Dann dachte er nach und murmelte:
»Man müsste davon auch etwas profitieren.«
»Du kannst noch die Anleihe kaufen,« sagte sie, »sie steht nur auf 72.«
»Ich habe aber kein Geld flüssig«, erwiderte er.
Sie sah flehend zu ihm auf:
»Ich habe schon daran gedacht, mein Kätzchen; wenn du zu mir sehr nett wärest, wenn du mich ein bisschen lieb hättest, dann würdest du mir gestatten, es dir zu leihen.«
Er antwortete schroff und heftig:
»Nein, ausgeschlossen!«
»Hör mich an,« bat sie mit flehender Stimme, »es gibt eine Möglichkeit, es zu tun, ohne Geld zu leihen. Ich wollte von dieser Anleihe für 10000 Francs kaufen, um mir eine kleine Reserve anzulegen; nun werde ich für 20000 Francs kaufen. Du beteiligst dich daran zur Hälfte. Du verstehst doch, ich werde es ja nicht an Walter gleich zurückzahlen. Du brauchst zunächst gar nicht zu bezahlen. Sollte es gelingen, so gewinnst du 70000 Francs; gelingt es nicht, so bleibst du mir eben 10000 Francs schuldig, die du mir zurückzahlen wirst, wann es dir passt.«
Er wiederholte:
»Nein, nein, solche Kombinationen mache ich nicht mit.«
Nun begann sie, ihre Gründe auseinanderzusetzen und versuchte, ihn mit Vernunft zu überreden. Sie bewies ihm, dass er tatsächlich 10000 Francs auf sein Wort riskierte, dass folglich sie ihm gar nichts lieh, dass doch die Bank Walter das Geld vorstreckte.
Außerdem wies sie darauf hin, dass er doch in der Vie Francaise den ganzen politischen Feldzug geführt hatte, der das Geschäft überhaupt erst ermöglichte und dass er doch nicht so naiv wäre, keinen Vorteil daraus zu ziehen.
Er zauderte. Sie fuhr fort:
»Überlege es dir doch. Es ist doch Walter, der dir die 10000 Francs vorstreckt, und du hast ihm Dienste erwiesen, die bedeutend wertvoller sind als das.«
»Also gut, meinetwegen,« sagte er, »wir machen mit dir die Sache halb und halb. Sollten wir verlieren, so zahle ich dir 10000 Francs zurück.«
Sie war so glücklich, dass sie sich erhob, seinen Kopf mit beiden Händen ergriff und ihn gierig zu küssen begann.
Zunächst wehrte er sich nicht. Als sie aber stürmischer wurde, ihn umklammerte und mit ihren Liebkosungen verzehrte, fiel ihm dann ein, dass die andere bald kommen musste und dass, wenn er nachgeben, er Zeit verlieren würde, und es wäre ihm doch lieber, seine Leidenschaft für die Jüngere aufzusparen, als sie in den Armen der Alten zu lassen.
Er wies sie sanft zurück.
»Sei doch vernünftig«, sagte er.
Sie blickte ihn verzweifelt an:
»O Georges, darf ich dir nicht einmal einen Kuss geben?«
»Heute nicht,« erwiderte er, »ich habe etwas Kopfschmerzen und es bekommt mir nicht.«
Darauf ließ sie sich fügsam zwischen seinen Knien nieder und fragte:
»Willst du morgen zu mir zum Essen kommen? Du würdest mir eine große Freude machen!«
Er zögerte, wagte aber nicht, abzulehnen.
»Ja, sehr gern!«
»Ich danke dir, mein Liebling.«
Mit regelmäßiger sanfter Bewegung rieb sie langsam ihre Wange an seiner Brust und eins ihrer langen schwarzen Haare blieb dabei an seiner Weste hängen. Sie merkte es und ein toller, halbverrückter, abergläubischer Gedanke ging ihr durch den Kopf, ein Gedanke, wie er oft der einzige Grund weiblichen Handelns ist. Sie begann, dieses Haar langsam um einen seiner Knöpfe zu wickeln. Dann wickelte sie ein anderes Haar um den nächsten Knopf und so weiter, bis an jedem Knopf ein Haar hing.
Sollte er nun aufstehen, so würde er sie alle herausreißen. Er würde ihr weh tun. Welches Glück! Er würde, ohne es zu wissen, etwas von ihr herumtragen, eine kleine Locke ihres Haares, um die er niemals gebeten hatte. Es würde ein Band sein, mit dem sie sich an ihm festhalten würde, ein geheimes, unsichtbares Band, ein Talisman, den er bei sich tragen müsste, ohne es zu wollen. Er würde an sie denken, von ihr träumen und vielleicht sie tags darauf etwas mehr lieben.
Plötzlich sagte er:
»Ich muss dich gleich verlassen, weil man mich zum Schluss der Sitzung in der Kammer erwartet. Ich darf in keinem Falle fehlen.«
Sie seufzte:
»Ach, schon!«
Und setzte dann hinzu :
»Geh; aber morgen, mein Liebling, kommst du bestimmt zum Essen.«
Dann riss sie sich rasch von ihm los. Sie fühlte auf ihrem Kopf einen kurzen heftigen Schmerz, als habe man sie mit Nadeln gestochen. Ihr Herz klopfte, sie war glücklich, durch ihn gelitten zu haben.
»Adieu«, sagte sie.
Er nahm sie mit einem mitleidigen Lächeln in die Arme und küsste sie kühl auf ihre Augen. Doch diese Berührung hatte sie erregt und betört und sie flüsterte nochmals: »Schon?« und ihr bettelnder Blick deutete auf das Schlafzimmer, dessen Tür offen stand.
Er rückte von ihr weg und sagte in eiligem Ton:
»Ich muss gleich laufen, sonst komme ich zu spät.«
Sie hielt ihm ihre Lippen zum Kusse hin; er berührte sie kaum, reichte ihr ihren Sonnenschirm, den sie zu. vergessen schien, und sagte:
»Schnell, schnell, wir müssen uns beeilen, es ist schon drei Uhr vorüber!«
Sie ging vor ihm hinaus und wiederholte:
»Morgen um sieben!«
»Morgen um sieben«, antwortete er.
Sie trennten sich; er bog nach rechts ein, sie nach links.
Du Roy ging bis zum äußeren Boulevard, dann ging er langsam den Boulevard Malesherbes entlang. Als er an einer Kuchenbäckerei vorbeikam, sah er in einer Glasschale im Schaufenster kandierte Kastanien. Er dachte: »Ich werde ein Pfund für Clotilde mitnehmen.« Er kaufte sich ein Päckchen voll von diesen Früchten, die sie wahnsinnig liebte.
Um vier war er wieder zurück und wartete auf seine junge Geliebte.
Sie verspätete sich etwas, denn ihr Mann war auf acht Tage nach Paria gekommen. Sie fragte:
»Kannst du morgen zum Diner kommen? Er würde sich sehr freuen, dich wiederzusehen.«
»Nein, ich esse beim Chef. Wir haben eine Menge verschiedener politischer und finanzieller Angelegenheiten zu besprechen.«
Sie nahm ihren Hut ab und begann ihre Bluse auszuziehen, die ihr zu eng war.
Er zeigte ihr das Päckchen auf dem Kamin:
»Ich habe für dich kandierte Kastanien mitgebracht.«
Sie klatschte in die Hände:
»Wie reizend! Wie lieb bist du!«
Sie nahm sie, kostete eine und erklärte:
»Sie sind wundervoll. Ich fühle, ich werde nicht eine übriglassen.«
Dann blickte sie Georges mit einer sinnlichen Heiterkeit an und setzte hinzu:
»Du verwöhnst mich!«
Sie aß langsam die Kastanien und blickte dabei immer in die Tüte hinein, um zu sehen, ob noch etwas übrig sei.
Sie sagte:
»Komm, setz’ dich da in den Lehnstuhl, ich will hier zu deinen Füßen meine Bonbons knabbern. Es wird so bequem sein.«
Er lächelte und setzte sich hin. Sie ließ sich zwischen seinen gespreizten Schenkeln nieder, wie Frau Walter vorhin. Sie hob den Kopf zu ihm empor und sprach mit vollem Munde:
»Du weißt es noch nicht, mein Liebling, ich habe von dir geträumt. Ich träumte, wir machten beide eine lange Reise auf einem Kamel. Es hatte zwei Höcker, wir saßen jeder rittlings auf einem Höcker und wir ritten durch die Wüste. Wir hatten Butterbrote und eine Flasche Wein mit und wir frühstückten auf den beiden Höckern. Mich langweilte das, weil wir etwas anderes nicht tun konnten, wir saßen zu weit voneinander entfernt. Ich wollte runter…«
»Ich will auch runter«, erwiderte er.
Er lachte, amüsierte sich über die Geschichten, ließ sie Unsinn reden, alle möglichen Kindereien und zärtliche Albernheiten schwatzen. Dieses alles fand er entzückend im Munde Madame de Marelles, während dasselbe im Munde Frau Walters ihn zur Verzweiflung gebracht hätte.
Clotilde nannte ihn auch: »Mein Liebling«, »mein Kleiner«, »mein Kätzchen«. Diese Worte schienen ihm süß und liebkosend zu sein. Wenn sie aber die andere vorhin gebrauchte, wurde er nervös und wütend. Denn Liebesworte, die stets dieselben sind, nehmen bekanntlich den Geschmack der Lippen an, die sie aussprechen.
Aber trotzdem ihn diese Tollheiten erheiterten, dachte er immerfort an die 70000 Francs, die er gewinnen sollte, und plötzlich unterbrach er das Geschwätz seiner Freundin, indem er ihr mit dem Finger zwei leichte Klapse auf den Kopf gab.
»Hör’ mal zu, mein Schatz, ich will dir einen Auftrag für deinen Mann geben. Sage ihm von mir, er solle sich morgen für 10000 Francs Marokkoanleihen kaufen. Sie steht auf 72; und ich kann ihn versichern, dass er binnen drei Monaten 60- bis 80000 Francs verdienen wird. Er soll darüber aber absolutes Stillschweigen bewahren. Sag’ ihm von mir, dass die Tangerexpedition schon beschlossen ist und dass der französische Staat die marokkanische Anleihe garantieren wird. Sag’ den anderen aber kein Wort. Es ist nämlich ein Staatsgeheimnis, das ich dir anvertraue.«
Sie hörte ernst zu, dann sagte sie leise:
»Ich danke dir, ich werde es meinem Manne heute Abend bestellen. Du kannst dich auf ihn verlassen, er wird nicht darüber schwatzen. Er ist ein sehr zuverlässiger Mensch. Du kannst ruhig sein.«
Inzwischen hatte sie alle Kastanien aufgegessen, zerknüllte die Tüte und warf sie in den Kamin. Dann sagte sie:
»Komm, wir wollen zu Bett.«
Und ohne aufzustehen, begann sie Georges Weste aufzuknöpfen.
Plötzlich hielt sie inne und zog mit zwei Fingern ein langes Haar aus seinem Knopfloch heraus. Sie lachte:
»Halt! Du hast ein Haar von Madeleine mitgebracht, du bist aber ein treuer Ehegatte.«
Dann wurde sie wieder ernst und prüfte lange auf der Hand den kaum sichtbaren Faden, den sie gefunden hatte.
»Es ist nicht von Madeleine, es ist schwarz.«
Er lächelte.
»Dann stammt es sicher von dem Stubenmädchen.«
Doch sie untersuchte die Weste mit dem scharfen Blick eines Polizisten und sie fand ein zweites Haar, das um einen Knopf gewickelt war, dann ein drittes; sie wurde bleich und rief zitternd aus:
»Oh, du hast mit einer Frau geschlafen, die dir ihre Haare um deine Knöpfe befestigt hat.«
Er war erstaunt und stammelte:
»Aber nein, du bist verrückt!«
Auf einmal fiel es ihm ein, er begriff es; nun wurde er verlegen, dann leugnete er lachend, denn er war im Grunde gar nicht böse, dass sie es ahnte, dass er Glück bei anderen Frauen hatte.
Sie suchte immer weiter und fand Haare, die sie mit einer schnellen Bewegung abwickelte und dann auf den Teppich warf.
Mit ihrem feinen, schlauen Fraueninstinkt hatte sie die Wahrheit erraten, und sie stammelte rasend vor Wut und mit Tränen in den Augen:
»Sie liebt dich, die da …, sie wollte, du solltest etwas von ihr herumtragen… Oh! Du bist treulos!«
Aber dann stieß sie einen Schrei aus, einen gellenden nervösen Freudenschrei:
»Oh! … Oh! es ist eine Alte … da ist ein weißes Haar … Ach, du nimmst dir jetzt alte Weiber? … Du lässt dich dafür bezahlen? Zahlen sie viel? Ha! Du bist auf alte Weiber scharf! … Dann brauchst du mich nicht mehr … Behalte dir die andere!«
Sie stand auf und griff nach ihrer Bluse, die auf einem Stuhl herumlag, und zog sie hastig an.
Er wollte sie zurückhalten; er fühlte sich beschämt und stammelte:
»Aber nein … Clo … du bist dumm … ich weiß nicht, woher es kommt … höre mal … bleibe doch hier … komm … geh nicht fort!«
Sie wiederholte:
»Behalte dein altes Weib … behalte sie … lass dir aus ihren Haaren einen Ring machen … aus den weißen Haaren … du hast genug davon da …«
Mit jähen und schroffen Bewegungen hatte sie sich schnell angezogen, den Hut aufgesetzt und ihren Schleier umgebunden. Er wollte sie festhalten; mit einem heftigen Schwung gab sie ihm eine Ohrfeige, und während er betört dastand, öffnete sie die Tür und eilte davon.
Sobald er allein, ergriff ihn eine rasende Wut gegen die alte Schachtel, die Mama Walter. Oh, jetzt würde er sie fühlen lassen, und zwar gründlich. Er kühlte sich seine rote Wange mit Wasser. Dann ging er auch hinaus und überlegte sich seine Rache. Dieses Mal würde er es ihr nicht verzeihen. Nie im Leben!
Er ging langsam den Boulevard herunter und blieb vor einem Juwelierladen stehen. Er betrachtete im Schaufenster einen Chronometer, den er sich schon lange wünschte. Er kostete 1800 Francs.
Plötzlich begann sein Herz vor Freude zu klopfen und er dachte: »Wenn ich die 70000 Francs verdiene, kann ich es bezahlen.« Und er begann zu träumen, was er alles mit seinen 70000 Francs tun könnte.
Zunächst würde er sich zum Abgeordneten wählen lassen, dann würde er sich den Chronometer kaufen, er würde an der Börse spielen und dann … und dann noch … Er wollte nicht auf die Redaktion gehen, er zog es vor, mit Madeleine die Sache zu besprechen, bevor er Walter wieder sah und seinen Artikel schrieb, und so schlug er den Weg nach Hause ein.
Als er die Rue Drouot erreichte, blieb er plötzlich stehen. Er hatte vergessen, sich nach dem Befinden des Grafen de Vaudrec zu erkundigen; er wohnte in der Chaussee d’Autin. Er kehrte langsam um und dachte in glücklicher Träumerei an tausend angenehme und schöne Sachen, an den kommenden Reichtum, an den Trottel Laroche und an die alte Hexe, die Frau Direktor. Übrigens machte ihm Clotildes Zorn weiter keine Sorge, denn er wusste wohl, dass sie ihm bald verzeihen würde.
Im Hause, wo Graf de Vaudrec wohnte, fragte er den Portier:
»Wie geht es dem Grafen? Ich hörte, dass er die letzten Tage krank war?«
»Dem Herrn Grafen geht es sehr schlecht, mein Herr«, bekam er zur Antwort. »Man glaubt, dass er die Nacht nicht überleben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Du Roy war so betroffen, dass er nicht wusste, was er anfangen sollte! Vaudrec am Sterben! Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die er sich selbst nicht zu gestehen wagte.
Er murmelte:
»Danke … ich werde wiederkommen.«
Aber er verstand gar nicht, was er sagte. Dann nahm er eine Droschke und fuhr nach Hause.
Seine Frau war da. Er stürzte in ihr Zimmer und sagte:
»Weißt du das nicht, Vaudrec liegt im Sterben!«
Sie hob ihre Augen vom Brief, den sie gelesen hatte und stammelte:
»Was sagst du? … Du sagst? … Du sagst? …«
»Ich sage, dass der Vaudrec stirbt. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Dann fügte er hinzu:
»Was denkst du zu tun?«
Sie stand auf, leichenblass, vor Erregung; über ihre Wangen lief ein nervöses Zittern. Dann fing sie an zu schluchzen und barg ihr Gesicht in die Hände. Sie stand da, weinend, das Herz zerrissen vor Verzweiflung.
»Ich … ich gehe«, sagte sie endlich. »Kümmere dich nicht um mich … ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde … warte nicht auf mich …«
»Gut,« sagte er, »gehe!«
Sie drückten sich die Hände, und sie ging so schnell, dass sie vergaß, ihre Handschuhe mitzunehmen.
Nach dem Essen setzte sich Georges hin und schrieb einen Artikel. Er schrieb ihn genau so, wie der Minister es haben wollte, und deutete an, dass die Expedition nach Marokko nicht stattfinden würde. Dann brachte er das Manuskript auf die Redaktion, plauderte da mit seinem Chef und mit leichtem, freudigem Herzen ging er fort. Weswegen ihm so zumute war, konnte er nicht ergründen. Seine Frau war noch nicht zurück. Er legte sich zu Bett und schlief ein.
Es war gegen Mitternacht, als Madeleine zurückkam. Georges wachte plötzlich auf und setzte sich im Bett auf.
»Nun?« fragte er.
Er hatte sie noch nie so bleich und so erregt gesehen.
»Er ist tot«, flüsterte sie.
»Ah! Und … er hat dir nichts gesagt?«
»Nein, nichts. Als ich kam, hatte er das Bewusstsein verloren.«
Georges dachte nach. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, die er nicht zu stellen wagte.
»Leg’ dich hin«, sagte er.
Sie zog sich aus und legte sich neben ihn.
Er fragte:
»War jemand von den Verwandten da?«
»Nur ein Neffe.«
»So. Hat er ihn oft gesehen?«
»Niemals. Sie haben sich seit zehn Jahren nicht gesehen.«
»Hatte er noch andere Verwandte?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann … dieser Neffe wird wohl alles erben?«
»Ich weiß es nicht!«
»War er reich, der Vaudrec?«
»Ja, sehr reich.«
»Weißt du, was er ungefähr besessen hat?«
»Nein, nicht genau. Vielleicht eine oder zwei Millionen.«
Er sagte nichts mehr. Sie löschte das Licht aus. Sie lagen wach, in Gedanken versunken nebeneinander. Er konnte nicht mehr schlafen. Die versprochenen 70000 Francs von Frau Walter kamen ihm unbedeutend vor. Plötzlich war es ihm, als ob Madeleine weinte. Um sich zu vergewissern, fragte er:
»Schläfst du?«
»Nein«, antwortete sie mit einer weichen, zitternden Stimme.
»Ich hab’ vergessen, dir zu sagen,« fuhr er weiter fort, »dass dein Minister uns reingelegt hat.«
»Wieso denn?«
Und er erzählte ihr ausführlich die Geschichte, die zwischen Laroche und Walter vorbereitet worden ist.
Als er zu Ende war, fragte sie:
»Woher weißt du denn das?«
»Du wirst mir wohl gestatten, dir dieses zu verschweigen«, antwortete er. »Du hast deine Quellen, denen ich nicht nachforsche, ich die meinigen, und möchte auch darüber keine Rechenschaft ablegen. Ich verantworte jedenfalls die Richtigkeit meiner Nachricht.«
»Ja,« sagte sie, »es kann schon stimmen. Ich vermutete, dass sie etwas ohne uns vorbereiteten.«
Georges, der nicht einschlafen konnte, näherte sich seiner Frau und küsste ihr leise das Ohr. Sie wies ihn lebhaft ab:
»Bitte, lass mich in Frieden«, sagte sie. »Ja, ich bin heute wirklich nicht zu Kindereien aufgelegt!«
Er antwortete nichts, drehte sich zur Wand, schloss die Augen und schlief allmählich ein.
Die Kirche war ganz mit Schwarz bezogen, und ein großes Wappenschild über dem Portal mit einer Krone darüber verkündete den Passanten, dass hier ein Edelmann beigesetzt wird.
Die Trauerfeier war zu Ende und die Gäste gingen langsam vor dem Sarge am Neffen des Grafen vorbei; er drückte ihnen die Hände und erwiderte ihre Grüße. Als Georges Du Roy und seine Frau die Kirche verlassen hatten, gingen sie langsam, schweigend nach Hause.
»Es ist wirklich merkwürdig«, sagte Georges, ohne sich zu seiner Frau zu wenden.
»Was denn, mein Freund?« fragte Madeleine.
»Dass Vaudrec uns nichts vererbt hat!«
Sie errötete plötzlich, als breitete sich ein rosa Schleier vom Hals bis zum Gesicht, und sagte:
»Warum sollte er uns was hinterlassen? Es lag doch kein Grund vor.«
Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort:
»Vielleicht hat er ein Testament hinterlassen, das bei seinem Notar liegt. Wir können es ja noch nicht wissen.«
Er überlegte und sagte:
»Ja, das ist möglich, weil wir doch seine besten Freunde waren, wir beide. Zweimal in der Woche war er bei uns zu Tisch und kam zu jeder Stunde. Er war bei uns wie zu Hause. Er liebte dich wie ein Vater und er hatte keine Familie, keine Kinder, keine Geschwister, nur einen Neffen, einen entfernten Neffen. Ja, es muss ein Testament da sein. Ich verlange nichts Großes von ihm, nur eine Kleinigkeit, etwas, was uns beweisen wird, dass er uns liebte und an uns gedacht hatte und die Neigung zu schätzen wusste, die wir für ihn hatten. Er schuldet uns einen Beweis seiner Freundschaft.«
Sie sagte mit einer nachdenklichen gleichgültigen Miene: »Ja, es ist sehr gut möglich, dass ein Testament vorhanden ist.«
Als sie nach Hause kamen, reichte der Diener Madeleine einen Brief. Sie öffnete ihn, und überreichte ihn ihrem Mann:
»Herr Lamaneur
Notar 17, rue des Vosges
Gnädige Frau!
Ich bitte Sie ergebenst, in einer wichtigen Angelegenheit mich am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag von zwei bis vier in meinem Büro aufsuchen zu wollen.
Ich verbleibe usw.
Lamaneur.«
Georges errötete und sagte:
»Das wird es sein. Es ist merkwürdig, dass er dich auffordert und nicht mich, der eigentlich der gesetzliche Familienvorstand ist.«
Sie antwortete zuerst nichts und sagte dann nach kurzem Besinnen:
»Wollen wir gleich beide hingehen.«
»Ja, ich bin bereit.«
Sobald sie gefrühstückt hatten, machten sie sich auf den Weg.
Als sie in das Büro des Herrn Lamaneur kamen, erhob sich der Bürovorsteher mit einer auffallenden Dienstfertigkeit und führte sie zu seinem Chef.
Der Notar war ein kleiner, vollkommen runder Mann. Sein Kopf glich einer Kugel, die auf einer anderen größeren Kugel aufgesetzt war, diese zweite Kugel wurde von zwei Beinen getragen, die ihrerseits so klein und kurz waren, dass sie auch wie zwei runde Kugeln aussahen.
Er begrüßte sie, bat Platz zu nehmen; dann wandte er sich an Madeleine:
»Madame, ich habe Sie hergebeten, um Sie von dem Inhalt des Testaments des Grafen Vaudrec in Kenntnis zu setzen, das Sie betrifft.«
Georges konnte sich nicht enthalten und flüsterte:
»So hab’ ich’s mir auch gedacht.«
Der Notar setzte hinzu:
»Ich will Ihnen gleich das Testament vorlesen, es ist übrigens ganz kurz.« Er nahm aus einer Mappe, die vor ihm lag, einen Bogen heraus und las: »Ich, Endesunterzeichneter, Paul-Emile-Cyprien-Gontran Comte de Vaudrec, gesund an Körper und Seele, bestimme hiermit meinen letzten Willen. Da der Tod uns in jedem Augenblicke treffen kann, so will ich in Voraussetzung seines Eintrittes, mein Testament niederschreiben, das bei dem Notar Lamaneur hinterlegt wird.
Da ich keine direkten Erben habe, hinterlasse ich mein gesamtes Vermögen, bestehend aus Wertpapieren in Höhe von ca. 600000 Francs und aus Immobilien in Höhe von ca. 500000 Francs, Madame Claire-Madeleine Du Roy als ihr unbelastetes freies Eigentum. Ich bitte sie, diese Gabe eines toten Freundes als Beweis einer aufrichtigen, tiefen und ergebenen Zuneigung entgegenzunehmen.«
Der Notar fuhr fort:
»Das ist alles. Dieses Schriftstück ist vom August letzten Jahres datiert und ist an Stelle eines gleichlautenden Dokumentes getreten, das vor zwei Jahren auf den Namen von Claire-Madeleine Forestier ausgestellt war. Auch dieses erste Dokument befindet sich in meinem Besitz, und im Falle einer Anfechtung von selten der Verwandten könnte man damit beweisen, dass der Graf de Vaudrec seinen Willen nicht geändert hatte.«
Madeleine wurde blass und blickte hinunter auf ihre Füße. Georges drehte nervös seinen Schnurrbart zwischen den Fingern. Nach einer kurzen Pause fuhr der Notar fort:
»Selbstverständlich, mein Herr, kann Madame diese Hinterlassenschaft nur mit Ihrer Zustimmung annehmen.«
Du Roy stand auf und sagte in trocknem Tone:
»Ich bitte um Bedenkzeit.«
Der Notar lächelte, und sagte mit liebenswürdiger Stimme:
»Ich begreife die Bedenken, die Sie zaudern lassen. Ich habe noch hinzuzufügen, dass der Neffe des Grafen Vaudrec, als er heute früh von dem letzten Willen seines Onkels Kenntnis nahm, sich bereit erklärte, denselben anzuerkennen, falls man ihm die Summe von hunderttausend Francs auszahlte. Nach meiner Ansicht ist das Testament unanfechtbar, aber ein Prozess würde Aufsehen erregen, was Sie wahrscheinlich vermeiden wollen. Die Welt urteilt bekanntlich oft sehr boshaft. Jedenfalls würde ich Sie bitten, mich noch vor Sonnabend von Ihrem definitiven Entschluss über alle Punkte in Kenntnis zu setzen.«
Georges verbeugte sich:
»Gut, Herr Lamaneur.«
Dann verabschiedete er sich feierlich, ließ seine Frau, die gar nichts mehr sagte, vorangehen und verließ das Büro in so steifer und gemessener Weise, dass der Notar nicht mehr lächelte.
Sobald sie nach Hause gekommen waren, schloss Du Roy heftig die Tür hinter sich und warf seinen Hut aufs Bett.
»Du bist Vaudrecs Geliebte gewesen?«
Madeleine hatte ihren Schleier abgelegt und drehte sich schroff um:
»Ich, oh!«
»Ja, du. Man hinterlässt nicht einer Frau sein ganzes Vermögen … ohne dass …«
Sie begann zu zittern und konnte nicht die Nadeln fassen, mit denen ihr durchsichtiger Schleier ans Haar befestigt war.
Sie dachte einen Augenblick nach und stammelte mit erregter Stimme:
»Hör mal … du bist verrückt … du bist … du bist … und du selbst … du hast ja vorher — auch gehofft … er würde dir auch etwas vermachen.«
Georges stand vor ihr und beobachtete sie, wie ein Untersuchungsrichter, der die geringsten Schwächen des Angeklagten zu entdecken sucht. Er erwiderte, indem er jedes Wort betonte:
»Ja … mir hätte er was hinterlassen können, mir, deinem Gatten … mir, seinem Freunde … verstehst du … Dir doch nicht … dir, seiner Freundin … dir, meiner Gattin … Der Unterschied ist sehr wesentlich und sogar ausschlaggebend vom Standpunkt der öffentlichen Meinung … in den Augen der Gesellschaft …«
Madeleine blickte ihm gleichfalls scharf in die durchsichtigen Augen, tief und sonderbar, als wollte sie in die unbekannten Tiefen seines Wesens eindringen, die man nur selten in flüchtigen Augenblicken erfassen kann, in den Augenblicken der Achtlosigkeit, der Vergesslichkeit des Sichgehenlassens, die dann wie halbgeöffnete Türen sind, die in die geheimnisvollen Abgründe der Seele führen.
Sie versetzte langsam:
»Mir scheint doch … dass, wenn … dass man eine Erbschaft in dieser Höhe von ihm zu deinen Gunsten mindestens ebenso auffallend gefunden hätte.«
Er fragte heftig:
»Warum?«
»Weil« … sagte sie, und nach kurzem Zaudern fuhr sie fort:
»Weil du mein Mann bist … und ihn erst seit kurzer Zeit kennst, während ich schon sehr lange mit ihm befreundet war … und weil sein erstes Testament, das noch zu Lebzeiten Forestiers abgefasst war, doch mir galt.«
Georges ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und erklärte:
»Du kannst das nicht annehmen.«
»Gut,« antwortete sie gleichgültig, »also dann brauchen wir erst gar nicht bis Sonnabend zu warten. Wir können diesen Entschluss Herrn Lamaneur sofort mitteilen.«
Er blieb vor ihr stehen und sie sahen sich Auge in Auge. Sie wollten beide bis ins tiefste Geheimnis ihres Herzens eindringen und ihre innersten Gedanken ergründen. Es war ein Seelenkampf zweier Menschen, die Seite an Seite lebten und sich doch nicht kannten, die sich beargwöhnten, ausspürten und belauerten und nie in den tiefen, schlammigen Grund der Seele hineingeschaut hatten.
Plötzlich schleuderte er ihr mit dumpfer Stimme ins Gesicht:
»Gestehe doch, dass du die Geliebte von Vaudrec warst.«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Du redest Unsinn. Vaudrec hatte mir allerdings eine sehr große Zuneigung entgegengebracht … Aber weiter nichts … niemals.«
Er stampfte mit dem Fuß.
»Du lügst, es kann nicht möglich sein.«
Sie entgegnete ruhig:
»Es ist doch so.«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, dann blieb er stehen:
»Erkläre mir dann, warum hinterlässt er sein ganzes Vermögen ausgerechnet dir?«
Sie tat gleichgültig und uninteressiert, als ob sie die Sache gar nichts anginge.
»Es ist sehr einfach. Wie du eben sagtest, hatte er keine Freunde außer uns, oder vielmehr außer mir, da er mich seit meiner Kindheit kennt. Meine Mutter war Gesellschafterin bei seinen Eltern. Er kam sehr oft hierher, und da er keine direkten Erben hatte, hat er an mich gedacht. Dass er mich etwas lieb hatte, ist sehr gut möglich. Aber welche Frau ist auf solche Weise nie geliebt worden. Dass diese stille und geheime Liebe ihn meinen Namen aufs Papier schreiben ließ, als er seine letzte Verfügung getroffen hatte, kann auch sein. Er brachte mir jeden Montag Blumen. Du warst doch darüber gar nicht erstaunt, und dir brachte er keine mit, nicht wahr? Heute vermacht er mir sein Vermögen aus demselben Grund und da er wahrscheinlich sonst niemanden hat, dem er es geben könnte. Es wäre im Gegenteil höchst sonderbar, wenn er es dir hinterlassen hätte. Warum? — Was bist du für ihn?«
Sie sprach so natürlich und so ruhig, dass Georges zu zaudern begann.
Er erwiderte: