Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Der verhängnisvolle Kuchen

Sa­gen wir, sie hieß Ma­da­me An­ser­re, um ih­ren wah­ren Na­men nicht bloß­zu­stel­len. Sie ge­hör­te zu je­nen Pa­ri­ser Ko­me­ten, die einen leuch­ten­den Schweif hin­ter sich zu­rück­las­sen. Sie dich­te­te und schrieb No­vel­len, hat­te ein ge­fühl­vol­les Herz und war ent­zückend schön. Sie emp­fing we­nig und auch nur Grö­ßen ers­ten Ran­ges, sol­che, die man ge­mei­nig­lich Fürs­ten in ir­gend ei­ner Sa­che nennt. Von ihr emp­fan­gen zu wer­den, war ein wirk­li­cher Adels­ti­tel der In­tel­li­genz; we­nigs­tens schätz­te man ihre Ein­la­dun­gen so.

Ihr Gat­te spiel­te die Rol­le des dunklen Tra­ban­ten. Der Gat­te ei­nes Sterns zu sein, ist nie leicht. Und doch hat­te die­ser Gat­te kei­nen schlech­ten Ein­fall ge­habt: er woll­te einen Staat im Staa­te bil­den und sei­ne Berühmt­heit für sich ha­ben, eine Berühmt­heit zwei­ten Ran­ges frei­lich – aber schließ­lich konn­te er doch auf die­se Wei­se an den Ta­gen, wo sei­ne Frau emp­fing, auch emp­fan­gen; er hat­te sein be­son­de­res Pub­li­kum, das ihn schätz­te, an­hör­te und ihm mehr Be­ach­tung schenk­te, als sei­ner glän­zen­den Ge­fähr­tin.

Er hat­te sich der Land­wirt­schaft ge­wid­met, und zwar der Land­wirt­schaft im Zim­mer. Es gibt ja auch Zim­mer-Ge­ne­ra­le; alle die am grü­nen Tisch des Kriegs-Mi­nis­te­ri­ums groß wer­den und le­ben, sind ja die­ses Schla­ges; eben­so Zim­mer-Ma­ri­ne, sie­he das Ma­ri­ne-Mi­nis­te­ri­um, Zim­mer-Ko­lo­nis­ten u. s. w. Er hat­te also Land­wirt­schaft stu­diert, und zwar tief­gründ­lich, Land­wirt­schaft in ih­ren Be­zie­hun­gen zu den an­de­ren Wis­sen­schaf­ten, zur Na­tio­nal-Öko­no­mie, zu den Küns­ten… Die Küns­te wer­den ja über­all da­zwi­schen ge­mengt, und selbst die schau­der­haf­ten Ei­sen­bahn­brücken wer­den zu »Kunst­wer­ken« ge­stem­pelt! So hat­te er es end­lich er­reicht, dass man ihn einen »tüch­ti­gen Mann« nann­te und in tech­ni­schen Zeit­schrif­ten zi­tier­te. Sei­ne Frau hat­te es fer­ner durch­ge­setzt, dass er zum Mit­glie­de ei­ner Kom­mis­si­on im Acker­bau-Mi­nis­te­ri­um er­nannt wur­de – und die­ser be­schei­de­ne Ruhm ge­nüg­te ihm.

Sei­ne Freun­de lud er un­ter dem Vor­wan­de, die Kos­ten zu ver­rin­gern, im­mer an den­sel­ben Aben­den ein, wo sei­ne Gat­tin die ih­ren emp­fing, doch teil­ten sie sich als­bald in zwei ge­son­der­te La­ger: die Dame des Hau­ses mit ih­rer Sui­te von Künst­lern, Aka­de­mi­kern und Mi­nis­tern »tag­te« in ei­ner Art Gal­le­rie, die im Em­pi­re-Styl mö­bliert und aus­ge­stat­tet war; wäh­rend der Herr sich mit sei­nen Land­wir­ten ge­wöhn­lich in ein be­scheid­ne­res Zim­mer zu­rück­zog, das als Rauch­zim­mer diente und von Ma­da­me An­ser­re iro­nisch das »Land­wirt­schaft­li­che Ka­bi­net« ge­nannt wur­de.

Die bei­den Heer­la­ger wa­ren streng ge­schie­den; nur Herr An­ser­re, dem jede Ei­fer­sucht fern lag, er­schi­en bis­wei­len in der »Aka­de­mie«, wo sich ihm ein Dut­zend Hän­de zum Gru­ße ent­ge­gen­streck­ten, wah­rend die Aka­de­mi­ker es völ­lig un­ter ih­rer Wür­de hiel­ten, das Land­wirt­schaft­li­che Ka­bi­net zu be­tre­ten. Nur ganz sel­ten er­schi­en ei­ner der Fürs­ten der Wis­sen­schaft, des Ge­dan­kens oder an­de­rer At­tri­bu­te un­ter den Land­wir­ten.

Die­se Empfangs-Aben­de kos­te­ten we­nig; es gab Tee und Ku­chen, wei­ter nichts. Herr An­ser­re woll­te an­fäng­lich zwei Ku­chen ha­ben, einen für die Aka­de­mie und einen für die Land­wirt­schaft; aber sei­ne Frau be­merk­te ganz rich­tig, dass da­mit zwei ver­schie­de­ne La­ger an­er­kannt wür­den, und dar­auf hat­te denn ihr Gat­te sei­nen An­spruch fal­len las­sen. Es wur­de also im­mer nur ein Ku­chen her­um­ge­reicht, den Frau An­ser­re zu­erst den Aka­de­mi­kern an­bot, wor­auf er dann nach dem Land­wirt­schaft­li­chen Ka­bi­net her­über­wan­der­te.

Die­ser Ku­chen wur­de für die Aka­de­mi­ker bald zum Ge­gen­stan­de der ei­gen­tüm­lichs­ten Beo­b­ach­tun­gen. Frau An­ser­re schnitt ihn näm­lich nie selbst an. Die­ses Am­tes wal­te­te stets ei­ner der il­lus­t­ren Gäs­te, und bald wur­de es zum ge­such­ten Ehren­am­te, das je­der der Rei­he nach kür­zer oder län­ger be­klei­de­te, meist drei Mo­na­te lang, sel­ten län­ger. Merk­wür­dig war, dass das Pri­vi­le­gi­um, den Ku­chen zu schnei­den, eine Fül­le von an­de­ren Vor­rech­ten mit sich brach­te und dem da­mit be­trau­ten den Kö­nigs- oder doch Vize-Kö­nigs-Rang zu ver­lei­hen schi­en. Der re­gie­ren­de Zer­le­ger führ­te das lau­tes­te Wort; es war ein aus­ge­spro­che­ner Kom­man­do­ton; und alle Gunst­be­wei­se der Her­rin fie­len ihm zu, alle.

Halb­laut und hin­ter den Tü­ren nann­te man die­se in­ti­men Günst­lin­ge des Hau­ses die »Ku­chen-Fa­vo­ri­ten«, und je­der Fa­vo­ri­ten-Wech­sel rief in der Aka­de­mie große Um­wäl­zun­gen her­vor. Das Mes­ser wur­de zum Szep­ter, das Ge­bäck zum Wahr­zei­chen der Macht; die Er­wähl­ten wur­den leb­haft be­glück­wünscht. Herr An­ser­re war na­tür­lich aus­ge­schlos­sen, trotz­dem er auch sei­ne Por­ti­on aß.

Der Ku­chen wur­de der Rei­he nach von Poe­ten, Ma­lern und Ro­man­ciers zer­legt. Ein großer Kom­po­nist teil­te die Por­tio­nen eine Zeit lang ein; ein Ge­sand­ter folg­te ihm im Amte. Bis­wei­len kam auch ein we­ni­ger be­rühm­ter, aber dar­um nicht min­der ele­gan­ter und ge­such­ter Herr vor den sym­bo­li­schen Ku­chen zu sit­zen, ei­ner von de­nen, die man je nach der herr­schen­den Mode einen wah­ren Gent­le­man, einen per­fek­ten Ka­va­lier, einen Dan­dy oder sonst­wie nennt. Je­der von ih­nen schenk­te wäh­rend sei­ner kurz­le­bi­gen Herr­schaft dem Gat­ten et­was mehr Be­ach­tung; dann, wenn die Stun­de sei­nes Fal­les ge­kom­men war, übergab er das Mes­ser ei­nem an­de­ren und ver­lor sich wie­der in der Men­ge von Va­sal­len und An­be­tern der »schö­nen Frau An­ser­re«.

So währ­te es lan­ge, sehr lan­ge. Aber die Ko­me­ten leuch­ten nicht im­mer mit dem­sel­ben Glan­ze. Al­les auf Er­den hat sein Ziel. Auch hier konn­te man be­ob­ach­ten, wie der Ei­fer der Ku­chen­schnei­der all­mäh­lich nachließ, wie sie bis­wei­len zu zö­gern schie­nen, wenn ih­nen der Ku­chen­tel­ler ge­reicht ward, wie das einst so be­nei­de­te Amt im­mer we­ni­ger ge­sucht, im­mer we­ni­ger lan­ge be­haup­tet wur­de und der Stolz, es an­zu­neh­men, im­mer mehr nachließ. Um­sonst ver­schwen­de­te Ma­da­me An­ser­re Lä­cheln und Lie­bens­wür­dig­keit; bald woll­te kei­ner mehr aus frei­en Stücken schnei­den. Wer neu hin­zu­kam, schi­en sich di­rekt zu wei­gern, und die al­ten Fa­vo­ri­ten er­schie­nen ei­ner nach dem an­de­ren wie­der im Amte, wie ent­thron­te Fürs­ten, die man für Au­gen­bli­cke wie­der auf den Thron er­hebt. Dann wur­den die Er­wähl­ten sel­ten, ganz sel­ten. Ei­nen Mo­nat lang schnitt Herr An­ser­re – o Wun­der! – selbst den Ku­chen, bis er es schließ­lich über­drüs­sig wur­de und man ei­nes schö­nen Abends Ma­da­me An­ser­re – »die schö­ne Ma­da­me An­ser­re!« – höchst ei­gen­hän­dig ih­ren Ku­chen schnei­den sah!

Aber das war ihr höchst lang­wei­lig, und am nächs­ten Abend setz­te sie ei­nem ih­rer Gäs­te der­ma­ßen zu, dass er ihre Bit­te nicht aus­schla­gen moch­te.

In­des­sen war das Sym­bol zu gut be­kannt und man blick­te sich mit ängst­li­chen, rat­lo­sen Ge­sich­tern von un­ten her an. Den Ku­chen zu schnei­den, war ja nicht ge­fähr­lich, aber die Vor­rech­te, un­ter de­nen die­se Gunst bis­her ver­ge­ben wor­den, be­ängs­tig­ten jetzt, so­dass die Aka­de­mi­ker, so­bald die Plat­te nur er­schi­en, sich in wir­rem Knäu­el in das Land­wirt­schaft­li­che Ge­mach flüch­te­ten, wie um sich hin­ter dem be­stän­dig lä­cheln­den Gat­ten zu ver­ste­cken. Und wenn Ma­da­me An­ser­re sich be­stürzt auf der Schwel­le zeig­te, den Ku­chen in der einen Hand hal­tend, das Mes­ser in der an­de­ren, so schi­en sich al­les um ih­ren Gat­ten zu scha­ren, wie um ihn um Schutz zu bit­ten.

So ver­gin­gen Jah­re. Nie­mand woll­te mehr den Ku­chen schnei­den, aber im­mer noch such­te sie, die man ga­lan­ter Wei­se im­mer noch die »schö­ne Frau An­ser­re« nann­te, aus al­ter Ge­wohn­heit mit fle­hen­den Bli­cken einen Er­ge­be­nen, der das Mes­ser er­grif­fe – und je­des Mal ent­stand die­sel­be Be­we­gung im Um­krei­se: so­bald die ver­häng­nis­vol­le Fra­ge auf ihre Lip­pen trat, be­gann eine all­ge­mei­ne ge­schick­te Flucht vol­ler Lis­ten und Ma­nö­ver.

Ei­nes Abends nun wur­de ein blut­jun­ger Mensch, ein »rei­ner Tor«, bei Frau An­ser­re ein­ge­führt, dem das Ge­heim­nis des Ku­chens noch un­be­kannt war. Als nun der Ku­chen er­schi­en und Ma­da­me An­ser­re Plat­te und Back­werk aus den Hän­den des Die­ners nahm, blieb er ru­hig in ih­rer Nähe. Vi­el­leicht glaub­te sie, er wüss­te be­scheid und kam lä­chelnd und mit be­weg­ter Stim­me auf ihn zu.

– Wol­len Sie die Lie­bens­wür­dig­keit ha­ben, lie­ber Herr, und die­sen Ku­chen auf­schnei­den?

– Aber ge­wiss, gnä­di­ge Frau, mit dem größ­ten Ver­gnü­gen! er­wi­der­te die­ser, ent­zückt über die Ehre, die ihm zu­teil ward, zog die Hand­schu­he aus und be­gann eif­rig zu schnei­den.

Fern in den Ecken der Gal­le­rie er­schie­nen im Rah­men der Tür, die nach dem Land­wirt­schaft­li­chen Zim­mer ging, ein paar ver­blüff­te Ge­sich­ter. Dann, als man sah, dass der Neu­ling un­ver­zagt drauf los­schnitt, kam al­les schnell nä­her.

Ein al­ter, spaß­haf­ter Dich­ter schlug dem Neu­be­kehr­ten lus­tig auf die Schul­ter.

– Bra­vo, jun­ger Mann! sag­te er ihm ins Ohr.

Al­les blick­te ihn neu­gie­rig an; selbst der Gat­te schi­en über­rascht. Und er selbst wun­der­te sich über die be­son­de­re Be­ach­tung, die ihm plötz­lich von al­len Sei­ten zu­teil wur­de; vor al­lem konn­te er sich nicht er­klä­ren, warum ihn die Her­rin des Hau­ses durch aus­ge­spro­che­ne Zu­vor­kom­men­heit, au­gen­schein­li­che Gunst­be­zeu­gun­gen und eine Art stum­mer Dank­bar­keit aus­zeich­ne­te. Schließ­lich aber hat er es doch be­grif­fen.

 

Wann und wo ihm die­se Of­fen­ba­rung kam, ist un­be­kannt; aber als er am nächs­ten Abend wie­der er­schi­en, mach­te er einen et­was be­tre­te­nen, fast ver­schäm­ten Ein­druck und blick­te un­ru­hig um sich. Als die Tee­stun­de schlug und der Die­ner er­schi­en, er­griff Ma­da­me An­ser­re mit hol­dem Lä­cheln die Plat­te und such­te ih­ren jun­gen Freund mit den Au­gen. Er war aber so schnell ent­flo­hen, dass er nicht mehr zu se­hen war. Da stand sie auf und ging ihm ent­ge­gen. Sie fand ihn bald in der äu­ßers­ten Ecke des Land­wirt­schaft­li­chen Zim­mers. Er hat­te sei­nen Arm in den ih­res Gat­ten ge­legt und drang ängst­lich in ihn, wel­che Mit­tel zur Ver­til­gung der Re­blaus die bes­ten wä­ren.

– Mein lie­ber Herr, kam Ma­da­me An­ser­re an, wür­den Sie so lie­bens­wür­dig sein, die­sen Ku­chen zu schnei­den?

Er wur­de rot bis an die Ohren, stot­ter­te ein paar Wor­te und ver­lor den Kopf. Herr An­ser­re er­barm­te sich sei­ner und wand­te sich zu sei­ner Frau.

– Mei­ne Teu­ers­te, sag­te er, es wäre sehr schön, wenn du uns nicht stö­ren woll­test: wir spre­chen über Land­wirt­schaft. Lass den Ku­chen doch von Bap­tist schnei­den.

Seit dem Tage schnitt kein Mensch mehr den Ku­chen im Hau­se An­ser­re.

*

Der Schäfersprung

Die Küs­te von Diep­pe bis Le Ha­vre bil­det ein un­un­ter­bro­che­nes Steilufer von etwa hun­dert Me­ter Höhe, das senk­recht wie eine Mau­er zum Mee­re ab­fällt. Von Zeit zu Zeit wird die­se star­re Fels­li­nie plötz­lich un­ter­bro­chen, und ein klei­nes, en­ges Tal mit stei­len Hän­gen, die mit kur­z­em Gras und Meer­bin­sen be­deckt sind, kommt von der be­bau­ten Hoch­flä­che her­ab und mün­det schlucht­ar­tig, wie das Bett ei­nes Gieß­bachs, in das Ufer­ge­röll. Die­se Tä­ler sind von der Na­tur selbst ge­schaf­fen. Ihre Rän­der sind von den Ge­birgs­bä­chen ge­höhlt, wel­che die Res­te des ste­hen­den Ho­chu­fers fort­ge­spült und den Was­sern ein Bett bis zum Mee­re ge­gra­ben ha­ben, das den Men­schen jetzt als Weg dient. Bis­wei­len klemmt sich ein Dorf in den en­gen Tal­kes­sel, in dem der vol­le See­wind sich fängt.

Ich habe einen gan­zen Som­mer in ei­nem die­ser Küs­ten­ein­schnit­te ver­bracht; ich wohn­te bei ei­nem Bau­ern, des­sen Haus der See zu­ge­kehrt lag, so­dass ich von mei­nem Fens­ter aus zwi­schen den grü­nen Tal­hän­gen ein großes Drei­eck dun­kelblau­en Was­sers er­blick­te, das oft von wei­ßen Se­geln wim­mel­te, die von der Son­ne ge­trof­fen in der Fer­ne vor­über­zo­gen.

Der Weg zum Mee­re lief auf der Soh­le der Schlucht und ver­sank dann plötz­lich zwi­schen zwei senk­rech­ten Mer­gel­wän­den wie ein tie­fein­ge­schnit­te­nes Ge­lei­se, um als­dann auf einen schö­nen Kies­platz zu mün­den, des­sen Stei­ne durch das Jahr­hun­der­te lan­ge Spiel der Wo­gen ku­gel­rund ab­ge­schlif­fen und po­liert wa­ren. Die­se tie­fe Hoh­le hieß der »Schä­fer­sprung«. Die Ge­schich­te, der sie ih­ren Na­men ver­dankt, ist fol­gen­de.

*

Frü­her, so sag­te man mir, herrsch­te in die­sem Dor­fe ein jun­ger fa­na­ti­scher und ge­walt­tä­ti­ger Pries­ter. Voll Hass auf alle, die nach den Na­tur­ge­set­zen und nicht nach den Ge­set­zen sei­nes Got­tes leb­ten, war er aus dem Se­mi­nar ge­kom­men. Er war von un­beug­sa­mer Stren­ge ge­gen sich selbst und von un­ver­söhn­li­cher Un­duld­sam­keit ge­gen an­de­re. Ei­nes vor al­lem er­füll­te ihn mit Wut und Ab­scheu: die Lie­be. Hät­te er in Städ­ten, im Scho­ße der raf­fi­nier­ten Kul­tur­mensch­heit ge­lebt, wel­che die bru­ta­len Akte, die uns die Na­tur ge­bie­tet, in den zar­ten Schlei­er des Ge­fühls und der Zärt­lich­keit zu hül­len weiß, hät­te er im Halb­schat­ten der großen, ele­gan­ten Kir­chen­schif­fe im Beicht­stuhl ge­ses­sen und die duf­ten­den Sün­de­rin­nen ge­hört, de­ren Ver­ge­hen sich durch die An­mut ih­res Fal­les und die idea­le Ein­klei­dung der höchst ma­te­ri­el­len Umar­mung zu mil­dern scheint, so wäre jene ra­sen­de Em­pö­rung, jene zü­gel­lo­se Wut viel­leicht nicht über ihn ge­kom­men, wenn er der un­sau­be­ren Umar­mung des Ge­sin­dels im Schlamm ei­nes Stra­ßen­gra­bens oder auf dem Stroh ei­ner Scheu­ne ge­gen­über­stand.

Er hielt sie durch­aus für Vieh, die­se Men­schen, wel­che die Lie­be nicht kann­ten, und sich nach Art der Tie­re ver­ei­nig­ten; er hass­te sie we­gen ih­rer See­len-Roh­heit, we­gen der eklen Be­frie­di­gung ih­rer Lust, we­gen der wi­der­li­chen Freu­de, die sie noch als Grei­se emp­fan­den, wenn sie von die­sen Din­gen spra­chen.

Vi­el­leicht auch ward er selbst wi­der Wil­len von un­ge­still­ten Ge­lüs­ten ge­pei­nigt und durch den Kampf sei­nes keu­schen, aber des­po­ti­schen Geis­tes mit sei­nem wi­der­späns­ti­gen Kör­per dumpf ge­quält.

Denn al­les, was auf das Fleisch Be­zug hat­te, em­pör­te ihn, brach­te ihn au­ßer sich, und sei­ne wil­den Pre­dig­ten vol­ler Dro­hun­gen und wü­ten­der An­spie­lun­gen rie­fen das höh­ni­sche La­chen der Dir­nen und Bur­schen her­vor, die sich durch die Kir­che hin ver­stoh­le­ne Bli­cke zu­war­fen. Und wenn die Päch­ter in ih­rer blau­en Blu­se und die Päch­ters­frau­en in ih­rem schwar­zen Man­tel Sonn­tags aus der Mes­se heim­kehr­ten und auf ihre Hüt­te zu­steu­er­ten, de­ren Schorn­stein lan­ge Sträh­nen bläu­li­chen Rau­ches durch die Luft wob, dann sag­ten sie sich wohl: »Da­rin ver­steht er kei­nen Spaß, der Herr Pfar­rer.«

Ein­mal nun ge­riet er um nichts so au­ßer sich, dass er fast die Be­sin­nung ver­lor. Er woll­te einen Kran­ken be­su­chen. Als er den Pacht­hof be­trat, wo der Kran­ke lag, be­merk­te er einen Hau­fen Kin­der aus dem Hau­se und der Nach­bar­schaft, die um die Hun­de­hüt­te her­um­stan­den. Sie rühr­ten sich nicht und blick­ten mit ge­spann­ter und stum­mer Auf­merk­sam­keit auf et­was, das am Bo­den lag. Der Pries­ter trat nä­her und er­blick­te die Hün­din, die ge­ra­de warf. Sie lag vor ih­rer Hüt­te. Fünf Jun­ge kro­chen be­reits um die Mut­ter her­um, die sie zärt­lich leck­te und ge­ra­de in dem Au­gen­blick, wo der Pfar­rer sei­nen Kopf über die Köp­fe der Kin­der hin­aus­reck­te, noch ein sechs­tes Jun­ges zur Welt brach­te. Da fing der gan­ze Schwarm vor Freu­de an zu schrei­en und in die Hän­de zu klat­schen: »Da kimmt noch eins! Da kimmt noch eins!« Es war dies eine Be­lus­ti­gung für sie, eine ganz na­tür­li­che Be­lus­ti­gung ohne ir­gend­wel­che un­rei­ne Bei­mi­schung. Sie sa­hen die­ser Ge­burt zu, wie sie Äp­fel hät­ten fal­len se­hen. Aber der Mann im schwar­zen Ro­cke er­beb­te vor Ent­rüs­tung und ver­lor völ­lig den Kopf. Er er­hob sei­nen blau­en Re­gen­schirm und schlug da­mit wü­tend auf die Kin­der ein. Da lie­fen sie, was sie lau­fen konn­ten. Dann wand­te sei­ne Wut sich ge­gen die nie­der­ge­kom­me­ne Hün­din. Er schlug bald mit der Rech­ten, bald mit der Lin­ken auf sie los, und als das Tier, das an der Ket­te lag und nicht fort­lau­fen konn­te, sich stöh­nend wehr­te, tram­pel­te er dar­auf her­um und zer­trat es mit sei­nen Fü­ßen – wo­bei noch ein letz­tes Jun­ges zur Welt kam; dann gab er ihm mit dem Ha­cken den Rest. Den blu­ti­gen Kör­per ließ er in­mit­ten der Neu­ge­bo­re­nen lie­gen, die kläg­lich piep­send her­um­taps­ten und be­reits nach den Brüs­ten der Mut­ter such­ten.

*

Eine sei­ner Ge­wohn­hei­ten war, lan­ge Aus­flü­ge zu ma­chen; er ging dann mit großen Schrit­ten und wil­der Mie­ne durchs Feld. Ei­nes Abends im Mai nun, als er von ei­nem sol­chen wei­ten Spa­zier­gang zu­rück­kehr­te und das Steilufer ent­lang ging, um das Dorf zu ge­win­nen, über­fiel ihn ein furcht­ba­rer Guß. Kein Haus war in Sicht, über­all nack­te Küs­te, von Wet­ter­strö­men zer­spült.

Das Meer ging hoch und roll­te sei­ne Schaum­käm­me. Gro­ße fin­stre Wol­ken zo­gen vom Ho­ri­zont her­an und ver­dop­pel­ten den Re­gen. Der Wind pfiff und heul­te und leg­te die jun­gen Saa­ten nie­der, schüt­tel­te den trie­fen­den Abbé und press­te sei­nen durch­näss­ten Rock ge­gen sei­ne Bei­ne, er­füll­te sei­ne Ohren mit Sturm­ge­heul und sein Herz mit trun­ke­ner Er­re­gung.

Er riss sich den Hut ab und bot sei­ne Stirn dem Ge­wit­ter preis, wäh­rend er sich all­mäh­lich dem Ab­stieg ins Nie­der­land nä­her­te. Doch da pack­te ihn ein Wind­stoß mit sol­cher Ge­walt, dass er nicht mehr wei­ter kam, und da er plötz­lich eine Schaf­hür­de und da­ne­ben den Schutz­kar­ren ei­nes Schä­fers er­blick­te, lief er dar­auf zu, um Un­ter­schlupf zu fin­den.

Die Hun­de, die der Or­kan peitsch­te, schlu­gen nicht an, als er nah­te, und lie­ßen ihn un­ge­hin­dert an die Hüt­te, eine Art Hun­de­hüt­te auf Rä­dern, wie sie die Schä­fer im Som­mer von Wei­de zu Wei­de mit­schlep­pen.

Über ei­nem Tritt­brett öff­ne­te sich die nied­ri­ge Tür, so­dass man das Stroh dar­in­nen er­ken­nen konn­te. Der Pries­ter woll­te hin­ein­schlüp­fen – als er plötz­lich im Dun­kel des Rau­mes ein Lie­bespär­chen ge­wahr­te. Da klapp­te er den Wet­ter­schirm in jä­her Ent­schlos­sen­heit zu, leg­te den Rie­gel da­vor, spann­te sich zwi­schen die Arme der Schub­kar­re und leg­te sich weit vorn­über­ge­beugt da­vor. Er zog wie ein Pferd und rann­te, un­ter sei­nem feuch­ten Tuch­rock keu­chend, dem jä­hen Steil­fall des tod­brin­gen­den Ab­hangs ent­ge­gen. Das über­rasch­te Lie­bes­paar glaub­te wohl, ein Vor­über­ge­hen­der mach­te sich einen Scherz, und trom­mel­te mit den Fäus­ten ge­gen die Wän­de des Holz­hau­ses.

Als er den Kamm des Ab­falls er­reicht hat­te, ließ er das Wan­der­haus fah­ren, und nun schoss es den schrä­gen Hang hin­un­ter, in im­mer schnel­ler­er Fahrt, in ra­sen­dem Lau­fe da­hin­rol­lend, bald hoch­sprin­gend und stol­pernd, wie ein Tier, und mit den Ar­men auf­schla­gend.

Ein al­ter Bett­ler, der in ei­nem Gra­ben hock­te, sah es über sei­nen Kopf hin­weg sau­sen und hör­te das ent­setz­te Ge­schrei in dem höl­zer­nen Kas­ten.

Plötz­lich prall­te es auf, ver­lor ein Rad, leg­te sich auf die Sei­te und be­gann wie eine Ku­gel bergab zu rol­len, wie ein ent­wur­zel­tes Haus vom Gip­fel ei­nes Ber­ges her­un­ter­rol­len wür­de. Am an­de­ren Ran­de des un­ters­ten Hohl­we­ges sprang es auf und flog in ho­hem Bo­gen auf den Kies, wo es wie ein Ei zer­platz­te.

Dort hob man die Lie­ben­den auf. Sie wa­ren zer­schla­gen und zer­malmt, alle Glie­der ge­bro­chen, aber im­mer noch eng ver­schlun­gen. In ih­rer Angst hat­ten sie die Arme um den Na­cken ge­schla­gen, als wäre es aus Lie­be ge­sche­hen…

Der Pfar­rer er­laub­te nicht, dass ihre Lei­chen in die Kir­che ka­men, auch ver­wei­ger­te er den Se­gen an ih­ren Sär­gen. Und am Sonn­tag bei der Pre­digt sprach er don­nernd vom sechs­ten Ge­bo­te Got­tes des Herrn und droh­te den Lie­ben­den mit rä­chend er­ho­be­nem Arm und ge­heim­nis­vol­ler Mie­ne, in­dem er ih­nen das Bei­spiel der bei­den Un­glück­li­chen vor­hielt, die in ih­rer Sün­de ge­stor­ben wa­ren.

Als er die Kir­che ver­ließ, nah­men zwei Gen­darmen ihn fest. Ein Zoll­wäch­ter, der im Guck­loch ge­le­gen hat­te, hat­te al­les ge­se­hen. Er wur­de mit Zucht­haus be­straft.

*

Und der Bau­er, von dem ich die­se Ge­schich­te habe, setz­te ernst hin­zu:

– Ich habe ihn noch ge­kannt, Herr, ich selbst. Er war ein stren­ger Mann und von der Lie­be woll­te er über­haupt nichts wis­sen.

*