Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Dann dach­te er nach und mur­mel­te:

»Man müss­te da­von auch et­was pro­fi­tie­ren.«

»Du kannst noch die An­lei­he kau­fen,« sag­te sie, »sie steht nur auf 72.«

»Ich habe aber kein Geld flüs­sig«, er­wi­der­te er.

Sie sah fle­hend zu ihm auf:

»Ich habe schon dar­an ge­dacht, mein Kätz­chen; wenn du zu mir sehr nett wä­rest, wenn du mich ein biss­chen lieb hät­test, dann wür­dest du mir ge­stat­ten, es dir zu lei­hen.«

Er ant­wor­te­te schroff und hef­tig:

»Nein, aus­ge­schlos­sen!«

»Hör mich an,« bat sie mit fle­hen­der Stim­me, »es gibt eine Mög­lich­keit, es zu tun, ohne Geld zu lei­hen. Ich woll­te von die­ser An­lei­he für 10000 Fran­cs kau­fen, um mir eine klei­ne Re­ser­ve an­zu­le­gen; nun wer­de ich für 20000 Fran­cs kau­fen. Du be­tei­ligst dich dar­an zur Hälf­te. Du ver­stehst doch, ich wer­de es ja nicht an Wal­ter gleich zu­rück­zah­len. Du brauchst zu­nächst gar nicht zu be­zah­len. Soll­te es ge­lin­gen, so ge­winnst du 70000 Fran­cs; ge­lingt es nicht, so bleibst du mir eben 10000 Fran­cs schul­dig, die du mir zu­rück­zah­len wirst, wann es dir passt.«

Er wie­der­hol­te:

»Nein, nein, sol­che Kom­bi­na­tio­nen ma­che ich nicht mit.«

Nun be­gann sie, ihre Grün­de aus­ein­an­der­zu­set­zen und ver­such­te, ihn mit Ver­nunft zu über­re­den. Sie be­wies ihm, dass er tat­säch­lich 10000 Fran­cs auf sein Wort ris­kier­te, dass folg­lich sie ihm gar nichts lieh, dass doch die Bank Wal­ter das Geld vor­streck­te.

Au­ßer­dem wies sie dar­auf hin, dass er doch in der Vie Fran­cai­se den gan­zen po­li­ti­schen Feld­zug ge­führt hat­te, der das Ge­schäft über­haupt erst er­mög­lich­te und dass er doch nicht so naiv wäre, kei­nen Vor­teil dar­aus zu zie­hen.

Er zau­der­te. Sie fuhr fort:

»Über­le­ge es dir doch. Es ist doch Wal­ter, der dir die 10000 Fran­cs vor­streckt, und du hast ihm Diens­te er­wie­sen, die be­deu­tend wert­vol­ler sind als das.«

»Also gut, mei­net­we­gen,« sag­te er, »wir ma­chen mit dir die Sa­che halb und halb. Soll­ten wir ver­lie­ren, so zah­le ich dir 10000 Fran­cs zu­rück.«

Sie war so glück­lich, dass sie sich er­hob, sei­nen Kopf mit bei­den Hän­den er­griff und ihn gie­rig zu küs­sen be­gann.

Zu­nächst wehr­te er sich nicht. Als sie aber stür­mi­scher wur­de, ihn um­klam­mer­te und mit ih­ren Lieb­ko­sun­gen ver­zehr­te, fiel ihm dann ein, dass die an­de­re bald kom­men muss­te und dass, wenn er nach­ge­ben, er Zeit ver­lie­ren wür­de, und es wäre ihm doch lie­ber, sei­ne Lei­den­schaft für die Jün­ge­re auf­zu­spa­ren, als sie in den Ar­men der Al­ten zu las­sen.

Er wies sie sanft zu­rück.

»Sei doch ver­nünf­tig«, sag­te er.

Sie blick­te ihn ver­zwei­felt an:

»O Ge­or­ges, darf ich dir nicht ein­mal einen Kuss ge­ben?«

»Heu­te nicht,« er­wi­der­te er, »ich habe et­was Kopf­schmer­zen und es be­kommt mir nicht.«

Da­rauf ließ sie sich füg­sam zwi­schen sei­nen Kni­en nie­der und frag­te:

»Willst du mor­gen zu mir zum Es­sen kom­men? Du wür­dest mir eine große Freu­de ma­chen!«

Er zö­ger­te, wag­te aber nicht, ab­zu­leh­nen.

»Ja, sehr gern!«

»Ich dan­ke dir, mein Lieb­ling.«

Mit re­gel­mä­ßi­ger sanf­ter Be­we­gung rieb sie lang­sam ihre Wan­ge an sei­ner Brust und eins ih­rer lan­gen schwar­zen Haa­re blieb da­bei an sei­ner Wes­te hän­gen. Sie merk­te es und ein tol­ler, halb­ver­rück­ter, aber­gläu­bi­scher Ge­dan­ke ging ihr durch den Kopf, ein Ge­dan­ke, wie er oft der ein­zi­ge Grund weib­li­chen Han­delns ist. Sie be­gann, die­ses Haar lang­sam um einen sei­ner Knöp­fe zu wi­ckeln. Dann wi­ckel­te sie ein an­de­res Haar um den nächs­ten Knopf und so wei­ter, bis an je­dem Knopf ein Haar hing.

