Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Er schwieg, dach­te ei­ni­ge Se­kun­den nach und frag­te:

»Hast du das Abi­tu­ri­um ge­macht?«

»Nein, ich bin zwei­mal durch­ge­fal­len.«

»Das tut nichts, wenn du dei­ne Stu­di­en nur ei­ni­ger­ma­ßen zu Ende ge­führt hast. Wenn von Ci­ce­ro oder Ti­be­ri­us die Rede ist, dann weißt du un­ge­fähr, wer das ist?«

»Ja, un­ge­fähr.«

»Gut, mehr weiß über­haupt nie­mand, mit Aus­nah­me von ei­nem Dut­zend Dumm­köp­fen, die nicht im­stan­de sind, sich selbst zu hel­fen. Je­den­falls ist es nicht schwer, als in­tel­li­gent und ge­bil­det zu gel­ten. Man darf sich nur nicht bei ei­ner of­fen­ba­ren Un­wis­sen­heit er­wi­schen las­sen. Man dreht und wen­det sich, man weicht dem Hin­der­nis aus, um­geht es und be­wäl­tigt das an­de­re mit Hil­fe ei­nes Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kons. Alle Men­schen sind dumm wie die Gän­se und un­wis­send wie Kar­pfen.«

Er sprach in ru­hig spöt­ti­schem Tone, wie ei­ner, der die Welt kennt und blick­te da­bei lä­chelnd auf die vor­über­ge­hen­de Men­ge. Plötz­lich aber be­gann er zu hus­ten und blieb ste­hen, bis der An­fall vor­über war. Dann fuhr er in mut­lo­sem Ton fort:

»Ist es nicht ent­setz­lich, dass ich die­se Bron­chi­tis nicht los wer­de? Und jetzt sind wir mit­ten im Hoch­som­mer. Oh! Im Win­ter geh ich nach Men­ton, um mich aus­zu­ku­rie­ren. Mag kom­men, was will, mei­ne Ge­sund­heit geht mir über al­les.«

Sie wa­ren jetzt am Bou­le­vard Pois­so­niè­re und stan­den vor ei­ner großen Glas­tür, die von in­nen mit ei­ner Zei­tung be­klebt war. Drei Leu­te wa­ren ste­hen­ge­blie­ben, um das Blatt zu le­sen.

Über dem Tor stand in großen Buch­sta­ben aus Gas­flam­men der Name der Zei­tung: »La Vie Françai­se« ge­schrie­ben. Und die Passan­ten, die plötz­lich in das grel­le Licht die­ser drei Wor­te tra­ten, wur­den nun auf ein­mal deut­lich sicht­bar wie am hel­lich­ten Tage, um dann so­fort wie­der im Dun­kel zu ver­schwin­den.

Fo­res­tier öff­ne­te die Tür:

»Geh rein«, sag­te er.

Du­roy ging hin­ein, stieg eine pomp­haf­te, schmut­zi­ge Trep­pe hin­auf, die man von der Stra­ße aus ganz über­bli­cken konn­te, ging durch das Vor­zim­mer, in dem zwei Bü­ro­die­ner sei­nen Ge­fähr­ten grüß­ten, bis er in einen War­te­raum ge­lang­te. Die Räu­me wa­ren ver­staubt und ab­ge­nutzt, mit Ta­pe­ten aus schmut­zi­gem, un­ech­tem, grü­nem Samt, die vol­ler Fle­cken und hier und da durch­lö­chert wa­ren, als hät­ten die Mäu­se sie an­ge­knab­bert.

»Setz dich,« sag­te Fo­res­tier, »ich bin in fünf Mi­nu­ten wie­der da.«

Und er ver­schwand hin­ter ei­ner der drei Tü­ren, die aus die­sem Zim­mer führ­ten.

Der selt­sa­me, ei­gen­tüm­li­che, un­be­schreib­li­che Ge­ruch ei­nes Re­dak­ti­ons­bü­ros er­füll­te den Raum. Du­roy blieb un­be­weg­lich, et­was ein­ge­schüch­tert und über­rascht sit­zen.

Von Zeit zu Zeit lie­fen Leu­te an ihm vor­bei; sie ka­men aus ei­ner Tür und ver­schwan­den durch die an­de­re, noch ehe er Zeit hat­te, sie an­zu­se­hen. Bald wa­ren es jun­ge, sehr jun­ge Leu­te mit ge­schäf­ti­gem Ge­sichts­aus­druck, die in der Hand ein Blatt Pa­pier tru­gen, das bei ih­rem Lau­fen im Win­de flat­ter­te. Manch­mal wa­ren es auch Set­zer, un­ter de­ren von Tin­te be­schmutz­ten Lei­nen­kit­teln man rein­wei­ße Hemd­kra­gen und eine ele­gan­te Tuch­ho­se von mo­der­nem Schnitt sah. Vor­sich­tig tru­gen sie be­druck­te Pa­pier­strei­fen, fri­sche, noch feuch­te Kor­rek­tur­fah­nen. Bis­wei­len trat ein klei­ner Herr mit ei­ner et­was auf­fal­len­den Ele­ganz, mit ei­ner et­was zu en­gen Tail­le, mit Bein­klei­dern, die zu eng an­la­gen, und mit über­mä­ßig spit­zen Schna­bel­schu­hen, ein, ir­gend­ein Re­por­ter, der Neu­ig­kei­ten aus der Le­be­welt brach­te. Auch an­de­re ka­men, erns­te, ge­wich­ti­ge Per­sön­lich­kei­ten. Sie tru­gen Zy­lin­der­hü­te mit ganz fla­chen Rän­dern, als ob sie sich durch die­se Form von der gan­zen üb­ri­gen Mensch­heit un­ter­schei­den woll­ten.

Fo­res­tier er­schi­en wie­der, Arm in Arm mit ei­nem hoch­ge­wach­se­nen, ma­ge­ren Mann in den drei­ßi­ger Jah­ren. Die­ser war in einen Frack, mit wei­ßer Kra­wat­te, ge­klei­det, hat­te dunkles Haar, einen Schnurr­bart mit scharf­ge­dreh­ten Spit­zen und eine dreis­te, selbst­be­wuss­te Mie­ne. Fo­res­tier sag­te zu ihm:

»Adieu, ver­ehr­ter Meis­ter!«

Der an­de­re drück­te ihm die Hand: »Auf Wie­der­se­hen, mein Lie­ber!« und stieg dann, einen Spa­zier­stock un­ter dem Arm, pfei­fend die Trep­pe hin­ab.

»Wer ist das?« frag­te Du­roy.

»Jaques Ri­val — du weißt doch? — der be­rühm­te Chro­nist und Duel­lant. Er hat eben sei­ne Kor­rek­tur durch­ge­le­sen. Ga­rin, Mon­tel und er gel­ten au­gen­blick­lich als die geist­volls­ten und wirk­sams­ten Feuil­le­to­nis­ten in ganz Pa­ris. Für zwei Ar­ti­kel, die er wö­chent­lich schreibt, ver­dient er bei uns jähr­lich drei­ßig­tau­send Fran­cs.

Beim Wei­ter­ge­hen be­geg­ne­ten sie ei­nem klei­nen di­cken Herrn mit lan­gen Haa­ren und un­sau­be­rem Äu­ße­ren, der schwerat­mend die Trep­pe hin­auf­kam.

Fo­res­tier grüß­te sehr tief:

»Nor­bert de Va­ren­ne,« sag­te er, »der Dich­ter der ›Er­lo­sche­nen Son­ne‹, auch ein hoch­be­zahl­ter Mann. Jede Er­zäh­lung, die er her­aus­gibt, kos­tet drei­hun­dert Fran­cs und die al­ler­längs­ten ha­ben noch nicht zwei­hun­dert Zei­len …

Aber komm jetzt ins Café Na­po­li­tain, ich st­er­be vor Durst!«

Kaum hat­ten sie sich an den Tisch ge­setzt, als Fo­res­tier rief: »Zwei Bier!« und dann sein Glas mit ei­nem Zuge her­un­ter­stürz­te, wäh­rend Du­roy das Bier mit lang­sa­men Schlu­cken trank und sorg­sam aus­kos­te­te, wie eine wun­der­vol­le und sel­te­ne Kost­bar­keit. Sein Ge­fähr­te schwieg, er schi­en nach­zu­den­ken und frag­te dann plötz­lich:

»Wa­rum willst du es nicht mit dem Jour­na­lis­mus ver­su­chen?«

Der an­de­re blick­te ihn über­rascht an, dann sag­te er:

»Aber… das ist … ich habe doch noch nie et­was ge­schrie­ben.«

»Ach was, man ver­sucht es, man fängt an. Ich könn­te dich zum Bei­spiel ge­brau­chen, um Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen und um Be­su­che zu ma­chen. Du be­kämst zu An­fang zwei­hun­dert­fünf­zig Fran­cs und die Drosch­ken be­zahlt. Soll ich mit dem Chef spre­chen?«

»Aber na­tür­lich möch­te ich das, sehr ger­ne.«

»Also dann sei so gut und kom­me mor­gen zu mir zum Es­sen. Es wer­den nur fünf oder sechs Per­so­nen sein: der Chef, Herr Wal­ter, sei­ne Frau, Jaques Ri­val und Nor­bert de Va­ren­ne, die du ja so­eben ge­se­hen hast, und schließ­lich noch eine Freun­din mei­ner Frau. Also ab­ge­macht?«

Du­roy zö­ger­te, er­rö­te­te und wur­de ver­wirrt. End­lich mur­mel­te er:

»Es ist nur … ich habe kei­nen pas­sen­den An­zug …«

Fo­res­tier war starr.

»Was? Du hast kei­nen Frack? Teu­fel noch mal! Das ist doch et­was Unent­behr­li­ches! In Pa­ris kann man ein Bett viel­leicht ent­beh­ren, einen Frack nie. Dann griff er plötz­lich in sei­ne Wes­ten­ta­sche, zog eine Hand­voll Geld her­vor und leg­te zwei Zwan­zig­fran­cs­stücke vor sei­nen al­ten Freund hin, wo­bei er in ei­nem herz­li­chen und ver­trau­ten Ton sag­te:

»Du gibst sie mir wie­der, wenn du kannst. Lei­he oder kau­fe dir die nö­ti­gen Klei­dungs­stücke, in­dem du eine An­zah­lung gibst. Je­den­falls er­war­te ich dich mor­gen um halb acht in. mei­ner Woh­nung, 17 Rue Fon­taine, zu Tisch.«

Du­roy war ver­wirrt, aber er nahm das Geld und stam­mel­te:

»Du bist wirk­lich zu lie­bens­wür­dig, ich dan­ke dir herz­lich … Ver­lass dich dar­auf, ich wer­de es nie ver­ges­sen.«

»Gut, gut!« fiel ihm der an­de­re ins Wort. »Nicht wahr, wir trin­ken noch ein Bier?« Und er rief: »Kell­ner, noch zwei Bock!«

Dann, als sie aus­ge­trun­ken hat­ten, frag­te der Jour­na­list:

»Willst du noch ein Stünd­chen bum­meln?«

»Aber ge­wiss!«

Und sie bra­chen auf und gin­gen in der Rich­tung nach Ma­de­lei­ne.

»Was sol­len wir tun?« frag­te Fo­res­tier. »Man sagt, in Pa­ris hat man stets was zu tun, wenn man bum­melt. Das ist nicht wahr. Wenn ich abends bum­meln will, weiß ich nie, wo­hin ich ge­hen soll. Eine Fahrt ins Bois macht nur Spaß, wenn noch ein Weib da­bei ist, und da hat man nicht im­mer eins bei der Hand. Die Cafés mit Mu­sik mö­gen mei­nen Dro­gis­ten mit sei­ner Frau zer­streu­en, mich nicht. Was also tun? Nichts! Man müss­te hier einen Som­mer­gar­ten ha­ben, wie den Park Mon­ceau, der nachts ge­öff­net wäre, wo man aus­ge­zeich­ne­te Mu­sik hör­te und un­ter den Bäu­men Er­fri­schun­gen neh­men könn­te. Das wäre kein ei­gent­li­ches Ver­gnü­gungs­lo­kal, aber ein Ort, wo man sich be­hag­lich auf­hal­ten könn­te. Man müss­te hohe Ein­tritts­prei­se neh­men, um hüb­sche Da­men her­bei­zu­lo­cken. Man soll­te da auf kies­be­streu­ten Fuß­we­gen her­umspa­zie­ren kön­nen, die elek­trisch be­leuch­tet wä­ren, und sich set­zen kön­nen, wenn man Lust hät­te, um von fern und nah Mu­sik an­zu­hö­ren. So et­was gab es frü­her bei Muzard, aber das war zu sehr Bal­lo­kal, zu viel Tanz­mu­sik und zu­we­nig Platz, zu­we­nig Schat­ten und Dun­kel­heit. Es müss­te ein sehr schö­ner, sehr großer Gar­ten sein. Das wäre herr­lich! … Also, wo willst du hin?«

Du­roy war noch im­mer ver­le­gen und wuss­te nicht, was er vor­schla­gen soll­te. End­lich ent­schloss er sich:

»Ich ken­ne die Fo­lies Ber­gè­re noch gar nicht, da möch­te ich ganz gern ein­mal hin.«

»Don­ner­wet­ter!« rief Fo­res­tier, »die Fo­lies Ber­gè­re? Da wer­den wir ja ko­chen wie im Back­ofen. Aber mei­net­we­gen, es ist dort im­mer lus­tig.«

Sie gin­gen wie­der zu­rück, um die Rue du Fau­bourg-Mont­mar­tre zu er­rei­chen.

Die er­leuch­te­te Fassa­de des Thea­ters warf grel­len Schein auf die vier Stra­ßen, die sich an die­ser Stel­le kreuz­ten. Eine Rei­he von Drosch­ken war­te­te auf den Schluss der Vor­stel­lung.

 

Fo­res­tier ging hin­ein, Du­roy hielt ihn zu­rück:

»Wir ha­ben ja noch kei­ne Bil­letts.«

Worauf der an­de­re sehr selbst­be­wusst er­wi­der­te:

»Wenn ich da­bei bin, braucht man nicht zu be­zah­len.«

Als er sich den drei Kon­trol­leu­ren nä­her­te, grüß­ten sie ihn, und dem mit­tels­ten reich­te er die Hand. Der Jour­na­list frag­te: »Ha­ben Sie noch eine gute Loge frei?«

»Aber ge­wiss, Herr Fo­res­tier.«

Er nahm den Zet­tel, der ihm ge­reicht wur­de, öff­ne­te die ge­pols­ter­te, kup­fer­be­schla­ge­ne Tür, und sie be­fan­den sich im Thea­ter­raum.

Ta­bak­dunst ver­schlei­er­te wie ein leich­ter Ne­bel den Hin­ter­grund, die Büh­ne und die ent­fern­ten Tei­le des Thea­ters. Die­ser Ne­bel, der un­un­ter­bro­chen in fei­nen bläu­li­chen Strei­fen aus sämt­li­chen Zi­gar­ren und Zi­ga­ret­ten der Be­su­cher em­por­stieg, ball­te sich an der De­cke und bil­de­te un­ter der mäch­ti­gen Wöl­bung einen Wol­ken­him­mel von Rauch um den Kron­leuch­ter und über der dicht mit Zuschau­ern be­setz­ten Ga­le­rie.

In der ge­räu­mi­gen Vor­hal­le am Ein­gang, die zu den Wan­del­gän­gen führ­te, schweif­ten auf­ge­putz­te Mäd­chen in­mit­ten ei­ner Men­ge dun­kel­ge­klei­de­ter Män­ner um­her, eine Grup­pe von Frau­en war­te­te auf die An­kömm­lin­ge, und hin­ter den drei Schank­ti­schen thron­ten drei ge­schmink­te, wel­ke Ver­käu­fe­rin­nen von Ge­trän­ken und Lie­be. In den ho­hen Schei­ben hin­ter ih­nen spie­gel­ten sich ihre Rücken und die Ge­sich­ter der Vor­über­ge­hen­den.

Fo­res­tier dräng­te sich schnell durch alle die­se Grup­pen und schritt rasch vor­wärts, wie ein Mann, auf den man Rück­sicht zu neh­men hat. Er trat an die Lo­gen­schlie­ße­rin her­an und sag­te:

»Loge sieb­zehn!«

»Bit­te, hier, mein Herr!«

Sie wur­den in einen klei­nen höl­zer­nen Kas­ten ein­ge­schlos­sen, der kei­ne De­cke hat­te, rot ta­pe­ziert war und vier Stüh­le glei­cher Far­be ent­hielt, die so eng an­ein­an­der stan­den, dass man sich kaum zwi­schen ih­nen hin­durch­schie­ben konn­te. Die bei­den Freun­de setz­ten sich. Nach rechts und links schlos­sen sich in wei­tem Bo­gen, des­sen En­den auf die Büh­ne stie­ßen, eine lan­ge Rei­he ähn­li­cher Käs­ten an, wo gleich­falls Men­schen sa­ßen, von de­nen man nur Kopf und Brust se­hen konn­te.

Auf der Büh­ne mach­ten drei jun­ge Män­ner in eng an­lie­gen­den Tri­kots, ein großer, ein mitt­ler­er und ein ganz klei­ner, ab­wech­selnd Tra­pez­kunst­stücke. Zu­nächst trat der große mit kur­z­en, schnel­len Schrit­ten an die Ram­pe vor, lä­chel­te und grüß­te mit ei­ner Kuss­hand. Un­ter dem Tri­kot sah man die Mus­keln sei­ner Arme und Bei­ne ar­bei­ten; er drück­te sei­ne Brust mög­lichst kräf­tig her­aus, um sei­nen et­was zu di­cken Bauch zu ver­ber­gen. Sein Ge­sicht glich dem ei­nes Fri­seur­ge­hil­fen, und ein ta­del­lo­ser Schei­tel teil­te sein Haar ge­nau in der Mit­te des Kop­fes. Mit gra­zi­ösem Sprung fass­te er das Tra­pez und um­kreis­te es dann, mit den Hän­den dar­an hän­gend, wie ein rol­len­des Rad. Bis­wei­len hing er mit aus­ge­streck­ten Ar­men und stei­fem Kör­per un­be­weg­lich wa­ge­recht in der lee­ren Luft, in­dem er sich al­lein durch die Kraft sei­ner Hand­ge­len­ke fest­hielt. Dann sprang er ab, grüß­te noch­mals lä­chelnd un­ter dem lau­ten Bei­fall des Par­ketts und trat wie­der an die Wand zu­rück und zeig­te bei je­dem Schritt dem Pub­li­kum das Spiel sei­ner Mus­keln.

Du­roy hat­te we­nig In­ter­es­se für die Dar­bie­tung. Er wand­te sei­nen Kopf und be­ob­ach­te­te un­auf­hör­lich die hin­ter ihm vor­beiflu­ten­de Men­ge von Män­nern und Ko­kot­ten.

Fo­res­tier sag­te: »Sieh dir mal die Leu­te im Par­kett an, nichts als Spieß­bür­ger mit ih­ren Frau­en und Kin­dern, al­les bra­ve, dum­me Ge­sich­ter, die sich das hier an­se­hen wol­len. In den Lo­gen sit­zen die Stamm­gäs­te der Bou­le­vards, ei­ni­ge Künst­ler und Halb­welt­da­men, hin­ter uns fin­dest du die selt­sams­te Mi­schung, die es in Pa­ris ge­ben kann. Was das für Män­ner sind? Beo­b­ach­te sie mal: al­les mög­li­che, alle Be­ru­fe und Klas­sen, aber das Ge­sin­del über­wiegt. Da sind die Kom­mis, Ban­kan­ge­stell­te, Be­am­te, Ver­käu­fer, fer­ner Re­por­ter, Zu­häl­ter, Of­fi­zie­re in Zi­vil, Bumm­ler im Frack, die gra­de im Re­stau­rant ge­ges­sen ha­ben und von der Gro­ßen Oper zu den Ita­li­e­nern ren­nen, und schließ­lich noch eine gan­ze Men­ge ver­däch­ti­ger In­di­vi­du­en, aus de­nen man nicht recht klug wird. Was die Frau­en an­geht, so gibt es hier nur eine Art: die Halb­welt vom Ame­ri­cain. Sie ver­kau­fen sich für ein oder zwei Gold­stücke, wo­bei sie von Frem­den auch fünf neh­men, und win­ken ih­ren stän­di­gen Kun­den zu, wenn sie frei sind. Man kennt sie alle seit zehn Jah­ren, man sieht sie je­den Abend das gan­ze Jahr hin­durch in den­sel­ben Lo­ka­len, mit Aus­nah­me, wenn sie ein­mal eine heil­sa­me Kur im Frau­en­ge­fäng­nis von St. La­za­re oder im Lour­ci­ne durch­ma­chen.«

Du­roy hör­te nicht mehr zu. Eins von die­sen Mäd­chen lehn­te sich über die Loge und sah ihn an. Es war eine üp­pi­ge Brü­net­te mit weiß­ge­schmink­tem Ge­sicht und schwar­zen Au­gen, die mit dem Farb­stift un­ter­stri­chen wa­ren, und rie­si­gen, an­ge­mal­ten Au­gen­brau­en. Über ih­rer all­zu star­ken Brust spann­te sich die dunkle Sei­de ih­res Klei­des, und ihre ge­schmink­ten, blut­ro­ten Lip­pen ga­ben ihr et­was Tie­ri­sches, Sinn­li­ches, Wil­des, das aber trotz­dem an­zie­hend wirk­te.

Sie wink­te mit ei­ner Kopf­be­we­gung ei­ner ih­rer Freun­din­nen zu, die ge­ra­de vor­bei­kam, ei­ner eben­falls kor­pu­len­ten, rot­haa­ri­gen Ko­kot­te, und sprach zu ihr so laut, dass man es hö­ren konn­te:

»Sieh mal her, das ist ein hüb­scher Jun­ge. Wenn er mich für zwei­hun­dert Fran­cs ha­ben woll­te, ich wür­de nicht nein sa­gen.«

Fo­res­tier dreh­te sich um und schlug Du­roy lä­chelnd auf die Schen­kel: »Das gilt dir, du hast Er­folg, mein Lie­ber, ich gra­tu­lie­re!«

Der frü­he­re Un­ter­of­fi­zier wur­de rot und me­cha­nisch tas­te­te er nach den zwei Gold­stücken in sei­ner Wes­ten­ta­sche. Der Vor­hang fiel und das Or­che­s­ter be­gann einen Wal­zer zu spie­len.

Du­roy frag­te: »Wol­len wir nicht auch ein­mal durch den Wan­del­gang ge­hen?«

»Wie du willst.«

Sie ver­lie­ßen ihre Loge und wa­ren so­fort von dem Strom der Men­ge um­ge­ben. Ge­drückt, ge­presst, hin und her ge­sto­ßen, gin­gen sie wei­ter und ein Wald von Hü­ten wog­te vor ih­ren Au­gen. Zwi­schen El­len­bo­gen, Brüs­ten und Rücken der Män­ner dräng­ten sich be­händ paar­wei­se die Ko­kot­ten hin­durch, die sich hier so recht in ih­rem Ele­ment, wie Fi­sche im Was­ser, zu füh­len schie­nen.

Du­roy war ent­zückt. Er ließ sich trei­ben und wur­de von der sti­cki­gen Luft, die durch Ta­bak, Men­schen­aus­düns­tun­gen und Dir­nen­par­füms ver­pes­tet war, be­rauscht. Aber Fo­res­tier schwitz­te, keuch­te und hus­te­te.

»Ge­hen wir in den Gar­ten«, sag­te er.

Sie wand­ten sich nach links und ka­men in eine Art Win­ter­gar­ten, wo zwei ge­schmack­lo­se Fon­tä­nen ein biss­chen küh­le Luft schaff­ten. Un­ter den paar Ta­xus­bäu­men und Thu­jas sa­ßen Män­ner und Frau­en an Zink­ti­schen und tran­ken.

»Noch ein Bier?« frag­te Fo­res­tier.

»Ja, gern.«

Sie setz­ten sich und be­ob­ach­te­ten das Pub­li­kum. Von Zeit zu Zeit blieb ein her­umspa­zie­ren­des Mäd­chen ste­hen und frag­te mit or­di­närem Lä­cheln:

»La­den Sie mich nicht ein?« — Und wenn Fo­res­tier er­wi­der­te : »Ja, zu ei­nem Glas Was­ser aus dem Spring­brun­nen«, so ent­fern­te sie sich mit ei­nem är­ger­li­chen Schimpf­wort.

Aber die di­cke Brü­net­te tauch­te wie­der auf. Sie kam in über­mü­ti­ger Hal­tung, Arm in Arm mit der di­cken Rot­haa­ri­gen. Sie bil­de­ten wirk­lich ein hüb­sches, gut aus­ge­such­tes Frau­en­paar.

So­bald sie Du­roy er­blick­te, lä­chel­te sie, als hät­ten sich ihre Au­gen schon ver­trau­te und ver­schwie­ge­ne Din­ge ge­sagt. Sie nahm einen Stuhl und setz­te sich ru­hig ihm ge­gen­über und ließ ihre Freun­din auch Platz neh­men. Dann rief sie mit lau­ter Stim­me:

»Kell­ner, zwei Gre­na­di­ne!«

Er­staunt sag­te Fo­res­tier:

»Du ge­nierst dich wirk­lich nicht!«

»Ich bin in dei­nen Freund ver­liebt«, ant­wor­te­te sie. »Er ist wirk­lich ein schö­ner Kerl. Ich glau­be, ich könn­te sei­net­we­gen Dumm­hei­ten be­ge­hen.«

Du­roy wuss­te vor Ver­le­gen­heit nicht, was er sa­gen soll­te. Er dreh­te an sei­nem wohl­ge­pfleg­ten Schnurr­bart und lä­chel­te nichts­sa­gend vor sich hin. Der Kell­ner brach­te die Li­mo­na­den und die bei­den Freun­din­nen tran­ken sie in ei­nem Zuge aus. Dann stan­den sie auf und die Brü­net­te nick­te Du­roy wohl­wol­lend zu und gab ihm mit ih­rem Fä­cher einen leich­ten Schlag auf den Arm: »Dan­ke, mein Schatz. Du bist nicht sehr ge­schwät­zig.«

Dann gin­gen sie fort, sich in den Hüf­ten wie­gend.

Fo­res­tier be­gann zu la­chen:

»Sag mal, al­ter Freund, weißt du, dass du wirk­lich Er­folg bei Wei­bern hast? So was muss man pfle­gen, da­mit kann man sehr weit kom­men.« Er schwieg eine Se­kun­de, dann setz­te er hin­zu mit dem träu­me­ri­schen Ton von Leu­ten, die laut den­ken: »Durch sie er­reicht man auch am meis­ten. Und als Du­roy im­mer noch vor sich hin lä­chel­te, ohne et­was zu er­wi­dern, frag­te er: »Bleibst du noch hier? Ich will nach Hau­se, ich habe ge­nug.«

»Ja,« mur­mel­te der an­de­re, »ich blei­be noch et­was. Es ist ja noch nicht spät.«

Fo­res­tier stand auf. »Auf Wie­der­se­hen, also bis mor­gen. Ver­giss nicht, um halb acht abends, 17 Rue Fon­taine.«

»Ab­ge­macht, auf mor­gen, dan­ke!« — Sie drück­ten sich die Hän­de, und der Jour­na­list ging fort.

So­bald er fort war, fühl­te Du­roy sich frei. Er tas­te­te ver­gnügt von Neu­em nach den bei­den Gold­stücken in sei­ner Wes­ten­ta­sche. Dann er­hob er sich und misch­te sich un­ter die Men­ge, die er su­chend durch­forsch­te.

Bald er­blick­te er die bei­den Mäd­chen, die Brü­net­te und die Rot­haa­ri­ge, die im­mer noch in stol­zer Hal­tung durch die Men­ge zo­gen.

Er ging di­rekt auf sie zu. Als er ih­nen ganz nahe war, ver­lor er wie­der den Mut.

Die Brü­net­te sag­te: »Na, hast du dei­ne Spra­che wie­der­ge­fun­den?«

Er stot­ter­te: »Al­ler­dings!« Ein zwei­tes Wort konn­te er aber nicht her­vor­brin­gen.

Alle drei blie­ben ste­hen und hiel­ten die Be­we­gung der Spa­zier­gän­ger auf, die einen Wir­bel um sie bil­de­ten.

Die Brü­net­te frag­te ihn plötz­lich: »Kommst du zu mir?«

Er zit­ter­te vor Be­gier­de und er­wi­der­te schroff:

»Ja, aber ich habe nur ein Gold­stück in der Ta­sche.«

Sie lä­chel­te gleich­gül­tig: »Das tut nichts.«

Sie nahm ihn beim Arm, als Zei­chen, dass sie ihn er­obert hat­te.

Als sie das Lo­kal ver­lie­ßen, über­leg­te er, dass er sich mit den an­de­ren zwan­zig Fran­cs ohne Schwie­rig­kei­ten für den nächs­ten Abend einen Frack lei­hen könn­te.