Einführung in das Verfassungsrecht der USA

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Anmerkungen

[1]

Barron/Dienes, S. 205 f.; Brugger, S. 85.

[2]

Zivotovsky ex re. Zivotovsky v. Kerry, 135 S.Ct. 2076, 2084 ff. (2015); Amar, (2012), S. 314.

[3]

Bradley/Morrison, Columbia Law Journal 113 (2013), 1097, 1098; Amar, (2006), S. 473; Amar, (2012), S. 315.

[4]

Dames v. Regan, 453 U.S. 654, 679 f. (1981); Chemerinsky, S. 401 f.; Bradley/Morrison, Columbia Law Journal 113 (2013), 1097, 1098 u. 1104 f.; Levinson, S. 22 u. 111; Brugger, S. 84 f.

[5]

Einzelheiten insoweit bei Currie, S. 41 f.; Brugger, S. 86; Tushnet, S. 113 f.; Levinson, S. 108 f.; Mayer, 222 f.

[6]

Tushnet, S. 78.

[7]

Schmidt-Aßmann, VerwArch 111 (2020), 1, 6; Brugger, S. 223.

[8]

Brugger, S. 79 f.

[9]

Heringa, S. 37 u. 167.

[10]

Amar, (2006), S. 197; Amar, (2012), S. 327.

[11]

Amar, (2006), S. 188 f. u. 197.

[12]

Amar, (2006), S. 194; Brugger, S. 222 f.; Mathews, S. 67; Heringa, S. 186; Amar, (2012), S. 320.

[13]

Schmidt-Aßmann, VerwArch 111 (2020), 1, 5 f.; Lütjen, S. 169.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › I. Der Präsident › 2. Vergleich mit den Aufgaben des deutschen Bundespräsidenten

2. Vergleich mit den Aufgaben des deutschen Bundespräsidenten

39

Die geschilderten Befugnisse des US-Präsidenten (President of the United States = POTUS) lassen es plausibel erscheinen, dass er von manchen als mächtigster Mann der Welt bezeichnet wird[1]. Niemand würde auf die Idee kommen, dem deutschen Bundespräsidenten eine entfernt ähnliche Bedeutung zuzuschreiben. Der deutsche Bundespräsident – eine Bundespräsidentin hat es ebenfalls noch nicht gegeben – ist zwar das Staatsoberhaupt[2], seine tatsächliche Macht ist allerdings gering[3]. Art. 58 GG knüpft z.B. die Gültigkeit seiner Anordnungen und Verfügungen an die Gegenzeichnung der Bundeskanzlerin oder des zuständigen Bundesministers. Der Bundespräsident ist nicht Regierungs- oder Armeechef, er leitet die deutsche Bundesverwaltung nicht, sondern lediglich das Bundespräsidialamt. Er wird nicht vom Volk sondern von der Bundesversammlung gewählt (Art. 54 GG) und ist nicht in die Wahl der Bundesverfassungsrichterinnen und –richter eingebunden (s. insoweit Art. 94 Abs. 1 GG). Zwar hat er ebenfalls Ernennungsaufgaben, doch ist er – anders als sein US-amerikanischer Amtskollege – nicht befugt, die zu ernennenden Bundesbeamten, Bundesrichterinnen und -richter oder Bundesministerinnen und – minister selbst mit auszuwählen (Art. 60 Abs. 1, 64 Abs. 1 GG)[4]. Selbst im Verteidigungsfall (Art. 115a ff. GG) werden nicht dem Bundespräsidenten, sondern dem Bundeskanzler und dem Bundestag erweiterte Kompetenzen zugestanden.

40

Im Bereich der Außenpolitik unterzeichnet der Bundespräsident zwar formell die völkerrechtlichen Verträge nach Art. 59 Abs. 1 GG. Die Vorbereitung, Aushandlung und Entscheidung über den jeweiligen Vertrag, die inhaltliche Arbeit also, ist jedoch der Bundesregierung und dem Bundestag vorbehalten[5].

41

Der Bundespräsident hat ferner kein generelles Vetorecht im Gesetzgebungsverfahren. Immerhin wird ihm zugebilligt, dass er bei Gesetzen, die er für formell verfassungswidrig hält, seine nach Art. 82 Abs. 1 GG erforderliche Unterschrift verweigern darf[6]. Ob er auch Gesetze verwerfen darf, die ihm inhaltlich verfassungswidrig erscheinen (materielle Prüfungskompetenz) ist heftig umstritten, die wohl überwiegende Meinung nimmt dies bei schweren und offensichtlichen Verfassungsverstößen an[7]. Jedenfalls haben die Bundespräsidenten von ihrer Verwerfungskompetenz nur sehr selten Gebrauch gemacht, bis zum Jahr 2007 nur achtmal[8].

42

Dagegen steht dem US-Präsidenten im Gesetzgebungsverfahren ein generelles Vetorecht zu (Art. I, section 7, cl. 2 USC), welches nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus überwunden werden kann. Dieses Veto kann aus rein politischen Gründen eingelegt werden, es ist nicht an verfassungsrechtliche Bedenken geknüpft[9].

43

Es existiert in zwei Varianten: Zunächst kann der amerikanische Präsident die Unterschrift auf dem ihm zugeleiteten Gesetzesentwurf ausdrücklich ablehnen und den Entwurf mit seinen Bedenken an Senat oder Repräsentantenhaus zurückgeben. Der andere Fall des Art. I, section 7, cl. 2 USC tritt nur ein, wenn der Gesetzesentwurf dem Präsidenten so kurz vor Ende der Sitzungsperiode der beiden Parlamentskammern zugeleitet wird, dass ihm nicht einmal zehn Tage zu einer Entscheidung bleiben. In diesem Fall kommt das Gesetz nicht zustande, wenn der Präsident es schlicht nicht unterschreibt (sogenanntes pocket veto)[10]. Die letztgenannte Variante kam in der Geschichte der amerikanischen Präsidenten bis einschließlich Barack Obama 1067 Mal vor, das erstgenannte ausdrückliche Veto 1505 Mal[11]. Den Rekord mit 635 abgelehnten Gesetzesentwürfen hält Franklin D. Roosevelt.

44

Bereits die Drohung mit einem präsidentiellen Veto führt häufig zu Veränderungen an den geplanten Gesetzen[12]. Der Präsident hat durch das Veto immense – manche sagen zu große[13] – politische Verhandlungsmacht[14], weil die Zwei-Drittel-Mehrheit in Repräsentantenhaus und Senat, die zum Überstimmen eines solchen Vetos nötig ist, nur selten erreicht wird: bei den insgesamt 2572 von einem präsidentiellen Veto gestoppten Gesetzesvorschlägen[15], fand sich die erforderliche Gegenmehrheit im Kongress nur 110 Mal, das sind ca. 4 % der Veto-Fälle[16]. Auf drei Begrenzungen der Vetomacht sei noch hingewiesen: Das Veto muss sich erstens immer auf das ganze Gesetz erstrecken und kann nicht einzelne Vorschriften – etwa eine kostspielige Subventionsregelung – aus einem Gesetz „herausschießen“[17]. Zweitens muss das Veto wegen Art. I, section 7, cl 2 USC vor der Unterzeichnung des Gesetzes eingelegt werden, ein nachträgliches Veto ist verfassungswidrig[18]. Das Veto ermöglicht dem Präsidenten schließlich nicht die Schaffung eines neuen Gesetzes, sondern nur dessen Blockade[19]. Immerhin kann der Präsident aufgrund Art. II section 3 USC dem Kongress gesetzgeberische Maßnahmen vorschlagen[20].

Anmerkungen

[1]

Branum, Journal of Legislation 28 (2002), 1, 32 m.w.N.; s.a. Lindenblatt, S. 74; ähnlich … stunning amount of power in one man … Amar (2006), S. 177.

[2]

BVerfGE 136, 323, 332; 138, 102, 112; Morlok/Michael, Rn. 865; Nierhaus, in: Sachs, Art. 54, Rn. 7; Jarass/Pieroth, Art. 54, Rn. 1; Heringa, S. 189; Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 1.

[3]

Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 3; Kommers/Miller, S. 53; Morlok/Michael, Rn. 866 f.; Heringa, S. 43, 170 u. 189.

[4]

Nierhaus, in: Sachs, Art. 60, Rn. 7; Heringa, S. 190; Jarass/Pieroth, Art. 60, Rn. 1 u. Art. 64, Rn. 1; Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 14 u. 17.

[5]

Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 18; Streinz, in: Sachs, Art. 59, Rn. 18 f.; Morlok/Michael, Rn. 902; Jarass/Pieroth, Art. 59, Rn. 6.

[6]

Morlok/Michael, Rn. 890; Jarass/Pieroth, Art. 82, Rn. 3; Nierhaus/Mann, in: Sachs, Art. 82, Rn. 7; Schiedermaier, DÖV 2007, 726, 728; Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 9.

[7]

Jarass/Pieroth, Art. 82, Rn. 3; Morlok/Michael, Rn. 899; Schiedermaier, DÖV 2007, 726, 728 f.; Sodan/Ziekow, § 14, Rn. 11; Nierhaus/Mann, in: Sachs, Art. 82, Rn. 13 jeweils m.w.N.

[8]

Schiedermaier, DÖV 2007, 726, 727 f. mit Einzelnachweisen; diese Zahl wird auch für 2020 angegeben s. SZ Nr. 216 v. 18.09.2020, S. 7 mit Bezugnahme auf das geplante Gesetz zur Bekämpfung rechtsextremer Internet-Hetze.

 

[9]

Amar, (2006), S. 183 u. 213; Tushnet, S. 90; Levinson, S. 42.

[10]

Levinson, S. 43 f.; Amar, (2006), S. 183 mit Fn. 17.

[11]

https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_United_States_presidential_vetoes

[12]

Levinson, S. 39; Tushnet, S. 90.

[13]

Levinson, S. 39.

[14]

Amar, (2006), S. 143.

[15]

Erneut gezählt bis einschließlich der Präsidentschaft Barack Obamas.

[16]

https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_United_States_presidential_vetoes; Levinson, S. 40.

[17]

Clinton v. City of New York, 524 U.S. 417, 439 f. (1998); Levinson, S. 46; Currie, S. 46; Barron/Dienes, 8. Aufl., S. 175.

[18]

Clinton v. City of New York, 524 U.S. 417, 447 ff. (1998).

[19]

Tushnet, S. 85.

[20]

S.a. Branum, Journal of Legislation 28 (2002), 1, 5 u. 19.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › I. Der Präsident › 3. Das Amtsenthebungsverfahren

3. Das Amtsenthebungsverfahren

45

Schwache Parallelen lassen sich beim Amtsenthebungsverfahren, im US-Verfassungsrecht als impeachment bezeichnet, feststellen. Beiden Präsidenten kann dieses drohen (Art. 61 GG bzw. Art. I, section 2 cl. 5, section 3 cl. 6, 7, Art. II, section 4 USC), wenn sie das Recht brechen, nicht aber aus rein politischen Gründen[1]. Die amerikanische Verfassung ist weiter gefasst und erlaubt ein Amtsenthebungsverfahren auch bei Fehlverhalten (misdemeanor), also etwa einer Falschaussage[2]. Während die deutsche Verfassungsnorm nie praktisch angewandt wurde[3], das Bundesverfassungsgericht also nie mit einer Präsidentenanklage befasst war, hat es vier ernsthafte Versuche der Amtsenthebung in den USA gegeben und zwar gegen die Präsidenten Andrew Johnson (1868), Richard Nixon (1974), William Clinton (1998) und Donald Trump (2020)[4]. In solchen Verfahren fungiert das Repräsentantenhaus als Ankläger (Art. I, section 2 cl. 5 USC). Für die Anklageentscheidung reicht bereits eine einfache Mehrheit aus. Der Senat arbeitet dann als Gericht unter der Leitung des obersten Richters (Art. I, section 3 cl. 6 USC). Zu einer Amtsenthebung kommt es aber nur, wenn Zwei-Drittel der Senatorinnen und Senatoren dafür stimmen. Diese qualifizierte Mehrheit wurde in den Fällen Johnson, Clinton und Trump nicht erreicht. Im Fall Nixon kam ein Rücktritt der Entscheidung im Senat zuvor[5].

46

Wenn sich ein US-Präsident keines gravierenden Fehlverhaltens schuldig macht, kann er vom Parlament nicht aus dem Amt gedrängt werden, er braucht – da selbst direkt gewählt – als Regierungschef das Vertrauen des Parlaments nicht[6]. Deshalb lässt sich die US-Verfassung als Präsidialsystem charakterisieren[7]. Die deutsche Regierungsspitze – Bundeskanzlerin oder -kanzler – ist dagegen von ihrer parlamentarischen Mehrheit abhängig. Verliert sie diese, so kann der Bundestag nach Art. 67 GG einen neuen Kanzler bzw. eine neue Kanzlerin wählen. Weil das Parlament die Möglichkeit hat, die Regierung zu stürzen, wird das deutsche System als parlamentarische Demokratie eingeordnet[8].

Anmerkungen

[1]

Currie, S. 6; Levinson, S. 115; bzw. Jarass/Pieroth, Art. 61, Rn. 2; Nierhaus, in: Sachs, Art. 61, Rn. 8.

[2]

Brooks auf https://foreignpolicy.com/2017/01/30/3-ways-to-get-rid-of-president-trump-before-2020-impeach-25th-coup/; Brugger, S. 91.

[3]

Jarass/Pieroth, Art. 61, Rn. 1.

[4]

Einzelheiten zum letztgenannten Verfahren bei en.wikipedia.org/wiki/Impeachment_of_Donald_Trump.

[5]

Currie, S. 6.

[6]

Levinson, S. 116 f.; Heringa, S. 26.

[7]

Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 526; Heringa, S. 26 u. 34.

[8]

Heringa, S. 26 f., 34 u. 171; Kommers, German Law Journal 20 (2019), 524, 526.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › I. Der Präsident › 4. Der Vizepräsident

4. Der Vizepräsident

47

Die großen Unterschiede zwischen den Präsidentenämtern in Deutschland und den USA werden an der Figur des Vizepräsidenten besonders deutlich.

48

Der Vizepräsident wird in den USA mit dem Präsidenten zusammen vom Volk gewählt. Die Verfassung widmet ihm eine Reihe von Vorschriften etwa Art. I, section 3, cl. 4, Art. II, section 1, cl. 1 und cl. 6, 25th amendment USC. Das Grundgesetz sieht einen Vizepräsidenten schlicht nicht vor. Wird ein Bundespräsident seines Amtes enthoben (Art. 61 GG), erkrankt, tritt zurück oder stirbt, vertritt ihn der Präsident des Bundesrates (Art. 57 GG). Angesichts der geschilderten geringen Bedeutung des Bundespräsidenten für das Funktionieren des Staates sind genauere Regelungen nicht nötig. Dies sieht beim US-Präsidenten anders aus. Selbst kurzzeitig wäre es fatal, wenn die Armee keinen Befehlshaber – man denke nur an die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen – und die Regierung keine Führung hätte. Deshalb übernimmt der Vizepräsident nach 25th amendment, section 1 USC die Aufgaben des Präsidenten in den Todes- oder Rücktrittsfällen sowie nach erfolgreicher Amtsenthebung. Eine solche Situation ist in der US-Geschichte mehrfach aufgetreten, z.B. nach den Attentaten auf Abraham Lincoln und John F. Kennedy sowie dem Rücktritt von Richard Nixon.

49

Sollte der Vizepräsident vorzeitig ausfallen, sorgt der Präsident mit Zustimmung beider Kammern für Ersatz (25th amendment, section 2 USC). Im Fall einer vorübergehenden Erkrankung kann die Amtsmacht auf schriftlichen Wunsch des Präsidenten hin – ebenfalls vorübergehend – auf den Vizepräsidenten übertragen werden, der dann als „Acting President“ bezeichnet wird (25th amendment, section 3 USC)[1].

50

Die letzte Regelung im 25. Verfassungszusatz ermöglicht dem Vizepräsidenten sogar eine Palastrevolution, obwohl dieses Verfahren noch nie praktisch angewandt wurde[2]. Ist der Präsident z.B. bewusstlos, verschollen oder geistesgestört, sodass die kurzfristige Übertragung der Amtsgeschäfte nach 25th amendment, section 3 USC, keine Lösung bietet, erlaubt 25th amendment, section 4 USC es dem Vizepräsidenten, die Amtsgeschäfte zu übernehmen, wenn die Mehrheit der Kabinettsmitglieder einem solchen Vorgehen schriftlich gegenüber dem Sprecher des Repräsentantenhauses und dem zeitweiligen Vorsitzenden des Senats zustimmt. Ein solcher Präsidentensturz erscheint indes sehr unwahrscheinlich, da der Präsident und nicht der Vizepräsident die Kabinettsmitglieder aussucht.[3] Sollte der Präsident befürchten, vom Vizepräsidenten und einer Kabinettsmehrheit gestürzt zu werden, hat er im Vorfeld noch die Möglichkeit, ihm unzuverlässig erscheinende Ministerinnen und Minister zu entlassen, so dass dem Vizepräsidenten die Mehrheit für sein Vorhaben abhandenkommt. Außerdem kann der Präsident seine Amtsunfähigkeit bestreiten. Tut er dies schriftlich muss der Vizepräsident erneut eine Kabinettsmehrheit hinter sich bringen. Gelingt ihm dies ein zweites Mal, entscheiden die beiden Parlamentskammern über die Sache (25th amendment, section 4 USC). Der Präsident gewinnt, wenn nicht eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus mit dem Vizepräsidenten der Meinung ist, eine Amtsunfähigkeit liege vor.

Anmerkungen

[1]

Zum 25th amendment vertiefend Amar, (2006), S. 449 ff.; Levinson, S. 73 f.

[2]

Brooks auf https://foreignpolicy.com/2017/01/30/3-ways-to-get-rid-of-president-trump-before-2020-impeach-25th-coup/

[3]

Amar, (2006), S. 450.

B. Zentrale Institutionen der US-amerikanischen Verfassung › I. Der Präsident › 5. Die Durchführungsanordnungen (executive orders) des Präsidenten

5. Die Durchführungsanordnungen (executive orders) des Präsidenten

a) Grundlegendes

51

Ein weiterer gravierender Unterschied zwischen dem deutschen Bundespräsidenten und dem US-amerikanischen Präsidenten liegt in den Befugnissen des letztgenannten, executive orders zu erlassen. Dieser Ausdruck lässt sich am ehesten mit präsidentiellen Verfügungen oder Durchführungsanordnungen übersetzen. Mit diesen wird die gesamte Bundesverwaltung, einschließlich der Streitkräfte, gesteuert und angewiesen[1]. Im Unterschied zu präsidentiellen Memoranden werden die Durchführungsanordnungen als bindendes Recht betrachtet[2].

52

Die Verfassung erwähnt präsidentielle Verfügungen nicht ausdrücklich. Ihre Zulässigkeit kann sich zum einen auf eine direkte oder indirekte gesetzliche Ermächtigung durch den Kongress stützen[3]. Häufig wird die Ermächtigung für executive orders jedoch aus den Einzelbefugnissen des Präsidenten abgeleitet, die in der Zuweisung der Exekutivgewalt (Art. II, section 1, cl. 1 USC), der Kommandogewalt über die Streitkräfte (Art. II, section 2, cl. 1 USC) und der Gesetzesausführungsaufgabe (Art. II, section 3, cl. 1 USC) bestehen, bisweilen wird eine generelle präsidentielle Machtstellung aus den genannten Befugnissen entwickelt[4]. Die letztgenannte Herleitung lässt sich als Rechtsanalogie bewerten[5].

53

Die Durchführungsanordnungen werden nummeriert und im Federal Register veröffentlicht. Mittlerweile sind dort fast 14.000 dieser Anordnungen gesammelt. Art, Inhalt und Auswirkungen der Durchführungsanordnungen variieren sehr stark[6]. Sie können sich etwa mit den Arbeitsbedingungen der Bundesbediensteten beschäftigen, die Vergabe von Bundesaufträgen im Detail regeln, neue Behörden oder Beratungsgremien einrichten, Importbeschränkungen und Zölle vorsehen, außenpolitische Sanktionen verhängen u.v.m.[7] Einige konkrete Beispiele:

 

Executive Order (E.O.) 6581 (1934) rief die Export-Import-Bank der USA ins Leben;
E.O. 9066 (1942) regelte die Internierung japanischstämmiger Bürgerinnen und Bürger nach Beginn des 2. Weltkrieges;
E.O. 9981 (1948) hob die Rassentrennung in den Streitkräften auf;
E.O. 13.767 (2017) ordnete den Bau einer Grenzmauer zu Mexiko an;

54

Während George Washington in seiner achtjährigen Amtszeit als erster Präsident der USA nur 8 Durchführungsanordnungen erließ, nahm der Einsatz dieses Instruments über die Jahre stark zu[10]. Theodore Roosevelt (1901-1909) nutzte es bereits über 1000 Mal, Franklin D. Roosevelt (1933-1945) kam auf die Rekordzahl von 3721 executive orders[11]. Auch die US-Präsidenten seit 1993, Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama haben jeder deutlich über 250 Durchführungsanordnungen in ihren jeweils achtjährigen Amtszeiten erlassen[12].

55

Warum ist diese Handlungsform bei allen Präsidenten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit[13], so beliebt? In gewisser Weise sind die Durchführungsanordnungen unausweichlich, um die vielen Bundesbehörden mit ihren über 2,1 Millionen Beschäftigten[14] zu steuern und zu koordinieren sowie insbesondere die Rechtssetzung von Bundesbehörden zu kontrollieren[15].

56

Präsidenten können außerdem Durchführungsanordnungen einseitig, d.h. ohne langes Verfahren und vor allem ohne die Zustimmung des Kongresses erlassen oder widerrufen[16]. So kann – z.B. in Krisensituationen – flexibel und schnell agiert[17] sowie die häufig erwartete Führungsstärke demonstriert werden[18]. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Kongress sich in einer Sache nicht entscheiden kann[19] oder wenn die Partei des Präsidenten im Kongress keine Mehrheit hat (divided government)[20]. Will man einen handlungsfähigen Staat (funktioneller Ansatz), erscheint es sinnvoll, präsidentielle Verfügungen in großem Umfang als verfassungsrechtlich zulässig zu bewerten[21]. Viele Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass sich der Präsident ihrer Wünsche annimmt und entsprechende Durchführungsanordnungen erlässt[22]. Manchmal bewegt eine präsidentielle Durchführungsanordnung den Kongress auch zu einem späteren Gesetz[23].

57

Worin liegen die Nachteile der Durchführungsanordnungen? Sie können ohne weiteres vom nächsten Präsidenten geändert oder aufgehoben werden[24]. Außerdem können die Durchführungsanordnung ihre eigene Finanzierung nicht sichern, sondern sind auf Budgetbewilligungen des Kongresses angewiesen. Auf dieses Problem traf auch Präsident Trump bei dem Plan, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu errichten (E.O. 13767 2017). Schließlich besteht eine Missbrauchsgefahr[25]. Zum einen wird die Gewaltenteilung zu Lasten des Kongresses modifiziert, zum anderen könnten Durchführungsanordnungen in Rechte von Bürgerinnen und Bürgern eingreifen[26]. Mangels parlamentarischer Debatte besteht ferner die Gefahr, dass Durchführungsanordnungen sehr einseitige politische Positionen umsetzen[27]. Man kann die mögliche Blockade von Gesetzgebung bei unterschiedlicher parteipolitischer Besetzung von Kongress und Präsidentenamt auch als Charakteristikum der US-amerikanischen Verfassung betrachten und nicht als Fehler, der durch eine großzügige Interpretation präsidentieller Befugnisse behoben werden muss[28].