Soll­te er nun auf­ste­hen, so wür­de er sie alle her­aus­rei­ßen. Er wür­de ihr weh tun. Wel­ches Glück! Er wür­de, ohne es zu wis­sen, et­was von ihr her­um­tra­gen, eine klei­ne Lo­cke ih­res Haa­res, um die er nie­mals ge­be­ten hat­te. Es wür­de ein Band sein, mit dem sie sich an ihm fest­hal­ten wür­de, ein ge­hei­mes, un­sicht­ba­res Band, ein Ta­lis­man, den er bei sich tra­gen müss­te, ohne es zu wol­len. Er wür­de an sie den­ken, von ihr träu­men und viel­leicht sie tags dar­auf et­was mehr lie­ben.

Plötz­lich sag­te er:

»Ich muss dich gleich ver­las­sen, weil man mich zum Schluss der Sit­zung in der Kam­mer er­war­tet. Ich darf in kei­nem Fal­le feh­len.«

Sie seufz­te:

»Ach, schon!«

Und setz­te dann hin­zu :

»Geh; aber mor­gen, mein Lieb­ling, kommst du be­stimmt zum Es­sen.«

Dann riss sie sich rasch von ihm los. Sie fühl­te auf ih­rem Kopf einen kur­z­en hef­ti­gen Schmerz, als habe man sie mit Na­deln ge­sto­chen. Ihr Herz klopf­te, sie war glück­lich, durch ihn ge­lit­ten zu ha­ben.

»Adieu«, sag­te sie.

Er nahm sie mit ei­nem mit­lei­di­gen Lä­cheln in die Arme und küss­te sie kühl auf ihre Au­gen. Doch die­se Berüh­rung hat­te sie er­regt und be­tört und sie flüs­ter­te noch­mals: »Schon?« und ihr bet­teln­der Blick deu­te­te auf das Schlaf­zim­mer, des­sen Tür of­fen stand.

Er rück­te von ihr weg und sag­te in ei­li­gem Ton:

»Ich muss gleich lau­fen, sonst kom­me ich zu spät.«

Sie hielt ihm ihre Lip­pen zum Kus­se hin; er be­rühr­te sie kaum, reich­te ihr ih­ren Son­nen­schirm, den sie zu. ver­ges­sen schi­en, und sag­te:

»Schnell, schnell, wir müs­sen uns be­ei­len, es ist schon drei Uhr vor­über!«

Sie ging vor ihm hin­aus und wie­der­hol­te:

»Mor­gen um sie­ben!«

»Mor­gen um sie­ben«, ant­wor­te­te er.

Sie trenn­ten sich; er bog nach rechts ein, sie nach links.

Du Roy ging bis zum äu­ße­ren Bou­le­vard, dann ging er lang­sam den Bou­le­vard Ma­les­her­bes ent­lang. Als er an ei­ner Ku­chen­bä­cke­rei vor­bei­kam, sah er in ei­ner Glas­scha­le im Schau­fens­ter kan­dier­te Kas­ta­ni­en. Er dach­te: »Ich wer­de ein Pfund für Clo­til­de mit­neh­men.« Er kauf­te sich ein Päck­chen voll von die­sen Früch­ten, die sie wahn­sin­nig lieb­te.

Um vier war er wie­der zu­rück und war­te­te auf sei­ne jun­ge Ge­lieb­te.

Sie ver­spä­te­te sich et­was, denn ihr Mann war auf acht Tage nach Pa­ria ge­kom­men. Sie frag­te:

»Kannst du mor­gen zum Di­ner kom­men? Er wür­de sich sehr freu­en, dich wie­der­zu­se­hen.«

»Nein, ich esse beim Chef. Wir ha­ben eine Men­ge ver­schie­de­ner po­li­ti­scher und fi­nan­zi­el­ler An­ge­le­gen­hei­ten zu be­spre­chen.«

Sie nahm ih­ren Hut ab und be­gann ihre Blu­se aus­zu­zie­hen, die ihr zu eng war.

Er zeig­te ihr das Päck­chen auf dem Ka­min:

»Ich habe für dich kan­dier­te Kas­ta­ni­en mit­ge­bracht.«

Sie klatsch­te in die Hän­de:

»Wie rei­zend! Wie lieb bist du!«

Sie nahm sie, kos­te­te eine und er­klär­te:

»Sie sind wun­der­voll. Ich füh­le, ich wer­de nicht eine üb­riglas­sen.«

Dann blick­te sie Ge­or­ges mit ei­ner sinn­li­chen Hei­ter­keit an und setz­te hin­zu:

»Du ver­wöhnst mich!«

Sie aß lang­sam die Kas­ta­ni­en und blick­te da­bei im­mer in die Tüte hin­ein, um zu se­hen, ob noch et­was üb­rig sei.

Sie sag­te:

»Komm, setz’ dich da in den Lehn­stuhl, ich will hier zu dei­nen Fü­ßen mei­ne Bon­bons knab­bern. Es wird so be­quem sein.«

Er lä­chel­te und setz­te sich hin. Sie ließ sich zwi­schen sei­nen ge­spreiz­ten Schen­keln nie­der, wie Frau Wal­ter vor­hin. Sie hob den Kopf zu ihm em­por und sprach mit vol­lem Mun­de:

»Du weißt es noch nicht, mein Lieb­ling, ich habe von dir ge­träumt. Ich träum­te, wir mach­ten bei­de eine lan­ge Rei­se auf ei­nem Ka­mel. Es hat­te zwei Hö­cker, wir sa­ßen je­der ritt­lings auf ei­nem Hö­cker und wir rit­ten durch die Wüs­te. Wir hat­ten But­ter­bro­te und eine Fla­sche Wein mit und wir früh­stück­ten auf den bei­den Hö­ckern. Mich lang­weil­te das, weil wir et­was an­de­res nicht tun konn­ten, wir sa­ßen zu weit von­ein­an­der ent­fernt. Ich woll­te run­ter…«

»Ich will auch run­ter«, er­wi­der­te er.

Er lach­te, amü­sier­te sich über die Ge­schich­ten, ließ sie Un­sinn re­den, alle mög­li­chen Kin­de­rei­en und zärt­li­che Al­bern­hei­ten schwat­zen. Die­ses al­les fand er ent­zückend im Mun­de Ma­da­me de Ma­rel­les, wäh­rend das­sel­be im Mun­de Frau Wal­ters ihn zur Verzweif­lung ge­bracht hät­te.

Clo­til­de nann­te ihn auch: »Mein Lieb­ling«, »mein Klei­ner«, »mein Kätz­chen«. Die­se Wor­te schie­nen ihm süß und lieb­ko­send zu sein. Wenn sie aber die an­de­re vor­hin ge­brauch­te, wur­de er ner­vös und wü­tend. Denn Lie­bes­wor­te, die stets die­sel­ben sind, neh­men be­kannt­lich den Ge­schmack der Lip­pen an, die sie aus­spre­chen.

Aber trotz­dem ihn die­se Toll­hei­ten er­hei­ter­ten, dach­te er im­mer­fort an die 70000 Fran­cs, die er ge­win­nen soll­te, und plötz­lich un­ter­brach er das Ge­schwätz sei­ner Freun­din, in­dem er ihr mit dem Fin­ger zwei leich­te Klap­se auf den Kopf gab.

»Hör’ mal zu, mein Schatz, ich will dir einen Auf­trag für dei­nen Mann ge­ben. Sage ihm von mir, er sol­le sich mor­gen für 10000 Fran­cs Marok­ko­an­lei­hen kau­fen. Sie steht auf 72; und ich kann ihn ver­si­chern, dass er bin­nen drei Mo­na­ten 60- bis 80000 Fran­cs ver­die­nen wird. Er soll dar­über aber ab­so­lu­tes Still­schwei­gen be­wah­ren. Sag’ ihm von mir, dass die Tan­ger­ex­pe­di­ti­on schon be­schlos­sen ist und dass der fran­zö­si­sche Staat die ma­rok­ka­ni­sche An­lei­he ga­ran­tie­ren wird. Sag’ den an­de­ren aber kein Wort. Es ist näm­lich ein Staats­ge­heim­nis, das ich dir an­ver­traue.«

Sie hör­te ernst zu, dann sag­te sie lei­se:

 

»Ich dan­ke dir, ich wer­de es mei­nem Man­ne heu­te Abend be­stel­len. Du kannst dich auf ihn ver­las­sen, er wird nicht dar­über schwat­zen. Er ist ein sehr zu­ver­läs­si­ger Mensch. Du kannst ru­hig sein.«

In­zwi­schen hat­te sie alle Kas­ta­ni­en auf­ge­ges­sen, zer­knüll­te die Tüte und warf sie in den Ka­min. Dann sag­te sie:

»Komm, wir wol­len zu Bett.«

Und ohne auf­zu­ste­hen, be­gann sie Ge­or­ges Wes­te auf­zu­knöp­fen.

Plötz­lich hielt sie inne und zog mit zwei Fin­gern ein lan­ges Haar aus sei­nem Knopf­loch her­aus. Sie lach­te:

»Halt! Du hast ein Haar von Ma­de­lei­ne mit­ge­bracht, du bist aber ein treu­er Ehe­gat­te.«

Dann wur­de sie wie­der ernst und prüf­te lan­ge auf der Hand den kaum sicht­ba­ren Fa­den, den sie ge­fun­den hat­te.

»Es ist nicht von Ma­de­lei­ne, es ist schwarz.«

Er lä­chel­te.

»Dann stammt es si­cher von dem Stu­ben­mäd­chen.«

Doch sie un­ter­such­te die Wes­te mit dem schar­fen Blick ei­nes Po­li­zis­ten und sie fand ein zwei­tes Haar, das um einen Knopf ge­wi­ckelt war, dann ein drit­tes; sie wur­de bleich und rief zit­ternd aus:

»Oh, du hast mit ei­ner Frau ge­schla­fen, die dir ihre Haa­re um dei­ne Knöp­fe be­fes­tigt hat.«

Er war er­staunt und stam­mel­te:

»Aber nein, du bist ver­rückt!«

Auf ein­mal fiel es ihm ein, er be­griff es; nun wur­de er ver­le­gen, dann leug­ne­te er la­chend, denn er war im Grun­de gar nicht böse, dass sie es ahn­te, dass er Glück bei an­de­ren Frau­en hat­te.

Sie such­te im­mer wei­ter und fand Haa­re, die sie mit ei­ner schnel­len Be­we­gung ab­wi­ckel­te und dann auf den Tep­pich warf.

