ich auf; das Was­ser glänz­te wie bis­her, und al­les war ru­hig.

Ich fühl­te mei­ne Ner­ven et­was er­regt und be­schloss auf­zu­bre­chen. Ich zog an der An­ker­ket­te und der Kahn setz­te sich in Be­we­gung; dann fühl­te ich einen Wi­der­stand und zog stär­ker, aber der An­ker kam nicht in die Höhe. Er muss­te sich in der Tie­fe an et­was fest­ge­klam­mert ha­ben, das ich nicht em­por­he­ben konn­te; ich zog von Neu­em, aber ver­ge­bens. Dann griff ich zum Ru­der und wen­de­te den Kahn strom­auf­wärts, um die Lage des An­kers zu ver­än­dern; auch das war um­sonst, er gab nicht nach. Zor­nig riss ich mit al­ler Ge­walt an der Ket­te, es rühr­te sich nichts. Ent­mu­tigt setz­te ich mich nie­der und be­gann über mei­ne Lage nach­zu­den­ken. Ich durf­te nicht dar­an den­ken, die Ket­te zu zer­spren­gen oder sie vom Fahr­zeug los­zu­be­kom­men, denn sie war sehr dick und aus­ser­dem durch einen Holz­pflock be­fes­tigt, der stär­ker war, als mein Arm. Da aber das Wet­ter sehr schön blieb, so konn­te ich hof­fen, dass in kur­z­er Zeit schon Fi­scher vor­bei­kom­men wür­den, die ich dann um Hil­fe bit­ten woll­te. Ich be­ru­hig­te mich über mein Miss­ge­schick und zün­de­te mir eine neue Pfei­fe an. Eine Fla­sche Rum hat­te ich ge­ra­de zur Hand, und nach­dem ich ei­ni­ge Schluck aus der­sel­ben ge­tan hat­te, be­gann ich über mei­ne Lage zu la­chen. Es war so warm, dass ich zur Not ganz gut die Nacht im Frei­en zu­brin­gen konn­te.


Plötz­lich tön­te ein klei­ner Schlag ge­gen die Boots­wand; ich er­schrak und der kal­te Schweiß brach mir aus al­len Po­ren. Die­ses Geräusch war zwei­fel­los durch ein Stück­chen Holz her­vor­ge­bracht, das die Strö­mung mit sich führ­te, aber es hat­te ge­nügt, um mei­ne Ner­ven von Neu­em auf­zu­re­gen. Ich griff wie­der zur Ket­te und riss mit ver­zweif­lungs­vol­ler Kraft dar­an; der An­ker sass fest. Er­schöpft setz­te ich mich wie­der nie­der.

Mitt­ler­wei­le hat­te sich der Fluss all­mäh­lich mit ei­nem wei­ßen dich­ten Ne­bel be­deckt, der sehr nied­rig auf dem Was­ser lag, so­dass ich, als ich mich auf­rich­te­te, we­der den Fluss, noch mei­ne Füs­se, noch mei­nen Kahn sah; da­ge­gen be­merk­te ich wohl die Spit­zen des Schilf­roh­res, dann wei­ter­hin die blass im Mond­licht schim­mern­de Ebe­ne, mit großen schwar­zen zum Him­mel em­por­stre­ben­den Fi­gu­ren dar­auf, wel­che durch ein­zel­ne Pap­pel­grup­pen ge­bil­det wur­den. Ich war bis zum Gür­tel wie in ein Lein­wand­tuch von selt­sa­mer Wei­ße gehüllt, und un­will­kür­lich ent­stan­den in mei­nem Ge­hirn die son­der­bars­ten Fan­ta­sie­ge­bil­de. So schweb­te mir das Ge­fühl vor, ir­gen­det­was mir Frem­des wol­le mei­nen Kahn be­stei­gen und der in die­sem dich­ten Ne­bel ver­steck­te Fluss sei mit selt­sa­men Ge­stal­ten an­ge­füllt, die um mich her­um schwam­men. Ich emp­fand eine schreck­li­che Angst, mein Herz klopf­te zum Zer­sprin­gen und ich ver­lor voll­stän­dig den Kopf, so­dass ich dar­an dach­te, mich durch Schwim­men zu ret­ten; dann ließ mich aber die­ser Ge­dan­ke schon wie­der vor Furcht er­schau­dern. Ich sah mich im Geis­te ver­lo­ren, wie ich mich in die­ses Aben­teu­er stürz­te, bei dem dich­ten Ne­bel mich ver­geb­lich durch Schilf und Was­ser­pflan­zen durch­kämp­fend, wäh­rend ich vor Furcht keuch­te und kein Ufer fin­den noch mei­nen Kahn wie­der er­rei­chen konn­te; ich glaub­te zu füh­len, dass man mich an den Füs­sen auf den Grund des schwar­zen Was­sers zöge.

In der Tat, wenn ich wirk­lich hät­te den Strom her­auf­schwim­men und an ir­gend ei­ner Stel­le die nächs­ten fünf­hun­dert Me­ter einen von Ge­strüpp und Schlamm frei­en Punkt su­chen sol­len, an dem ich fes­ten Fuss fas­sen konn­te, so wet­te ich hun­dert ge­gen eins, dass ich mich in dem dich­ten Ne­bel nicht zu­recht­ge­fun­den hät­te und elend er­trun­ken wäre, so gut ich auch schwim­men moch­te.

Ich ver­such­te mei­ne Ge­dan­ken wie­der zu sam­meln. Ich fühl­te den fes­ten Wil­len in mir, kei­ne Furcht mehr zu ha­ben; aber ich emp­fand noch et­was an­de­res in mir, und die­ses an­de­re fürch­te­te sich. Ich frag­te mich, was ich zu fürch­ten hät­te, mein tap­fe­res Ich kämpf­te mit dem fei­gen Ich; und nie­mals habe ich wie­der so deut­lich als in je­ner Nacht be­grif­fen, dass zwei ent­ge­gen­ge­setz­te We­sen in uns woh­nen, von de­nen das eine will, wäh­rend das an­de­re wi­der­strebt, und von de­nen bald die­ses, bald je­nes den Sieg da­von­trägt.

Die­se tö­rich­te und un­er­klär­li­che Furcht wuchs von Mi­nu­te zu Mi­nu­te und ar­te­te in völ­li­ges Ent­set­zen aus. Ich blieb un­be­weg­lich, die Au­gen weit ge­öff­net, wäh­rend ich mit den Ohren er­war­tungs­voll lausch­te. Nach was? Ich wuss­te es nicht, aber es konn­te nur et­was Schreck­li­ches sein. Wenn jetzt ein Fisch sich aus dem Was­ser ge­schla­gen hät­te, wie sie das ja öf­ters tuen, so wäre ich si­cher be­wusst­los zu­sam­men­ge­sun­ken.

Mit ei­ner ge­walt­sa­men An­stren­gung ge­lang es mir end­lich, wie­der Ver­nunft zu fas­sen. Ich griff noch­mals zu mei­ner Rum­fla­sche und trank mit vol­len Zü­gen. Dann kam mir der Ge­dan­ke, aus al­len Kräf­ten nach den vier Him­mels­rich­tun­gen hin­aus zu ru­fen. Als mei­ne Stim­me schliess­lich ver­sag­te, horch­te ich. -- Nur ein Hund heul­te in wei­ter Fer­ne.

Ich trank noch­mals und streck­te mich der Fän­ge nach auf dem Bo­den des Kah­nes aus. So blieb ich eine, viel­leicht auch zwei Stun­den, schlaf­los, mit of­fe­nen Au­gen lie­gen, wäh­rend es wie ein Alp auf mei­ner Brust lag. Ich wag­te nicht auf­zu­ste­hen, so sehr ich auch da­nach ver­lang­te; ich ver­schob es von Mi­nu­te zu Mi­nu­te. ›Vor­wärts! Auf!‹ sag­te ich zu mir selbst, und doch fürch­te­te ich, mich zu be­we­gen. End­lich er­hob ich mich un­ter un­zäh­li­gen Vor­sichts­mass­re­geln, wie wenn mein Le­ben von dem kleins­ten Geräusch ab­ge­han­gen hät­te, und späh­te vor­sich­tig über Bord.

Ich war ge­ra­de­zu ge­blen­det von dem wun­der­ba­ren über­ra­schen­den An­blick, der sich zum ers­ten Male mei­nen Au­gen bot. Es war wie ein Zau­ber­bild aus dem Feen­land, wie eine je­ner Er­zäh­lun­gen weit­ge­reis­ter Leu­te, die wir hö­ren, ohne sie fas­sen zu kön­nen.

Der Ne­bel, der zwei Stun­den zu­vor auf dem Was­ser ge­le­gen hat­te, hat­te sich all­mäh­lich von dem­sel­ben fort ans Ufer ge­zo­gen. Dort auf bei­den Sei­ten dicht zu­sam­men­ge­ballt, ließ er den Fluss ganz frei und bil­de­te rechts und links eine fort­lau­fen­de, sechs bis sie­ben Me­ter hohe Hü­gel­ket­te, die bei dem blei­chen Mond­lich­te wie ein blen­den­des Schnee­ge­bir­ge aus­sah. Man sah nichts als den gol­dig glän­zen­den Fluss zwi­schen die­sen bei­den wei­ßen Berg­ket­ten und dar­über die vol­le große Schei­be des Mon­des, wel­che den bläu­li­chen milch­far­be­nen Him­mel er­hell­te.

Alle Was­ser­tie­re wa­ren er­wacht; die Frösche quak­ten wie ra­send, wäh­rend ich von Zeit zu Zeit, bald rechts bald links, den ei­gen­tüm­lich kur­z­en, trau­ri­gen und ein­för­mi­gen Ton ver­nahm, den die be­leg­te Stim­me der Unke von sich gibt. Selt­sa­mer­wei­se hat­te ich kei­ne Furcht mehr; ich glaub­te mich in ei­ner so merk­wür­di­gen Ge­gend zu be­fin­den, dass die aus­ser­ge­wöhn­lichs­ten Ein­zel­hei­ten mich nicht mehr in Er­stau­nen set­zen konn­ten.

Wie lan­ge das noch ge­dau­ert hat, weiß ich nicht; denn schliess­lich war ich doch ein­ge­schla­fen. Als ich die Au­gen wie­der öff­ne­te, war der Mond un­ter­ge­gan­gen, der Him­mel mit Wol­ken be­deckt. Das Was­ser plät­scher­te ge­wal­tig, es blies ein schar­fer Wind und ich ver­spür­te in der tie­fen Dun­kel­heit eine emp­find­li­che Käl­te.

Ich trank den Rest aus der Rum­fla­sche, dann lausch­te ich auf das Säu­seln des Schil­fes und das ge­wal­ti­ge Rau­schen des Was­sers. Ich ver­such­te et­was zu se­hen, aber ich konn­te we­der mei­nen Kahn, noch auch so­gar mei­ne Hän­de un­ter­schei­den, die ich vor die Au­gen hielt.

All­mäh­lich nahm in­des­sen die dich­te Fins­ter­nis ab. Ich glaub­te plötz­lich zu be­mer­ken, dass ein Schat­ten nahe bei mir vor­beig­litt; und in der Tat ant­wor­te­te eine mensch­li­che Stim­me auf mei­nen Ruf. Es war ein Fi­scher, der auf mei­ne Bit­te her­an­kam und mit Stau­nen mein Miss­ge­schick er­fuhr. Er leg­te mit sei­nem leich­ten Boot an mei­nem Kahn an, und nun zo­gen wir bei­de mit ver­ein­ten Kräf­ten an der An­ker­ket­te; der An­ker rühr­te sich nicht. Der Tag brach an, trü­be, grau und reg­ne­risch, ei­ner je­ner Tage, die aus­se­hen, als bräch­ten sie Trau­er und Un­glück. Ich be­merk­te ein zwei­tes Fi­scher­boot, das ich an­rief. Der In­sas­se des­sel­ben stieg zu uns her­über und ver­ei­nig­te sei­ne An­stren­gun­gen mit den uns­ri­gen; lang­sam gab jetzt end­lich der An­ker nach. Er ging in die Höhe, aber lang­sam, so lang­sam, dass man sah, er tra­ge ein schwe­res Ge­wicht. End­lich be­merk­ten wir dicht un­ter dem Was­ser­spie­gel eine schwar­ze Mas­se und zo­gen sie mit ei­nem Ruck in mein Boot: Es war der Leich­nam ei­ner al­ten Frau, an de­ren Hal­se ein großer schwe­rer Stein be­fes­tigt war.«

*