Einführung in das Verfassungsrecht der USA

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B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › I. Der Präsident › 6. Übersicht über Gemeinsamkeiten und Unterschiede

6. Übersicht über Gemeinsamkeiten und Unterschiede

79

Gemeinsamkeiten:


Staatsoberhaupt
Für Ernennungen zuständig
Begnadigungsrecht
Unterschreibt völkerrechtliche Verträge
Kann des Amtes enthoben werden

Unterschiede durch zusätzliche Befugnisse des US-Präsidenten:


Chef der Exekutive mit dem Machtinstrument der Durchführungsanordnungen
Regierungschef
Oberbefehlshaber der Streitkräfte
Zentraler Akteur der Außenpolitik
Vorschlagsrecht für Richter und Verwaltungsmitarbeiter
Unbeschränktes Vetorecht im Gesetzgebungsverfahren
Direktwahl durch das Volk, zusammen mit Vizepräsidenten

80

Die Gegenüberstellung führt insgesamt zu dem Ergebnis, dass wir es mit einem „false friend“ zu tun haben. Zwar verfügen beide Verfassungen über einen Präsidenten als Staatsoberhaupt, doch sind die Ämter völlig unterschiedlich ausgestaltet.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › I. Der Präsident › 7. Erklärungsansätze für die Unterschiede zwischen US-Präsidenten und Bundespräsidenten

7. Erklärungsansätze für die Unterschiede zwischen US-Präsidenten und Bundespräsidenten

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Die Erfahrungen mit dem Reichspräsidenten der Weimarer Republik als eine Art Ersatzkaiser dürften stark dazu beigetragen haben, dass das Grundgesetz die Stellung des Bundespräsidenten viel schwächer ausgestaltet hat[1].

82

Die starke Stellung des amerikanischen Präsidenten mag aus der Kriegs- und Krisenerfahrung der vorausgehenden Jahre 1775-1788 zu erklären sein. In den vor 1789 geltenden Konföderationsartikeln, der ersten Verfassung der USA, war die Verwaltung Ausschüssen des Parlaments übertragen worden (Art. X), einen Präsidenten gab es nicht. Da ein Parlament nicht ständig tagt, angesichts der Transportverhältnisse der damaligen Zeit auch nicht schnell zusammentreten konnte und sich schließlich bei widerstreitender Positionen nicht immer zu einer schnellen Entscheidung durchringen kann[2], hatten die Verfassungsväter der USA erlebt, dass ohne eine starke Exekutive die Gefahr entsteht, dass die Demokratie zumindest kurzzeitig handlungsunfähig ist[3]. Eine starke Exekutive in Gestalt eines Präsidenten ermöglicht dagegen schnelles und effektives Handeln[4], insbesondere in Krisensituationen – wie etwa dem amerikanischen Bürgerkrieg – und in der Außenpolitik[5]. Es kommt hinzu, dass der Präsident aufgrund seiner direkten Wahl eine dem Parlament gleichwertige demokratische Legitimation hat[6]. Der Text der US-Verfassung zählt nur die Kompetenzen der Legislative und der Judikative katalogmäßig auf, während der Präsident pauschal mit (allen) Exekutivaufgaben betraut wird[7], also eine Art Reservefunktion hat[8]. Was Rechtsprechung und Gesetzgebung angeht, konnte man als Auffanglösung auf die Institutionen der Bundesstaaten setzen; diese Lösung funktionierte allerdings nicht im Bereich der Exekutive, da sich die vielen Bundesstaaten der USA im Zweifel nicht auf eine einheitliche Außen- oder Sicherheitspolitik hätten einigen können[9]. Letztlich lässt sich hier anführen, dass die Vielzahl der Verwaltungsaufgaben kaum abschließend zu erfassen ist, was sich auch an der verbreiteten Definition zeigt, dass Verwaltung alle Aufgaben des Staates erfasst, die nicht Rechtsprechung und nicht Gesetzgebung sind[10].

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Da alle an der Verfassungsgebung Beteiligten davon ausgingen, dass George Washington – der sich als General der US-Armee und Präsident der verfassungsgebenden Versammlung ausgezeichnet hatte – der erste Präsident der USA sein würde, hat auch diese Erwartung zu der großzügigen Ausgestaltung der Befugnisse des Präsidenten beigetragen[11]. Es kommt hinzu, dass ein großer demokratischer Flächenstaat zur Zeit der Gründung der USA weitgehend unbekannt war, es allerdings zuhauf Vorbilder für Monokratien gab[12].

84

Akhil Amar weist interessanterweise darauf hin, dass nachfolgende Generationen gerade bei der Wahl und der Rolle des Präsidenten offenbar Korrekturbedarf gesehen haben[13]. Zehn Verfassungsänderungen seit 1791 beziehen sich direkt oder indirekt auf den Präsidenten (12th, 14th, 15th, 19th, 20th, 22nd, 23rd, 24th, 25th, 26th amendment). Speziell die Amtszeitbegrenzung (22nd amendment) und die Aufwertung des Vizepräsidenten (25th amendment) verfolgen deutlich die Tendenz, die Macht des US-Präsidenten einzudämmen. Dennoch hat die Machtposition des US-Präsidenten in den letzten Jahrzehnten eher zugenommen als abgenommen[14].

Anmerkungen

[1]

BVerfGE 136, 277, 309 ff.; Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 2; Heringa, S. 42 u. 189; Morlok/Michael, Rn. 867; Nierhaus, in: Sachs, Art. 54, Rn. 2.

[2]

Amar, (2006), S. 186.

[3]

Heringa, S. 35; Tushnet, S. 10 f.; Lindenblatt, S. 9; Brugger, S. 28; Abrams, S. 3; s.a. Lepore, S. 114 u. 121.

[4]

Barron/Dienes, 8. Aufl., S. 163; ähnlich Endler/Thunert, S. 88.

[5]

Tushnet, S. 111; Branum, Journal of Legislation 28 (2002), 1, 51; Amar, (2012), S. 312.

[6]

Brugger, S. 217; Lindenblatt, S. 74.

[7]

Amar, (2012), S. 310 f.; Amar, (2006), S. 225; Bradley/Morrison, Columbia Law Journal 113 (2013), 1097, 1099 u. 1104.

[8]

Amar, (2006), S. 225.

[9]

Amar, (2006), S. 225.

[10]

Amar, (2012), S. 312.

[11]

Amar, (2012), S. 313; Tushnet, S. 11; s.a. Lepore, S. 120.

[12]

Levinson, S. 121 schreibt dem amerikanischen Präsidenten monarchische Züge zu.

[13]

Amar, (2006), S. 461.

[14]

Bradley/Morrison, Columbia Law Journal 113 (2013), 1097, 1112 f.; Branum, Journal of Legislation 28 (2002), 1, 32; Schmidt-Aßmann, VerwArch 111 (2020), 1, 31.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › II. Der Supreme Court und das Jury-System

II. Der Supreme Court und das Jury-System

85

Der folgende Textteil beschäftigt sich mit der Judikative. Zunächst wird die Hauptaufgabe eines Verfassungsgerichts erläutert (1.) sowie auf die Kritik eingegangen, die an vermeintlich zu weit gehenden Entscheidungen der Verfassungsgerichte geübt wird (2.). Sodann geht es um die Möglichkeiten, eine Entscheidung des Supreme Court zu bekommen (3.), anschließend um die Auswahl und die Amtsdauer der Richterinnen und Richter (4.). Abschnitt 5. geht auf Zulässigkeitsfragen ein, Abschnitt 6. auf die Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Abschnitt 7. fasst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Supreme Court zusammen. Im letzten Abschnitt dieses Textteils wird das Jury-System besprochen, das die US-Verfassung an verschiedenen Stellen erwähnt (8.).

 

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › II. Der Supreme Court und das Jury-System › 1. Die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit

1. Die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit

86

Als Gemeinsamkeit des deutschen und des US-amerikanischen Verfassungssystems wurde in der Einleitung bereits auf die bedeutende Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit hingewiesen[1]. Staatliche Entscheidungen, seien es Verwaltungsmaßnahmen, Gerichtsurteile oder Gesetze, unterliegen einer Kontrolle daraufhin, ob sie mit der Verfassung vereinbar sind (constitutional or judicial review). Das letzte Wort hat in den USA dann der Supreme Court[2], in Deutschland das Bundesverfassungsgericht[3]. M.a.W. ist die Verfassung in beiden Ländern das höchstrangige (nationale) Recht und die verbindliche Interpretation der Verfassung obliegt in beiden Ländern dem Verfassungsgericht[4]. Der Supreme Court hat sogar ausdrücklich entschieden, dass der Kongress dem Gericht nicht gesetzlich vorschreiben darf, wie eine Verfassungsnorm zu interpretieren ist[5]. In den Worten des Supreme-Court-Richters Charles Hughes[6]: We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is, and the judiciary is the safeguard of our liberty and of our property under the constitution.

87

Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für verfassungsrechtliche Konflikte in Bezug auf Bundesgesetze folgt aus Art. 93, Art. 100 GG sowie § 13 BVerfGG[7]. In den USA fehlt eine ausdrückliche Verfassungsnorm, die dem Supreme Court erlaubt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu kontrollieren[8]. Doch hat sich das Gericht diese Kompetenz in der Entscheidung Marbury v. Madison aus dem Jahr 1803[9] selbst zugesprochen. Gestützt wurde dies vor allem auf folgende Argumente[10]:



88

In den USA wird seitdem jedes Gericht als befugt angesehen, selbst die Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Vorschriften festzustellen[17]. In Deutschland besteht für die unteren Gerichte dagegen nach Art. 100 Abs. 1 GG die Vorlagepflicht an das Landes- bzw. Bundesverfassungsgericht, wenn sie eine Norm für verfassungswidrig halten, so dass Fragen der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen beim Bundesverfassungsgericht konzentriert sind (Verwerfungsmonopol)[18]. Dies kostet zwar Zeit, hat aber den Vorteil größerer Rechtssicherheit, da die Situation ausgeschlossen wird, dass verschiedene untere Gerichte die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Bestimmung unterschiedlich beurteilen[19]. Die US-amerikanische Lösung gibt den Klägern dagegen eine deutlich schnellere Antwort auf ihre Frage nach der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Neuregelungen. Dann allerdings beginnt der Instanzenzug und der Zeitgewinn wird durch eine längere Phase der rechtlichen Unsicherheit – zumindest auf nationaler Ebene – erkauft[20].

89

Eine vorherige abstrakte Normenkontrolle, wie in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2a GG vorgesehen, gibt es vor dem Supreme Court der USA nicht[21]. Dies folgt aus dem bereits erwähnten Art. III, section 2, cl. 1 USC der nur von „cases“ und „controversies“ spricht.

Anmerkungen

[1]

S.o. A. I.

[2]

Cooper v. Aaron, 358 U.S. 1, 18 (1958); Kahn, Michigan Law Review 101 (2003), 2677, 2686; Schmidt-Aßmann, VerwArch 111 (2020), 1, 21.

[3]

Kommers/Miller, S. 33 u. 46; Steiner, Jura 2019, 441, 446.

[4]

Tushnet, S. 134 u. 136 f.; Currie, S. 19 u. S. 86; Amar (2006), S. 215; Amar (2012), S. 208.

[5]

City of Boerne v. Flores, 521 U.S. 507, 524 (1997); Currie, S. 86.

[6]

S. en.wikiquote.org m.w.N.

[7]

Einzelheiten u.w.N. bei Schlaich/Korioth, S. 63 ff.

[8]

Tushnet, S. 132; Currie, S. 15; Chemerinsky, S. 37; Grimm, S. 112; Kommers/Miller, S. 11; Heringa, S. 233; Wieser, S. 121; Grimm, ZfP 2019, 86, 87.

[9]

Heringa, S. 222; Wieser, S. 122; s.a. City of Boerne v. Flores, 521 U.S. 507, 516 (1997).

[10]

5 U.S. 137, 176 ff.; s.a. Brugger, S. 9 f.; Wieser, S. 121 f.; Tushnet, S. 134.

[11]

Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 177 (1803).

[12]

Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 180 (1803).

[13]

Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 180 (1803).

[14]

Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 178 (1803).

[15]

Currie/Doernberg, S. 32 f.; s.a. Schlaich/Korioth, S. 389 f.

[16]

Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 177 f. (1803).

[17]

Tushnet, S. 122; Currie/Doernberg, S. 30 f.; Lindenblatt, S. 82; Chemerinsky, S. 39; Heringa, S. 233; Levinson, S. 124 u. 135.

[18]

Heringa, S. 223; Jarass/Pieroth, Art. 100, Rn. 2; Sodan/Ziekow, § 54, Rn. 1; Kommers/Miller, S. 3 f.; Schlaich/Korioth, S. 3 u. 97 f.; Morlok/Michael, Rn. 1061.

[19]

BVerfGE 63, 131, 141; 130, 1, 41 f.; 138, 64, 91; Jarass/Pieroth, Art. 100, Rn. 1; Kommers/Miller, S. 3; Wieser, S. 124.

[20]

Wieser, S. 125; Dorf, S. 1, 8.

[21]

Wieser, S. 122; Jackson, Penn State International Law Review 28 (2010), 319, 320; Brugger, S. 18 f.; Heringa, S. 222 u. 229; Collings, S. 273, 280; Kommers/Miller, S. 15 u. 47; Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 526; Tushnet, S. 153, der allerdings Ausnahmen für möglich hält.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › II. Der Supreme Court und das Jury-System › 2. Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit

2. Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit

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Die herausgehobene Rolle des Verfassungsgerichts hat in beiden Ländern auch Kritik auf den Plan gerufen. In Deutschland wird dem Bundesverfassungsgericht zuweilen vorgeworfen, sich als Ersatzgesetzgeber zu betätigen[1]. In den USA wird die gleiche Problematik unter dem Stichwort „countermajoritarian difficulty“ oder „judicial activism“ diskutiert[2]. Dieser Ausdruck meint, dass die wenigen Richterinnen und Richter am Supreme Court Gesetze verwerfen können, die eine Mehrheit der vom Volk gewählten Parlamentarier zuvor beschlossen hat, und auf diese Weise unzulässig im Aufgabenbereich der Gesetzgebung tätig werden[3]. Die Verfassungsrichter selbst gehen dabei kein Risiko ein, da sie nicht abgewählt werden können[4]. Zwar hat das Verfassungsgericht aufgrund des parlamentarisch zumindest mitkontrollierten Ernennungsverfahrens ebenfalls eine demokratische Legitimation, doch wird es nicht direkt gewählt[5] und seine Zusammensetzung repräsentiert, wenn man z.B. das Alter, das Geschlecht, die Herkunft und die Ausbildung seines Personals berücksichtigt, das jeweilige Volk deutlich weniger als ein Parlament[6]. Hinzu kommt, dass Verfassungstexte eher interpretationsoffen formuliert werden[7], so dass die Verfassungsgerichte weniger an den Wortlaut gebunden sind als einfache Gerichte.

91

Es gibt Verfassungen, die die genannten Argumente so ernst nehmen, dass sie es den Gerichten generell verwehren, eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vorzunehmen[8]. Die englische Tradition räumte den Gerichten ebenfalls nicht die Befugnis ein, Parlamentsgesetze für nichtig zu erklären[9].

92

Der Vorwurf, gegen die Parlamentsmehrheit zu entscheiden, kann indes genauso gegen die Vetomacht des US-Präsidenten erhoben werden[10]. Vergleicht man die Zahlen, erscheint dies sogar überzeugender: Bis einschließlich Barack Obama haben amerikanische Präsidenten 2572 Parlamentsgesetze durch ihr Veto verhindert[11], der Supreme Court hat dagegen bis 2006 nur 160 Gesetze für verfassungswidrig erklärt[12]. Dass manche Supreme Court Entscheidungen an die Stelle von Parlamentsgesetzen treten, kann auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Gesetzgebung in diesen Fragen blockiert ist, weil keine der beiden großen Parteien über die notwendige Mehrheit im Senat und Repräsentantenhaus verfügt, oder weil der Präsident Gesetze mit seinem Veto verhindert (divided government)[13].

93

Wie aus der referierten Entscheidung Marbury v. Madison hervorgeht[14], würde ein Fehlen verfassungsgerichtlicher Kontrollmöglichkeiten die Durchsetzung verfassungsrechtlicher Positionen entscheidend schwächen[15]. Die Verfassung wäre dann nicht mehr wert als ein einfaches Gesetz, obwohl sie – nach dem Willen des verfassungsgebenden Volkes und von ihrer Aufgabe her gesehen[16] – von größerer Bedeutung sein soll[17]. Eine starke Ausrichtung der Gerichte auf die Verfassung verwirklicht also den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vorrangs der Verfassung[18]. Die Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit haben zudem die Funktion, Einzelne und Minderheiten vor verfassungswidrigen Mehrheitsentscheidungen zu schützen[19].

 

94

Meistens bemühen sich die unteren Gerichte und die Verfassungsgerichte darum, ein umstrittenes Gesetz durch verfassungskonforme Auslegung zu retten; das Verdikt der Verfassungswidrigkeit stellt eine seltene Ausnahme dar[20]. Sollten sich Verfassungsrichterinnen und -richter dennoch zu viel Macht anmaßen, steht dem Parlament ferner eine Korrekturmöglichkeit zur Verfügung: die Verfassungsänderung[21]. Zuzugeben ist, dass diese nur unter erschwerten Bedingungen verwirklicht werden kann[22]. Dass die Latte hoch liegt, gilt insbesondere für die USA, die in Art. V USC eine Zwei-Drittel Mehrheit im Kongress und eine Drei-Viertel Mehrheit der Bundesstaaten verlangen, bevor die Verfassung geändert werden kann; die Verfassung ist also äußerst schwer zu ändern, wenn sich nicht mindestens 37 Bundesstaaten für die Änderung entscheiden, wird sie scheitern[23].

95

Das Parlament kann ferner ein neues – jetzt verfassungsmäßiges – Gesetz erlassen[24], sodass der Übergriff des Verfassungsgerichts in die Gesetzgebungsaufgabe gering bleibt. Eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch das Parlament selbst erscheint im Vergleich zu einer Kontrolle durch ein Verfassungsgericht die deutlich schlechtere Alternative[25]. Denn die Parlamentarier sind nicht neutral und werden sich schwertun, ihre einmal getroffenen gesetzlichen Maßnahmen selbst wieder aufzuheben.

96

Schließlich ist die Verfassungsgerichtsbarkeit für die Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf die Mitwirkung der beiden anderen Gewalten angewiesen[26].

97

Dass der Streit um die Reichweite der richterlichen Verwerfungskompetenz in Einzelfällen immer wieder aufflammt, insbesondere wenn die verfassungsrechtliche Lage unklar ist, sei an der Entscheidung Obergefell v. Hodges aus dem Jahr 2015 illustriert. Hier hob der Supreme Court in einer 5:4 Entscheidung Gesetze und Verfassungsänderungen einiger Bundesstaaten auf, die die gleichgeschlechtliche Ehe ausdrücklich untersagten. Die Minderheitsauffassung bewertete dies als einen unzulässigen Übergriff in den Bereich der Gesetzgebung[27]. Die Mehrheitsauffassung sah dagegen eine Verletzung der Eheschließungsfreiheit sowie des Gleichheitssatzes aus dem 14. Zusatzartikel, section 1 USC, da homosexuellen Paare ohne ausreichenden Grund anders behandelt wurden als heterosexuelle Paare[28].

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