Mit ih­rem fei­nen, schlau­en Frauen­in­stinkt hat­te sie die Wahr­heit er­ra­ten, und sie stam­mel­te ra­send vor Wut und mit Trä­nen in den Au­gen:

»Sie liebt dich, die da …, sie woll­te, du soll­test et­was von ihr her­um­tra­gen… Oh! Du bist treu­los!«

Aber dann stieß sie einen Schrei aus, einen gel­len­den ner­vö­sen Freu­den­schrei:

»Oh! … Oh! es ist eine Alte … da ist ein wei­ßes Haar … Ach, du nimmst dir jetzt alte Wei­ber? … Du lässt dich da­für be­zah­len? Zah­len sie viel? Ha! Du bist auf alte Wei­ber scharf! … Dann brauchst du mich nicht mehr … Be­hal­te dir die an­de­re!«

Sie stand auf und griff nach ih­rer Blu­se, die auf ei­nem Stuhl her­um­lag, und zog sie has­tig an.

Er woll­te sie zu­rück­hal­ten; er fühl­te sich be­schämt und stam­mel­te:

»Aber nein … Clo … du bist dumm … ich weiß nicht, wo­her es kommt … höre mal … blei­be doch hier … komm … geh nicht fort!«

Sie wie­der­hol­te:

»Be­hal­te dein al­tes Weib … be­hal­te sie … lass dir aus ih­ren Haa­ren einen Ring ma­chen … aus den wei­ßen Haa­ren … du hast ge­nug da­von da …«

Mit jä­hen und schrof­fen Be­we­gun­gen hat­te sie sich schnell an­ge­zo­gen, den Hut auf­ge­setzt und ih­ren Schlei­er um­ge­bun­den. Er woll­te sie fest­hal­ten; mit ei­nem hef­ti­gen Schwung gab sie ihm eine Ohr­fei­ge, und wäh­rend er be­tört da­stand, öff­ne­te sie die Tür und eil­te da­von.

So­bald er al­lein, er­griff ihn eine ra­sen­de Wut ge­gen die alte Schach­tel, die Mama Wal­ter. Oh, jetzt wür­de er sie füh­len las­sen, und zwar gründ­lich. Er kühl­te sich sei­ne rote Wan­ge mit Was­ser. Dann ging er auch hin­aus und über­leg­te sich sei­ne Ra­che. Die­ses Mal wür­de er es ihr nicht ver­zei­hen. Nie im Le­ben!

Er ging lang­sam den Bou­le­vard her­un­ter und blieb vor ei­nem Ju­we­lier­la­den ste­hen. Er be­trach­te­te im Schau­fens­ter einen Chro­no­me­ter, den er sich schon lan­ge wünsch­te. Er kos­te­te 1800 Fran­cs.

Plötz­lich be­gann sein Herz vor Freu­de zu klop­fen und er dach­te: »Wenn ich die 70000 Fran­cs ver­die­ne, kann ich es be­zah­len.« Und er be­gann zu träu­men, was er al­les mit sei­nen 70000 Fran­cs tun könn­te.

Zu­nächst wür­de er sich zum Ab­ge­ord­ne­ten wäh­len las­sen, dann wür­de er sich den Chro­no­me­ter kau­fen, er wür­de an der Bör­se spie­len und dann … und dann noch … Er woll­te nicht auf die Re­dak­ti­on ge­hen, er zog es vor, mit Ma­de­lei­ne die Sa­che zu be­spre­chen, be­vor er Wal­ter wie­der sah und sei­nen Ar­ti­kel schrieb, und so schlug er den Weg nach Hau­se ein.

Als er die Rue Drouot er­reich­te, blieb er plötz­lich ste­hen. Er hat­te ver­ges­sen, sich nach dem Be­fin­den des Gra­fen de Vau­drec zu er­kun­di­gen; er wohn­te in der Chaus­see d’Au­tin. Er kehr­te lang­sam um und dach­te in glück­li­cher Träu­me­rei an tau­send an­ge­neh­me und schö­ne Sa­chen, an den kom­men­den Reich­tum, an den Trot­tel Lar­oche und an die alte Hexe, die Frau Di­rek­tor. Üb­ri­gens mach­te ihm Clo­til­des Zorn wei­ter kei­ne Sor­ge, denn er wuss­te wohl, dass sie ihm bald ver­zei­hen wür­de.

Im Hau­se, wo Graf de Vau­drec wohn­te, frag­te er den Por­tier:

»Wie geht es dem Gra­fen? Ich hör­te, dass er die letz­ten Tage krank war?«

»Dem Herrn Gra­fen geht es sehr schlecht, mein Herr«, be­kam er zur Ant­wort. »Man glaubt, dass er die Nacht nicht über­le­ben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz ge­stie­gen.«

Du Roy war so be­trof­fen, dass er nicht wuss­te, was er an­fan­gen soll­te! Vau­drec am Ster­ben! Wir­re Ge­dan­ken schos­sen ihm durch den Kopf, die er sich selbst nicht zu ge­ste­hen wag­te.

Er mur­mel­te:

»Dan­ke … ich wer­de wie­der­kom­men.«

Aber er ver­stand gar nicht, was er sag­te. Dann nahm er eine Drosch­ke und fuhr nach Hau­se.

Sei­ne Frau war da. Er stürz­te in ihr Zim­mer und sag­te:

»Weißt du das nicht, Vau­drec liegt im Ster­ben!«

Sie hob ihre Au­gen vom Brief, den sie ge­le­sen hat­te und stam­mel­te:

»Was sagst du? … Du sagst? … Du sagst? …«

»Ich sage, dass der Vau­drec stirbt. Die Gicht ist ihm bis ans Herz ge­stie­gen.«

Dann füg­te er hin­zu:

»Was denkst du zu tun?«

Sie stand auf, lei­chen­blass, vor Er­re­gung; über ihre Wan­gen lief ein ner­vö­ses Zit­tern. Dann fing sie an zu schluch­zen und barg ihr Ge­sicht in die Hän­de. Sie stand da, wei­nend, das Herz zer­ris­sen vor Verzweif­lung.

»Ich … ich gehe«, sag­te sie end­lich. »Küm­me­re dich nicht um mich … ich weiß nicht, wann ich zu­rück sein wer­de … war­te nicht auf mich …«

»Gut,« sag­te er, »gehe!«

Sie drück­ten sich die Hän­de, und sie ging so schnell, dass sie ver­gaß, ihre Hand­schu­he mit­zu­neh­men.

Nach dem Es­sen setz­te sich Ge­or­ges hin und schrieb einen Ar­ti­kel. Er schrieb ihn ge­nau so, wie der Mi­nis­ter es ha­ben woll­te, und deu­te­te an, dass die Ex­pe­di­ti­on nach Marok­ko nicht statt­fin­den wür­de. Dann brach­te er das Ma­nu­skript auf die Re­dak­ti­on, plau­der­te da mit sei­nem Chef und mit leich­tem, freu­di­gem Her­zen ging er fort. Wes­we­gen ihm so zu­mu­te war, konn­te er nicht er­grün­den. Sei­ne Frau war noch nicht zu­rück. Er leg­te sich zu Bett und schlief ein.

Es war ge­gen Mit­ter­nacht, als Ma­de­lei­ne zu­rück­kam. Ge­or­ges wach­te plötz­lich auf und setz­te sich im Bett auf.

»Nun?« frag­te er.

Er hat­te sie noch nie so bleich und so er­regt ge­se­hen.

»Er ist tot«, flüs­ter­te sie.

»Ah! Und … er hat dir nichts ge­sagt?«

»Nein, nichts. Als ich kam, hat­te er das Be­wusst­sein ver­lo­ren.«

Ge­or­ges dach­te nach. Tau­send Fra­gen gin­gen ihm durch den Kopf, die er nicht zu stel­len wag­te.

»Leg’ dich hin«, sag­te er.

Sie zog sich aus und leg­te sich ne­ben ihn.

Er frag­te:

»War je­mand von den Ver­wand­ten da?«

»Nur ein Nef­fe.«

»So. Hat er ihn oft ge­se­hen?«

»Nie­mals. Sie ha­ben sich seit zehn Jah­ren nicht ge­se­hen.«

»Hat­te er noch an­de­re Ver­wand­te?«

»Nein, ich glau­be nicht.«

»Dann … die­ser Nef­fe wird wohl al­les er­ben?«

»Ich weiß es nicht!«

»War er reich, der Vau­drec?«

»Ja, sehr reich.«

»Weißt du, was er un­ge­fähr be­ses­sen hat?«

»Nein, nicht ge­nau. Vi­el­leicht eine oder zwei Mil­lio­nen.«

Er sag­te nichts mehr. Sie lösch­te das Licht aus. Sie la­gen wach, in Ge­dan­ken ver­sun­ken ne­ben­ein­an­der. Er konn­te nicht mehr schla­fen. Die ver­spro­che­nen 70000 Fran­cs von Frau Wal­ter ka­men ihm un­be­deu­tend vor. Plötz­lich war es ihm, als ob Ma­de­lei­ne wein­te. Um sich zu ver­ge­wis­sern, frag­te er:

»Schläfst du?«

»Nein«, ant­wor­te­te sie mit ei­ner wei­chen, zit­tern­den Stim­me.

»Ich hab’ ver­ges­sen, dir zu sa­gen,« fuhr er wei­ter fort, »dass dein Mi­nis­ter uns rein­ge­legt hat.«

»Wie­so denn?«

Und er er­zähl­te ihr aus­führ­lich die Ge­schich­te, die zwi­schen Lar­oche und Wal­ter vor­be­rei­tet wor­den ist.

Als er zu Ende war, frag­te sie:

»Wo­her weißt du denn das?«

»Du wirst mir wohl ge­stat­ten, dir die­ses zu ver­schwei­gen«, ant­wor­te­te er. »Du hast dei­ne Quel­len, de­nen ich nicht nach­for­sche, ich die mei­ni­gen, und möch­te auch dar­über kei­ne Re­chen­schaft ab­le­gen. Ich ver­ant­wor­te je­den­falls die Rich­tig­keit mei­ner Nach­richt.«

»Ja,« sag­te sie, »es kann schon stim­men. Ich ver­mu­te­te, dass sie et­was ohne uns vor­be­rei­te­ten.«

Ge­or­ges, der nicht ein­schla­fen konn­te, nä­her­te sich sei­ner Frau und küss­te ihr lei­se das Ohr. Sie wies ihn leb­haft ab:

»Bit­te, lass mich in Frie­den«, sag­te sie. »Ja, ich bin heu­te wirk­lich nicht zu Kin­de­rei­en auf­ge­legt!«

Er ant­wor­te­te nichts, dreh­te sich zur Wand, schloss die Au­gen und schlief all­mäh­lich ein.

VI.

Die Kir­che war ganz mit Schwarz be­zo­gen, und ein großes Wap­pen­schild über dem Por­tal mit ei­ner Kro­ne dar­über ver­kün­de­te den Passan­ten, dass hier ein Edel­mann bei­ge­setzt wird.

Die Trau­er­fei­er war zu Ende und die Gäs­te gin­gen lang­sam vor dem Sar­ge am Nef­fen des Gra­fen vor­bei; er drück­te ih­nen die Hän­de und er­wi­der­te ihre Grü­ße. Als Ge­or­ges Du Roy und sei­ne Frau die Kir­che ver­las­sen hat­ten, gin­gen sie lang­sam, schwei­gend nach Hau­se.

»Es ist wirk­lich merk­wür­dig«, sag­te Ge­or­ges, ohne sich zu sei­ner Frau zu wen­den.

»Was denn, mein Freund?« frag­te Ma­de­lei­ne.

»Dass Vau­drec uns nichts ver­erbt hat!«

Sie er­rö­te­te plötz­lich, als brei­te­te sich ein rosa Schlei­er vom Hals bis zum Ge­sicht, und sag­te:

»Wa­rum soll­te er uns was hin­ter­las­sen? Es lag doch kein Grund vor.«

Nach kur­z­em Schwei­gen fuhr sie fort:

»Vi­el­leicht hat er ein Te­sta­ment hin­ter­las­sen, das bei sei­nem No­tar liegt. Wir kön­nen es ja noch nicht wis­sen.«

Er über­leg­te und sag­te:

»Ja, das ist mög­lich, weil wir doch sei­ne bes­ten Freun­de wa­ren, wir bei­de. Zwei­mal in der Wo­che war er bei uns zu Tisch und kam zu je­der Stun­de. Er war bei uns wie zu Hau­se. Er lieb­te dich wie ein Va­ter und er hat­te kei­ne Fa­mi­lie, kei­ne Kin­der, kei­ne Ge­schwis­ter, nur einen Nef­fen, einen ent­fern­ten Nef­fen. Ja, es muss ein Te­sta­ment da sein. Ich ver­lan­ge nichts Gro­ßes von ihm, nur eine Klei­nig­keit, et­was, was uns be­wei­sen wird, dass er uns lieb­te und an uns ge­dacht hat­te und die Nei­gung zu schät­zen wuss­te, die wir für ihn hat­ten. Er schul­det uns einen Be­weis sei­ner Freund­schaft.«

Sie sag­te mit ei­ner nach­denk­li­chen gleich­gül­ti­gen Mie­ne: »Ja, es ist sehr gut mög­lich, dass ein Te­sta­ment vor­han­den ist.«

Als sie nach Hau­se ka­men, reich­te der Die­ner Ma­de­lei­ne einen Brief. Sie öff­ne­te ihn, und über­reich­te ihn ih­rem Mann:

»Herr La­ma­neur

No­tar 17, rue des Vos­ges

Gnä­di­ge Frau!

Ich bit­te Sie er­ge­benst, in ei­ner wich­ti­gen An­ge­le­gen­heit mich am Diens­tag, Mitt­woch oder Don­ners­tag von zwei bis vier in mei­nem Büro auf­su­chen zu wol­len.

Ich ver­blei­be usw.

La­ma­neur.«

Ge­or­ges er­rö­te­te und sag­te:

»Das wird es sein. Es ist merk­wür­dig, dass er dich auf­for­dert und nicht mich, der ei­gent­lich der ge­setz­li­che Fa­mi­li­en­vor­stand ist.«

Sie ant­wor­te­te zu­erst nichts und sag­te dann nach kur­z­em Be­sin­nen:

»Wol­len wir gleich bei­de hin­ge­hen.«

»Ja, ich bin be­reit.«

So­bald sie ge­früh­stückt hat­ten, mach­ten sie sich auf den Weg.

Als sie in das Büro des Herrn La­ma­neur ka­men, er­hob sich der Bü­ro­vor­ste­her mit ei­ner auf­fal­len­den Dienst­fer­tig­keit und führ­te sie zu sei­nem Chef.

 

Der No­tar war ein klei­ner, voll­kom­men runder Mann. Sein Kopf glich ei­ner Ku­gel, die auf ei­ner an­de­ren grö­ße­ren Ku­gel auf­ge­setzt war, die­se zwei­te Ku­gel wur­de von zwei Bei­nen ge­tra­gen, die ih­rer­seits so klein und kurz wa­ren, dass sie auch wie zwei run­de Ku­geln aus­sa­hen.

Er be­grüß­te sie, bat Platz zu neh­men; dann wand­te er sich an Ma­de­lei­ne:

»Ma­da­me, ich habe Sie her­ge­be­ten, um Sie von dem In­halt des Te­sta­ments des Gra­fen Vau­drec in Kennt­nis zu set­zen, das Sie be­trifft.«

Ge­or­ges konn­te sich nicht ent­hal­ten und flüs­ter­te:

»So hab’ ich’s mir auch ge­dacht.«

Der No­tar setz­te hin­zu:

»Ich will Ih­nen gleich das Te­sta­ment vor­le­sen, es ist üb­ri­gens ganz kurz.« Er nahm aus ei­ner Map­pe, die vor ihm lag, einen Bo­gen her­aus und las: »Ich, En­des­un­ter­zeich­ne­ter, Paul-Emi­le-Cy­pri­en-Gon­tran Com­te de Vau­drec, ge­sund an Kör­per und See­le, be­stim­me hier­mit mei­nen letz­ten Wil­len. Da der Tod uns in je­dem Au­gen­bli­cke tref­fen kann, so will ich in Voraus­set­zung sei­nes Ein­trit­tes, mein Te­sta­ment nie­der­schrei­ben, das bei dem No­tar La­ma­neur hin­ter­legt wird.

Da ich kei­ne di­rek­ten Er­ben habe, hin­ter­las­se ich mein ge­sam­tes Ver­mö­gen, be­ste­hend aus Wert­pa­pie­ren in Höhe von ca. 600000 Fran­cs und aus Im­mo­bi­li­en in Höhe von ca. 500000 Fran­cs, Ma­da­me Claire-Ma­de­lei­ne Du Roy als ihr un­be­las­te­tes frei­es Ei­gen­tum. Ich bit­te sie, die­se Gabe ei­nes to­ten Freun­des als Be­weis ei­ner auf­rich­ti­gen, tie­fen und er­ge­be­nen Zu­nei­gung ent­ge­gen­zu­neh­men.«

Der No­tar fuhr fort:

»Das ist al­les. Die­ses Schrift­stück ist vom Au­gust letz­ten Jah­res da­tiert und ist an Stel­le ei­nes gleich­lau­ten­den Do­ku­men­tes ge­tre­ten, das vor zwei Jah­ren auf den Na­men von Claire-Ma­de­lei­ne Fo­res­tier aus­ge­stellt war. Auch die­ses ers­te Do­ku­ment be­fin­det sich in mei­nem Be­sitz, und im Fal­le ei­ner An­fech­tung von sel­ten der Ver­wand­ten könn­te man da­mit be­wei­sen, dass der Graf de Vau­drec sei­nen Wil­len nicht ge­än­dert hat­te.«

Ma­de­lei­ne wur­de blass und blick­te hin­un­ter auf ihre Füße. Ge­or­ges dreh­te ner­vös sei­nen Schnurr­bart zwi­schen den Fin­gern. Nach ei­ner kur­z­en Pau­se fuhr der No­tar fort:

»Selbst­ver­ständ­lich, mein Herr, kann Ma­da­me die­se Hin­ter­las­sen­schaft nur mit Ih­rer Zu­stim­mung an­neh­men.«

Du Roy stand auf und sag­te in trock­nem Tone:

»Ich bit­te um Be­denk­zeit.«

Der No­tar lä­chel­te, und sag­te mit lie­bens­wür­di­ger Stim­me:

»Ich be­grei­fe die Be­den­ken, die Sie zau­dern las­sen. Ich habe noch hin­zu­zu­fü­gen, dass der Nef­fe des Gra­fen Vau­drec, als er heu­te früh von dem letz­ten Wil­len sei­nes On­kels Kennt­nis nahm, sich be­reit er­klär­te, den­sel­ben an­zu­er­ken­nen, falls man ihm die Sum­me von hun­dert­tau­send Fran­cs aus­zahl­te. Nach mei­ner An­sicht ist das Te­sta­ment un­an­fecht­bar, aber ein Pro­zess wür­de Auf­se­hen er­re­gen, was Sie wahr­schein­lich ver­mei­den wol­len. Die Welt ur­teilt be­kannt­lich oft sehr bos­haft. Je­den­falls wür­de ich Sie bit­ten, mich noch vor Sonn­abend von Ihrem de­fi­ni­ti­ven Ent­schluss über alle Punk­te in Kennt­nis zu set­zen.«

Ge­or­ges ver­beug­te sich:

»Gut, Herr La­ma­neur.«

Dann ver­ab­schie­de­te er sich fei­er­lich, ließ sei­ne Frau, die gar nichts mehr sag­te, vor­an­ge­hen und ver­ließ das Büro in so stei­fer und ge­mes­se­ner Wei­se, dass der No­tar nicht mehr lä­chel­te.

So­bald sie nach Hau­se ge­kom­men wa­ren, schloss Du Roy hef­tig die Tür hin­ter sich und warf sei­nen Hut aufs Bett.

»Du bist Vau­drecs Ge­lieb­te ge­we­sen?«

Ma­de­lei­ne hat­te ih­ren Schlei­er ab­ge­legt und dreh­te sich schroff um:

»Ich, oh!«

»Ja, du. Man hin­ter­lässt nicht ei­ner Frau sein gan­zes Ver­mö­gen … ohne dass …«

Sie be­gann zu zit­tern und konn­te nicht die Na­deln fas­sen, mit de­nen ihr durch­sich­ti­ger Schlei­er ans Haar be­fes­tigt war.

Sie dach­te einen Au­gen­blick nach und stam­mel­te mit er­reg­ter Stim­me:

»Hör mal … du bist ver­rückt … du bist … du bist … und du selbst … du hast ja vor­her — auch ge­hofft … er wür­de dir auch et­was ver­ma­chen.«

Ge­or­ges stand vor ihr und be­ob­ach­te­te sie, wie ein Un­ter­su­chungs­rich­ter, der die ge­rings­ten Schwä­chen des An­ge­klag­ten zu ent­de­cken sucht. Er er­wi­der­te, in­dem er je­des Wort be­ton­te:

»Ja … mir hät­te er was hin­ter­las­sen kön­nen, mir, dei­nem Gat­ten … mir, sei­nem Freun­de … ver­stehst du … Dir doch nicht … dir, sei­ner Freun­din … dir, mei­ner Gat­tin … Der Un­ter­schied ist sehr we­sent­lich und so­gar aus­schlag­ge­bend vom Stand­punkt der öf­fent­li­chen Mei­nung … in den Au­gen der Ge­sell­schaft …«

Ma­de­lei­ne blick­te ihm gleich­falls scharf in die durch­sich­ti­gen Au­gen, tief und son­der­bar, als woll­te sie in die un­be­kann­ten Tie­fen sei­nes We­sens ein­drin­gen, die man nur sel­ten in flüch­ti­gen Au­gen­bli­cken er­fas­sen kann, in den Au­gen­bli­cken der Acht­lo­sig­keit, der Ver­ge­ss­lich­keit des Sich­ge­hen­las­sens, die dann wie halb­ge­öff­ne­te Tü­ren sind, die in die ge­heim­nis­vol­len Ab­grün­de der See­le füh­ren.

Sie ver­setz­te lang­sam:

»Mir scheint doch … dass, wenn … dass man eine Erb­schaft in die­ser Höhe von ihm zu dei­nen Guns­ten min­des­tens eben­so auf­fal­lend ge­fun­den hät­te.«

Er frag­te hef­tig:

»Wa­rum?«

»Weil« … sag­te sie, und nach kur­z­em Zau­dern fuhr sie fort:

»Weil du mein Mann bist … und ihn erst seit kur­z­er Zeit kennst, wäh­rend ich schon sehr lan­ge mit ihm be­freun­det war … und weil sein ers­tes Te­sta­ment, das noch zu Leb­zei­ten Fo­res­tiers ab­ge­fasst war, doch mir galt.«

Ge­or­ges ging mit großen Schrit­ten im Zim­mer auf und ab und er­klär­te:

»Du kannst das nicht an­neh­men.«

»Gut,« ant­wor­te­te sie gleich­gül­tig, »also dann brau­chen wir erst gar nicht bis Sonn­abend zu war­ten. Wir kön­nen die­sen Ent­schluss Herrn La­ma­neur so­fort mit­tei­len.«

Er blieb vor ihr ste­hen und sie sa­hen sich Auge in Auge. Sie woll­ten bei­de bis ins tiefs­te Ge­heim­nis ih­res Her­zens ein­drin­gen und ihre in­ners­ten Ge­dan­ken er­grün­den. Es war ein See­len­kampf zwei­er Men­schen, die Sei­te an Sei­te leb­ten und sich doch nicht kann­ten, die sich be­arg­wöhn­ten, aus­spür­ten und be­lau­er­ten und nie in den tie­fen, schlam­mi­gen Grund der See­le hin­ein­ge­schaut hat­ten.

Plötz­lich schleu­der­te er ihr mit dump­fer Stim­me ins Ge­sicht:

»Ge­ste­he doch, dass du die Ge­lieb­te von Vau­drec warst.«

Sie zuck­te mit den Ach­seln.

»Du re­dest Un­sinn. Vau­drec hat­te mir al­ler­dings eine sehr große Zu­nei­gung ent­ge­gen­ge­bracht … Aber wei­ter nichts … nie­mals.«

Er stampf­te mit dem Fuß.

»Du lügst, es kann nicht mög­lich sein.«

Sie ent­geg­ne­te ru­hig:

»Es ist doch so.«

Er be­gann wie­der auf und ab zu ge­hen, dann blieb er ste­hen:

»Er­klä­re mir dann, warum hin­ter­lässt er sein gan­zes Ver­mö­gen aus­ge­rech­net dir?«

Sie tat gleich­gül­tig und un­in­ter­es­siert, als ob sie die Sa­che gar nichts an­gin­ge.

»Es ist sehr ein­fach. Wie du eben sag­test, hat­te er kei­ne Freun­de au­ßer uns, oder viel­mehr au­ßer mir, da er mich seit mei­ner Kind­heit kennt. Mei­ne Mut­ter war Ge­sell­schaf­te­rin bei sei­nen El­tern. Er kam sehr oft hier­her, und da er kei­ne di­rek­ten Er­ben hat­te, hat er an mich ge­dacht. Dass er mich et­was lieb hat­te, ist sehr gut mög­lich. Aber wel­che Frau ist auf sol­che Wei­se nie ge­liebt wor­den. Dass die­se stil­le und ge­hei­me Lie­be ihn mei­nen Na­men aufs Pa­pier schrei­ben ließ, als er sei­ne letz­te Ver­fü­gung ge­trof­fen hat­te, kann auch sein. Er brach­te mir je­den Mon­tag Blu­men. Du warst doch dar­über gar nicht er­staunt, und dir brach­te er kei­ne mit, nicht wahr? Heu­te ver­macht er mir sein Ver­mö­gen aus dem­sel­ben Grund und da er wahr­schein­lich sonst nie­man­den hat, dem er es ge­ben könn­te. Es wäre im Ge­gen­teil höchst son­der­bar, wenn er es dir hin­ter­las­sen hät­te. Wa­rum? — Was bist du für ihn?«

Sie sprach so na­tür­lich und so ru­hig, dass Ge­or­ges zu zau­dern be­gann.

Er er­wi­der­te: